Am 18. Juli 1864 wurde Ricarda Huch als drittes Kind des brasilianischen wohlhabenden Kaufmanns Richard Huch und seiner Frau Emilie in Braunschweig geboren. Bis zu ihrem neunten Lebensjahr wurde sie von einer Erzieherin unterrichtet, anschließend besuchte sie eine Privatschule bis sie 14 Jahre alt war.
Im Alter von 19 Jahren verlor sie 1883 die Mutter; der Tod des Vaters traf sie 1887. Aufgrund der Liebesbeziehung zu ihrem Vetter und Schwager Richard Huch und dem zunehmenden wirtschaftlichen Verfall der Familie wurde sie 1886 zur Übersiedlung nach Zürich bewogen.
Leben in der Schweiz ab 1888: Zeit der Freiheit und der Hoffnung
An der Universität Zürich begann sie ein Geschichts- und Philosophiestudium, nachdem sie innerhalb eines Jahres das Abitur nachgeholt hatte. Zürich war das europäische Zentrum des Frauenstudiums, der einzige Ort Europas, an dem Frauen seit 1867 ein ordentliches Studium absolvieren und einen Studienabschluss erzielen konnten. Durch das Studium zur Herausbildung der eigenen Persönlichkeit zu gelangen, darin sah Ricarda Huch nicht nur für sich einen großen Gewinn.
„In Zürich war ich in den Besitz meiner selbst gekommen, hier wurde mir zuerst das Bewußtsein der eigenen Persönlichkeit und der eigenen Kräfte“. (Ricarda Huch, „Frühling in der Schweiz. Jugenderinnerungen“ 1938)
„In den meisten Fällen wird bei dem studierenden Mädchen das Erwachen der Erkenntnis mit dem der Persönlichkeit zusammengehen.“ (Ricarda Huch, Über den Einfluß von Studium und Beruf auf die Persönlichkeit der Frau. 1902)
Ricarda Huch bestand als erste Frau im Jahr 1890 das Diplom-Examen für das höhere Lehramt mit der Gesamtnote „Eins“. Schweizer Geschichte hatte sie mit Begeisterung bei Professor Georg von Wyß studiert. Nach dem Diplom-Examen wählte sie selbständig als Thema der Dissertation den Kernbereich schweizerischer Politik, die „Neutralität der Eidgenossenschaft“, veranschaulicht an der Zeit des Spanischen Erbfolgekriegs. „Ich war froh, daß mich niemand beriet, und ich mir Schritt für Schritt meinen Weg suchen konnte.“ Professor Wyß legte sie ohne irgendeine Absprache die abgeschlossene Arbeit vor. Die hervorragende Qualität der Quellenstudie überzeugte ihn. Am 18. Juli 1891, an ihrem 27. Geburtstag, absolvierte Ricarda Huch das Rigorosum mit der Note „magna cum laude“.
Die erste Erzählung, „Die Goldinsel“, erschien im gleichen Jahr in der Berner Zeitung „Der Bund“. Ein erster Band „Gedichte“ wurde unter dem Pseudonym Richard Hugo veröffentlicht.
Nicht nur ihre Geschichtsstudien konzentrierten sich in dieser Phase auf die Schweizer Geschichte, auch Teile ihrer schriftstellerischen Arbeit baute sie in der Züricher Zeit auf Ereignissen der Geschichte dieses Landes auf, beispielsweise:
– „Der Bundesschwur“. Komödie zu Ereignissen in der Schweizerischen Eidgenossenschaft von 1798 (1891)
– „Die Hugenottin“. Historische Novelle (1893)
– „Spiel von den vier Züricher Heiligen“ (1895).
Frühe Berufstätigkeit und zwei Ehen
Ricarda Huch arbeitete 1892 zunächst halbtags als Angestellte an der Stadtbibliothek Zürich und gab Deutschstunden. Seit1893 unterrichtet sie an der Höheren Töchterschule Deutsch und Geschichte. Der erste Roman entsteht: „Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren“, in dem die Liebesbeziehung zu Richard Huch, ihrem Vetter und Schwager, verarbeitet wird.
1894 gab sie die Bibliotheksstelle auf; der Unterricht in der Schule erfolgte nun auf einer festen Stelle. Nach einer kürzeren Lehrtätigkeit in Bremen zog sie im Sommer 1897 nach Wien, nachdem Richard Huch ihrer 13jährigen Liebesbeziehung ein Ende gesetzt hatte. 1898 heiratete sie den sechs Jahre jüngeren italienischen Zahnarzt Ermanno Ceconi und folgt ihm nach Triest. Am 9. September wurde die Tochter Marie Antonie (Marietta) geboren.
„Frau Celeste und andere Erzählungen“ erscheinen 1899. Der erste Band der Romantik-Studie liegt vor: „Blütezeit der Romantik“; 1902 kommt der zweite Teil heraus: „Ausbreitung und Verfall der Romantik“. Die Familie Huch-Ceconi zog im Sommer 1900 nach München. Der in Triest entstandene Roman „Aus der Triumphgasse“ erschien. „Vita somnium breve“ (späterer Titel: „Michael Unger“) kam 1903 heraus.
1906 erfolgte die Scheidung von Ermanno Ceconi, der ein Verhältnis mit ihrer Nichte Käte Huch eingegangen war. Mit 43 Jahren heiratete Ricarda im Juli 1907 Richard Huch, der inzwischen geschieden war. Das Ehepaar Huch-Huch zog nach Braunschweig; eine höchst produktive Schaffensphase erlebte die Autorin, in der sie auch wieder Lyrik verfasste und publizierte. Aber eine allmähliche innere Entfremdung mündete 1911 in eine Scheidung ein; Ricarda Huch zog wieder nach München.
Huldigungen an den italienischen Freiheitskampf
Ricarda Huch hegte eine ausgesprochene Vorliebe für Rebellen und Aufstände und so widmete sie, basierend auf ausgedehnten Recherchen, gleich drei historische Werke den italienischen Freiheitskämpfern des 19. Jahrhunderts und der Einigungsbewegung. Dem Leben von Giuseppe Garibaldi, der Schlüsselfigur des Freiheitskampfes, wollte sie ursprünglich ein dreiteiliges ‚Epos‘ widmen. 1906 erschien „Die Geschichten von Garibaldi. Teil 1: Die Verteidigung Roms“ und 1907 Teil 2: „Der Kampf um Rom“. Nach Auseinandersetzungen mit dem Verlag entfiel Teil 3. Sie wandte sich der Frühzeit der italienischen Einigungs- und Befreiungsbewegung zu und entwarf in „Das Risorgimento“ (1908) 7 Porträts aus der Zeit der Aufstände gegen Österreich zwischen 1820 und 21. Eines davon war Confalionieri gewidmet. Über ihn verfasste sie 1910 eine umfassende Darstellung: „Das Leben des Grafen Federigo Confalionieri“. Als Verschwörer, der für ein freies und geeintes Italien eintrat, wurde Graf Confalionieri 12 Jahre in Kerkerhaft gehalten und damit zum Symbol des italienischen Freiheitswillens und seiner Unterdrückung.
Der 1. Weltkrieg: Barbarentum gegen die europäische Kultur
Ricarda Huch erwartete, dass der Krieg „nicht lange dauern“ würde. Ihre Haltung zum Krieg im europäischen Haus war eindeutig. Die patriotische Begeisterung und die Versuche der Legitimierung des Krieges verurteilte sie. Sehr fragwürdig erschien ihr, „z.B. daß schon jeder ein Schurke ist außer den Deutschen und der zu ihnen hält, und daß alle Gott anrufen und überzeugt sind, er wird die verfluchten Feinde vertilgen usw. Die Hetze der Spione berührt mich auch so schrecklich (…). Schon jetzt leben die häßlichsten populären Instinkte auf – unter der Maske patriotischer Begeisterung.“ (Brief an Marie Baum, 9. August 1914) Sie protestierte gegen die „deutschen Barbaren“, die die Kathedrale von Reims, ein unersetzliches europäisches Kulturgut, bombardierten.
Die Kriegsjahre 1916 bis 1918 erlebte sie nicht in Deutschland sondern in der Schweiz. Die Schweiz war ihr ein bleibendes Zuhause: „Dieses Land der Zuflucht, die Heimat, die mir geschenkt worden, die mir Segen, eine rettende Insel und Zuflucht gewesen.“ Nicht aus politischen Gründen sondern aus Gesundheitsgründen und weiteren persönlichen Gründen lebte sie mit ihrer Tochter zwei Jahre in Bern: „Ich war kaum einen Tag in der Schweiz, so fiel alles von mir ab, Wünsche, Sorge, Sehnsucht, so vieles, was mir sonst wichtig war, ohne im Grunde wichtig zu sein. (…) Ich sehe doch, daß gerade diese Natur zu mir gehört, nur hier kann ich das Gefühl des Zuhausseins haben, das einen so sicher macht.“ (Brief an Marie Baum, 9. August 1914)
Ricarda Huchs Bewertung der Niederlage Deutschlands: „wenn etwas Lebendiges, Großes untergeht – selbst wenn sein Leben und seine Größe weit zurückliegen-, sollte man Ehrfurcht vor dem Tragischen empfinden.“
Russland und die Liebe zur Freiheit: „Michael Bakunin und die Anarchie“ (1923)
„Die Freiheit erfordert nicht nur Mut, sondern Regsamkeit, Wachsamkeit, Bereitschaft zum Handeln und zur Übernahme der Verantwortung. Knechtschaft ist bequem, Freiheit ist unbequem.“ (Ricarda Huch: „Michael Bakunin und die Anarchie“, 1923) Mit Russland, „für das ich nun einmal eine so besondere Vorliebe habe“, befasste sich Ricarda Huch 1922/23, veranlasst durch den Züricher Arzt Dr. Brupbacher, der ihr seine gesammelten Materialien zur Lebensgeschichte Bakunins überlässt. Der Revolutionär und Anarchist Michael Bakunin (1814-1876) fasziniert sie als starke Persönlichkeit, die sich gegen jede Form des Despotismus empörte. Als die Kernpunkte seiner politischen Überzeugung erscheinen „Kollektivismus“ und „Freiheit des Individuums“. Huch deutete den kämpferischen Atheisten als eine „religiöse Natur“, eine Interpretation, die Erich Mühsam, der die Bakunin-Biographie während seiner Festungshaft las, besonders begrüßte: „Daß Sie bei dem fanatischen Atheisten die heilige Religiosität als Grundcharakter erkennen, daß Sie das scheinbar Widerspruchsvolle in seinem Tun und Lassen überall aus der großen reichen Menschlichkeit zu erklären wissen, (…) dies alles hat mir das Bedürfnis Ihnen zu danken unabweisbar gemacht.“ (Erich Mühsam an Ricarda Huch, am 28. September 1924)
Wichtige Ehrungen
Anlässlich ihres 60. Geburtstages benannte die Stadt München eine Straße nach ihr und die Universität verlieh ihr die akademische Ehrenbürgerwürde. Thomas Manns Glückwunsch zum 60. Geburtstag von Ricarda Huch am 18. Juli 1924 in der „Frankfurter Zeitung“ markiert ihren Stellenwert in der europäischen Kulturlandschaft: „Dies sollte ein Deutscher Frauentag sein und mehr, als ein deutscher. Denn nicht nur die erste Frau Deutschlands ist es, die man zu feiern hat, es ist wahrscheinlich die erste Europas.“
Im Jahr 1926, in dem „Der wiederkehrende Christus. Eine groteske Erzählung“ erschien, wurde Ricarda Huch als erste Schriftstellerin am 27. Oktober in die Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste gewählt. Die Sektion umfasste neben ihr 26 ‚Dichter und Schriftsteller‘.
Am 28. August 1931 erhielt sie die damals angesehenste literarische Auszeichnung, den Goethepreis der Stadt Frankfurt, im Staatszimmer des Goethe-Hauses überreicht.
Geistiger Widerstand gegen den Nationalsozialismus
Als „Rebellin des Gewissens“ erwies sich Ricarda Huch, als sie am 9. April 1933 ihren Austritt aus der Preußischen Akademie der Künste bekräftigte, da sie das Treuegelöbnis gegenüber dem NS-Staat nicht unterschreiben wollte und die Hetze gegenüber den jüdischen Kollegen verurteilte. Mit der kompromisslosen Ablehnung der Rassendoktrin und ihrem Austritt aus der gleichgeschalteten Preußischen Akademie der Künste leistet sie aktiven geistigen Widerstand gegen den Nationalsozialismus.
Sie arbeitet weiter an der Darstellung zur „Deutsche Geschichte“, am ersten Band: „Römisches Reich deutscher Nation“, der 1934 erschien. Beim 2. Band: „Das Zeitalter der Glaubensspaltung“ übte sie ‚Vorzensur‘, um den Druck im Jahr 1937 nicht zu gefährden. Beim 3. Teil, dem „Untergang des Römischen Reiches Deutscher Nation“ drängten sich „manche Analogien“ zur aktuellen Politik auf; dies verstand auch das Propagandaministerium und erteilte 1941 keine Druckerlaubnis.
Ricarda Huch plante, ein Buch über den deutschen Widerstand zu schreiben, unmittelbar nach dem misslungenen Attentat am 20. Juli 1944, als zahlreiche Freunde und Bekannte von ihr verhaftet und hingerichtet wurden. Sie entwarf biographische Skizzen, „Bilder deutscher Widerstandskämpfer“, um jene, die „im Kampf gegen das Böse fielen“, zu ehren. Viele Hinterbliebene von hingerichteten Widerstandskämpfern schickten ihr vertrauensvoll Aufzeichnungen und Dokumente.
Lebensausklang
Anlässlich ihres 82. Geburtstages wurde ihr 1946 die Ehrendoktorwürde der Friedrich-Schiller-Universität in Jena verliehen. Die Arbeit am Buch über die Widerstandskämpfer umfasste schon 40 Biographien; sie musste jedoch 1947 erkennen, dass sie das Projekt nicht alleine würde durchführen können. Sie übergab ihr Material an den Autor Günther Weisenborn, der Verbindungen zur Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ gehabt hatte. 1953 erschien die überarbeite Fassung als „Der lautlose Aufstand. Bericht über die Widerstandsbewegung des deutschen Volkes 1933-1945“.
Sie wurde Ehrenpräsidentin des 1. deutschen Schriftstellerkongresses, der Anfang Oktober 1947 in Berlin tagte. Sie nahm dort am 4. Oktober 1947 in ihrer Begrüßungsrede in freier Rede eine letzte Standortbestimmung „Gegen einseitigen Nationalismus und für nationale Identität“ vor: „Ich habe Geschichte studiert und kenne nicht nur die Geschichte unseres eigenen Volkes, sondern auch die der anderen Nationen gut; ich habe jahrelang in der Schweiz gelebt und fühle mich dort zuhause; ich war mit einem Italiener verheiratet, und ich habe sehr gerne in Italien gelebt; all diese Umstände haben bewirkt, daß ich ganz frei von einseitigem Nationalismus bin, aber national fühle ich durchaus.“
Im 17. November starb Ricarda Huch im Alter von 83 Jahren an den Folgen einer Lungenentzündung.
Text: Ariane Neuhaus-Koch