Frauen-Kultur-Archiv

Düsseldorfer Frauengeschichte
Düsseldorfer Autorinnen der Gegenwart: in memoriam

Vita

Diyana Kaneti wurde am 7. Oktober 1943 in Istanbul geboren; die Mutter war Griechin, der Vater, Aron Kaneti, war türkischer Staatsbürger jüdischen Glaubens. Nach dem Besuch einer türkischen Volksschule in Istanbul absolvierte sie das renommierte französische Gymnasium Notre Dame de Sion in Istanbul. 1963 heiratete sie den Studenten Aydin Yamanlar. Von 1965 bis 1969 studierte sie Anglistik in ihrer Heimatstadt und besuchte gleichzeitig die Theaterschule L.C.C. Sie publizierte Kurzgeschichten, Theaterberichte und Kritiken in der Zeitschrift „Yeni Insan“. (‚Der neue Mensch’).

Im Winter 1969 ging sie mit einem Sprach-Stipendium nach Wien und bestand die Aufnahmeprüfung für das Max-Reinhardt-Seminar. Ab dem Sommersemester 1970 studierte sie Theaterwissenschaft an der Wiener Universität. Das Studium finanzierte sie u.a. als Statistin am Burg- und Akademietheater und als Hilfskraft in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur, gefördert von dem Begründer der Gesellschaft, Wolfgang Kraus. Sie begann in Deutsch zu schreiben und konnte Beiträge im ORF und im Studio Graz unterbringen. 1971 drehte sie in Paris den Kurzfilm „Le Pied“, der auf mehreren Festivals gezeigt wurde. 1972 veröffentlichte sie als „Diana Canetti“ den ersten Prosaband im Wiener Europaverlag: „Eine Art von Verrücktheit. Tagebuch einer Jugend“. 1974 folgte der Druck des 2. Romans „Cercle d’Orient“, ebenfalls im Europaverlag.

Im Sommer 1975 promovierte sie in Wien mit der Arbeit: „Das gesellschafts-kritische Theater in der Türkei“ bei Professorin Margret Dietrich, Theaterwissenschaft. Ein einjähriges DAAD-Stipendium führt sie im Januar 1976 nach Berlin, wo sie als „Artist in Residence“ Gast des „Literarischen Colloquiums“ war. Sie arbeitete u.a. journalistisch für den Rundfunk Rias Berlin. Zur P.E.N.-Tagung und -Lesung in Den Haag vom 10. - 13. Mai 1976 war sie als Vertreterin der Türkei eingeladen und trat neben Stefan Heym (DDR) und Günter Grass (BRD) auf.

Seit Frühjahr 1977 lebte Diana Canetti in Düsseldorf und gab von 1978 bis 1986 Kurse zu deutscher und englischer Literatur an der VHS. Sie bot freie Theaterarbeit in einer Düsseldorfer Realschule an und ab 1983 arbeitete sie im Jugendtheater des Düsseldorfer Schauspielhauses. 1985 dokumentierte sie die Entwicklung des Antisemitismus in der Ausstellung „Erziehung zum Vorurteil“ im Schauspielhaus. Während dieser Düsseldorfer Jahre schrieb sie u. a. mehrere Versionen des 3. Romans: „Ein Mann von Kultur“, für den sich aber keinen Verlag fand.

Neue Horizonte suchte sie ab Dezember 1988 in Ghana, wohin sie ihre Cousine Susie Malka Kaneti Barry, eine Soziologin und Entwicklungshelferin, eingeladen hatte. Die Afrika-Erfahrungen verarbeitete sie in der Romancollage „Goldstaub“, der im Selbstverlag erschien und 1991 im Dokumentarfilm „Queen of Bokuruwa“ über Entwicklungshilfe in Ghana.

Von 1992 bis 1993 absolvierte sie eine Ausbildung als Rundfunkjournalistin und arbeitete anschließend als freie Autorin für den WDR und den SDR und parallel seit 1994 für die „Westdeutsche Zeitung“. 1998 Diana Canetti engagierte sich im Kontext der Lokalen Agenda 21, Gruppe Kultur für die „Frauenvernetzung“, die u. a. den Aufbau eines Künstlerinnenhauses und den globalen Künstlerinnenaustausch anzuschieben versuchte. In Paris, ihrem Zweitwohnsitz, pflegte sie Kontakte zu Intellektuellen, so etwa zur in Frankreich und Griechenland lebenden Philosophin und Autorin Mimika Cranaki.

Krankheitsbedingt konnte Diana Canetti seit 2006 nicht mehr schreiben. Im November 2012 erinnerte das Frauen-Kultur-Archiv der HHU mit Lebens- und Werk-dokumenten an das interkulturelle Wirken der Autorin im Kontext der Ausstellung in der ULB Düsseldorf: „Prometheus-Funken. Zum deutsch-türkischen Wissens- und Kulturtransfer seit 1933“. Zum 70. Geburtstag präsentierte das Frauen-Kultur-Archiv im Oktober 2013 im Heine-Institut eine Lesung aus der vom Archiv herausgegebenen Edition ihrer „Betrachtungen zu Mulitkulturalität, Heimat und Fremdsein“, an der Canetti nicht teilnehmen konnte.

Nach langer schwerer Krankheit starb Diana Canetti am 22. Juli 2014 in Düsseldorf. Ihr Grab befindet sich auf dem dortigen Nordfriedhof.

© Ariane Neuhaus-Koch

Publikationen

Prosa

Ungedrucktes

Beiträge in Anthologien, Sammelbänden

Radio-Beiträge für den SWR 2 (Auswahl)

Selbstaussage der Autorin

Wenn man aus einer doppelten christlich-jüdischen Wurzel stammt, dann fühlt man sich prädestiniert, das Verhältnis zwischen Juden und Christen klären zu helfen, sei es auch um den Preis, daß man hinfällt. Wenn sich aus dieser Anregung jedoch keine sinnvolle Arbeit zu ergeben scheint, was kann dann der Sinn für einen Menschen wie mich sein? Meine alte Tante hatte mir zum Glück die unabänderlichen religiösen Elemente in salbungsvolle Sprüche gekleidet und mir mit auf meinen Lebensweg gegeben. Sie sind immer wieder Wegweiser gewesen, einfach da, um meine Verzweiflung zu bekämpfen.

An seine „Matratzengruft“ gefesselt, wußte der Dichter Heinrich Heine, was Verzweiflung heißt. „Es ist mehr Verwandtschaft zwischen Opium und Religion, als die meisten Menschen sich träumen lassen“ schrieb er. Wenn Heine seine Schmerzen nicht ertragen konnte, dann nahm er Morphium und andere Betäubungsmittel. Nicht umsonst sagt man, daß man um Hilfe fleht, wenn man zusammenbricht.

Mit zunehmendem Alter merkte ich, daß alle Religionen, Traditionen, Gebote und Gesetze etwas Gemeinsames haben. Sie alle sind Versuche, die Schwierigkeiten und die Schmerzen des Lebens zu verkraften. In der Tat, es ist nicht einfach, einer Welt ausgesetzt zu sein, die stets neue Probleme aufwirft. Herauszufinden, welchen Sinn ich in meinem Leben finde und welchen Sinn ich dem eigenen Leben gebe. Nur Geld zu verdienen kann z. B. nicht die Hauptattraktion des Lebens sein. Ich arbeite nicht für den Tanz um das Goldene Kalb. Und ich möchte nicht, daß Geld und Macht zu unserer Religion werden. Ich gehöre rein formal zu keiner Religion, bewahre aber trotzdem auf meine Art und Weise einen Glauben.

Meine Mutter hat ihr Wort gehalten. Sie war als Griechin geboren und starb als Griechin. Zur Kirche ging sie nicht. Über Gott sprach sie nicht. In den letzten Jahren ihres Lebens trug sie allerdings eine Kette mit einem Kreuz, einen Davidstern und einen Bismillahimrahmanirahim. Drei Zeichen, die für Christentum, Judentum und Islam stehen. Heute liegen diese religiösen Symbole auf einem chinesischen Teller in meinem Schlafzimmer. Und ich unternehme gern Pilgerfahrten, um Heiligtümer, Kapellen, Moscheen, Synagogen und fernöstliche Tempel zu besuchen. Wohnorte der Geister und Götter. Ganz bestimmt glauben viele Menschen nicht an Seelenwanderung und Wiedergeburt, wünschten sich aber, daß es sie gäbe. Das Herz hat Beweggründe, die in der Vernunft allein nicht begründet sind. Vielleicht ist das große Kennzeichen der Religionen das „Prinzip Hoffnung“. Wenn wir ganz unten sind, bleibt uns die Hoffnung, daß eine Auferstehung in einem heilen Körper und einer heilen Seele folgen wird. Daß eine Phase zu Ende gegangen ist, fertig ist, abgelegt. Und dass wir bei Gott von ganz vorn beginnen können.

„Wozu Kinder in eine Religion zwingen? Sie sollen selber entscheiden, wenn sie alt genug sind, ob sie Christen oder Juden sein wollen“, sagten meine Mutter und mein Vater gemeinsam. Viele denken, ich gehöre weder zu einer Religion noch zu einer anderen, Daß ich nirgends hingehöre, wird gleichgestellt mit dem Bild, dass ich nirgends einen Tempel habe. Doch so ist es nicht. Wer aus doppelten oder dreifachen Wurzeln wächst, bekommt die Überlieferungen sowohl des einen, als auch der anderen Religion, und kann sein geistiges Haus so schnitzen, wie es aus eigenem Entschluß notwendig ist.

Quelle: „Ich brauche ein geistiges Haus“. Vom Leben in christlicher, jüdischer und griechisch-orthodoxer Tradition zugleich. In: „Leben - einzeln und frei wie ein Baum und geschwisterlich wie ein Wald ist unsere Sehnsucht.“ Türkei, Deutschland, Europa. Impulse für die Gegenwartsliteratur: Das Eigene und das Fremde. Tagung der Evangelischen Akademie Iserlohn vom 12. - 14. Januar 1996. S. 88-90.

Pressestimmen zu Diana Canetti

Ähnlich wie ein Sonnenstrahl. Diana Canetti las im Café der Johanneskirche

Der oft gestellten Frage nach Sinn und Nutzen von Kunst und Kultur ging auch die Autorin Diana Canetti nach – und bot eine Antwort mit ihrer autobiographischen Erzählung „Pygmalion ohne Happy End“. Im Rahmen der Autorenreihe „Literatur um halb fünf“ im Café der Johanneskirche, das jeweils am letzten Freitag eines Monats Lesungen anbietet, lernte die internationale Zuhörerschaft mit Diana Canetti eine interessante Persönlichkeit kennen.

Die promovierte Theaterwissenschaftlerin, Journalistin und Autorin vereint als Person all das, wovon sie in ihren Geschichten erzählt und was man als „interkulturell“ bezeichnen kann. Aufgewachsen in Istanbul „in einem babylonischen Sprachgewirr“ - zu Hause wurde Griechisch, Türkisch, Spaniolisch und Französisch gesprochen - studierte sie Anglistik und verfaßte Erzählungen für eine türkische Zeitschrift. Ende der 60er ging Canetti nach Wien, um Theaterwissenschaften zu studieren. Heute lebt sie in Düsseldorf und schreibt unter anderem Hörspiele für den WDR und SDR, die immer das Thema „interkulturelle Beziehungen“ beleuchten.

Die Erzählung „Pygmalion ohne Happy End“ reiht sich ebenfalls in diesen Themenkreis ein, hat jedoch noch eine spezielle Note. So persönlich und sprachlich schlicht die literarische Erlebnisreise einer Studentin auf der Suche nach ihrer geistigen Welt anmutet, so hebt sie sich durch philosophisch-kluge Gedanken und kritische Selbstreflexion zugleich als eine Geschichte des allgemein Menschlichen hervor. Die junge Studentin ist nicht nur Türkin griechischer Abstammung mit jüdischem Glauben, im deutschen Sprachgebiet lebend auf der Suche nach ihrer persönlichen Kultur, sie ist auch der „in die Welt geworfene“ Mensch, der nicht nur sein Dasein fristet, sondern mit „unbändiger Neugier eine interessante Welt mit einem vollen Geistesleben“ kennenlernen will.

Dabei wird die begeisterungsfähige Studentin immer wieder mit provokativen Thesen ihres Professors konfrontiert, des Pygmalion, der sich mit ihr sein geistiges Abbild zu schaffen versucht. „Alles, was mit Kunst und Kultur zusammenhängt, ist Luxus“, warnt der lebenserfahrene Mentor. Doch die welterfahrene Studentin entgegnet schlicht: „Kultur streichelt unsere Sinne ähnlich wie ein Sonnenstrahl.“ Am Ende spürt sie, daß sie sich aus dem Bann Pygmalions lösen muß, und erkennt: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern auch von Symbolen.“

Renja Greis in: Rheinische Post, 27.01.1997.

Lore Schaumann: Diana Canetti. Lehr- und Wanderjahre in zwei Kulturen

Stellen wir uns vor, wir sollten ein Buch in türkischer Sprache schreiben, nach einigen Studienjahren, gewiß, und nachdem wir uns in dem fremden Kulturkreis umgetan hätten, ohne aber doch einen Zustand von Anderssein jemals ganz überwinden zu können. Kaum denkbar, meinen wir? Diana Canetti, aus Istanbul kommend und deutsche Romane schreibend, zeigt am umgekehrten Fall, daß es möglich ist.

Sie hat sich allerdings westliche Denkformen nicht erst als Erwachsene aneignen müssen - Kind zweier Minderheiten und mehrerer Sprachtraditionen, lebendes Beispiel für die Brückenfunktion des alten Konstantinopel zwischen Abendland und Morgenland. Die Mutter stammte aus einer jener griechisch-orthodoxen Familien, die 1453 nach der Eroberung durch die Türken in Byzanz geblieben waren. Dort hatten die Vorfahren des Vaters, spanische Juden, von der Inquisition verjagt, im gleichen 15. Jahrhundert Schutz gefunden.

„Mit meinem Vater sprach ich das alte Spanisch, mit meiner Mutter griechisch, in der Volksschule türkisch, im Kloster machte ich das Abitur in französischer Sprache“, schreibt Diana Canetti - damals eine oft verzweifelte Schülerin, denn „ich war ein Kind, das sich in keiner Sprache richtig ausdrücken konnte“. Als einzige Nicht-Mohammedanerin hatte sie sich schon in der Volksschule ans Anderssein gewöhnt, ein Anderssein, das wohl verloren macht, aber auch Widerstandskräfte weckt.

Schwieriger war das äußerlich glanzvolle Elternhaus mit seinem Zank und mit seiner Unvereinbarkeit der Charaktere, die schließlich zu Auflösung und allgemeiner Trennung führte. In ihrem zweiten Roman zeigt Diana Canetti einen Ausschnitt aus dem Leben dieser verwöhnten Bürgerschicht: Den Spielclub „Cercle d’Orient“, in dem die schöne stolze Mutter mit anderen Damen der Gesellschaft ihre Nachmittage und Abende verbringt, während der schwer arbeitende Vater das Geld herbeischafft. Aber auch er zwängt sich abends in den Smoking, lebenstoll, versnobt und auf möglichst genaues Nachahmen westlicher Bräuche bedacht.

Die beiden Kinder werden als Belastung empfunden, es gibt kein Nest, aus dem sie herausfallen könnten. So wandert der Sohn später nach Südamerika aus. Und auch Diana, die manchmal auf dem breiten Autositz schlafend die Eltern erwartet hat, rebelliert früh, entdeckt ihre Härte und Zähigkeit - wenn es denn erlaubt ist, die Leila der Romane mit Diana gleichzusetzen. Aber diese beiden Bücher sind so offenkundig autobiografisch, daß die Abweichungen wahrscheinlich minimal sind.

Etwas, woran wir uns halten können, ist das vorangestellte Freud-Zitat, in dem es heißt: „Es war mir längst klargeworden, daß ein großes Stück der Lust am Reisen in der Erfüllung dieser frühen Wünsche besteht, also in der Unzufriedenheit mit Haus und Familie wurzelt.“ Der Koffer mit den Initialen D. C. auf dem Umschlag des ersten ist ein Symbol für die Unruhe, die beide Bücher erfüllt und sie nachträglich als eines erscheinen läßt, obwohl das frühere spontan und ohne Glätte, das zweite stilistisch ungleich besser ist.

Fort! Ich bin geflohen, ich mußte weg, ich hielt es nicht mehr aus - lauter Aufbrüche, lauter sprachliche Chiffren für Fluchtbewegungen, die schon damals, gewiß aber im Rückblick, als Wege auf der Suche nach sich selbst begriffen werden. Bodenlose Wege zuweilen, sie erinnern an Mutproben, an Absprünge aus den Wolken, bei denen man nicht weiß, ob der Schirm sich entfalten wird. Der Aufbruch ins deutsche Sprachgebiet hat etwas Tollkühnes, absolut Irrationales. Warum ging Diana Canetti nicht nach Frankreich, in ein Land, dessen Sprache sie vorzüglich beherrschte? Das sei sie schon oft gefragt worden. Sie habe aber mit einem Stipendium des Österreichischen Unterrichtsministeriums gerechnet, und sie habe geglaubt, am Reinhardt-Seminar Theaterschriftstellerei lernen zu können.

Als beide Voraussetzungen sich als falsch erweisen, bleibt sie dennoch in Wien, wieder in der Position des Außenseiters, eine junge Türkin, die kein Deutsch kann. Sie nimmt sich vor, „das Lernen sollte für mich nicht ein Nebenzweck meines Lebens, sondern das Leben selbst sein“. In dieser Haltung lebenslangen Lernens stimmt sie exakt mit dem großen, gleichfalls spaniolischen, jedoch nicht mit ihr verwandten Namensvetter Elias Canetti überein.

Die Aufnahmeprüfung am Schauspielseminar besteht sie durch die in Istanbul gelernte Ausdruckskunst. Sie nimmt Unterkünfte und Arbeiten jeglicher Art auf sich, am liebsten im Weichbild der Bühne: „Ich kam jeden Abend um 19 Uhr 30. Schminken, Frisieren und Ankleiden dauerten maximal 20 Minuten. Dann nahm ich einen Bleistift und mein Textbuch, ging hinter die Bühne und saß neben dem Feuerwehrmann. Auf jeder Seite fand ich zwischen zwanzig und fünfzig Wörter, die ich nicht kannte. In meiner Freizeit - zwischen zwei Vorlesungen, während der Mittagspause oder in der Stadtbahn - schlug ich ständig in meinem Wörterbuch nach. Nach zwanzig Vorstellungen kannte ich das Stück fast auswendig.“

Diese wahnsinnige Anstrengung mit der deutschen Sprache hat Diana Canetti schließlich das Studium an der Universität ermöglicht. Dem Abitur auf Französisch folgt die theaterwissenschaftliche Doktorarbeit auf Deutsch - über ein türkisches Thema. Triumph der Zähigkeit, Triumph einer außerordentlichen Begabung. Diana Canetti hat dann für eine türkische Zeitung und für deutsche Rundfunkanstalten gearbeitet, Interviews mit Gastarbeitern und Theaterberichte gemacht und sich an Hörspielen versucht. Ein Theaterstück hat sie nicht geschrieben, doch ist ihr kein Bedauern darüber anzumerken. Warum auch - ihre Prosa drückt aus, was ihr wichtig ist: Die Verlassenheit des ausländischen Studenten in einer der großen Industriestädte, die trotzdem immer wieder durchbrechende Freude, jung und schön zu sein und die freien Beziehungen des Westens auszuprobieren. Ein Freund zeichnet ihr griechisch-minoisches Profil.

Gegen die schon in Istanbul erkannten sozialen Ungerechtigkeiten der Türkei wird leidenschaftlich Partei ergriffen, z. T. mit Hilfe und nach den Instruktionen eines revolutionären Landsmanns, der freilich in der Zweierbeziehung den weiblichen Partner genauso ausbeutet wie der Klassenfeind seine rechtlosen Bauern. Das Kapitel Leila und die Männer, Diana und die Männer steht noch deutlich unter dem Eindruck der neugewonnenen sexuellen Freiheit und hat etwas von einem weiblichen Leporello-Album. Daneben stehen einfühlend gezeichnete Kinderporträts: Nalan, die abgerissen und verängstigt am „Cercle d’Orient“ erscheint, weil ihre Mutter sie über dem Glücksspiel vergessen hat. Gökperi, das scheue, elternlose Kind mit den blonden Zöpfen, das auf einer gemeinsamen Bahnfahrt zutraulich wird.

Immer wieder dieses Thema des einsamen Kindes, aber auch der einsamen, kinderlosen Frau. Diana Canetti hat es in einer (später verfilmten) Schauspielszene gestaltet, die für den qualvollen Geburtsakt ein Stück des eigenen Körpers, den Fuß, zum „Baby“ erhebt.

Der beschreibend anschaulich gemachte Vorgang völliger Entäußerung und die verständnislose Reaktion der Lehrer und Schüler am Reinhardt-Seminar rücken etwaige Vorstellungen über die „kulturell zurückgebliebene Türkei“ sehr wirkungsvoll zurecht: Die bessere Schauspielausbildung brachte Diana von Istanbul mit!

Jetzt wird der Koffer nur noch für Ferienreisen hervorgeholt. Das Gehäuse, das sie mit dem Dramaturgen Jürgen Fischer an der Oberkasseler Hansa-Allee bezogen hat, sieht nach Bleiben aus: Eine große, strahlend hell hergerichtete, nach Farbe duftende Altbauwohnung, ideal zum Arbeiten, Umherwandern, Gästehaben.

Drei Jahre Düsseldorf haben sie mit der Stadt befreundet. Ein interessanter Kreis umgibt sie. Im Schauspielhaus hat sie ein Gefühl der Zugehörigkeit, ohne dort angestellt zu sein. Was sie jedoch tut, und was ihr Freude macht, ist die freie Theaterarbeit mit einer Mädchen-Arbeitsgemeinschaft der Realschule Ackerstraße. Und drei Kurse an der Volkshochschule, über Musil und Saul Bellow - genug „Gruppe“, um gegen die einsame Arbeit am neuen Roman einen Ausgleich zu haben.

Sein Titel „Ein Mann von Kultur“ liegt seit langem fest, ihn fertig zustellen dürfte aber schwieriger sein als bei den Vorgängern, weil Diana Canetti nun nicht mehr einfach ihr Leben „abschreiben“ kann, sondern Erfahrenes und Erfundenes zusammenpassen muß. Sie kam als erste Schriftstellerin mit einer ganz klar umrissenen Detailfrage ins Literaturbüro und forderte Hilfe. Solange sie in Bewegung ist, erscheint sie als morgenländische Fee, die sehr genau weiß, was sie will. Aus ihrem schweigenden Gesicht spricht jahrtausendealte Trauer.

In: Düsseldorf schreibt. 22 Autorenporträts, Düsseldorf: Triltsch Verlag, 1981, S. 30–32.

Sensible Verrücktheit. Ein neuer Name: Diana Canetti

„Heute will ich ein weiteres Mal neu beginnen.“ Dieser Satz steht zwar am Ende eines Buches, aber er könnte über jedem Kapitel, jedem Tag, jeder Stunde der Diana Canetti stehen. Ein neues (interessantes und schönes) Gesicht, ein neues, erfrischendes Buch: „Eine Art von Verrücktheit“. Da kommt eine junge Türkin, der Vater türkischer Jude, die Mutter Griechin, aufgewachsen in Istanbul, in einem Gemisch von Judentum, Orthodoxie, Islam und Katholizismus, und schreibt ein Buch über die Emanzipation junger Menschen.

Diana Canetti verbreitet keine Theorien, und selten erwähnt sie ihre marxistische Grundhaltung. Sie schreibt auf, wie sie nach Wien gekommen ist, dort Arbeit, Freunde und Leben gesucht hat. Streiflichter zeigen andere Stückchen Europa, zurückhaltend, erfahrend.

Diese Offenheit zum Leben, die begeisternde Lernbesessenheit und die Fähigkeit, körperlich zu denken und denkend zu handeln, spontan, ohne Rückversicherung, prallen natürlich im blassen Wien, an den blassen, doktrinären Schauspielschülern und -lehrern ab. Momentane Freundlichkeiten, kurze Liebschaften, viel Gerede und Ablehnung - eine eindrücklichere, für uns deprimierende Konfrontation lässt sich gegenwärtig schwer schreiben. Keine lauten Töne und Proteste; D. C. setzt an ihre Stelle den Versuch, ein, mehrere Gegenüber zu finden, darauf einzugehen, nachzudenken über ihre eigene zeitweilige Einsamkeit.

Da sind keine Bindungen, weil es Bindungen gibt. Sondern menschliche Verbindlichkeiten. Solche, die sich verändern, die plötzlich auftauchen und plötzlich sterben. Da ist kein Theoretisieren über die Emanzipation von Geschlechtern, sondern hier wird Emanzipation von Menschen gelebt als Selbstverständlichkeit.

Wenn die Schauspielschülerin D. C. im Wiener Reinhardt-Seminar aus ihrer vitalen Sicht eine Geburt, eine Mutter mit einem toten Kind, den Tod eines Kindes nicht nur zu „spielen“, sondern auf der Bühne ihren Mitschülern vorzuleben sucht, bekommt sie Verweise: ihre Lehrerin findet das obszön, die Mitschüler „würden sich schämen“, und „sowas gehört sich nicht“ usw.

D. C. wird nicht nur von widerlichen oder anziehenden Umständen gefordert. Sie will nicht einfach „ihr Fleisch verkaufen oder verschenken“. Sie sucht Wechselwirkungen, Zärtlichkeit, Liebe, Freundschaft. Uralte Wünsche, die alle unter Bergen von Konventionen, Moden, Religionen, Doktrinen, Trägheit und Machtspielen vergraben sind. Und von denen alle reden. Von jeher.

Diana Canetti schreibt sich, sie denkt sich, sie lebt sich. Das lässt sich einfach sagen. Aber ich finde, sie zeigt zumindest mit ihrem Buch, dass Einsamkeit durchaus schöpferisch, und die Strecke zum andern sehr kurz und unmittelbar sein kann. Diese Art von Verrücktheit löst Komplexe auf. Sie ist viel mehr als ein „Tagebuch einer Jugend“.

Beat Brechbühl in: Züricher Weltwoche, 07.12.1972.

Vita

Geboren am 2. Februar 1954, ermordet am 23. April 1994

In einer xenophilen Familie in Mönchengladbach aufgewachsen, studierte sie in Marburg, Berlin, Heidelberg und Düsseldorf Germanistik, Philosophie und Sprachwissenschaft. Sie promovierte 1985 mit der Arbeit „Das wilde Schreiben. Graffiti“. Renate Neumann arbeitete u.a. journalistisch in der feministischen Monatszeitschrift „Kom’ma“ in Düsseldorf und veröffentlichte seit 1990 Prosaminiaturen und Novellen-Teile in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften.

Zu ihren geistigen Müttern zählte sie Rahel Varnhagen und Hannah Arendt. Besondere Affinität bekundete sie gegenüber „der jüdischen Salonkultur in der französischen Revolutionszeit und dem intellektuellen Widerstand gegen den Nationalsozialismus und gegen undemokratischen Machtanspruch“.

Ihre Prosaminiaturen sah sie in der Tradition der Briefe einer Rahel Varnhagen: „in sich abgeschlossen und doch offen; beim Schreiben entsteht der in die Zukunft offene Text“.

Der erste Prosaband erschien posthum, nur wenige Monate nach ihrem gewaltsamen Tod. Er war mit ihr erarbeitet worden, sollte Ende 1994 erscheinen.

Publikationsliste

Pressestimmen

Aus den schaurigen Schatten. Texte der Düsseldorfer Autorin Renate Neumann im Otto-Brües-Haus

Renate Neumann: ungewöhnlich ihre Kunst, ihr Leben, ihr Schicksal. Ungewöhnlich auch die Referentin, die berichtete, las, erläuterte. Sophia Willems, Feuilleton-Redakteurin dieser Zeitung, war für ihr Thema doppelt prädestiniert: fachlich als Rezensentin, menschlich als Freundin Renate Neumanns, „eine der ungewöhnlichsten literarischen Persönlichkeiten“, nur vergleichbar vielleicht mit Elfriede Jelinek. Schreiben war Renate Neumann eine hohe innere Notwendigkeit.

Die 1954 in Mönchengladbach Geborene, promovierte Germanistin und Philosophin hatte zuletzt, vor ihrem grauenhaften Tod – ermordet am 23. April 1994 – einen Lehrauftrag an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. 1994 erschienen die Prosatexte „Du weckst die Nacht“, ein schmales Buch, dessen Veröffentlichung die Schriftstellerin nicht mehr erlebt hat. Wir hörten daraus, von Sophia Willems gelesen, einige wenige Texte. Wir konnten diese so hautnah erleben, weil Sophia Willems Stimme sie für uns so erlebbar machte. Da schienen im kleinen, vollbesetzten Raum des Otto-Brües-Hauses plötzlich die Metaphern auf: die schaurigen Schatten, die Wörterschatten, die Träume, die Alpträume, die Grenze am Tod...

„Entdeckt werden kann sie kaum“, heißt es in der Miniatur „Auf dem Weg“. Daran knüpft Sophia Willems an: „Entdeckt wurde sie in der Tat nur von wenigen.“ Ihr großes Werk „Der Ort der Dinge“, ein „enzyklopädisch angelegter Selbstversuch“, blieb bis heute ein von den Verlegern abgelehntes Manuskript. Seine Bewegungsabläufe, seine innere und äußere Zeit rückt Sophia Willems in die Nähe von Proust’s „Recherche“.

Die an Sophia Willems geschriebenen Briefe der Freundin Renate atmen die Sprachsuggestion von all ihren Texten. Sätze wie Rhythmen von Ravel oder auch wie von Gertrude Stein – staccato und prestissimo -, und so auch von Sophia Willems übermittelt. Die verwandelnde Kraft der Sprache einer Unangepaßten wurde hörbar, deren geistige Geschwister Hannah Arendt, Else Lasker-Schüler und Robert Walser waren.

„Wassertropfen an den Wimpern – auch Tränen“ bei etlichen Anwesenden. Auch bei mir.

Marianne Gatzke in: Westdeutsche Zeitung, Krefeld, 22.März 1996.

Wahre, unbequeme Sätze als Nachlaß. Prosa von Renate Neumann im Brües-Haus

Renate Neumann, 1954 in Mönchengladbach geboren, fiel 1994, kurz nach ihrem 40. Geburtstag, einer mörderischen Gewalttat zum Opfer. Die promovierte Germanistin hinterließ ein schmales literarisches Werk, das größtenteils unveröffentlicht blieb. Die Düsseldorfer Journalistin Sophia Willems stellte jetzt auf Einladung des Otto-Brües-Freundeskreises im Brües-Haus Prosa der Neumann vor.

Sie sei von der Qualität der Arbeiten überzeugt, sonst würde sie sich nicht dafür einsetzen, sagt Willems, die mit der Autorin befreundet war. Der Nachlaß umfaßt ein Theaterstück, ein Romanfragment, eine Novellentrilogie, den keiner Gattung zuzuordnenden Text „Der Ort der Dinge“. Erschienen ist bisher nur eine kleine Auswahl unter dem Titel „Du weckst die Nacht“ im Neusser Ahasvera Verlag (132 Seiten, 24 Mark).

Unangepaßte Persönlichkeit

Sophia Willems schilderte ihre Freundin als eine unangepaßte, nicht einfach funktionierende, eher mit zuvielen Zweifeln behaftete Persönlichkeit. Ihre letzten Jahre seien vom Kampf gegen Armut und um die versagte literarische Anerkennung geprägt gewesen. Manuskripte lagen Suhrkamp vor – hier gab es keine Antwort -, der Hanser Verlag lehnte eine Veröffentlichung in zynischem Ton ab.

Für Willems hat Renate Neumanns Werk „einsame Größe und große Einsamkeit“. Aufgrund der vorgestellten Texte ist leicht nachvollziehbar, was große Verlage von einer Veröffentlichung absehen lässt. Das Werk ist sperrig, Zeugnis einer Selbstsuche im Raum der Sprache, weit über dem Niveau, das man bloß selbsttherapeutischen Schreibversuchen zubilligen mag. Die Brüche der Identität werden hier nämlich keineswegs gekittet, sondern zur Sprache gebracht. Der Grad der Verdichtung ist hoch, eine leichte Lektüre ausgeschlossen. Kommerzieller Erfolg würde diesem Werk sicher versagt bleiben. Willems hofft, daß vielleicht eine Kulturstiftung zur Finanzierung einer Veröffentlichung beiträgt.

Beschädigtes Leben

Diesem Wunsch kann man sich anschließen, denn der schonungslose Blick auf die Wirklichkeit, wie ihn die Schriftstellerin vermittelt, ihre Auseinandersetzung mit der Trauer über das beschädigte Leben und das Scheitern der Beziehungen, sie verdienen, in einer für andere zugänglichen Form bewahrt zu werden. „Wir müssen wahre Sätze finden“, hat Ingeborg Bachmann gesagt. Das Werk der Neumann, das konnte man im Brües-Haus hören, hat solche und deshalb auch unbequeme Sätze zu bieten.

kMs in: Rheinische Post, Krefeld, 22. März 1996.

Räume in nuce. Renate Neumann: Du weckst die Nacht. Prosaminiaturen.

Wer Welt en miniature darstellt, liebt Paradoxien. Miniaturisten, behauptet Bachelard, in seiner Poetik des Raumes, lassen den Kern sich den Apfel erschaffen. Sie entdecken mit dem Vergrößerungsglas ihrer Aufmerksamkeit ein Detail nach dem anderen und beschreiben so minutiös den Raum, „als gebe es Weltmoleküle, als könnte man ein ganzes Schauspiel in das Molekül einer Zeichnung einschließen“.

In ihren 70 unter dem Titel Du weckst die Nacht erschienenen Prosaminiaturen muß Renate Neumann die „Weltmoleküle“, die sie unter die Lupe nimmt und perspektivisch umkehrt, zuerst mit der Taschenlampe – als Lichtmoleküle – aus dem Dunkel der Indifferenz herauslösen. Doch nicht Licht ist das Sichtbare. Und so läßt Renate Neumann eine Abfolge von düsteren Capriccios (ergänzt durch 7 Zeichnungen) entstehen, flottierende Sinnmoleküle, verbunden allein durch das als Vergessen um Kitsch und Kapital sich windende Band, jenes „goldne Gängelband“, mit dem Hölderlin Gott und Menschen verbunden wußte, als Verbundenheit mit dem Grauen desavouierend und Kunst und Künstlerin in ein Spiel mit dem Tod einbindend: „Spiel mit dem goldenen Band in deinem Haar, Shulamit, weggezogen in ein anderes Land oder Gast?“. Die Räume, die Neumann erschließt, laden nicht zum Verweilen ein; die Moleküle werden zur Weite, Weite aber erweist sich dem Gast, der nicht zum Bleiben aufgefordert wird, als Irrweg und Gefängnis: „Sie geht lebenslänglich. Sie kommt nicht an, erreicht ein Ufer, schwimmt hinüber, kehrt am anderen Ufer um, macht Umwege, verläuft sich. Kleine Papierschnipsel gräbt sie unterwegs ein, hängt Lampions an die Bäume, arbeitet mit an der Straßenbefestigung. Der Tod ist zu, sie kommt nicht rein, muß wieder weiter.“ Sie spinnt sich eine Lebenslinie am Tod vorbei: „Deine Linie weist daran vorbei, geht ins Leere, kann sich nicht aufrichten, der Schlangenbeschwörer hat seine Flöte vergessen.“ Ein weiteres Gedicht Celans alludierend: „Stimmen vom Nesselweg her: Komm auf den Händen zu mir. Wer mit der Lampe allein ist, hat nur die Hand, draus zu lesen.“ verknüpft sie Hand und Buch: „Handschriftschlängel auf Linienpapier, wohlgeordnet, eingegrenzt, gleichmäßig, parallel, bis zum Ende des Heftes, das liniert ist. Auf einer Treppe in Rom, sitzend und auf liniertes Papier zeichnen, quer zu den Linien, schräg dazu, in Schieflage, das Buch in einen Brunnen werfen und warten, bis es sich neben den Münzen auflöst. Ein gutes Zeichen für die Zukunft, wenn es da glitzert, das Kupfer.“

Renate Neumann bewegt sich im Kreis. Unter dem Stern des Todes erweist sich künstlerisches Schaffen – im traditionellen Bild der Schöpfung aus dem Wasser, den Shulamit-Wasserfällen, evoziert – als ein Unmögliches: „Wieder welche, die mit den Händen den Quell fangen wollen, Wasserfalldusche, das nehmen die zum Unbill.“ Nicht sind die „sperrangelweiten Sterne“ im Wasser (das Tiefste ist das Höchste) zu fassen, von keiner Hand, auch von der der Künstlerin nicht; die Existenz einer reinen Hand (Goethe) ist zu bezweifeln. Der Stern, auch er, „comme l’eau à garder dans la main qui tremble“ (Tzara). Ein Zeitmolekül, zu groß, um durch die Sprachgitter den „Wortschlägern“, dem Dunkel des Tages preisgegeben zu werden?

Wasser, das sich „ballen“ ließe (Goethe), erstarrt zu Kristallen, zu Diamanten gefrorener Momente glücklicher Liebe (die Biologie, ein Artefakt und ein Fossil ihrer selbst), auf dem steifleinernen Kleid der Mutter erscheint als blauer Kringel sich materialisierende Kindheitserinnerung, ein Nichts, von Sehnsucht eingekreist, läßt Hohlräume naher Fremdheit entstehen, Epiphanien einer mörderischen Banalität („Riesengeranien“). Banales ist riesig, Riesiges banal. Ein „Urtrauma“, mit der Lupe betrachtet, wird zu Spielzeugschreck, um – durch eine sarkastische Volte – schließlich als Schmuckstück am Revers zu landen. Das Schreckliche, dem Vergessen preisgegeben, wird (Kafkas Odradek ähnlich) zum skurrilen „buntscheckigen Scheusal“, das es als ansehnliche Leiche zu konservieren gilt.

Wie Scheherazade reiht Renate Neumann Geschichte an Geschichte und wirft dem Zeitgeist zur Ablenkung Parabeln zum Fraß vor. Doch hatte die Märchenspezialistin es leichter: Ihr Tyrann hatte ein Gesicht, die Banalität in der Welt Neumanns hat keins. Alles ist verkehrt in dieser Welt: Kleines ist groß, Großes klein, Krankes gesund, Rekruten sterben an Pilzvergiftung, eine Gefahr sind die Friedfertigen. Und wieder anders als Scheherazade erschließt Neumann Räume nicht auf ein Telos hin, ihr wird die Zeit selbst zum Raum: „Was wäre, wenn der Tag nicht mehr geradeaus ginge, sondern sich wie Papierschlangen immer weiter um sich selbst drehte.“ Die Zeit schlängelt sich um sich selbst, wird zum Raum, zum weißen Blatt, das bereit ist, Spuren aufzunehmen. In solchem Raum sind Ausgrenzungen nicht möglich; er bietet sich als ideale Lebensform an für die Ausgegrenzten par excellence, für Frauen und Juden. Von Text zu Text findet Neumann eine flüchtige Bleibe. An die Briefe der Rahel Varnhagen anknüpfend, weiß sie, daß solche Texte unterwegs sind wie jene, die sie schreiben , und ihnen stets das Risiko der verfehlten Kommunikation mitgegeben ist.

Es ist diese Ortlosigkeit, die Frauen, als das andere verkörpernd, die Abweichung von Normen und Ideologien, dazu »verurteilt, die Wahrheit zu sprechen und nicht den schönen Schein« (Jelinek).

Renate Neumann diagnostiziert die Absenz eines erfahrungsfähigen Subjekts. In 70 Miniaturen reiht sie dehumanisierte Fragmente nicht lebbarer Realität aneinander: „Gütige Sekunden, Splitter des Vergessens, nur nicht mehr wissen, unbedingt verschweigen, nicht näherrückenlassen, ausblenden. … Stunden gemächlicher Innenreise, aber ohne Erinnerung, nur nicht aufkommen lassen, nicht hochkommen lassen, nur nicht auskotzen. Gesprächsweise Unterschlagungen begehen, Wissen verschweigen, Können verbergen, nicht zu sehen sein, sich nicht hören lassen, die Toten schweigen ohnehin, Ermordete schweigen noch stiller, laß die Erinnerung nicht durch die dünnen Ritzen drängen, Zeitgeist.“

Du weckst die Nacht erschien posthum. Renate Neumann, geboren am 2. Februar 1954, wurde am 23. April 1994 ermordet.

Gerlinde Roth in: Virginia. Frauenbuchkritik Nr. 19, 26. Oktober 1995.

Das Lied des Todes singen. Zum ersten Todestag von Renate Neumann

„Der Tod ist unfaßlich“, schrieb Renate Neumann, kurz bevor sie starb. Es muß in ihrem Leben entsetzliche Momente gegeben haben, die sie innerlich zertrümmerten, die bei ihr sogar eine Todesangst aufkommen ließen. Welche Momente? Sie sind uns Rätsel, so wie sie uns ein Rätsel war mit ihren entweder mehrdeutigen Aussagen oder ihrer Wortkargkeit.

Sie konnte beharrlich sein in ihrem Schweigen und unternahm dann Forschungsreisen nach Innen. „Du weckst die Nacht“, der Titel ihres im Ahasvera Verlag, Neuss, erschienenen Buches, ist eine Anspielung auf diesen stummen Schrei.

Renate Neumann (geb. 1954) hat Germanistik, Soziologie und Philosophie an der Freien Universität Berlin unter anderem bei Jacob Taubes studiert. Der jüdische Emigrant hielt Vorlesungen über die nationalsozialistische Politik der Vernichtung. Die Ermordung von Millionen Menschen entsetzte die Studentin, wirkte wie ein Schock, der sie nicht mehr heimisch werden ließ auf dieser Welt und der immer wieder eingehen sollte in ihre Literatur.

„Tieflader ins Moor, die Vergrabenen, Verschütteten, viele Menschen, die bleiben da unten, da folgt nichts draus, die Geschichte geht weiter und doch gibt es einen Nerv der Vergangenheit, der durchstrahlt, der durchleuchtet, der die Gegenwart beschäftigt. Es gibt eine Zeit bis in die Gegenwart, da kehrt die Erinnerung ständig wieder, die verfolgt die Jetztzeit und blickt auf die Zukunft und erstreckt sich weiter und läßt sich nicht verdrängen und nicht vergessen, Stachel vergangener Zeit“.

Hier spricht sie deutlich aus, was sie bedrückt und beschämt. Die Vergangenheit, die unversehens in die Gegenwart zurückkehrt, wenn man sie vergißt. „Wissen verschweigen, Können verbergen, nicht zu sehen sein, sich nicht hören lassen, die Toten schweigen ohnehin, Ermordete schweigen noch stiller, laß die Erinnerung nicht durch die dünnen Ritzen dringen, Zeitgeist.“

Neumann übte Kritik am Verlust geschichtlichen Denkens. Mit ihrem unverwechselbaren Ausdruck zeigte sie uns ihr Sich-Nicht-Abfinden mit Verdrängen und Vergessen. Ihre ganze Prosa singt das Lied des Todes. „Der Tod in diesem Land hat eine Geschichte“, und sie trauerte im Namen des deutschen Volkes: „Die Trauertage sind die Klagemauern der Völker…“

Worte, die man in diesen Tagen, zu den Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag des Kriegsendes, durchaus zitieren kann. „Die Luftwaffenbomber und die Bodenkrieger lassen sich zusammenfassen als kriegsführende Parteien. Das verdunkelt den Tag, dennoch will ich leben, um den Krieg zu verhindern, große Einbildungen zu kreieren und mich auszuruhen, bis ich in mir zusammenlaufe, um wieder die Arme schwenken zu können.“

Bilder von Waffengeschäften und Kriegen verdunkelten ihren Alltag. Aber Renate Neumann war bereit zum Handeln. Sie wollte leben, um den Krieg zu verhindern. Sie wollte Widerstand leisten. Ausharren. Noch einmal bei Frühlingsduft am 1. Mai radfahren, darin liegt die Ahnung ihres Todes.

Sie starb am 23. April 1994 als Opfer eines unerklärlichen, beinahe symbolisch anmutenden Mordes. Den 1. Mai hat sie nicht mehr erlebt. Einmal wird man wissen wollen, wer Renate Neumann war, wird mehr wissen wollen, als die bloße Tatsache, daß sie Dozentin und Schriftstellerin war. Wird man sich fragen, ob Renate Neumanns Stimme nicht die Zeit überdauern wird. Aber wann, wenn nicht jetzt?

Sophia Willems in: Westdeutsche Zeitung, Düsseldorf, 22. April 1995.

„Du weckst die Nacht“. Prosaminiaturen von Renate Neumann

„Einzelne Momente des glücklichen Lebens, gibt es das?“ Die so fragt, heißt Renate Neumann. Wenige Zeit nach ihrem tragischen Tod erschien ihr erstes Buch. Hinter dem poetischen Titel „Du weckst die Nacht“ verbergen sich siebzig Prosaminiaturen und sieben Zeichnungen der Autorin.

Gequält vom Hunger nach einem „außerordentlichen Erlebnis“, skizziert Renate Neumann „belanglose Einzelheiten, die sich zu Kleinigkeiten summieren“. Geschichten, angesiedelt „zwischen Jenseits und Nirgendwo“, gezeichnet vom „Stachel vergangener Zeit“. Wo Absurdes und Alltägliches, Gewöhnliches und Ungewöhnliches aufeinandertreffen, entpuppt sich das Banale schnell als das Wesentliche.

Da begegnet uns eine Frau, die ihren Sommerurlaub aus dem Koffer zaubert, um dem Alltag zu entfliehen, eine andere, die sich nach nüchterner Betrachtung ihrer Situation in graubraune Luft auflöst, und wieder eine andere, die alleine ißt und das Gefühl genießt, daß ihr keiner etwas wegnehmen kann. Wir erfahren von dem Mann, der nackt und seltsam unbeachtet in einer Kneipe steht, hören von der Sprachlosigkeit in der Geschwätzigkeit, von der Wachheit, die den Schlaf träumt, von Berührungen, die die Distanz vorwegnehmen, und von einer Intimität, die Fremdheit atmet.

Als flüchtiger Gast, stets auf dem Sprung, unternimmt Renate Neumann Streifzüge durch Tage und Nächte. Sie scheint auf der ständigen Suche nach dem Leben zu sein. Sie taucht in die Welt des eigenen Ichs ein, treibt in den Kosmos ihrer Mitmenschen, verliert sich in Traumvisionen und stellt sich dem alltäglichsten Alltag. Bei aller narzißtischen Selbstbespiegelung sind ihre Beobachtungen nie ohne ironische Brechung. Sie ist und bleibt eine Zerrissene. Wo sie auftaucht, fühlt sie sich heimisch und fremd zugleich. Ihre Unbehaustheit treibt sie weiter. Gierig beobachtet sie Menschen und Situationen. Im täglichen Miteinander deckt sie Unsicherheiten und Brüche auf, im erotischen Beieinander entlarvt sie Irrungen und Verwirrungen. Einige ihrer Gestalten scheinen nicht aus Fleisch und Blut zu sein. Gleich „Traumgesindel“ lösen sie sich auf, verschwinden im Nichts. Andere dagegen sind greifbarer. Sie gehen ins Kino und zu Demonstrationen, verspeisen Butterbrote und trinken Wein, lieben und zanken sich – kurz: sie leben. Die Autorin entwirft ihre Begegnungen mit dem Ich und dem Du in konstruierter Flüchtigkeit. Sie verliert sich nicht in Beschreibungen, vernachlässigt Erklärungen und begnügt sich mit Andeutungen. Ihre Sprache wirkt häufig ruhelos, manchmal getrieben. Ein assoziatives Spiel mit Worten, artifiziell und nur selten umgangssprachlich. Sie gibt sich nicht redselig, erzählt in gleichbleibendem Tempo und schweift nur dann ab, wenn sie Gefühlen auf die Spur kommt. Wo sie Leidenschaft als Leiden denunziert, wirkt ihre Sprache erkaltet wie Asche. Wo sie Erinnerung bannt, Gewesenes festhält, glüht der Wortfluss.

Die Welt Renate Neumanns ist selten heiter und selten licht. Zu häufig bleibt die fieberhafte Suche nach Leben unerfüllt. Die Zeit scheint vor ihrer Zeit gestorben. „An einer Kette hängen die Wochentage aneinander, kommen wieder, ohne sich umzudrehen.“ Das „wieder von vorn“, das „Wiederholen des Spiels“ ist eines der immer wiederauftauchenden Themen. Man kann die Prosaminiaturen zügig lesen und noch zügiger vergessen. Man kann sich aber auch müßig dem Wortstrom überlassen und ohne intellektuelle Deutungsarbeit den Text als guten Geist verstehen, der die Phantasie beflügelt, um am Ende mit der Autorin zu dem Schluß zu kommen: „Glück war vielleicht der Moment hier…“

Petra Urban in: La LiBerta, Heft. 33, März/April 1995.

Unerschöpfliche Komplexität. Prosaminiaturen von Renate Neumann, gelesen von Bela Winken im Bis

Renate Neumann identifizierte sich mit Opfern von Gewalt, hat ihnen ihre Stimme geliehen. Auf der anderen Seite weisen ihre Texte „intensive Daseinsfreude“ auf. Die Verlegerin Dr. Ariane Neuhaus-Koch hat gemeinsam mit der Autorin die Veröffentlichung „Du weckst die Nacht“ redigiert.

Renate Neumann wurde dieses Jahr, knapp 40 Jahre alt, ermordet. Nach ihrer Schulzeit verließ sie ihre Heimatstadt Mönchengladbach, studierte Germanistik, Philosophie und Sprachwissenschaft, gab zuletzt Unterricht an der Düsseldorfer Universität. Die Schauspielerin Bela Winken las die Prosaminiaturen im Kulturzentrum „Bis“. Nach den ersten gehörten Zeilen ahnt man die Lust auf Wiederholen: Wiederholen, um stets tiefer zu begreifen, zu fühlen und sich von den Wortkombinationen überraschen zu lassen. Renate Neumanns Texte sind komplex und in ihrer Komplexität anscheinend unerschöpflich. Die Affinität zur Sprache sticht unmittelbar hervor; in kurzen, prägnanten Wortvernetzungen beschreibt die Autorin vielfältige (Gefühls)-Zustände. Vermeintlich alltägliche kleine Situationen und Momente werden mit Lebendigkeit gefüllt. „Verkehrte“ Assoziationsketten schaffen neue, fesselnde Bedeutungen. Durch die Offenheit der Schreibenden hat man das Gefühl, sie ein Stück weit kennengelernt zu haben. Tiefe Betroffenheit löste der an das Ende gelegte Text „Gefälligst leben“ unter den Anwesenden aus. Wochen vor ihrem Tod, als sie eine schwere Krankheit zu überwinden hatte, schrieb Renate Neumann diese kämpferischen Zeilen.

pr in: Westdeutsche Zeitung, Mönchengladbach, 28.11.1994.

Den Tod nicht gesucht

Sie zeichnete und schrieb bis zu ihrem schrecklichen Tod im April dieses Jahres. Sie half vielen Menschen, zu sich selbst zu finden. Sie war schön und nicht sehr glücklich. Stoff für einen Groschenroman? Stoff für dicke Schlagzeilen in dünnen Blättern? Nein, dazu hat sich Renate Neumann nicht geeignet, auch nicht durch ihren Tod. [...]

Sie war hochbegabt und hochsensibel. Aber sie fand für ihre Texte keinen Verlag, für ihr Zeitgespür kaum Förderung. Jetzt ist ein Buch mit Prosa-Miniaturen unter dem Titel "Du weckst die Nacht" (24 Mark) herausgekommen, an dem sie bis zu ihrem Tod mitgewirkt hat. Es enthält auch sieben Zeichnungen der Autorin.

Ihre Zeichnungen - Strichmännchen, Graffiti. Und doch anders; nicht fordernd, eher federnd. die Zerbrechlichkeit ist Schein. Ihre Texte - selten "wild", oft fein. Sie stellt alles Gegebene in Frage, auch sich selbst. So, wenn sie uns mit unserer Muttersprache bekannt macht. Oder mit unserer und ihrer Redseligkeit. Der Tod ist ihr Thema und das Leben. Aber "der Tod ist unfaßlich". Sie hat ihn nicht gesucht, trotz "Zukunftsangst, Krankheitsangst", der Resignation in der "Krankenbewahranstalt". Am 9. Februar 1994 schrieb sie: "Ich bin im Urlaub vom Krankenhaus und habe mir den Freispruch von der Arbeit erkämpft.‘ "

Jetzt wird Renate Neumann wohl "entdeckt" werden, spät, wenn auch nicht ganz so spät wie jene schreibende Frau, die heute in aller Munde ist: Rahel Varnhagen. Die entdeckte Renate Neumann schon, als Rahels Name einer unter vielen jener war, die sich Heinrich Heines Freunde nannten.

Gerda Kaltwasser in: Rheinische Post vom 22.09.1994.

Nachrufe

Renate Neumann ist ermordet worden. Nachruf

Diese erschreckende und schreckliche Tatsache machte sich die Regenbogenpresse sofort zu eigen, um herauszustellen, daß ‚sowas’ nur ‚denen’ passiert. ‚Diese’, das sind die ‚Lesbischen’, ‚Obdachlosen’, ‚psychisch Kranken’, ‚KünstlerInnen’. Ein Wort, das ich seit Jahren nicht mehr gehört hatte, kursierte durch die verschiedenen Blätter: das Wort Milieu. Was ein Milieu nun eigentlich genau sein soll, weiß keineR. Da leben halt ‚die’.

Der Lebensraum der Renate Neumann war jedoch kein Abgeschlossener. Hätte sie sich ausschließlich in ihrem ‚Milieu’, wie die Zeitungen suggerieren, aufgehalten, wäre sie ihrem Mörder niemals begegnet. Renate Neumann war diejenige Dozentin, die ihre StudentInnen zu sich einlud und ihnen ihre Bücher lieh. Sie war diejenige politisch aktive Frau, die verschiedene bewegte Frauen zusammenführte. Sie war diejenige Schriftstellerin, die drei junge unbekannte (und von daher noch nicht bedeutende) Schriftstellerinnen sozusagen als Kuckucksei zum Schriftstellerinnenkongreß NRW einlud. Sie war aber auch diejenige, die sich vor Anschlägen von Rechtsradikalen fürchtete, Drohanrufe bekommen hatte. Dem wurde, trotz Insistieren von FreundInnen, nicht nachgegangen, da die Polizei sich das einfach nicht vorstellen konnte.

Zynischerweise hat die Möglichkeit, den Mord an Renate reißerisch auszuschlachten, und ihre relative Bekanntheit in dieser Stadt ihr und uns überhaupt erst zu einer größeren Zukenntnisnahme der Tatsache durch die Medien verholfen. Wenn auch weder in ihrem noch in unserem Sinne. Mord, und vor allem Mord an Frauen, ist keineswegs die Ausnahme. Frauen werden zerstückelt und unter der Werkbank aufbewahrt. (WDR 2 nennt das dann „Mord aus Liebe“). Die tägliche und strukturelle Gewalt an Frauen ist keine drei Titelseiten wert. Sonst könnte vielleicht auch der/dem Letzten aufgehen, daß es auch um ihr/sein Leben geht. Ich weiß nicht, ob das, was Renate zugefügt wurde, uns allen passieren könnte, aber ich bin mir sicher, daß es uns alle angeht!

Renate Neumann war nicht eine von ‚denen’, sie war eine von UNS.

Nach und trotz allem ist es mir wichtig, in dieser Zeitung dem Menschen Renate Neumann mit Respekt und Anmut zu begegnen, diesem Menschen, der nach dem Mord an ihr nicht einfach so aufhört zu existieren, der uns auch so viel zurückgelassen hat.

Daher möchte ich die Menschen, die ihr am nächsten standen, ihre Schwester und ihre langjährige Partnerin, hier für sie und an sie sprechen lassen und nicht zuletzt Renate selbst.

Mithu M. Sanyal in: TERZ, Stadtzeitung, Düsseldorf, Jg. 3, Juni 1994.

Rede der Schwester, Usch Neumann, gehalten am 29.4.94 an Renates Sarg

Liebe Menschen.

Renate ist meine Schwester. Sie war ein besonderer Mensch mit Antennen für Herz, Seele und Gewissen anderer Menschen.

Ihre Texte lassen die Gedanken fliegen, das Herz hüpfen und die Seele suchen, aber der Verstand windet sich durch die Anspielungen und widersetzt sich, dem genialen Chaos zu entkommen.

Renate hämmerte an die Wände in uns, klopfte an Türen und bohrte ihre Fühler in unsere Abgeklärtheit. Ihr Leben war eine ständige Herausforderung, Normen in Frage zu stellen, den beliebten Satz „es gehört sich nicht“ an die Wand zu nageln, um endlich neue Antworten zu finden.

Wie trostlos, grausam, Entsetzen und Angst machend, bis zur Versteinerung werdend Renates Tod ist.

Sie hätte den Wunsch gehabt, ihn nicht nur persönlich zu betrachten, sondern aufzurütteln gegen Gewalt in unserer Gesellschaft. Für sie waren die Terrorakte gegen Asylsuchende gleichzusetzen mit der Judenverfolgung.

Renate hatte schreckliche Angst vor dieser Gewalt und fühlte sie wie am eigenen Körper.

Brennende Heime politisch Verfolgter sind keine Schlagzeile mehr wert, sie konnte deshalb nicht schlafen.

Ihr grausamster, gewalttätiger Tod ist eine Tragödie, er bereitet uns Schmerzen in unserer Menschlichkeit, klagt uns an, die Unmenschlichkeit in unserer Gesellschaft zu betrachten.

Renate hätte gewollt, daß dieses furchtbare Entsetzen, das uns den Hals zuschnürt, uns wachrüttelt gegen Menschenverachtung, Ausgrenzung Andersartiger und Fremdenhaß.

Und daß wir anfangen nachzudenken über eine liebevolle, gerechte, soziale und weltumfassende Form des Zusammenlebens aller Menschen und aller Nationen.

Renate fehlt uns unendlich, sie ist nicht zu ersetzen, aber die Vorstellung, daß sie im Himmel die Seelen von Rahel Varnhagen, Hegel, Karl Marx, Rosa Luxemburg und Shakespeare wachkitzelt und zur Reinkarnation anstachelt, hilft mir ein wenig.

So wie ihr Leben unvergessen häufig eine Provokation war, so wird ihr Tod ein Mahnmal bleiben.

Abgedruckt in: TERZ, Stadtzeitung Düsseldorf, Jg. III, Juni 1994.

Pressestimmen vor der Ermordung

Plötzlich rückt Geheimes nahe. Ein Porträt der in Düsseldorf lebenden Schriftstellerin Renate Neumann

„Sehr geehrte Damen und Herren, mit diesem Brief schicke ich Ihnen als ‚work in progress’ meinen Text in Arbeit, damit Sie einen Einblick in Aufbau, Stil und Technik meines Schreibens und Erzählens gewinnen können…“ Aber welchen Verlag interessiert schon noch „Aufbau, Stil und Technik“, wenn nicht hinter dem Autor, in diesem Falle: der Autorin, ein kassenfüllendes Programm, eine Publicity versprechende Person, eine power group, ein literarisches Quartett oder gut absetzbare Randgruppen (Alte wie Anna Wimschneider, Irre wie Ernst Herbeck) stecken? Soll Renate Neumann deswegen ihren Briefentwurf an die Lektorate gleich dem Papierkorb anvertrauen? Das wäre nicht nach dem Temperament einer femme de lettres, die an der Universität Arbeiten mit Titeln wie „Das wilde Schreiben“ (über Graffiti) und „Nicht mehr lieblich schweigen“ (über Rahel von Varnhagen) vorlegte.

Sprache, sagt sie, habe sie zunächst nicht sonderlich interessiert, sie zog mit Stiften und Aquarellfarben über Land; und in ihrer Wohnung hängen bedrängende Gemälde. Jenes, das sie nach der Japan-Reise 1987 zum Kongreß der Deutschen Friedens-Gesellschaft malte, strahlt es aus, das Geheimnis alles Bildens und Abbildens, die Ferne, das Unnahbare, Unwägbare, Ungewisse. Jenes Unnennbare, in das auch ihre Texte immer wieder schweben und den Leser sanft mitreißen in eine andere Welt: Beginnend mit einer Banalität des Alltags, sie zuspitzend, latent sarkastisch, leicht ironisch – und dann der Sturz, der Bruch, der Riß, wenn die Wirklichkeit zu innerer Kenntlichkeit umgeschrieben ist. Das Reale wird surreal – damit wir uns nicht entsetzen müssen, nein, jetzt erst recht entsetzen können.

Langsam also, nach manchen Krisen, schmerzhaften Verwerfungen und Umschichtungen der Seelen-Landschaft, gelangte sie über das Abbilden, das Analysieren der Wissenschaften, des Privatisieren der Tagebücher zu jenem Schreiben, das nun als Literatur vorliegt – ungedruckt, sieht man von Wenigem ab, aber umfänglich: Über 200 Seiten Kurzprosa („Minimale Geschichten“), eine Novellentrilogie, der Roman „Wenn A in B verliebt ist (ist B in C verliebt)“, ein Theaterstück.

Die autobiographische Folie läßt eine kosmopolitische Familie zum Vorschein treten, in der sich Menschen aller Sprachen ebenso versammelten wie die Temperamente sich schieden. War die Großmutter eine Briefautorin von Rang, verkaufte der Vater in alle Welt Rohrwalzwerke; über die Jahre in Pittsburgh/Pennsylvania (1979/82) hat die Mutter wiederum ein geistreiches Buch verfaßt. Ihre älteste Tochter Renate, geboren 1954 in Mönchengladbach, gewöhnte sich den schwäbischen Zungenschlag, Familienerbteil, in der rheinischen Grundschule rasch ab: „Ich war wie ein Ausländer.“ Sprach-Enteignung.

Das Etappenhafte in Renate Neumanns Schreib-Geschichte schlägt sich in der Struktur ihrer wundersamen Texte nieder als Abfolge von Schritten aus einer Wirklichkeit in eine andere. „Mir ist eine merkwürdige Labilität zugestoßen“, sagt sie. Damit ist ihre Fähigkeit bezeichnet, das Geheimnis der Dinge zu erspüren, es in Sprache zu verwandeln, ohne es zu verletzen. Es bleibt unnennbar. Und doch spüren wir lesend plötzlich seine Nähe, sehen sein Bild.

Sophia Willems in: Westdeutsche Zeitung, Düsseldorf 11, Mai 1993.

Texte von Renate Neumann

Die Verantwortliche für diese Internetseiten war die Verlegerin von Renate Neumann und verfügt über das Abdruckrecht für diese Texte.

Gedanken, Gedenken

Zielstrebig erinnern, ungezielt vergessen. Samtweiche Gefühle in dem Moment der glücklichen Erinnerung, einzelne Momente des glücklichen Lebens, gibt es das? Sekunden der Gutmütigkeit in der Erinnerung und einzelne Sätze, die auf Papier standen, die dort weiter stehen, die die Erinnerung forcieren, sich dort schwarz auf weiß eingegraben haben. Gültige Sekunden, Splitter des Vergessens, nur nicht mehr wissen, unbedingt verschweigen, nicht näher rücken lassen, ausblenden. Heftiger Erinnerungsschwall wird wieder in die Schachtel verpackt. Ausweglos in die Gegenwart geworfen, der Vergangenheit entronnen, der Zeit entkommen. Erinnerungsgeschenk, verpackt, verschnürt, zugebunden, nicht herauslassen, drinnen stecken lassen, verschnürt, zugebunden, nicht herauslassen, drinnen stecken lassen, nur nicht öffnen, draußen nichts davon sehen lassen, bis ins Unterste verbergen. Stunden gemächlicher Innenreise, aber ohne Erinnerung, nur nichts aufkommen lassen, nicht hochkommen lassen, nur nicht auskotzen. Gesprächsweise Unterschlagungen begehen. Wissen verschweigen, Können verbergen, nicht zu sehen sein, sich nicht hören lassen, die Toten schweigen ohnehin, Ermordete schweigen noch stiller, laß die Erinnerung nicht durch die dünnen Riten dringen, Zeitgeist. Wartestellung auf Durchbruchsversuche des Gedächtnisses, hochgekommene Zeiten, Schalen voll Erbrochenem, Ausgespucktem, Rübergerettetem. Ausgeschwiegen, herauskommen, deutlich werden, aber wo ist die Grenze? Die Erinnerung abschotten, das quillt dann aus allen Ohren wieder heraus, versickert wieder, macht keinen Effekt, bedeutet wenig. Unscheinbar, kleinkariert, Miniaturgeschichte, ausweglose Situation, merkwürdig, beobachtet, schnell erfasst, durchgegriffen, zu spät gekommen. Tieflader ins Moor, die Vergrabenen, Verschütteten, viele Menschen, die bleiben da unten, da folgt nichts draus, die Geschichte geht weiter und doch gibt es einen Nerv der Vergangenheit, der durchstrahlt, der durchleuchtet, der die Gegenwart beschämt. Es gibt eine Zeit bis in die Gegenwart, da kehrt die Erinnerung ständig wieder, die verfolgt die Jetztzeit und blickt auf die Zukunft und erstreckt sich weiter und läßt sich nicht verdrängen und läßt sich nicht vergessen, Stachel vergangener Zeit.

In: Renate Neumann: Du weckst die Nacht. Prosaminiaturen. Neuss: Ahasvera Verlag 1994, S. 87f.

Es ist spät, Lieb’

Aus der Kurve der Nacht kommt Liebesgeflüster, da stehen die Besucher Schlange in der Peepshow. Kolchosenarbeit, dann Nacht, dann einschlafen, doch Liebesgeflüster in den Sternen. Sie krallt sich um ihren Kragen. Wegelosigkeit. Dann eingeschlafen. Weggenommene Stunden, ausgewichene Tage, unsteuerbare Wochen, Monate gerade jetzt, in diesem Moment. Einstellungssache. Da erkürt sich die Freundin eine Freundin der Freundin, der Liebe. Liebes, es wird spät. Zur Frau geboren. Wegebahnen, Ausweichstellen, vollgestellte Straßenbahn. Arbeit, schlafen, essen, aufwachen, weitergehen, unentwegt verstreichende Stunden, weiterschlafen, weiterwachen. Wo bleibt da die Sekunde, der Einschlag? Gehäckseltes Stroh, darin Nachtgeflüster, Sternenanbetung, Gewinde der Erinnerung. Wo bleibst du Lieb’, wo steckst du, wo sind deine Momente? Liegen sie unter dem Pflaster, auf der Straße, in der Woche, in einem Jahr. Wo sind deine Stunden, wie ist dein Monat? Entschwunden, gegangen, verloren, wo bist du Lieb’? Wer hat vergessen, den Kuß unterm Schirm, es schüttete, wer hat daran gedacht, der Kuß am Rhein. Wer hat daran gedacht, die Dachlatte in der Hand, den Boden unter den Füßen, die Stunden vergessen. Wieder von vorn. In der Nacht stehen die Nutten auf den Füßen, die Freier liegen ihnen zu Füßen, keine Geburt, kein Aufwachen. Käse zum Frühstück, Kandelaber im Film, Rotlicht aus dem Fön, Schwarzkuchen als Brot. Geschmeidige Wintersonne, die sich zerstäubt. Weggewandte Zeit.

In: Renate Neumann: Du weckst die Nacht. Prosaminiaturen. Neuss: Ahasvera Verlag 1994, S. 10.

Du weckst die Nacht

Einsame Nächte umspielen wie Kautschuk den Körper. Liebesabenteuer werden kolportiert, nicht ausgegrenzt. Faulenzende Nächte im Arm des Mondes. Da hämmert es sich gut und schneidet ins Fleisch. Suchmeldung: Wo ist die Nacht? Gieriges Aussaugen der Stunden, die die Nacht hergibt. Sie liest im Bett und stützt den Arm dabei auf, bis er einschläft. Die Einschlaflektüre ist leise. Als sie die Nacht durchmachten, tunkten sie sich nicht in blaugeblümte Pyjamas. Laß die Nacht ruhen! Sie hat dir nichts getan. Du hattest keine außergewöhnlichen Wünsche im Bett, was uns nicht daran hinderte, wunschlos glücklich zu sein, eine Sekunde, die ganze Nacht. Unter uns Wasser, zwischen uns Feuer. Die trauerumflorte Nacht runzelt die Stirn, Umarmung im Treppenhaus. Der Schlüssel klemmte. Nur diese eine Nacht. Sucht der Nacht. Keine Nacht allein, immer wieder. Dein liederliches Ehebett. Wenn du die dicken Vorhänge vorgezogen hast und den Baldachin über deinem Bett ausbreitest, klingt der Beischlaf postmodern. Kissen saugen Geräusche auf. Sie wickelte ihr goldenes Haar um seine Knie. Am nächsten Morgen schnitt sie es ab. Asymmetrisch. Schwebende Trauernacht. Dein Lachen, dein goldenes Haar. Sie legte sich am Abend schon das Frühstücksei zurecht, weil sie so früh aufstand. Sie hatte vier Kinder.

In: Renate Neumann: Du weckst die Nacht. Prosaminiaturen. Neuss: Ahasvera Verlag 1994, S. 28.

Muttersprache

Gehen, Hören, Riechen, Schmecken. Aufrecht stehen lernen, Fremdheit lernen. Antennen entwickeln, sprechen lernen. Was kann das Kind denn schon? Was will es verstehen? In welchem Land leben wir? Laß mich deine Muttersprache hören, wie klingt sie, wie surrt sie in deinen inneren Tönen? In welcher Sprache träumst du, verstehst du im Schlaf Papierrascheln, Insektensausen, Füßescharren? Weltsprache. In der verstehen wir uns, hören uns, könnten uns Liebe sagen, aber nun ist doch deine Sprache meiner fremd. Ich kann nicht hören, was du sagst. Was ist deine Sprache? Ja, das ist etwas anderes, die Autosprache, Zeichen geben, Verkehrsregeln, internationale Verständigung, mit internationalem Führerschein kommst du überall durch. Aber was ist deine Muttersprache? Ist es schon das Brabbeln des Kindes, wenn es die ersten Laute hervorbringt, sandig, erdig, warm, eingelullt in der Sprache der Blumen. Diese knistern, wenn du damit zu mir kommst, laß uns durch Blumen sprechen. „Da muß ein klares Wort gesprochen werden.“ Genau, das ist der Ton der deutschen Sprache, die so durchdringend ist, daß sich ihr niemand entziehen kann, aber auch eine Sprache mit Idealismus. Ohren zuhalten würde nichts nutzen. Klingend in einer schönen Stimme, geradlinig, befehlend, beschimpfend, kasernenhörig. Aber hat sie nicht auch den Klang der Literatur, wie sie reimt, wie sie charmant tönt, warm klingen ihre Melodien, unsere Ohren sind durchlöchert von der Muttersprache, es könnte ein Gesang sein.

In: Renate Neumann: Du weckst die Nacht. Prosaminiaturen. Neuss: Ahasvera Verlag1994, S. 32f.

Auf dem Weg

Sie erneuerte sich auf dem Weg. Grenze am Tod. Sie erfährt Hinweise auf die richtige Richtung, hört von Umwegen, rennt weiter, kommt voran. Sie sieht Gabelungen, hinter ihr nichts, vor ihr Kreuzungen. Sie begleitet einige auf dem Weg, an Kurven verlieren sie sich aus den Augen. Kaum einer kommt ihr entgegen. Sie geht abwartend, stolpert. Der Weg bricht ab, sie geht querfeldein, der Weg hört auf, sie springt ins Weite. Sie geht lebenslänglich. Sie kommt nicht an, erreicht ein Ufer, schwimmt hinüber, kehrt am anderen Ufer um, macht Umwege, verläuft sich. Kleine Papierschnipsel gräbt sie unterwegs ein, hängt Lampions an die Bäume, arbeitet mit an der Straßenbefestigung. Der Tod ist zu, sie kommt nicht rein, muß wieder weiter. Blaue Pfeile sind auf den dürftigen Weg gemalt, dort wo es weitergeht. Sie folgt der Richtungsanzeige. Immer wieder bricht der Weg ab, sie fängt tausendfach wieder an, immer an der gleichen Stelle, verliert die Menge, geht allein. An Mauern entlang, überall zu Hause, mit dem Kopf im Moos, selbst langsam in den Farben der Natur, verwittert, lernend, vergessend. Weg ist, wo ihre Füße gehen. Schachteln liegen am Rand, Bauschutt, Geröll, ein alter Kühlschrank, sie klettert einen Abhang hinunter, dann Vororte, Zentren, Städtebilder gerafft. Sie geht durch Gemäuer, verfallene Durchblicke, die sie abseitig liegen läßt. Sie streicht an Wänden entlang, streicht mit den Händen darüber, saftiges Grau, Leben der Steine. Sie kennt die Richtung, verändert sich auf dem Weg, erkennt alte Pfade nicht wieder. Sie ist nicht in der Spur. Sie hört von Stockungen im Verkehr, schleicht weiter, wandert über Halden, sieht Erker und Gesimse, studiert Fensterfarben und Türformen. Sie geht längs, entlang am Vergessen. Sie fängt Wegweiser, sonst zerrinnt der Weg. Die Schuhe finden ihn, die Füße sind vorwärtsgerichtet. Die Wege im Park sind durch Sehenswürdigkeiten geschmückt, geschickt arrangiert eine Brücke. Sie fällt ins Wasser, Frosch. Nach Trockenpause geht sie wieder auf den Weg und findet wieder einen anderen, keiner von vorher, immer undurchsichtig. Sie findet sich nicht zurecht, aber sie findet weiter. Entdeckt werden kann sie kaum.

In: Renate Neumann: Du weckst die Nacht. Prosaminiaturen. Neuss: Ahasvera Verlag 1994, S. 65f.

Lebenslinien

Sie legte sich Linien zurecht. Schnurgerade Linien. Eine Lebenslinie, liliengleich, bleich, doch noch so ein Berg, schadhafter Nesselberg, der Stoffberg, darunter Kribbelndes, Krabbelndes, der Stoffberg wird weggetragen. Sie hat einen Vergewaltiger gespürt, einen Messerstecher gesehen, im Fernsehen, von Schlächtereien gehört, im Radio, und spinnt weiter an der Lebenslinie, einem Faden. Du hattest ihn um das Handgelenk gewickelt. Deine Linie weist daran vorbei, geht ins Leere, kann sich nicht aufrichten, der Schlangenbeschwörer hat seine Flöte vergessen. Der Strick bleibt im Korb. Sie fädelt den Faden durch Schlüssellöcher, verschließt damit die Tür, der Faden reißt immer wieder, sie knotet ihn zusammen. Und legt Linien damit, auf italienische Marmorböden, marmorierende Linien, vergißt den Ausgang. Der Stock klappt zusammen, bestrickendes Scharnier. Sie legt Fäden, sie kennt Spinnereien, Handauslegerinnen, weise Frauen. Handlinienleserinnen, sie hat sie gesehen, erlebt, aber die Linie weist daran vorbei. Auf der Leinwand eine satte Linie, Menschenfigur, nicht ausgemalt, Umrisse, ohne Inneres, Profil, ohne Zeichen, Zeichnung, unerkennbar, das bleibt doch anonym. Glaube an die Umrisse, der Blick sticht durch die Leinwand, ein unbewegtes Bild, es bleibt sich gleich. Sie läßt sich aufhängen, die Linien werden mittransportiert. Sie kennt Politiker, die Linien ziehen, mit dem Stöckchen im Sandkasten, daraus Weltentwürfe basteln, sie hat sie gesehen, sie stiegen nicht aus, sondern blieben im Betrieb, wurden seriös dabei, nur die Karikaturisten machten sie zu dünnen Strichen. Handschriftschlängel auf Linienpapier, wohlgeordnet, eingegrenzt, gleichmäßig, parallel, bis zum Ende des Heftes, das liniert ist. Auf einer Treppe in Rom, sitzend und auf liniertes Papier zeichnen, quer zu den Linien, schräg dazu, in Schieflage, das Buch in einen Brunnen werfen und warten, bis es sich neben den Münzen auflöst. Ein gutes Zeichen für die Zukunft, wenn es da glitzert, das Kupfer.

In: Renate Neumann: Du weckst die Nacht. Prosaminiaturen. Neuss: Ahasvera Verlag 1994, S. 108.

Epilog: Gefälligst leben

Sie hat die Ordnung zum Leben, sie hat die Wut zum Leben, sie will weiterleben. Ihre Krankenhäuser benutzt sie zum sich Hospitalisieren, sie liegt dort und steht und geht dort, und die Krankenhäuser geben ihr Urlaub.

Ich bin im Urlaub vom Krankenhaus und habe mir den Freispruch von der Arbeit erkämpft. Unter meiner Sonne liegt meine Mondin (plattgepreßt wie Blüten im Lexikon), darunter die Venus, und der Saturn verdämmert am Horizont. Recht hast du, sagt sie sich selbst und die Wahrheit sagst du, sagte sie sich selbst, und ich bin eine Sie, die dem Männlichen ausweicht, es nicht versteht, kaum anbändelt. Jetzt nicht jedenfalls.

Hochaufgewürfelt sind die Holzscheiben und darüber Klötzchen. Auf dem Boden liegen die Kinderschuhe, und auf der Straße gehen die Kinder geradewegs zum Hort, zum Kindergarten, zur Schule nicht mehr so oft in Begleitung der Mutter. Ich rastere mir meinen Weg. Die Büdchen und die Läden stehen mir wieder offen. Ich bin in Urlaub und habe gefälligst zu leben, weil selbst wenn geschnitzte Schlangen sich an den Hals des Kranichs hängen, er sich schüttelt und mir seine Schwingen zeigt. Weil die Sonne auch hinter den Wollen scheint. Weil die Mondin nachts manchmal auch mir ihr Gesicht zeigt. In der Zeit, wo das Telefon erreichbar ist, will ich leben. Den Fernseher könnte ich eigentlich verkaufen. Die Stühle hingegen sind soweit in Ordnung. Die Säbelrassler sind nicht hier, sondern klingen zu laut, um endlos zu schlafen. Die Luftwaffenbomber und die Bodenkrieger lassen sich zusammenfassen als kriegführende Parteien. Das verdunkelt den Tag, dennoch will ich leben, um den Krieg zu verhindern, große Einbildungen zu kreieren und mich auszuruhen, bis ich in mir zusammenlaufe, um wieder die Arme schwenken zu können. Außerdem will ich noch einmal bei Frühlingsluft auf dem Fahrrad zum 1. Mai fahren. Ich will noch einmal Beethovens Sinfonien hören und die gehörnte Eidechse sehen, die Pfirsichsaft dann, erst dann von meinen Beinen lecken darf.

9. Februar 1994

In: Renate Neumann: Du weckst die Nacht. Prosaminiaturen. Neuss: Ahasvera Verlag 1994, S. 126f.

Vita

Publikationen

Texte der Autorin

Bergfilme (1990/91)

Wir steigen auf die Alm zum Fernsehen. Ich will den Rauschberg sehen.
Mein Neffe lieber Watzmann.
Ich frage, was willst du Trenker?
Es sagt, ein großes Helles.
Ein Männlein bringt uns Bier und drei Weißwürste.
Ich sage, halt Männlein, da fehlt noch Wurst!
Der Hunter unter der Bank nagt am Knochen.
Ich sage, Luis, du bist ein guter Hund.
Mein Neffe kann den Watzmann nicht finden, Die Fernbedienung fällt ihm aus der Hand.
Ich sage, der erste Teil der Watzmann-Serie ist langweilig gewesen.
Er sagt, Drehbuchschreiben müßte man können.
Ich sage, Luis Trenker hat auch Bücher geschrieben.
Mein Neffe sagt, eines muß man ihm lassen, schreiben konnte er.

Das Männlein bringt nochmal drei Würste.
Ich sage, so ist recht, jetzt geht die Zahl glatt auf.
Das Männlein lächelt und streicht sich eine Locke aus der Stirn.
Mein Neffe schaltet an der Fernbedienung herum.
Ich sage, die Rauschberg-Serie ist immer spannend.
Er sagt, er findet den Hauptdarsteller nicht gut.
Ich sage, es ist auch nicht einfach einen Berg zu spielen.
Er sagt, daß Buch ist besser als der Film.
Ich sage, der Film ist eine Hommage an Luis.
Der Hund unter der Bank nagt weiter am Knochen.
Mein Neffe sagt, der Watzmann zeigt Familienschicksal hautnah und beim Rauschberg ist immer nur der Hauptdarsteller im Bild.
Ich sage, der Hauptdarsteller hat Luis leider nicht mehr persönlich kennengelernt, weil er lange im Orient gelebt hat.
Ich sage, beim Watzmann werden die Bergfamilien bloß auf ihren Hütten gezeigt. Man sieht nur Innenaufnahmen.
Er sagt, daß dafür der Vor- und Nachspann im Freien spielt.
Das Männlein kommt abkassieren, weil der Hund mit dem Knochen fertig ist.
Er nimmt meinem Neffen die Fernbedienung aus der Hand.
Mein Neffe sagt, die Würste haben ihm geschmeckt.
Ich nehme den Fernseher über die Schulter und gehe voran.
Ich sage, der Watzmann, das ist der Abstieg.
Mein Neffe sagt, er kann nicht verstehen, warum der Empfang so schlecht war.
Ich sage, morgen gibt es Schnee.
Das Männlein schraubt die Holzbank ab.
Der Hund rührt sich nicht vom Fleck.
Mein Neffe sagt, Luis, komm Watzmann!

Silvester im Mezzogiorno (1991)

Über der Gasse kracht es, zuckt es.
22 Uhr. Detonationen zögern unsere Schritte hinaus. Auf der Hauptstraße ist Autostille. Kein Taxi fährt vorbei.
Unsere Blicke suchen schreckhaft die Bürgersteige ab.
Feuerwerkskörper explodieren. Die Uhren sind vorgestellt.
Vorneujahrlicher Kriegszustand.

An den Häusermauern gehen wir in Deckung. Dann tasten wir uns wieder zur Straße vor, spähen, lugen, bangen.
Ein Knallkörper schlägt dicht neben uns zu Boden. Vom Balkon gegenüber wird scharf geschossen. Wir werden angepeilt. Unser Fluch stärkt die Schützin, macht ihr Mut und uns Angst auf der menschenleeren Straße.
Wir kehren um, schleichen ins Haus, rufen ein Taxi durchs Telefon. Die Gasse ist eng, der Wagen wird nicht in den Hinterhof kommen. Wir müssen die beschossene Gasse zur Hauptstraße zurück, winken. Schritt für Schritt fußen wir voran, kauern wieder an der Mauer, halten Atem an und betreten die Straße.
Ein Auto macht sich breit, kein Taxi fährt vorbei, niemand holt uns. Es knallt. Schwefelnebel liegt über der Nachbarschaft und wird zu Kopfschmerz. Akustische Krater reißen ins Ohr, verhallen, wie Triangeln.
Sprengkörper schlagen die Alarmanlagen parkender Autos ein.
Die Sirenen mischen sich mit der Sprengwut.
Wir zucken zum Haus zurück.
Jetzt stehen Kinder im Hof und verbrennen Holz.
Ein Junge tritt Flammen mit Füßen.
Auf dem Asphalt raucht ein verendeter Kracher.
Der Himmel ist erleuchtet.
Die Zentrale meldet sich nicht mehr.

Wir äsen in der Wohnung, grasen die Küche nach Eßbarem ab. Die Party findet zu Hause statt. Spaghetti schlängeln sich durch Öl und Knoblauch.
Eine fettige Teigmasse, Menüverzicht. Ein Restposten Wein füllt zwei Gläser.

Wir öffnen die Balkontür über den Dächern der Stadt. Im Talkessel dampft es, knallt es.
Schwarzer Weihrauch steht jetzt im Raum.
Noch zwei Minuten bis Mitternacht.
Die Sprengungen erreichen ihren Höhepunkt.
Wir sehen die Dächer nicht mehr, nur einen unbestimmten Ascheschleier, der sich über den feierlichen Himmel spannt.
Reißende, zuckende, zischelnde Raketen platzen, Lichter zerstreuen sich, Bauten vibrieren unter der Hochspannung, in die grobes Zündwerk hineinwuchtet.
Schwefel, überall Schwefel, frohes Neujahrsgefecht.
Gequälter Nachthimmel, noch Stunden später.
Krachen im Kessel
Zerstörung total
Federvieh flieht.

Evchen (1992)

Früher dachte sie sich in andere Kinder hinein, die sie lieber gewesen wäre.
Sie fand, sie rede zu viel, obwohl sie eigentlich still war. Manchmal kam es in Sprechsalven aus ihr heraus und ihre Mutter sagte, sie solle sich wieder einkriegen.

Sie hätte gerne alles richtig gemacht. Aber oft machte sie Fehler. Sie nahm sich dann vor: Achtung, fertig, los, keine mehr zu machen. Nichts mehr zu sagen, daß andere die Augen verdrehen ließ, nicht mehr so schnell beleidigt zu sein und nicht mehr die Nase hochzuziehen. Sie stieg dann aufs Fahrrad und schaute an jeder Straßenecke übertrieben genau nach rechts und links und wieder rechts, auch wenn überhaupt kein Auto kam, weil überhaupt nicht viel Verkehr war, da wo sie wohnte.

Aber es dauerte nicht lange und sie machte wieder einen Fehler, zog die Nase hoch oder sagte etwas Falsches und dann fing sie wieder von vorne an und sagte sich halb im Stillen: Achtung fertig los und machte eine Faust, so fest sie konnte und alles sollte ihr gelingen. Ab jetzt, sagte sie dann, straffte ihren Körper und fand sich neu und voller Chancen nun perfekt zu werden.

Sie hatte viele Spielkameraden. Die dicke Doris, Axel mit dem Glanzbilderkoffer, die dreckigen Kinder und Uwe. Sein schmaler Kopf wackelte immer leicht hin und her, als wolle er nicht festsitzen auf dem mageren Hals. Er wohnte gleich an der Eisenbahnbrücke. Roller und Kettcars standen im Hof herum. Das war alles was sie von ihm wollte und es machte ihm nichts aus. Er lieh ihr seine Geräte und wenn er sprach, klang es, als käme er den Worten nicht nach und er hielt den Mund leicht aufgesperrt, die vollen Lippen wie zum ständigen Nachtrag bereit. Uwe überließ ihr dann das Feld und hielt sich mit seinem langen gekrümmten Rücken am Rande, als hätte er seine Kindheit an ein frühzeitiges Gebrechen verloren.

Die Italiengeschichte (1992)

Die Kühe haben ihre Fladen dort gelassen, wo die Fußspitzen hinzeigen. Leone lächelt und sagt nichts. Die schmalen Jeansbeine betonen die Verhaltenheit seiner Hüften, die in keine Taille münden. So gut ist Esthers Italienisch nicht, ihn darauf aufmerksam zu machen.

Im Wagen rutscht das Dach kleingefaltet hinter ihre Köpfe. Späte Sonne fließt wie geschmolzenes Kupfer, nur eine Brise blonder über die Sitze. In der Trattoria stehen die Türen offen. Esther wählt die Speisen nach dem Klang der Worte und nach Leones Gesten und der Mimik seines Kommentars. Er lacht über Esthers Kauderwelsch, und seine Augen funkeln braun, und es hängen Wimpern daran, die dunkel sind, dunkler als die Haut seiner hohen Stirn, die von buschigem Haar umkränzt wird. Seine Stimme könnte sie in jeden Schlaf singen und vor Alpträumen bewahren.

Sie hat seine Nase mit dem Knick schon näher kommen sehen und ihre kurze Nase daran gestoßen und den Abdruck seiner Lippen in ihr Bett nebenan getragen. Aber in seinem Arm kann sie nicht bleiben. Und er läßt sie nicht bloß von sich nippen. Nur ganz kann sie ihn haben, und das kann sie nicht, nicht im Herzen und nicht fern der Heimat. Wenn das Telefon für Esther klingelt, antwortet sie der Männerstimme, die in ihrem Ohr wohnt, entrückt, wie von fern, während Leone mit dem Geschirr in der Küche hantiert. Dann geht Esther schnell an ihm vorbei, denn ihr Gewissen reut die Worte, die tonlos durch die Muschel fielen.

Leone kocht, was er kann. Spaghetti. Er versteht das mit Esthers Gewissen. Wir können Freunde sein, sagt er mit einem Augenaufschlag und senkt seine Schelmenmiene über den Teller. Esther tut so, als wäre sie nie älter als fünf Jahre geworden. Sie mag Leones Schoß zum Draufsitzen, als Schemel, damit sie ihm besser im Gesicht herumfuchteln kann. Sein Körper ist so ein Ruhekissen, wenn Esther das Feuer auf Sparflamme hält. Sie weiß nicht, wo sie mit den großen Flammen hin soll, die ihr Mund entfacht hat und die sich über den Rücken hinabzüngeln. Esther windet sich im schmeichlerischen Atem und nimmt unvermittelt die Arme aus dem Spiel. Leone erhebt sich. Seine Stimme klingt offiziell. Er will sich nicht mehr begrabschen lassen, wenn Esther nicht die Reihenfolge einhalten kann. „Wir sind bloß Freunde“, sagt Leone zu seiner Kameradin. Der Bernhardiner wird zum Königspudel. Es müssen erst Stunden vergehen, und sie darf wieder nach seiner Pfote greifen.

Leones Wohnung ist eine Herberge. Esthers Zimmer ist auch Veras Zimmer. Die Schlafstellen sind die Raumteiler zweier Privatsphären, die sich an Kopf- und Fußende berühren. Die Kumpelin in Vera kommt mit allen Menschen zurecht. Sie packt das Leben an der Wurzel und steht kernig in breiten Hüften darin. Ihre ausgedehnten Wiener Vokale überziehen auch die italienischen Silben mit ihrer Herkunft. Geduldig schreibt sie Lektion für Lektion in ihr Heft. Sie will, so wie Esther, eine Sprache verstehen, die zu sprechen sie noch nicht gelernt hat. Vera weiß nicht, wie es um Esther steht. Leone ist das Geheimnis einer zufälligen Wohngemeinschaft, das Dach über dem Kopf, das Esther auf einem Adresszettel in die Hände fiel. Die Zeit schweißt Vera und Esther wie zu einer Dauerübernachtung zusammen. Doch nur flüchtig haben sich die Geschichten am Küchentisch zusammengeknüpft, scheinen die Gesichter zum Greifen nah, während Esther den Fernseher bei der Antenne packt, die zimperlich querschlägt.

Leones Freunde sind beiläufig hereingeschneit und im Sofa versunken. Auf dem Tisch liegt jetzt allerlei Lotteriespiel. Nummern werden aus einem Sack gezogen, und Erbsen markieren die Treffer auf den Zahlenbrettern. Leones Schenkel lassen sich von Esthers Schenkeln ansaugen und verharren. Über das Spielbrett gebeugt, berührt sein Atem ihre Wangen. Er ist das lautmalerische Echo der Gewinnzahlen, damit Esther kein Treffer entgeht. Sie steckt die gewonnenen Lire ein. Ihre Augen senken sich unterm Neonlicht. Auf der Hammondorgel läutet Leone die letzte schlafwandlerische Begegnung ein.

Esther liegt im dunklen Abteil zwischen dicken Männerleibern auf ihrer Pritsche. Lichtstreifen flutschen durch die Jalousie über Esthers Nachtatem. Ob er sie wiedersehen werde, wollte Leone wissen. Da hatte sie ihm die Monate vorgezählt, die Monate bis Klingglöckchen. Dann war er verschwunden, der Zug war noch nicht angefahren. Leone stand im Halteverbot und Esther wollte keinen Abschied, der sich zuwinkt bis zur Unkenntlichkeit.
Esther geht mit ihrem Beutel durch den Waggon. Sie blickt nüchtern in den Toilettenspiegel.
Die Lautsprecherstimme einer deutschen Station klingt wie der Widerhall ihrer Rückkehr.
Eine unbestimmte Freude lacht sie an.
Die Stunden der vorrückenden Landstriche sind gezählt.
Esthers Ankunft schließt die Gedächtnislücken.
Die Taschen auf der Ablage fallen ihr mit einem Satz entgegen.
Die Türen wollen aufgestoßen werden.
Der Körper, der ihr entgegenläuft, erscheint ihr plötzlich fremd und mager. Sie schaut durch das freundliche Gesicht hindurch und taucht ab in Bilder, die Leone ihr auf’s Auge gedrückt hat. Sommerbilder.
Auf dem Bahnsteig ist es längst Herbst.

Vita

Publikationen

Lyrik

Herausgeberinnenschaft

Stimmen zur Autorin und zu ihrem Salon

Zu: „Geflochtene Zeit“ (2004)

Ein Spatz, der als Nachtigall erscheint – Elisabeth Büning-Laube las im Frauenbuchladen

Mehr als sieben Jahre leitete Elisabeth Büning-Laube den Salon KunstLive, bevor sie eine schwere Erkrankung an dessen Fortführung hinderte. Wieder genesen, stellte Büning-Laube im Frauenbuchladen in der Blücherstraße ihren neuen Lyrikband „Geflochtene Zeit“ vor, in dem sie in einer klaren poetischen Sprache die Jahreszeiten und ihr bisheriges Leben in verdichteter Form Revue passieren ließ.

Michael Serrer vom Literaturbüro und der Verleger Georg Aehling würdigten das Schaffen Elisabeth Büning-Laubes und führten in den neuen, mit einem Vorwort von Wilhelm Gössmann versehenen Lyrikband ein. Viele Hörerinnen und Hörer waren gekommen, frühere Salonbesucher und Kollegen, die erstmals im Salon KunstLive lasen, um den Gedichten ihrer Mentorin zu lauschen.

Die stellte sich, erneut lebenslustig und in ihrer unkonventionellen Art, als „Spatz“ vor, der vom verstoßenen Brot lebt und nun in einem anderen Federkleid erscheint. Aus den vier großen Kapiteln des Bandes, den Jahreszeiten gemäß eingeteilt, trug die Dichterin Elisabeth Büning-Laube im Wechsel mit der Schauspielerin Miriam Wiesemann ihre Naturbeobachtungen vor, die auch ungewöhnliche Metaphern nicht scheuen. „Es liegt alles an der Verkündigung“, da nimmt es kein Wunder, dass die Naturbeobachtungen auch gesellschaftliche Fragen streifen.

Ansprechend ist die Metapher von der „geflochtenen Zeit“ („Es wird weiter Zeit geflochten,/ ehe unsere Zeit/ aus den vergangenen Zeiten/ erwacht“). Hier wird Zeit innegehalten, neu verwoben, und im Durchgang durch das eigene Ich belebt. Schier unerschöpflich ist die Fülle an Bildern und an verdichteten Erfahrungen, die sich in dem neuen Buch ausbreiten.

Aus dem Spatz wird schließlich eine Nachtigall, Nacht und Traum grundieren das Buch, in dem Töne von Traurigkeit und Melancholie angeschlagen werden, etwa wenn die Dichterin vorträgt: „Nacht, ich will nicht viel von dir./ Ein kleines Sternenzwinkern/ leichte, laue Luft in meinem Haar“. Dem Band beigegeben sind vier Collagen von Petra Ellert sowie eine Collage mit dem Bild der Dichterin. < Elisabeth Büning-Laube, Geflochtene Zeit, Edition XIM Virgines Düsseldorf, 12.- Euro.>

Wulf Noll in: Westdeutsche Zeitung,1. Oktober 2004.

Zu: „Bindestriche“ (2002)

Sebastian Bialas: Vorwort  in „Bindestriche“, o. S.

Kunst ist im Leben, ist wie ein Bindestrich. Der vorliegende Band Bindestriche enthält sechzig Gedichte und zwei Prosatexte der Düsseldorfer Autorin Elisabeth Büning-Laube. Aber das Buch ist nicht einfach eine Ansammlung verfasster Texte. Es sind lebendige Texte in einer bezaubernden Sprache, der etwas hinzugegeben wurde, das sich in ihnen entfaltet und Leben sucht.

Bei den Bindenstrichen handelt es sich um eine Schatzsuche, die unsere Wirklichkeit betrifft. Die Texte öffnen Räume, die voller Bilder stecken. Dies gelingt ihnen, weil sie kunstvoll anders sind als unser gemeinsames Denken in abstrakten Begriffen. Sie eröffnen den Weg zum Schatz tiefgehender Erfahrungen. Erfahrungen, die mitten im Alltag stehen und mit der Phantasie tanzen.

Es ist ein Buch, das seine Leser sucht, findet und sie in ihr Leben stellt. Insofern sind die Bindestriche eine bezaubernde Zumutung. Sie nehmen ihre Leser ernst und verbinden sie mit sich, und das heißt auch mit der Autorin. In ihnen finden sich Erfahrungen sensibel verdichtet, sie vermitteln Nähe und Wärme. Immer wieder das Ringen, das unser Leben durchzieht und mit Rätseln überschüttet, erfahrbar.

Diesem Ringen ist die wissende Sehnsucht um das Nahe und Ferne eigen. Das Nahe und Ferne berühren sich bevor sie sich scheinbar aufmachen, ihr Position wieder einzunehmen.

Elisabeth Büning-Laube trennt sich nicht von ihren Texten, sie ist in ihnen enthalten. Sie schickt ihre Texte auf die Reise und lässt sie ihre Leser finden. Ihre Worte führen uns in eine neue Wirklichkeit, die uns berührt, stärkt und zu Augenblicken verhelfen kann, die die Augen schärfen. Es sind Bilder, die zu leben beginnen.

In der Reihe KunstLive erscheint nach dem ersten Band der Autorin SpiegelSplitter nun diese Auswahl ihrer Gedichte und Prosatexte. Die Texte treten für dieses Buch in ein interessantes Gespräch mit Bildern der Künstlerin Gepa Klingmüller aus Köln.

Wer schon einmal den KunstLive-Salon von Elisabeth Büning-Laube besucht hat, weiß , wie es ist Kunst nicht nur zu hören, zu lesen, zu sehen, sondern sie zu erleben und zu erfahren. Die Bindestriche freuen sich auf ihre Leser und sind gespannt darauf, ob sie sich mit ihnen verbinden.

Zu: „SpiegelSplitter“ (2001)

Holger Ehlert: Vorwort in „SpiegelSplitter“, S. 6f.

[…] Neben Gedichten schreibt die Autorin eine empfindsame und gleichwohl den Alltag und die Menschen kritisch fokussierende Kurzprosa. Ihre Schaffensbreite umfasst jedoch keinesfalls das geschriebene Wort allein. Die Gestaltungskraft Elisabeth Büning-Laubes sucht und findet seit vielen Jahren ebenso ihren künstlerischen Ausdruck in der Aquarellmalerei.

Mit den SpiegelSplittern ermöglicht die in (Un)- Ruhestand lebende und arbeitende Düsseldorfer Autorin und Malerin vielschichtige Einblicke in ihre Lyrik und damit immer auch die Seelenzustände und Sichtweise der in der Öffentlichkeit stets extravaganten „behütet“ und von ihrer Monky „bedackelt“ auftretenden Elisabeth Büning-Laube.

Die achtundfünfzig vorgestellten Momentaufnahmen, poetische Daguerreotypien einer ratlosen Flaneurin mit Sinn für den Augenblick, sensualistisch und doch treffend prägnant, bestechend einvernehmlich durch ihre vordergründige Eindeutigkeit und Spontaneität als auch durch die hintergründige Tiefe der Bilder und Assoziationen.

Die Themenvielfalt der Verfasserin scheint unfassbar. Und doch zeichnen sich thematisch fünf Schwerpunkte der Büning-Laubeschen – in ihren Miniaturensplittern gespiegelten – Welt ab. Es sind die Menschen und Begegnungen mit diesen, die Natur aber auch die politische Auseinandersetzung sowie die Reflexion der eigenen Kriegserlebnisse und die Kritik an kriegerischen Auseinandersetzungen der Gegenwart. Und schließlich, doch sicher nicht letztlich, eine private Sehnsucht, deren Ziel es zu erlesen und nicht zu beschreiben gilt.

Ein Vorwort zu einer Veröffentlichung dieser Autorin wäre unvollständig, ohne auf die Saloniére Elisabeth Büning-Laube hinzuweisen. Seit 1995 betreibt sie getreu den großen und kleinen Vorbildern der deutsche Salonkultur des 18. und 19. Jahrhundert s in ihrer Derendorfer Privatwohnung mit großem Erfolg den Literatur- und Kunstsalon KunstLive e.V.

Künstlerinnen und Künstler verschiedenster Ausrichtung und ein interessantes Publikum pflegen dort ein regelmäßiges im privat- öffentlichen Kontext ein produktives kulturelles Miteinander.

Aus Anlass des Zusammenfallens des fünfjährigen Jubiläums von KunstLive mit dem Erscheinen dieses Buches schließt sich an den lyrischen Teil ein Nachwort von Georg Aehling unter dem Titel Renaissance oder Erneuerung der Salonkultur? an, in dem der Düsseldorfer Salon in einen historische Zusammenhang eingebunden wird. [...]

Größte Laus der lausigen Welt

„Lyrik macht auch Politik transparent“, sagte Heine-Kenner und tätiger Kunstsalon-Freund Wilhelm Gössmann, spielte damit auf aktuelle Ereignisse an. Er eröffnete die Lesung von Elisabeth Büning-Laube aus ihrem im Frühjahr bei XIM Virgines erschienenen Gedichtband „SpiegelSplitter“.

Das Schnabelewopski war gedrängt voll von jungen und alten Freundinnen und Freunden, denn die Autorin fördert seit fünf Jahren junge Künstler in ihrem privaten Derendorfer Salon. Sie hat den Pfad geebnet, den jetzt andere betreten wollen. Sie werden es schwer haben: Elisabeth Büning-Laube setzte Maßstäbe an Qualität und Selbstlosigkeit.

Die Fülle und Stille im Raum hatte die couragierte 65-Jährige, die man uneingeschränkt eine Dame nennen darf, wohl verdient. Die Lacher waren herzlich beim Gedicht von der Blattlaus, die von sich sagt: „Ich bin die größte Laus der lausigen Welt.“ Atemlose Nachdenklichkeit folgte dem Gedicht: „Nichts ist mehr, wie es war“. Beifall galt der Autorin und Marc Gurek, der moderne Klassik auf der Gitarre spielte.

Gerda Kaltwasser in: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 19.09.2001.

Die schöne Distel – Lesung mit Elisabeth Büning-Laube

Das Publikum, das sonst in den Salon „KulturLive“ strömt, in dem Elisabeth Büning-Laube Menschen und Künstler aller Richtungen zusammenführt, kam diesmal ins Literaturcafé Schnabelewopski, um der Lesung der zierlichen älteren Dame mit den flammend roten Haaren zu lauschen. Sie las Gedichte aus „SpiegelSplitter“, neueste Lyrik und die Erzählung „Das Gesicht“.

Wilhelm Gössmann, der in die Veranstaltung einführte, meinte, Lyrik sei einfach schön, aber lässt doch ein Transparent-Werden von Lebensformen und politischen Dimensionen zu. Wenn in einer Stadt, von der Büning-Laube schreibt, dass sie unbeschreiblich leer und tot sei, „eine Distel verschämt neues Leben verkündet“, erinnere das an die Droste. Die Dame im (Un-)Ruhestand, die rastlose Flaneurin, sei gewissermaßen selbst die „schöne Distel“ in dieser Stadt, fraglos ein Kompliment.

Der Satz Heines aus der „Lutetia“, dass die Vergeltungstheorie eigentlich ausgedient habe, macht sich auch Büning-Laube zu eigen, wenn sie in „Nichts ist mehr“ davon spricht, dass der Nachbar, der eben noch unser Freund war, jetzt als Schwarzer, Türke oder Jude ausgegrenzt wird. In ihren vorsichtigen, kurzen Texten thematisiert sie drohendes Unheil. „Am Rand der Welt / von Raketen bewacht / steht der letzte grüne Baum der Erde.“

Doch Büning-Laube spricht auch von Hoffnung, von Begegnungen mit Menschen, von Liebe, Natur und Zeitereignissen, die das Licht des Wortes verdunkeln, aber nicht löschen können. Ihre Lyrik und Prosa lässt sich auf Mitfühlen und Mitleiden ein. In „Das Gesicht“ berichtet sie von der Begegnung einer jüngeren Frau mit einer älteren. Von einem Bild am Fenster ausgelöst, bleibt die Beziehung lange Zeit nur visuell, beschränkt auf Gebärdensprache und auf Zeichen. Als die junge Frau endlich den Besuch bei der alten wagt, findet sie diese fiebernd auf dem Fußboden vor. Unterschwellig drückt Büning-Laube, die selbst als Waise aufwuchs, hier eine Mutter-Tochter-Beziehung aus, wenn auch verwandelt. […]

Wulf Noll in: Westdeutsche Zeitung. Düsseldorfer Kultur, 21.09.2001.

Neue Literatur aus dem geschichtsträchtigen Immermann-Salon. Für junge Autoren: Digitale Buchreihe

Literatur hat Konjunktur, trotz der oder vielleicht durch die sich atemberaubend ausbreitenden elektronischen Kommunikationsmittel. Beim Bücherbummel im Juni hatte die hiesige Lyrikerin, Malerin und Gastgeberin eines musischen Salons Elisabeth Büning-Laube noch einen Verleger für ein digitales Verlagsprojekt gesucht, das jungen Autoren helfen sollte. Da hat sie ihn denn auch gleich in dem Düsseldorfer Georg Aehling gefunden.

Gestern stellten die Düsseldorfer Autorin Elisabeth Hoheisel und der Berliner Lyriker Titus Müller die ersten Bücher der Reihe „KunstLive“ vor, herausgegeben von Elisabeth Büning-Laube, verlegt von Georg Aehling, Einheitspreis 25 Mark, mit Chansons bedacht von Martine Pruvost-Voss.

Die Büningsche Adresse Collenbachstraße 2, Treffpunkt einer treuen Salon-Gemeinde, hat übrigens eine einschlägige Geschichte, die Aehling im Nachwort zum Hoheisel-Buch schildert. Hier wohnte zwischen 1830 und 1839 Karl Leberecht Immermann, Dichter und Begründer der ersten Düsseldorfer Reformbühne, mit seiner Lebensgefährtin Elisa Gräfin von Ahlefeldt. Der Salon der Beiden entwickelte sich zu einer kleinen Republik der Freiheit des Geistes und der Künste im biedermeierlichen Düsseldorf.

Gute Voraussetzungen also für das Projekt des Jahres 2000. Und viel Lesevergnügen gleich zum Auftakt mit Hoheisels Prosatexten unter dem Titel „Hebels Strategie“ – Illustrationen von der Autorin – und mit den frechen Gedichten von Titus Müller, der seine Freundin Sybille Schäfer die Sammlung „Sturmtag“ illustrieren ließ.

Gerda Kaltwasser in: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 14. September 2000.

Vita

Auszeichnungen

Publikationen

Prosa

Lyrik

Dramentexte

Sachbuch

Beiträge in Anthologien (Auswahl):

Mit-/Herausgeberschaft:

Übersetzungen/ Überarbeitungen

Pressestimmen

Zum Tod von Astrid Gehlhoff-Claes

Lyrikerin Astrid Gehlhoff-Claes gestorben

Wie erst jetzt bekannt wurde, ist am 1. Dezember 2011 die Lyrikerin und Übersetzerin Astrid Gehlhoff-Claes 83-jährig in einem Düsseldorfer Pflegeheim gestorben. Sie hatte 1953 mit einer Arbeit über Gottfried Benn promoviert und wurde von ihm in ihren frühen Jahren als Lyrikerin gefördert. Ihr Briefwechsel mit dem Dichter erschien 2001, zwei Jahre später wurde auch ihre Dissertation erstmals veröffentlicht. Neben zahlreichen Lyrikbänden erschienen 2002 autobiografische Aufzeichnungen unter dem Titel «Inseln der Erinnerung». Astrid Gehlhoff-Claes war die Mutter der Schriftstellerin Undine Gruenter.

In: Neue Zürcher Zeitung, 21.01.2012.

Trauer um Dichterin Astrid Gehlhoff-Claes

Spaziergänger in den Rheinwiesen von Oberkassel werden die kleine, zarte Frau noch gut in Erinnerung haben. Wie sie mit ihrem geliebten Hund Noah spazieren ging, einem reinrassigen „Cavalier King Charles“, der sie überallhin begleitete – zu all ihren Lesungen, auf Reisen, oft nach Rom. Astrid Gehlhoff-Claes war eine eigensinnige, feinnervige, beeindruckende Erscheinung – in ihrer Dichtung wie in ihrem Leben. Wie erst jetzt bekannt wurde, ist die Lyrikerin bereits am 1. Dezember 83-jährig in einem Pflegeheim gestorben.

Wer an Astrid Gehlhoff-Claes denkt, muss sogleich an Gottfried Benn denken. Das ist ungerecht gegenüber dem sehr eigenständigen Werk der Lyrikerin; aber diese Beziehung ist eben auch ein Markstein ihrer literarischen Entwicklung. Als erste in Deutschland hatte Gehlhoff-Claes über Benns Sprachstil promoviert. Der Dichter suchte die Nähe der jungen Forscherin, las ihre Gedichte und geriet in Verzückung. „Ich wollte, es wäre von mir“, urteilte er ziemlich pompös über eins ihrer Gedichte. Man ahnt, dass nicht nur die Verse Benn verzückten. Nachzulesen ist das in dem wunderbaren Briefwechsel der beiden, der nach rechtlichen Streitereien erst vor knapp zehn Jahren erscheinen konnte. Benn hat ums „Liebe Kindchen“ geworben; die Angebetete wusste sich mit allerlei Ausreden dem zu entziehen. Häufig dienten dazu Unfälle und Krankheiten. Darauf Benn in einem Brief: „Ihnen passiert viel, finde ich ... Ich erlaube mir, über Ihre kranken Stellen zu streicheln.“

Die Gedichte hatten die Lobeshymnen von Benn („verblüffend“, „unvergleichlich“, „wunderbar“) nicht unbedingt nötig; aber sie verhalfen ihnen natürlich dazu, weithin gehört zu werden – wie „Der Delphin“, eine Metapher der Glückssuche und zugleich Zeichen der Unerreichbarkeit. Benn hat Gehlhoff-Claes einmal gefragt, warum sie einsam sei. Als die Angesprochene sich ertappt zeigte, fügte er hinzu: „Gedichte, wie Sie sie mir schickten, entstehen anders nicht.“

Astrid Gehlhoff-Claes, die 2003 für ihr Gesamtwerk mit der Trude-Droste-Gabe (10 000 Euro) geehrt wurde, ließ viele an ihrer Dichtkunst teilhaben, auch Gefangene, denen sie regelmäßig vorlas. In ihrer Autobiografie „Inseln der Erinnerung“ erzählt sie auch von ihrem einzigen Treffen mit Benn. Am Ende des Kapitels dann der verblüffende Satz: „Die Erde war schön.“

Lothar Schröder in: rp-online, 8.01.2012.

Zu: Inseln der Erinnerung (2002)

„Mir ist, als löse der Himmel über dir sich auf in ein Meer von Malven, die auf den Türmen, auf den Bäumen liegen bleiben, was ein Stück Erde selbst zum Himmel macht.“

Bäume als Vorbilder. Das Dasein der Straße als lebenswichtig. Kirchen als Oasen des Friedens.

Astrid Gehlhoff-Claes erzählt von den Inseln ihres Lebens, an denen sie noch heute gerne strandet. Denn ein solches Stückchen Festland im Meer der Einsamkeit spendet Trost, gibt Hoffnung. Hoffnungen, die „wie Vögel sind, die das Ankommen kennen: du lebst.“

In kurzen Episoden beschreibt die Autorin Stationen der Vergangenheit. Sie erzählt von ihrer Traumstraße, die ihr Kraft gibt. Von Sankt Gereon, wo das Leben die alltägliche Dunkelheit verliert. Und von ihren Lesungen im Gefängnis, deren Inhaftierte versuchen, das Draußen zu bestehen.

Sie führt den Leser ein in ihre Welt. Mit beschwingten Worten. Verständlich, denn die „Poesie“ bringt „die Momente“ schließlich „zum Leben“.

So beschreibt sie Empfindungen, erzählt von Orten und Menschen, die in ihrem Leben einen Sinn machen. Sie nennt die Begegnung mit Gottfried Benn. Der große Dichter. Und sie. In einem Schlosspark, damals, als er noch nichts von ihr weiß, als er herausfindet, dass sie einsam ist. Er gibt ihr Selbstvertrauen, stärkt ihren Mut zum Schreiben.

Die Einsamkeit. Sie schwindet bei Gelhoff-Claes überhaupt nur „auf dem Weg in die Natur“. Und so spricht sie passagenlang über Bäume und wie sich deren einzelne Blätter im Takt des Windes bewegen oder wie sie in einem anderen Licht aussehen.

Ebenso hält es die Autorin es mit anderen Pflanzen, zuweilen auch mit Gebäuden. Sie langweilt mit daten-faktischen Einzelheiten einer Kirchturmglocke. Mit überflüssigen, weil wenig fesselnden, geschichtlichen Einzelheiten über ein Schloss.

Die Autorin verliert sich in zunächst interessanten und mitreißenden Beschreibungen. Doch spätestens nach der Erzählung über ihre tief emotionale Bindung zu Zypressen möchte man von Pinien nichts mehr hören.

Ihr Werk gibt zum Erforschen ihrer Psyche Anlass. „Inseln der Erinnerungen“, oft als Autobiographie klassifiziert, erscheint an manchen Stellen mehr wie ein Reiseführer, wie ein Sachbuch über Flora und Fauna. Immer wieder bleibt die Autorin unkonkret. Nur ansatzweise erfährt man etwas über den Ursprung ihres Leids, ihrer Einsamkeit. Sie scheint unfähig, ihrem Ärger und der Wut Raum zu geben. Sie verlor Freunde, weil sie immer im Sinne ihres Vaters handelte. Doch: kein Wort davon, wie sich das anfühlt. Sie verliert ihre Tochter an die Schwiegermutter. Und wieder: keine greifbare Äußerung über den Schmerz.

Lediglich das Kapitel „Freundschaft in Paris“ offenbart, dass „sie schreit“. Doch zu leise, im Ganzen ist dieser Satz nur eine leichte fallende Feder, die man am Ende überhört. Sie bevorzugt mit ihrem Hund zu plaudern, oft weiß sie nicht mal Namen der Menschen, die um sie herum und mit ihr leben. Wohl aber die der Haustiere jedes Einzelnen. Vielleicht hat sie Angst vor Voyeurismus. Die Möglichkeit, der Leser könne als Beobachter ihrer Seele agieren, scheint sie zu behindern.

Und so bleibt es dabei, dass nicht nur Benn - wenn auch nur zu Anfang - nichts von ihr weiß. Auch der Leser ist weitestgehend von ihrem Leben ausgeschlossen.

Bemerkenswert sind ihre Worte, die in Erinnerung bleiben. Vielleicht ist das jedoch die einzige Insel, auf der der Leser strandet: „Ihr wisst nur von meinen leichten Tagen,/ doch die dunkeln habt ihr nicht gezählt.“

So erklärt sie sich in ihrem Gedicht „Der Delphin“ - und ahnt vielleicht nicht, wie Recht sie hat, liest man ihr Werk. Schöne Wort alleine genügen eben nicht immer

Nadine Gottschling in: literaturkritik.de, Nr. 6, Juni 2003.

Fünf weitere Pressestimmen zu diesem Buch finden sich auf den Seiten des Grupello Verlags: www.grupello.de/verlag/autoren

Zu: Der lyrische Sprachstil Gottfried Benns (1953/ 2003)

Wo kommen eigentlich Paradigmen her? Anmerkungen zu Astrid Gehlhoff-Claes' Dissertation „Der lyrische Sprachstil Gottfried Benns“

Wieso erscheint eine Dissertation 50 Jahre nach ihrer Annahme? Diese Frage lässt sich in zweierlei Hinsicht beantworten. Zum einen, weil sie bis heute gültige Ergebnisse liefert, die die Forschung - so die der Publikation zu Grunde gelegte Erwartung - auch noch im Nachhinein nachhaltig befruchten kann. Zum anderen, weil sie wissenschaftsgeschichtliche Relevanz besitzt.

Der Verlag ging wohl von Ersterem aus, zumal es im Klappentext heißt, die Dissertation sei „eine kleine literaturwissenschaftliche Sensation“, die „dabei zu noch heute gültigen Ergebnissen gelangt“. Schon in der der Dissertation vorgeschobenen persönlichen Stellungnahme der Autorin, die in der Art eines imaginierten Briefes an den bereits fast 50 Jahre verstorbenen Dichter Gottfried Benn gerichtet ist, kommen dem unvoreingenommenen und bislang noch geneigten Leser angesichts solcher Euphemismen erste Zweifel. Zu sehr wird Benn als Person und Autor von der Autorin für ihr eigenes Leben vereinnahmt: „Schmerz wird [von Benn] als Privileg, als Mitgift der dichterischen Berufung aufgefaßt. Das war meine Brücke, mein Band; in meinem dunklen Leben damals meine Traumnahrung. Ich schrieb schon selbst Gedichte, und meine lyrischen Motive waren oft Ihren gleich: die Natur - Blumen, Bäume, Vögel -, Schreiben und Einsamkeit.“

Auch die Zielsetzung und das eigene Vorgehen muten wissenschaftlich so gar nicht gegenwärtig an, da die Dissertation den heutigen Standards einfach nicht genügt - etwa wenn davon die Rede ist, dass „das Gesetz der stilistischen Phänomene einer Dichtersprache dadurch zu finden [sei], daß wir die Verknüpfung von Ausdruck und Wesen des Dichters zu erkennen suchen“, weshalb Gehlhoff-Claes vorschlägt, „die Kenntnis der Dichterpsyche gerade als Mittel für eine exakte Deutung der einzelnen Stilmerkmale“ einzusetzen, indem die Prosa, „vor allem de[r] selbstbiographische Roman Doppellebe“" zur maßgeblichen Bezugsgröße erhoben wird - ohne die genauen Maßgaben für dieses doch recht problematische Vorgehen offen zu legen. Nicht nur der biografistisch-psychologistische Zugang zum Œuvre Benns, auch die naive Ineinssetzung von Werk und Dichterleben müsste sich vor der Folie der heutigen Praxis einige Kritik gefallen lassen.

Die textimmanent betriebene Stilforschung, abgelöst von detaillierten Einzelinterpretationen oder systematischen poetologischen Fragestellungen gibt sich, auch wo sie wertend sein will, überwiegend mit der Deskription der Sprachverwendung Benns zufrieden, da es ein Textäußeres nicht zu geben scheint, und nimmt sich - vor allem im Rahmen der Untersuchung Benn‘scher Zentralworte - eher aus wie eine kommentierte Wortkonkordanz. Auch kommt die Autorin oftmals zu apodiktischen, für den Leser nicht ganz nachvollziehbaren Deutungen. So wird etwa der Fremd- und Fachwortgebrauch Benns als elitistische Absicht des Autors gedeutet, als ein Sich-Abschließen vor den Lektüren ungebildeter Leser. Der Effekt, den Benns Texte womöglich hatten und der intendierte und bewusste Wille, einen Elitismus zu pflegen, gehen jedoch von zwei verschiedenen Prämissen aus und lassen sich ohne plausible Beweisführung nicht ohne Weiteres gleichsetzen. Eine These also, die sich wahrscheinlich weder aus dem Text, noch durch autobiografisches Material wirklich beweisen ließe und von der Autorin auch nicht belegt wird.

Die Relevanz der Studie für die gegenwärtige Forschung muss vor diesem Hintergrund folglich leider bezweifelt werden. Als erste Dissertation zum lyrischen Werk Benns, die noch zu Lebzeiten des Autors fertiggestellt wurde, besitzt die Arbeit aber tatsächlich eine wissenschaftsgeschichtlich interessante Dimension. Die in der Tradition der stilgeschichtlichen Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg stehende Studie veranschaulicht die literaturwissenschaftliche Arbeitsweise eines textimmanenten Verstehens à la Spitzer, Staiger, Kayser oder Walzel und macht Forschungsinteresse sowie methodisches Vorgehen dieser Zeit anschaulich. Vor diesem Hintergrund ist sie sicherlich ein wichtiges Zeugnis für die Geschichte unseres Fachs. Mitunter ließen sich Traditionsspuren, gerade in der Benn-Forschung, auch für nachfolgende Arbeiten zumindest bis in die späten 80er Jahre nachweisen, die oftmals ein ähnliches methodisches Vorgehen an den Tag legten, dem Paradigma der textimmanenten Methode folgten und sich erst langsam für den Methodenwandel in der Literaturwissenschaft öffneten - ein Indiz dafür, wie lange die Erschließung des Benn‘schen Œuvres auf die ihr eigene Tradition rekurrierte.

Warum also eine Veröffentlichung nach 50 Jahren? Der Blick auf die letzte Seite des Buches lässt ferner eine dritte, paratextuelle Antwort auf die eingangs gestellte Frage zu: Die Dissertation als Stilisierungs- und Werbefläche für die eigene 2002 erschienene Autobiografie? Der hier abgedruckte Werbetext - eine Besprechung von Florian Illies in der FAZ - für den hier „ein spätes Selbstportrait der Autorin als junger, aufmüpfiger Dichterin“ vorliegt -, sowie der vom Verlag gesetzte Hinweis auf die eigene Homepage, von wo aus eine „Leseprobe“ und eine „versandkostenfreie Bestellung“ des Werks möglich ist, lässt den Leser eine solche Vermutung zumindest kurz in Erwägung ziehen

Carolina Kapraun in: literaturkritik.de, Nr. 7, Juli 2006

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Sachbücher

Pressestimmen

Nachruf: Das Leben der Literatur gewidmet

Lore Schaumann hatte Gesang studiert und Philosophie, in Wien und in Cambridge; aber dann widmete sie ihr Leben der Literatur. Zuerst arbeitete die vor 92 Jahren in Siegen geborene Lore Schaumann als Bibliothekarin, dann als freie Kritikerin – für das ZDF, auch für die „Rheinische Post“. Ihre Porträts von Autoren wie Dieter Forte, Rose Ausländer, Kay und Lore Lorentz, Käte Reiter oder Niklas Stiller stammen aus den 70er und 80 Jahren und sind bis heute lesenswert geblieben: prägnant, anschaulich, kenntnisreich, unbestechlich.

Nicht nur die Redakteure und die Leser schätzten sie sehr, auch die Autoren, denn sie war eine engagierte Begleiterin vieler Schriftstellertalente. Rolfrafael Schröer holte sie deshalb als Kollegin in das von ihm gegründete Literaturbüro NRW; in den folgenden sechs Jahren bis zu ihrem krankheitsbedingten Ausscheiden war sie vielen Ratsuchenden, die sich von ihr literarisch erkannt wussten, eine kaum zu überschätzende Hilfe.

Menschen, die sie in den vergangenen 15 Jahren begleiteten, berichteten immer wieder über die Freude, diese große Fördererin der rheinischen Literatur in ihrer Wohnung in der Zietenstraße zu besuchen, und gingen nie fort, ohne klüger geworden zu sein. Vor acht Jahren wurde Lore Schaumann für ihre Verdienste schließlich mit der Trude-Droste-Gabe geehrt.

Es sind diese und viele weitere Gründe, weshalb Lore Schaumann in der Düsseldorfer Kultur - und vor allem in der Literaturszene unvergessen bleiben wird.

Michael Serrer in: nachrichten.rp-online.de/regional, 7.09.2012.

Matinee zu Ehren von Lore Schaumann

Lore Schaumann, als Journalistin eine Muttergestalt der Düsseldorfer Literaturszene, ist am 3. April 90 Jahre alt geworden. Geistige Adoptivkinder, Zeitgenossen, Mitstreiter, Kollegen, Schüler, Germanisten, Dichter, ihr früherer Feuilletonchef und viele mehr, die in Jahrzehnten die runde Frau, die spitze Nase, den scharfen Verstand, das tiefe Mitgefühl, die Sachlichkeit, den poetischen Stil des Schreibens nicht nur respektieren, sondern auch lieben und bewundern gelernt haben, trafen sich nun im Heine-Institut zur Geburtstagsfeier – leider in Abwesenheit der gebrechlichen Geehrten. Ein Blumenstrauß wird ihr von der Lyrikerin Käte Reiter überbracht, ein Video wird ihr zeigen, wer alles da war und sie lobte.

Dass Journalismus nicht nur das Werk von Eintagsfliegen fürs Tagblatt ist, sondern bei Kulturgeschichte und deren Fortwirkung auf Dauer mitstrickt, ja fördernd wirkt – den Sinn für diese merkwürdige Kontinuität hat Düsseldorf auch Lore Schaumann zu danken. Die Rheinische Post dankt ebenso gern. Geduld und Sensibilität strahlen aus ihren Artikeln bis heute. Als es damals weder Fax noch E-Mail gab, überbrachte sie der Redaktion persönlich – wie alle Mitarbeiter damals – ihre mit Schreibmaschine getippten und mit handschriftlichen Korrekturen geschmückten Papiere. Man traf sich in den Büros.

Lore Schaumann durfte an die Seelen ihrer Freundinnen und Freunde tasten. „Düsseldorf schreibt“ Unter diesem Titel hat sie beim Triltsch Verlag 1974 zunächst 44 Porträts Düsseldorfer Autorinnen und Autoren veröffentlicht und 1981 weitere 22. Von den 66 Exponenten damals sind viele tot, aber beileibe nicht alle. Die meisten sind gar nicht in Düsseldorf geboren. Die Stadt übte magnetische Wirkung auf kulturelle Einwanderer aus. Schaumann hat dies früh begleitet und gefördert.

Die Gäste bei der Matinee im Heine-Institut sind gerührt. Zum Beispiel liest Kay Lorentz vom „Kom(m)ödchen“ das Porträt seiner Eltern vor. „Warum dieser in der Fremde so hoch geachtete Sohn der Stadt von ihr selbst so konsequent vernachlässigt wird“ – die Frage, die Lore Schaumann 1977 stellte, war nicht auf Heinrich Heine gemünzt, sondern bezog sich auf Dieter Forte. Wie sie irrte und wie sie Recht behielt, dass ist eine der spannenden Fragen zum 90. Geburtstag.

Werner Schwerter in: Rheinische Post, 13.04.2010.

Schreiben, handeln mit Hirn und klarem Witz: Freundin der Autoren: Lore Schaumann wird 80

„Was, 80 werden Sie? Das sieht man Ihnen aber nicht an.“ Solche Floskeln verbieten sich bei Lore Schaumann. Sie ist bekennende, aber keineswegs kokettierende Achtzigerin. Wie kann das anders sein bei einer Frau, die mit einer Krankheit geschlagen ist, bei der das tägliche kleine Elend den großen Weltschmerz mühelos verdrängt. Da ist es kein Trost, dass es eine Krankheit von Berühmten in aller Welt ist. Soviel und nicht mehr davon.

Zu feiern ist eine Frau, die schreibend die Fürsprecherin, nein die Fürschreiberin vieler Schriftsteller-Talente in Düsseldorf gewesen ist, zunächst als Literatur und Theaterkritikerin der Rheinischen Post, dann als Mitbegründerin und verlässliche Partnerin Rolfrafael Schröers im Düsseldorfer Literaturbüro, inzwischen Literaturbüro NRW. Versteht sich, dass es – wie der Schriftstellerverband und das Heine-Institut – Mitveranstalter einer Geburtstagsfeier am 2. April ab 11 Uhr im Heinrich-Heine-Institut ist.

Lore Schaumann hat übrigens am 3. April Geburtstag. Abergläubisch ist sie also nicht; sonst hätte sie die Gratulationscour einen Tag vorher nicht zugelassen. Da passt auch gleich eine Erinnerung aus dem RP-Haus ins Bild, ehe die eigentliche Würdigung ihres Wirkens folgt: Lore Schaumann bekam von der Feuilletonredaktion den Auftrag, über einen Vortrag Erich von Dänikens zu berichten.

Kritisches Wohlwollen

Der hat uns, das muss man jüngeren Lesern erklären, in den siebziger Jahren die Existenz von außerirdischen Wesen und deren Landungen aus dem Weltall, etwa auf dem südamerikanischen Kontinent, beweisen wollen. Für Lore Schaumann war das nicht etwa eine Lachnummer, sondern die Aufgabe, ernsthaft, aber mit Ironie gepaart, über Dänikens Ausführungen zu berichten. Körbeweise mussten wütende Leserbriefe auf die Redaktionstische gekippt werden.

Geboren 1920 in der Rubens-Stadt Siegen im südlichen Westfalen, war sie früh allem Schönen mit jener Ernsthaftigkeit zugeneigt, die ihr hin und wieder das Verständnis für spielerische Dekadenz, wie wir sie im Theater der siebziger Jahre und auch heute noch bejubeln, schwer machten.

Schwere Treppen nie gescheut

Aber genau dieser Ernst, diese ungeheuchelte Aufmerksamkeit, ein Wohlwollen, das nie unkritisch war, machte sie zum Wegweiser, zur verlässlichen Begleiterin junger und auch nicht mehr ganz junger Autorinnen oder Autoren; ihnen sind die Gespräche im Literaturbüro damals an der Bilker Straße, nach Erklettern einer furchterregend knarrenden Treppe, für immer unvergessen. Zweimal veröffentlichte sie unter dem Titel „Düsseldorf schreibt“ Autorenporträts in Buchform, einmal stellte sie 44, danach 22 vor; 22 nur aus Platznot, nicht wegen Mangels an Talenten.

Daran hat sich bis heute nichts geändert. So ist es nur einleuchtend, dass Alla Pfeffer, seit vorigem Herbst an der Spitze des Bezirksverbandes Düsseldorf/Neuss im Verband deutscher Schriftsteller (VS), zur Geburtstagsfeier für Lore Schaumann den Nachwuchs lesen lässt: Pamela Granderath, Peter Philipp, Regina Ray. Auch Otto Vohwinkel liest und Jens Prüss, einst selbst leitender Literaturbürokrat, liest einen Text von Lore Schaumann. Das Schönste aber: Lore Schaumann will kommen, und wir Geburtstagsgäste werden noch eine neue musische Seite von ihr entdecken können, die der ausgebildeten Liedsängerin mit einer Einspielung von Brahms-Liedern.

Gerda Kaltwasser: In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 30.03.2000.

Eine neutrale Instanz für Selbstverleger: Literaturbüro Düsseldorf

Sie wollen weder „literarische Übereltern des Landes“ noch Beamte sein und nennen sich ironisch distanziert „Literaturbürokraten". Seit nunmehr drei Jahren leiten die Kulturjournalistin Lore Schaumann und der Lyriker Rolfrafael Schröer eine Einrichtung, die zum vielgelobten Modell wurde: das erste Literaturbüro der Bundesrepublik, zunächst nur als Projekt für die Stadt Düsseldorf konzipiert, seit einem Jahr von einem Verein getragen und für ganz Nordrhein Westfalen zuständig. Ob das erfolgreiche Modell ohne Abstriche auf das Land zu erweitern ist, ist jedoch noch immer zweifelhaft „Was wir für Dusseldorf gemacht haben, kann man in der bisherigen Form nicht aufs ganze Land übertragen", glauben die beiden engagierten Literaturbürokraten.

Landesweit kaum zu realisieren sind etwa die engen Kontakte zu öffentlichen Institutionen, durch die mittlerweile einige hundert Autorenlesungen ermöglicht wurden. Allein in den beiden ersten Jahren seines Bestehens vermittelte das von Stadt und Land unterstützte Büro mehr als 400 Lesungen, in Schulen wie in Museen, in Behinderteneinrichtungen und Betrieben, in Kneipen und in der Psychiatrie, wo auch das gelang: über die Auseinandersetzung mit Literatur einige der sonst Sprachlosen zum Sprechen zu bringen.

„Eine therapeutische Situation" erleben die beiden Literaturvermittler nicht selten auch in ihrem Büro am Rand der Düsseldorfer Altstadt „Sehr oft kommen Besucher und sagen uns: Sie sind der erste, der mir zuhört Doch auch aggressivere Szenen entstehen, denn: „Wir haben die Eitelkeit der Leute unterschätzt", bekennen Lore Schaumann und Rolfrafael Schröer und beobachten bei nicht wenigen Schreibern „einen völligen Mangel an Selbstkritik Und je mäßiger die Sachen geschrieben sind, desto wütender halten die Leute daran fest".

Entsprechend häufig müssen Illusionen geraubt werden. Zum Beispiel dann, wenn Besucher im Verlauf des Gesprächs stolz ein Buch aus der Tasche hervorziehen, das sie in einem sogenannten Selbstkostenverlag veröffentlichten - gegen erhebliche Kostenbeteiligung. 10 000 Mark zahlte etwa ein Pensionär, um seine Gedichte schließlich in einem schmalen und schlecht gedruckten Bändchen verewigt zu sehen: „Ich möchte doch, daß etwas von mir bleibt. Daß sein Werk kaum Ewigkeitswert erlangen und außer bei Verwandten und Bekannten wenig Abnehmer finden wird, scheint ihn und viele andere von kostspieligen Investitionen nicht abzuhalten: Immerhin kommt etwa jeder vierte Ratsuchende mit einem selbstbezahlten Buch ins Literaturbüro. Dort versucht man dann, ihm auszureden, daß seine lyrischen Ergüsse Literatur sind - „wobei wir ja irren können". Und über Umwege ist manchmal doch noch eine Entdeckung zu machen. So erwies sich der Pensionär, der so gern Lyriker sein wollte, als spannender Erzähler.

Für die zeitaufwendige Entdeckung und Förderung von Talenten bleibt dem Literaturbüro jedoch immer weniger Raum. Auf Wunsch des Kultusministeriums soll es hier kein Vorlektorat mehr geben, die Lektoratsarbeit möglichst wegfallen. Doch gerade in diesem Bereich hegt die besondere Aufgabe des Büros für neue Autoren „Wir werden von ihnen als neutrale Instanz angesehen, weil wir weder als Volkshochschule noch als Literaturwerkstatt auftreten. Sie sitzen hier als Einzelperson und werden als solche ernstgenommen“. Und anders als bei vielen Verlagen werden die Texte auch nicht gleich mit Blick auf eventuelle Marktchancen gelesen „Wir wehren uns gegen jede Art von Trendsetterei“

Hunderte von Manuskripten haben Lore Schaumann und Rolfrafael Schröer in den letzten drei Jahren gelesen und später mit den Autoren besprochen. Weil sie die Manuskript Flut nicht mehr bewältigen konnten, haben sie ihre Sprechtage jetzt neu strukturiert. Der Autor liest aus seinem Text vor, gleich anschließend wird darüber diskutiert.

Die Sicherung von literarischen Nachlässen gehört ebenso wie die Herstellung von Kontakten zu Verlagen und Sendeanstalten oder die Vorstellung von Autoren im Literaturtelefon zu den Aufgaben des Literaturbüros. Es setzt sich zwar als Verein für die Interessen von Autoren ein, aber will doch kein Interessenverband für Schriftsteller oder eine Alternative zu bestehenden Verbänden sein. Ihre erfolgreiche Vermittlungsarbeit für die Düsseldorfer Autoren müssen die beiden Vereinsangestellten nun allerdings einschränken: „Wir müssen versuchen, überall im Land ein Bein zwischen die Tür zu kriegen und eine Situation zu schaffen, die sich der in Düsseldorf angleicht Eines ist schon jetzt sicher: „Wir wollen auch in Zukunft nicht nur Informationsstelle sein.“

Raimund Hoghe in: Die Zeit, 27.05.1983.

Die Freundin der Autoren (1975)

[…] Im Eckzimmer der Erdgeschoßwohnung sitzen wir uns gegenüber und haben vertauschte Rollen vereinbart. Von Januar 1973 bis Januar 1975 hat Lore Schaumann - in alphabetischer Reihenfolge - die in Düsseldorf ansässigen Autoren befragt -: von Ausländer bis Zeller. Zum erstenmal überhaupt hat sie in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt eine gewachsene literarische Szene dingfest gemacht; in mühseliger, zäh ausdauernder Kleinarbeit den Beweis erbracht, daß es in Düsseldorf ein fein- und vielschichtig verästeltes Literatur-Klima gibt. Wirkungsvoll vom Kulturausschuß der Stadt unterstützt; vorabgedruckt in den »Düsseldorfer Heften« (sie wurden dadurch zum eindrucksvollen Podium der Literaten in Düsseldorf), gesammelt dann als Buch, »Düsseldorf schreibt - 44 Autoren-Portraits«, erschienen - wiederum mit Unterstützung des Kulturausschusses der Stadt - im Michael Triltsch Verlag zur ersten großen Selbstdarstellung der Düsseldorfer Literatur-Szene beim „Literaturmarkt“ in der Kunsthalle am 14. Dezember 1974. Unterfangen allesamt, für die es keine Parallele gibt!

Diesmal nun soll uns Andy Warhols Muster Beispiel sein. Plötzlich bei einem Interview zauberte er seinerseits ein Mikrophon hervor und hielt es nun denjenigen Interviewern unter die Nase, die ihn fesselten, um jetzt sie zu befragen. Beispielsweise Truman Capote. So entstand die Warhol-Veröffentlichung „Sonntage mit Mister C.“.

Lore Schaumann, die zwei Jahre lang unermüdlich der Literatur in Düsseldorf eine jetzt im allgemeinen Bewußtsein fest verankerte Existenz überhaupt erst schuf - wer ist das?

Zuerst einmal: Katalysator! „Zu vermitteln ist mir die wichtigste Aufgabe.“ Schräg gegenüber in der Zimmerecke lächelt ein veritabler, südamerikanischer, weiblicher Schrumpfkopf mir ein entrücktes Lächeln entgegen. Lore Schaumann gruselt sich davor. „Eine Frau ist eine Frau“ hieß der zweite Film von Jean Luc Godard. Lore Schaumann will mit allem Nachdruck eine Frau sein, diese Chance verwirklichen.

Der Schrumpfkopf gehört Käte Reiter, ihrer Wohnungspartnerin: „Als alleinstehende Frau ist man nicht gesellschaftsfähig!“ In Lore Schaumanns Arbeitszimmer fasziniert alle Besucher u. a. die exotisch verbrämte Bücherwand. Auch das Team vom Westdeutschen Fernsehen: das aus einer Zeitschrift ausgeschnittene Foto von Marie-Luise Kaschnitz, als sie eine junge, schöne Frau mit schwer zu vergessenden Augen war. Das Bild von Albert Camus, der den „Mythos von Sysiphos“ als Ausweg aus der Hoffnungslosigkeit menschlicher Existenz interpretierte. Das Zimmer ist zum Bersten voll von der Atmosphäre geistiger Auseinandersetzung.

Was Lore Schaumann prinzipiell zuerst interessiert, was sie immer zuerst interessiert hat, ist: inmitten allem und hinter allem der Mensch; das Persönliche, das Private, die Umstände, die ihn so gemacht haben, wie man ihn nun erfährt. Dabei ist ihr Diskretion ehernes Gesetz! Niemals würde sie die Distanz des guten Geschmacks überschreiten. Das hat bei der Folge ihrer Autoren-Porträts immer wieder dazu geführt, daß der jeweilige Mensch, dem sie begegnete, seine eigentlich nur anonym-statistisch existierende Figur als Schreibender überlagert hat. Was für den Leser wiederum den Vorteil mit sich bringt, daß er in Lore Schaumanns Porträts einem wirklich prall mit Leben gefüllten, ganz unverwechselbaren Menschen begegnet. Nicht bloß einem ebenso gut mit dem Computer erfaßbaren Schemen. „Wenn man Menschen porträtiert, urteilt man nicht mehr kategorisch“, sagt sie.

Während mir weiter der Schrumpfkopf jenseitig mild zulächelt, fällt mir auf, daß Lore Schaumann allerdings nur so überfließt vor lauter druckreifen Feststellungen, die wirken wie Steno-Kürzel, langer, langsam und immer wieder neu gemachter Erfahrungen. Beispielsweise: „Ich bin ja verzweifelt ehrlich – das hängt mit meiner protestantischen Erziehung zusammen!“ Und wenn ich bei solchen Äußerungen die lange Reihe von Autoren-Porträts in meinem Hinterkopf Revue passieren lasse, sticht dabei besonders gravierend und durchgehend die Tatsache hervor, dass „Futterneid“ offenbar ein Zustand ist, der in Lore Schaumanns Bewußtsein oder Unterbewußtsein rundherum überhaupt nicht existiert. Jener Neid, der den Menschen etwas Unmenschliches aufsetzt, und der auf dem einen Gebiet als Wettbewerb oder als Konkurrenz ausgegeben wird, und der doch im Grunde nichts weiter im Sinn hat, als sie selbst zu erhöhen, indem man die möglichen Verdienste des anderen schmälert. Das jedenfalls kennt Lore Schaumann nicht. Sonst wüßte man beispielsweise längst allerorten, daß ihr nächstes Buch noch in diesem Jahr erscheinen wird. Im Sassafras-Verlag von Klaus Ulrich Düsselberg und mit dem Thema, das Lokalkolorit jenes weitab liegenden spanischen Dorfs festzumachen, in dem Käte Reiter ein Ferienhaus hat. Und genauso fest eingeplant ist ein Bericht darüber, was aus den Amerika-Auswanderern ihrer siegerländischen Heimat – damals zur Zeit der Depression am Ende der zwanziger Jahre – eigentlich geworden ist. Und weitere Buch-Pläne gibt es außerdem noch. Lore Schaumann ist nicht nur die (Er)Finderin der literarischen Szene Düsseldorf. Sie ist zugleich ihr integrierter Bestandteil.

Immer wieder haben irgendwelche Leute sie gefragt, ob sie ihre musikalische Ausbildung als Sängerin denn einfach so vergessen könne. Aber Lore Schaumann hat sie ja nicht entfernt vergessen. Alle Lieder, die sie kennt und die sie einmal gesungen hat, sind als unveräußerlicher Besitz ständig und immerzu in ihr anwesend. Solcher Besitz vermittelt ihr ein Bewußtsein: „Es ist, als ob man flöge.“ Wenn das nicht pure Poesie ist - Poesie als Form der Existenz - dann weiß ich nicht, was Poesie überhaupt sein könnte.

Zur Literatur kam Lore Schaumann wie im Buch. Als Kind nämlich stöberte sie in Großvaters altem, staubigen Schrank auf dem Dachboden und fand „Onkel Toms Hütte“. Sie „verschlang“ es atemberaubt. Und der Kreis dieser ersten Begegnung mit Literatur und mit diesem speziellen Problemkreis solchen Inhalts schloß sich 38 Jahre später wieder bei einem Besuch ihrer beiden mittlerweile amerikanische Staatsbürger gewordenen Geschwister in den USA. Das war 1966, und die Rassenunruhen hatten ihre Höhepunkte. Die Besucherin aus der fernen Bundesrepublik wurde ganz hautnah darin verstrickt. Noch während der Rückreise an Deck des Schiffes las sie pausenlos alles, was mit der US-amerikanischen Rassenfrage zu tun hatte. Auch in den Filmen, die sie für Eva Hoffmanns ZDF-Redaktion „Der internationale Kurzfilm“ fortlaufend untertitelt, hat sie es thematisch immer wieder mit sozialen Themen zu tun: mit Ghetto-Problemen oder mit denen der Minderheiten-Befreiung.

Zum Journalismus, zum Schreiben, zu den definitiv gemachten Anfängen der Schriftstellerin hat es immer wieder erst einmal Anstöße von außen gegeben. Sie glaubt inzwischen, daß sie solche Anstöße braucht, um aktiv werden zu können. Aber dann erweist sich ihr große, geistige Beweglichkeit - wichtiges Kennzeichen eines kreativen Charakters - jedes Mal als ihr großes Plus. Lore Schaumann greift die Anregung auf, setzt sich damit auseinander, wird gepackt und steht dann unter dem fast manischen Zwang zu formulieren, sich mitzuteilen, Öffentlichkeit für „ihr“ Thema anzustreben. Man sollte viele Anregungen an Lore Schaumann herantragen!

Hat ihr Buch mit den Porträts von 44 Düsseldorfer Autoren für sie selbst eine Konsequenz; innerlich? Es war ihr erstes Buch. Von namhaften Schriftstellern hört man immer wieder, nach Beendigung einer Arbeit wären sie entweder überglücklich oder - häufiger - total ausgelaugt. Lore Schaumann sagt, am Ende jeden Jahres, in unseren tristen Wintern, sei sie bisher jedesmal in die gleiche, anhaltende Deprimiertheit gesunken. Am Ende des Jahres 1974, in diesem Winter allerdings, sei sie zufrieden, sei sie nun glücklich, weil sie etwas in der Hand hat.

Dieser Sachverhalt kann die von Lore Schaumann gefundenen, vorgestellten und zu einem von nun an nicht mehr verlierbaren Bestandteil von Düsseldorfs geistigem Fluidum gemachten Autoren deshalb doppelt ruhig machen. Sie haben dazu beigetragen, einen Menschen glücklich zu machen. Wenigstens mittelbar und für einen Winter; für diesen.

Klaus Ulrich Reinke in: »OFFKÖ«. Berichte aus der Düsseldorfer Szene 1960-1980. Hrsg. vom Kulturamt und Presseamt der Landeshauptstadt Düsseldorf. Wuppertal: Wasserloos Edition , 1980, o. S.

Zwei Texte von Lore Schaumann

Besuch bei Rose Ausländer

Düsseldorf-Golzheim, eine kurze stille Straße dicht am Nordpark; vom Nelly-Sachs-Haus schaut man überall ins Grüne. In diesem Elternheim der jüdischen Gemeinde wohnt seit 1973, als sie nach einem Unfall ständige Pflege brauchte, die Lyrikerin Rose Ausländer. Ihr Zimmer im vierten Stock hat ein Hospitalbett mit Nachttisch, im Kleiderschrank und auf der Kommode häufen sich die Papiere – ein dauerndes Provisorium, Krankenzimmer, Empfangsraum, Schreibwerkstatt. An der Wand ein paar leuchtende Bild-Akzente von HAP Grieshaber.

Rose Ausländer kann sich nur mühsam bewegen, meist liegt sie, von schwerer Schlaflosigkeit so sehr gequält, daß sie manchmal nicht weiß, wie sie durchhalten soll. Wer würde denken, daß in dieser Situation Gedichte entstehen? Aber sie wachsen aus dem Innenort verborgener Kämpfe, übersteigen ihn ins Zeitlose, sprechen aus einem existentiellen Kern unmittelbar in die Existenz anderer Menschen hinein. Da gibt es keine Spur von Wehleidigkeit, beschworen wird nicht nur das Paradies Erinnerung, sondern die gegenwärtige Kraft, sich zu erneuern, in verständlichen, leicht zu deutenden Worten und Bildern.

Von dieser Wirkung will ich diesmal mit Rose Ausländer sprechen. Die Verleihung des Ida-Dehmel-Preises und des Andreas-Gryphius-Preises hat erst kürzlich wieder mit ihren Daten bekannt gemacht: Aufgewachsen im altösterreichischen vielsprachigen Czernowitz, hochgespannte Geistigkeit des bürgerlichen Elternhauses, Beschäftigung mit den Lehren Spinozas und Constantin Brunners, Weisheit der Chassidim. Nach überstandenem Getto, nach deutscher und russischer Besatzung Emigration in die USA. Seit 1965 in Düsseldorf.

„Meine Wirkung?“ sagt sie und lehnt sich in die Kissen zurück. „Meine Wirkung hat alle Erwartungen übertroffen. Ich komme aus dem Staunen nicht heraus. Das fing schon an mit meinem ersten Gedichtband Der Regenbogen. Ich wurde in Czernowitz sehr gefeiert. Aber auch aus Bukarest und aus dem Ausland meldeten sich bekannte und unbekannte Leser. Arnold Zweig schrieb mir aus Jerusalem, Hans Carossa aus Deutschland, Hermann Hesse aus der Schweiz. Ein halbes Jahr später brach der Krieg aus, und alles war zu Ende.“

Von der glücklichen Erfahrung dieses ersten Hervortretens spannt sich jetzt ein Bogen ins Düsseldorfer Krankenzimmer. Denn wieder schreiben viele, sehr viele Leser. Auf dem Tisch stehen rote Rosen eines unbekannten Verehrers: „Ich komme mir manchmal vor wie eine Märchenprinzessin, der man huldigt. Kein Tag vergeht ohne Post, herrliche Briefe manchmal. Zum Geburtstag war mein Zimmer ein Blumenmeer, und es kam eine Flut von Briefen und Telegrammen.“ Besonders rührte sie der Anruf einer Nonne, die ihr mitteilte, sie habe in ihrem Namen fünf Bäume in Israel pflanzen lassen. In New York hatte Rose Ausländer die Aufmerksamkeit der großen, von ihr verehrten amerikanischen Dichterin Marianne Moore gefunden, die ihr den Ehrenpreis des Wagner College verschaffte. In Deutschland haben sich Zustimmung und Interesse der Leserschaft von Band zu Band gesteigert: Wenig Echo auf den in Österreich erschienenen Blinden Sommer, öffentliche Anerkennung (Heine-Taler, Droste-Preis der Stadt Meersburg) für 36 Gerechte. Die Kollegen Piontek, Keller und Jokostra meldeten sich. Marie Luise Kaschnitz sagte bei einem Besuch: „Rose Ausländer, Sie schreiben ja viel bessere Gedichte als ich.“ Zu ihr fand sie sofort zwanglos vertrauten, brieflich und telefonisch fortgesetzten Kontakt; sie schrieb Rose Ausländer das Nachwort für den vielbeachteten Band Andere Zeichen.

Aber die stärkste Wirkung geht von den Gesammelten Gedichten aus. Gedichte werden ihr gewidmet, erschütternde Briefe stellen Fragen an sie, zur Verleihung des Gryphius-Preises kam ein junger Mann aus Heidelberg angereist, der einen Aufsatz über ihren Zeitbegriff geschrieben hat. Wie erklärt sie sich dieses Echo? „Ich habe, was man Wirklichkeit nennt, auf meine Weise geträumt, das Geträumte in Worte verwandelt und meine geträumte Wortwirklichkeit in die Wirklichkeit der Welt hinausgeschickt. Und die Welt ist zu mir zurückgekommen.“

Gut, aber der Mann, der aus dem Gefängnis schreibt, der Selbstmörder, dem ihre Lyrik geholfen hat – spüren sie nicht vor allem die verwandte und überwundene Notsituation? „Die Leute wissen doch gar nicht, dass ich krank bin. Sie fragen, was Poesie ist, warum ich schreibe, was mein zentrales Interesse ist.“ Die Antworten darauf hat sie schon oft formuliert: Sie schreibt, zunächst für sich, unter innerem Zwang, publiziert aber für ihre Mitmenschen. „Ich gehöre nicht mir selber.“ Lange Jahre beschäftigten sie die Erfahrungen der Verfolgung, des Exils und der Heimatlosigkeit. Ihr jüdisches Volk wird immer wieder zum Thema. Gegenstand ihrer Dichtung sind aber auch „Probleme über Leben und Tod, die Zeit im Sinn der Vergänglichkeit, der Dauer und unserer Zeit, Sprache, das Mysterium des Kosmos. Doch mein wesentlichstes Interesse gilt Frieden und Gerechtigkeit unter den Menschen.“

In diesem Sinne beantwortet sie jeden Brief, den unscheinbarsten und den des Professors aus Cincinnati, der über sie eine Arbeit veröffentlichen will. Sie hat wirkliche Freunde gewonnen. Und sie wundert sich über die eigenen unerklärlichen Reserven: „Alles ist ein Geheimnis.“ Zu ihrer Arbeitsweise befragt, sagt sie: „Ich schreibe fast nur nachts. Die erste Fassung steht in Gabelsberger Stenogrammschrift auf Zettelchen. Sie kristallisiert sich um einen Gedanken, einen Einfall. Manchmal steht der erste oder der letzte Satz fest. Nach Tagen, wenn ich Distanz gewonnen habe, nehme ich die Zettelchen wieder vor. Dann kann es sein, das Gedicht ist fertig, so wie es ist. Oder ich vertausche die erste und die letzte Strophe, schreibe um, verbessere. Ob es bleibt oder ob ich es wegwerfe, entscheide ich später.“

Von dem, was geblieben ist, haben sich bildende Künstler wie Otto Piene und Rupprecht Geiger anregen lassen. Der Freund HAP Grieshaber schuf zu dem Gedicht Die Arche einen Farbholzschnitt, der mit der dreisprachigen Fassung als Jahresgruß der Buchmesse in die Welt ging.

Rose Ausländer mischt in ihren Bänden Altes und Neues. Sie datiert ihre Gedichte nicht, sogenannte Entwicklungen aufzuzeigen ist daher schwierig. Sie weiß aber, daß in einem Jahr (war es 1973?) gar nichts entstanden ist, während ein anderes etwa 200 Gedichte brachte. Für den Auftrieb durch Preise ist sie ein lebendiges Beispiel. Die Äußerungen ihrer Leser haben ihr neue Kräfte gegeben: „Es ist wert, zu leben und zu schreiben.“ Das Tablett mit dem Abendessen wird gebracht, wir müssen unser Gespräch beenden. Und da kommt auch der Bruder aus New York herein. Sie hat ihn jetzt nach Düsseldorf holen können.

In: Der Wegweiser, Düsseldorf, 8/197.

Frauen, die lesen – Frauen, die schreiben

Nachmittag in einer Frauen-Bücherstube. Die junge ehrenamtliche Mitarbeiterin hört eine Schlagersendung im Radio, telefoniert mit ihren Freunden, fängt ein lautes, von Kichern unterbrochenes Gespräch an, als eine zweite Helferin dazustößt. Ich höre „Selbsterfahrungsgruppe“ und „die ist neurotisch, oder eigentlich schon psychotisch, könnte man sagen.“
Eine junge Frau mit Kinderwagen und mäßig unruhigem kleinem Jungen blätterte sich still durch den kleinen, aber sorgfältig zusammengetragenen Buchbestand, fragt schließlich nach einem Band von Ricarda Huch. Dem Mädchen am Verkaufstisch ist dieser Name unbekannt. Später sagt sie „Wer ist das, was hat die geschrieben?“ Einer kleinbürgerlich wirkenden Frau in mittleren Jahren, die „etwas Leichtes“ zum Verschenken sucht, empfiehlt sie Virginia Woolf und Simone de Beauvoir. „Nein, doch lieber nicht“, beendet das Gespräch, läßt die Frau unschlüssig hinausgehen. Die kommt bestimmt nicht wieder.

Literaturkenntnisse, angewandte Psychologie? Nur das derzeit Modische, also alles, was sich auf die großen „Selbst“-Wörter reimt. Aus dem Hintergrundgespräch rieselt es heraus: Selbstbild, Selbstbewußtsein, Selbstbehauptung, Selbstverwirklichung, Selbstbestimmung. (Ein Mann sagt neulich „Nur das Wort selbstlos hört man gar nicht mehr.“ Sagte er das, weil er ein Mann ist?)

Auf den Regalen steht alles, was „bewegte“ Frauen zwischen zwanzig und dreißig interessiert: Erziehung, Psychologie, Soziologie, Biographie und Historisches, die Feminismus-Klassikerinnen Friedan, Greer und Janssen-Jurreit mehrfach gestaffelt. Dazu feministische Zeitschriften mit verschiedenen Schwerpunkten. Bücher über Gewalt gegen Frauen, Alkoholismus, Wohngruppen, Heilkräuter, Naturkosmetik, Getreidegerichte, Frauen der Dritten Welt zeigen, wie die Bewegungen ineinander verschränkt sind. Bei den Sachbüchern kann man offenbar auf männliche Beiträge nicht verzichten. In der Belletristik dagegen sind Männer von der linkshändigen Frau bis zu Anna Karenina nur mit Frauen-Titeln zugelassen. Nicht auf Literatur liegt die Betonung, sondern auf Anleitung zum Leben, auf Information als Diskussionsgrundlage.

Aber liest zum Beispiel jemand Mary Wollstonecraft? Ihre „Verteidigung der Rechte der Frau“ ist 1792 erschienen und nimmt alles Heutige voraus. Sollte es mit der ungebrochenen literarischen Tradition Englands zusammenhängen, daß Frauen dort so viel selbstverständlicher, phantasievoller und besser schreiben als bei uns? England hat immer Exzentrikerinnen und Abenteuerinnen hervorgebracht und geduldet; auch für Frauen erweiterte das Empire die Welt. Schriftstellerinnen wie Doris Lessing und Nadine Gordimer wären ohne diesen Hintergrund nicht denkbar.

Was Angela Praesent über Lese-Erfahrungen mit Manuskripten für ihre Reihe „neue frau“ berichtet, deutet dagegen bei den deutschen Einsenderinnen auf unentwegtes Um-sich-selbst-Kreisen hin. Zum besseren Schreiben gehört aber neben viel Können die Fähigkeit, über sich hinaus und von sich abzusehen. (Nicht umsonst ist der Lebensbericht „Brombeerblüten im Winter“ von Margaret Mead das bisher beste Buch in Praesents Reihe.) Würde unsere deutsche Tradition – die es ja gibt – zur Kenntnis genommen, so wäre da manches zu lernen etwa von Lou Andreas-Salomé, wenn sie die weibliche Tendenz beklagt, sich immer nur zur Selbstentfaltung zu bringen, „anstatt dies eigene Sein in sachlicher Hingebung an ein Einzelziel zu setzen.“
Dem Frauenbuchladen schräg gegenüber liegt eine vorzüglich geführte Familienbuchhandlung, in der die sehr kenntnisreiche Frau wesentlich mitwirkt. Auf die Frage, wieweit sie Frauenliteratur verkaufe, antwortete sie, das sei für ihren Kundenkreis kein Kriterium. Sie verkaufe Literatur.
Übrigens stimme ihre eigene Erfahrung selten mit den Bestseller-Listen überein, die halte sie für manipuliert. Sie kennt ihr Fach, ist vielseitig gebildet und hat ein selbständiges Urteil.

Warum gehen die Frauen mit ihren Wünschen nicht zur Fachfrau, die ja auch Bibliothekarin sein kann? Daß die öffentlichen Büchereien bei uns immer noch eine viel zu bescheidene Rolle spielen, ist historisch bedingt und ein Kapitel für sich. Wie soll man die Freude am Suchen und Finden von Lesestoff kennenlernen, wenn man es nicht übt? Im Frauenbuchladen steht alles handlich beieinander. Zu jedem Thema die These, und der gemeinsame „echt starke“ Jargon gibt Tuchfühlung. Das Bedürfnis nach Gruppierung und ihren Losungsworten tritt in jeder Generation neu auf, nur die Vorzeichen ändern sich. Für mich hat der Feminismus mit seinen grotesken Abgrenzungserscheinungen etwas von einer nach außen wehrhaften Wagenburg, in der man sich gegenseitig hilft. Junge Frauen suchen Orientierung, rufen allenthalben nach mehr Gerechtigkeit. Und wie immer gibt es mehrere Bewußtseinsstufen nebeneinander: Manche legen das Ohr an die Erde, während andere ihren Jet-Flugschein machen.

Frauen, die lesen, Frauen, die schreiben – stimmt es nicht tatsächlich, daß die Frauenbewegung neue literarische Kräfte ans Licht gebracht hat? Ganz gewiß sind die schreibenden Frauen sicherer und mutiger geworden. Im Augenblick kommt ihnen aber der Markt mit ungewöhnlicher Bereitschaft entgegen. Es wird sich zeigen müssen, ob der Trend dauert. Übrigbleiben werden die Könnerinnen mit oder ohne Charisma, Frauen, die üblicherweise studiert haben, einen Wortberuf als Lektorin, Redakteurin, Dozentin oder Übersetzerin ausüben und den Literaturbetrieb kennen – Leute also, die sich ohnehin durchgesetzt hätten.

Gegenwärtig bietet ein Überblick über „weibliche“ Literatur im deutschen Sprachraum das Bild einer erstaunlichen Vielfalt und Begabungsfülle – wenn man schon geschlechtsspezifisch einteilen will. Daß dies geschieht, daß der Aufbruch registriert wird, ist auch eine Folge der Frauenbewegung. „Frauen schreiben ein neues Kapitel deutschsprachiger Literatur“, mit dieser als Buchtitel formulierten Behauptung steht Jürgen Serke nicht allein, und sie wird durch seine 30 Porträts schreibender Frauen von heute bekräftigt. Die Freude über die „erste umfassende Geschichte der Frauenliteratur in deutscher Sprache“ ist allerdings buchstäblich geteilt. Denn 15 straff und konzis formulierten Kurzporträts stehen hier 15 lange gegenüber, von denen einige nur allzu deutlich ihren ursprünglichen Erscheinungsort verraten: Beim Friseur war man 1977 plötzlich in einer Illustrierten auf Details von Barbara Frischmuths trauriger Ehe gestoßen. Ein andermal sprach sich Karin Struck über Liebe und Leben aus – Tratsch mit Anspruch, sonst auf darstellende Berufe beschränkt. Jetzt findet man ihn zwischen zwei Buchdeckeln wieder. „Gabriele Wohmann und ich haben in ihrer Darmstädter Wohnung drei Tage lang verbal gekämpft“, heißt ein sehr charakteristischer Satz. Jürgen Serke verfolgt sein literarisches Wild mit dem Jagdinstinkt des Reporters, und er will Blut sehen. Jagen, zur Strecke bringen, Halali – nicht umsonst fällt einem das uralte symbolische Männlichkeitsvokabular ein. Wissen wir nun mehr über Sarah Kirsch, weil drei Männernamen beziehungsvoll ausgesprochen werden? Gewinnt Brigitte Schwaiger durch das Breittreten ihrer Affären und Nervenzusammenbrüche an literarischem Interesse? Kümmert es uns, von wem Karin Struck ihre drei Kinder hat? Jedem die Darstellung, die er provoziert. Wer sich ins Schaugeschäft begibt, kommt darin um.
Es haben sich nicht alle hineinbegeben. Wo Serke verehrt, wo ihm eine Persönlichkeit den Widerstand natürlicher Würde entgegensetzt, ändern sich Stil und Methode. Anna Seghers, Christa Wolf, Ilse Aichinger behandelt er literarisch sorgfältig. Der Zorn, den dieses Buch erregt, wird weniger durch seine tratschhaften Partien und die parteiische Arithmetik der Enthüllungen ausgelöst als durch die Beweise, daß Serke es besser kann, daß er ein guter Leser ist, dem, wenn er will, Einfühlung und kritisches Urteil zu Gebote stehen. „Frauen schreiben“ erweist sich als Fall eines schreibenden Mannes, den das auftraggebende Medium zerstört.

Serke merkt gar nicht, daß er seine eigenen, im essayistischen Vorwort proklamierten Einsichten verrät. Da bietet er eine aus Wahrheiten und Halbwahrheiten anmutsvoll gemischte, gut zu lesende Bestandsaufnahme, in der Männer der gegenwärtigen Literatur als „Resignationsriege“ bezeichnet werden, weil sie an der Realität oder an deren Verlust scheitern, während die doppelt belasteten Frauen sie bestehen und gestalten. Ihre Selbständigkeit bedeutet nicht Alleinsein-wollen. „Die Mehrzahl der Autorinnen deutscher Sprache haben sich nicht eingrenzen lassen durch die neuen Grenzen des Feminismus,“ hebt Serke hervor. Für die Aspekte ihres neuen Selbstbewußtseins bringt er viele gut gewählte Zitate bei. Ihre Bejahung der eigenen Sinnlichkeit, ihre Suche nach Liebe jenseits männlicher Unterdrückung, ihre aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Prozeß, ihr Anzweifeln des Machtbegriffs werden deutlich gemacht. Kluge weibliche Worte, etwa von Christa Wolf: „Auch eine eingeschränkte Existenz läßt sich dehnen bis zu ihren Rändern, die vorher sichtbar sind. Nur das, wofür wir keine Sinne haben, ist uns verloren.“ Befremdlich wirkt nach solchen Bekundungen Serkes Neigung, innere Abhängigkeiten seiner Autorin zu enthüllen. Wo es irgend geht, ist bei ihm die Wirklichkeitserfahrung der Schriftstellerin auf die Beziehung zum Mann reduziert. Das gilt eingeschränkt sogar für Ilse Aichinger, die von Serke ausführlich und einfühlend interpretiert wird. Sieht man sie nicht auf Knien ihres Herzens vor dem Monument des toten Günter Eich?

In der „weiblichen“ Literaturgeschichte gibt es störende Lücken, es fehlt vor allem Marie Luise Kaschnitz, eine große Schriftstellerin, glücklich verheiratet, geformte Persönlichkeit – gab sie deshalb zu wenig her? An der gleichfalls fehlenden Hilde Spiel wäre zu zeigen gewesen, was auch beim Nachlesen von Rose Ausländer und Hilde Domin schmerzlich klar wird: Der Verlust an Geist durch den Verlust des Judentums, der Mangel an Welt bei den Jüngeren, nicht in ihr Herumgestoßenen. Flucht, Emigration, Vertreibung, das Erleben fremder Länder haben die künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten gesteigert, ja, manchmal erst geweckt.

Das gilt auch für Erica Pedretti, die, aus einer deutschen Familie in Mähren stammend, nach dem Krieg in der Schweiz und in New York lebte, dann einen Schweizer heiratete und jetzt im französischsprachigen Schweizer Jura wohnt. Das Leben ganz, ohne die chaotische Selbstbezogenheit mancher Jungen, Erica Pedretti lebt es. Fünf Kinder, ein malender Ehemann, Schreiben neben Putzen und Kochen, vielfache Belastung und Fülle, eine ganz eigenwillige Entwicklung – und keine Spur von Feminismus. Wenn ich nach diesem Buch irgendjemand kennenlernen möchte, so ist es diese Frau.

Ihr schönes Porträt sei Serke gutgeschrieben, ebenso wie das kurzgefaßte der offenbar nicht klatsch- und illustriertenwürdigen Hilde Domin. Auf zwei Druckseiten sagt er alles Wesentliche über sie, streift ihren Lebensgang, soweit er für ihr Werk wichtig ist, beschränkt sich dann auf dieses, greift ein wichtiges Domin-Gedicht heraus („Abel, steh auf“), druckt es ab und geht sogar auf den unterbewerteten Roman „Das zweite Paradies“ ein. Auf solchem Niveau hätte sich eine ernstzunehmende Darstellung von Frauenliteratur zu bewegen – konzentrierter, sachlicher, und ohne den Wahn, als könne man durchs private Schlüsselloch das Entstehen von Literatur studieren.

Daß ein künstlerisches Werk sich selbständig macht, dass es sein Eigenleben führt, neben der vielleicht kläglichen, vielleicht ausgebrannten Existenz der Schreibenden – sollte das bei Frauen anders sein?

In: Frau und Kultur. Erleben und Gestalten. 83. Jg., Heft 2, 1980, S. 18-19.

Vita

Publikationen

Pressestimmen

Zu: „den samen der steine sammeln“ (2007)

Das Selbst als Raum, in dem die Welt lesbar wird - in entdeckenswerten Gedichten von Käte Reiter

[...] „Ich bin ein Gassenkind“, sagt die Düsseldorferin. Ihr Vater war Fabrikarbeiter und starb früh, wodurch sie schon jung in ihrer Familie Verantwortung übernehmen mußte. Sie kümmerte sich, wie man das aus Filmen kennt - der Krieg brachte Not und Bomben - mit Kohlenklau vom fahrenden Zug, Hamsterzügen über Land, Kartoffeln stoppeln. Sie hat darüber in einem Romanmanuskript geschrieben, das nie veröffentlicht wurde. Zur Literatur kam sie nach dem Krieg, als sie bei einer Ärztin putzen ging, um für den Bruder Arznei auszulösen. Die Ärztin förderte das Interesse an der „höheren Literatur“ und als wenig später Marie Luise Kaschnitz das erste Mal wieder nach Deutschland kam um zu lesen, machte jemand das schlaue Mädchen Käte mit ihr bekannt. Sie sind Freunde geworden und auch zu Rose Ausländer hatte die Reiter eine freundschaftliche Beziehung (Jahre später entdeckte man in deren Nachlass frühe Gedichte von Käte Reiter, die sie selbst längst verloren glaubte). Dennoch hat die Literatur nie die Hauptrolle in ihrem Leben gespielt. „Sie brauchte keine Zeile schreiben, um zu sein, was sie ist.“, formulierte es 1974 Lore Schaumann in einem Aufsatz. Käte Reiter führte im Brotberuf ein größeres Einzelhandelsunternehmen und kümmerte sich kaum ums Publizieren. Arnfried Astel druckte 1962 etwas von ihr in den Lyrischen Heften und fast ein Jahrzehnt später erschien ihr erstes Buch, in denkbar kleiner Auflage, ein Künstlerbuch mit farbigen Siebdrucken von Gerhard Wind.

einer stellt sich auf eine stelle
und schreit
und die kleine stelle wird groß
dann geht er fort
dann stellen sich viele auf die große stelle
die klein war
und schreien
und man sieht die stelle nicht mehr

Käte Reiters Gedichte entstehen ohne große Vor- oder Nacharbeit. In ihnen sind diese Geschenke, die dann auftauchen, wenn wir anscheinend ganz tief in uns versunken sind, dabei aber tatsächlich weit weg, ganz am Ort des Gedichtes, die bei ihr zu Verszeilen werden wie „in meinem wasser / reist ein stein ins runde“. Die Klarheit des Moments übersetzt sich auch in eine Einfachheit des Textes: Stein, Haut, Stern, Auge, Tod und Leben. Und keine Angst vor klischeebehafteten Worten und Themen. Da sie ohnehin nicht für die Kritik schreibt und sowieso nicht für irgend jemanden. „an der schmerzstelle / den schlüssel seele suchen / und nicht verlieren können“, eine Therapie, die funktioniert. Dabei ist es nicht das therapeutische Moment, das Käte Reiter an die Lyrik bindet, sondern die ganz urtümliche Begegnung mit der Vieldeutigkeit und damit der Vielgesichtigkeit. Alles kann aussehen, es muß nicht. Die Welt ist möglich und nicht fest. Man kann nichts halten, „aus schwarzem eis gemeißelt / steht morgen / was wahr wird / ein paar stunden im licht / und schmilzt“.
Die Gedichte sind schlank, es gibt kein Beiwerk, kein Schmuck, kein Pomp, kein Ausufern. Einfache Konstrukte, die es dennoch in sich haben, eine Tiefe nämlich mit großen, geweiteten Räumen. Jürgen P. Wallmann stellte die Reiter neben die Kaschnitz und die Domin. Das ist sicher eine Überbewertung.  Für den Moment aber, in dem sich Käte Reiter mit der Lyrik beschäftigt, stimmt die Intensität. Immer dann, wenn sie sich mal um ihre Sprache, eine sehr direkte, einfache und genaue Sprache, kümmerte, entstanden Gedichte, die zwar äußerlich bisweilen einer Tagebuchlyrik ähneln, inhaltlich aber um genau jenes Maß reflektierter und anwesender sind, welches sie zur guten Literatur macht.

nachts über die schulter gehängt
und das schaf träumt
morgens fragt der schlächter
wo ist dein tier
welches tier

In ihrer Kargheit war die Reiter ähnlich konsequent, wie es heutige Dichter bei der bewußten Staffage sind. Alles, was vom Eigentlichen ihres Gedichtes ablenken könnte, ließ sie fort. Wo andere beginnen nach Bild und Ergänzung, Umschreibung und Ausschmückung zu suchen, verpustet sie das als Rauch und Nebel. „ich gebe den heimatlosen worten / einen ort in mir“ – das sind mitunter Worte, die niemand heute mehr in seinen Texten (wohl aber in seinem Leben) haben will: Sehnsucht, Sterne, Liebe. Bei ihr klingen sie weder peinlich noch verwaschen, das ist selten. Vielleicht liegt es daran, daß Käte Reiter dabei von sich absieht. Sie lässt Gedichte zu. In ihr entsteht Lesbarkeit; Käte Reiter ist der Raum, in dem die Welt durch das Gedicht lesbar wird. Um Sinn und Unsinn dieses Satzes zu verdeutlichen: in der Tagebuchlyrik ist es ja immer genau umgekehrt - dort ist das Gedicht der Raum, in dem der Dichter lesbar werden soll, dort soll das Gedicht zu Diensten sein und dem Dichter über seine Probleme hinweg helfen. Bei Käte Reiter ist es anders herum: sie ist dem Gedicht zu Diensten und hilft ihm über ihr Selbst hinweg.

Zu einer Lesung der Autorin in Neuss (2001)

[...] dennoch ist sie ein Geheimtipp unter Lyrikfreunden geblieben. Ihre Gedichte sind von außergewöhnlicher Konzentration, knapp gehalten und doch reich an sinnlichen, eingängigen Bildern. Käte Reiter wird auch aus ihren Gedichten lesen, die sich im Nachlass der großen Lyrikerin Rose Ausländer fanden und die sie verloren glaubte.[...]

www.neuss.de/neuss/presse/archiv/2001/09/1520.html

Würdigungen der Autorin

Lore Schaumann: „Stein, Stern und Feder“

Souveränität ist etwas Angeborenes. Zu dieser Einsicht kommt, wer Käte Reiters bemerkenswertes Leben anschaut und sich klarmacht, welche Lyrik es hervorgebracht hat.

Ihr Vater war Fabrikarbeiter, sie ist in Flingern aufgewachsen. „Ich bin ein Gassenkind“. Die Wohnung war eng, auf der Straße gab es wilde Spiele mit den Nachbarjungen, Schrammen, Kratzer, aufgeschlagene Knie, aber auch geteilte Butterbrote. Da lernte man kämpfen, sich durchsetzen, mit Kraft oder List, und füreinander einstehen. Die Straße hatte ihre Gesetze und Regeln. Wer sie verletzte, wurde mit Verachtung gestraft. So durfte einer, der am Boden lag, nicht mehr bekämpft werden, und beim Nachlaufspiel sagte das Wort „Herzchen“, daß man erschöpft war und aufgab - Unterwerfungsformeln, ähnlich der Demutsgebärde der Tiere.

Es ist eine ganz eigene Düsseldorfer Subkultur, in die man durch Käte Reiters Erzählen Einblick gewinnt, mit Selbstbewußtsein, kräftiger Sprache und wärmender Nachbarschaftshilfe. „Daß bloß niemand denkt, ich hätte eine schwere Kindheit gehabt! Sonst würde ich wohl nicht so gern davon erzählen.“ Sie hat nichts verdrängt und die innere Beziehung niemals verloren, fällt auch wieder ins Platt, wenn Sie einem der Nachbarn aus der Bruchstraße begegnet. Aber schon als Kind muß sie „anders“ gewesen sein, die Lehrerin meinte, sie sollte eigentlich etwas lernen. Daß der Vater früh starb, bewahrte sie vor der Fabrik, öffnete ihr den Weg in die höchste vorstellbare Welt, das Büro, belud sie aber auch mit der Verantwortung für die Mutter und zwei jüngere Geschwister.

„In der Schule hatten wir zum Schluß nur noch Wehrmachtsberichte gehört.“ Jetzt erlebte sie die schweren Luftangriffe und den Beschuß der Stadt, fuhr mit dem Rad in den Hafen, wo Lebensmitteltransporte für die Bevölkerung freigegeben waren, ging über Land hamstern, sprang auf Züge, um für sich und die wartenden Kameraden Kohlen abzuwerfen. Und immer lebte die Familie in einem Organismus von Freunden und Nachbarn, die zusammenhielten, mit denen man teilte und feierte. Käte Reiter hat sich diese verworrene und spannende Zeit in einem dicken dokumentarischen Romanmanuskript von der Seele geschrieben. Damals schrieb sie Prosa. Es ist nichts davon gedruckt.

Mutter und Geschwister waren heil geblieben, in Derendorf fing das Leben neu an, für Käte Reiter als ein Abenteuer voller Fremdartigkeit. Sie las, was sie nur irgend zu fassen bekam, gründete, selbst keiner Fremdsprache mächtig, mit Freunden eine Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit und organisierte mit Hilfe der Konsulate Ländervorträge - bevor öffentliche Institute die Initiative ergriffen. Durch Trümmerstraßen ging sie ins Schauspielhaus und in die Oper, manchmal Abend für Abend. Dieser Hunger, dieses Glück.

Käte Reiters Leben besteht aus Fügungen, aus Menschen, von denen sie gefunden wurde. Die Ärztin, für die sie putzte, damit der Bruder Arznei bekam, brachte sie auf die „höhere Literatur“. Und als Marie Luise Kaschnitz zum ersten mal wieder kam und las, nahm ein Düsseldorfer Industrieller das scheue Mädchen bei der Hand und sagte: „So, Sie begrüßen jetzt die Dichterin!“ Es wurde eine Lebenslehre und Freundschaft daraus. Wenn die Kaschnitz damals mit ihrem Mann Italien und Griechenland bereiste, fuhr Käte Reiter auf der Karte voraus, machte sich durch Bücher mit der Geschichte und Kultur eines jeden Ortes vertraut und begrüßte die Ankömmlinge mit einem Sonett.

Anfangs war alles schön gereimt und nachgeahmt. Das Vertrauen in die eigene Form und Stimme muß irgendwann zu Beginn der sechziger Jahre gekommen sein. Inzwischen hatte sie ihre ganz persönliche Bildung erworben, Reisen gemacht, Französisch gelernt und Klavier, Wittgenstein gelesen, Musil, Proust, Virginia Woolf zu ihren literarischen Göttern erhoben, den nouveau roman für sich entdeckt. Sie entwickelte ein sicheres Urteil und einen untrüglichen Sinn für das ihr Verwandte. Thomas Bernhard, Peter Handke, Jürgen Becker hat sie von den ersten Veröffentlichungen an gelesen.

Ein Vorbild für Lyrik war das nicht, wohl aber Vorrat für den geistigen Haushalt, in dem sich Käte Reiters Gedichte zubereiten, dem bewußten Zugriff entzogen. Sie fallen vorgeformt über sie her, durch welchen Anlaß ausgelöst und über welche kreative Schwelle bleibt ihr verborgen. Jeder Versuch, an diesem Eruptivmaterial zu „arbeiten“, führt zu seiner Verminderung und damit zur Unverständlichkeit, weil Käte Reiters bewußte Absichten niemals dahin gehen, etwas breiter und deutlicher zu sagen, sondern es auf den Kern zu reduzieren. Geht man bei ihr Änderungen nach, die sie auf Anraten literarischer Freunde vornahm, so ist meistens der erste „geschenkte“ Entwurf der sprach- und aussagestärkste.

Schreiben ist für sie eine lästige Gabe, kein Grund zum Hervortreten oder zur Pflege stolzer Gefühle. Viel mehr reizt es sie, den Kampf mit ihren Zahlen zu bestehen und das große Einzelhandelsunternehmen, in dem sie vor dreiunddreißig Jahren als Lehrling anfing, immer weiter zu rationalisieren. Der gemeinsame Nenner für beide Lebensbereiche ist ihre Geformtheit und Disziplin. Sie entscheidet und handelt aus einer Tiefenschicht, die zu den Gedichten einen anderen Ausgang hat, ihnen magischen Glanz und jene Mehrdeutigkeit verleiht, von der sich der Autor nachher selbst überrascht zeigt. Käte Reiter ist aber durchaus in der Lage, ihre Gedichte zu interpretieren, das bewies sie bei Lesungen mit anschließender Diskussion in Tel Aviv und Jerusalem, wohin das Deutsche Kulturzentrum sie eingeladen hatte.

Sie drängt sich niemals nach Veröffentlichung, der literarische Betrieb mit seinen ideellen Vorwänden und harten Erfolgskalkulationen stößt sie ab. Doch wurde sie auch hier gefunden: Arnfried Astel brachte sie früh in die Lyrischen Hefte, Kay Hoff ins Neue Rheinland und in einen Hundertdruck des von ihm mitgegründeten Guido Hildebrandt Verlags. So kam es, daß Käte Reiter zuerst mit einer bibliophilen Ausgabe hervortrat, die von Schriftstellern normalerweise als dekorativer Schmuck eines Lebenswerks empfunden wird. Aber ihre Lyrik ist ja Lebensessenz, durch gelassenes Warten abgelagert, der Rahmen war ihr angemessen.

Trotzdem ist es gut, daß jetzt endlich durch den Concept Verlag größere Mengen ihrer Gedichte in erschwinglicher Ausgabe zu haben sind. In dem Band „Federort“ werden die Sprachmuster und Motive Käte Reiters ablesbar. Dem Geduldigen erschließt sich aus dem formal geschlossenen, meist knapp gefaßten Text eine hermetische Welt Stück für Stück gelernter Tode. Ein ungebrochener Intuitionsstrom trägt originelle Bilder, zarte und kühne Verknüpfungen. Immer wieder erscheint das Schwere als Stein, das Leichte als Feder, die Hoffnung als Stern. Sie bleiben geheimnisvoll, diese so denkerischen wie poetischen Gedichte. Jürgen P. Wallmann, der Käte Reiter neben Marie Luise Kaschnitz und Hilde Domin stellt, nennt sie „poetische Meditationen, die der Leser selbst meditierend nachvollziehen muß“.

„Wohin mit dem Duft der Worte“ scheint schon im Titel größere Gesprächigkeit anzuzeigen, und tatsächlich mischen sich in dieser vom Sassafras-Verlag vorbereiteten „Fundgrube“ lakonische Denk-Verse mit überraschend märchenhaften längeren Gedichten. Die Wetterhexe wäscht und bügelt ihre Windhosen, das Hexenhäuschen ist ein Erinnerungsstück: Martha Mödl schenkte der jüngeren Reiter-Schwester in ihrer Düsseldorfer Zeit das lebkuchene Urbild zum Nikolaus. Manche dieser Gedichte treffen das Kindliche im Leser, manche geben täglichen Dingen eine Wendung ins Surreale: „ich habe einen kühlschrank, der heimlich spricht“ oder „ich kaufe mir ein paar neue schuhe“ (die am nächsten Morgen schon alt sind, weil man damit auf die Straße muß.) In beschwörenden Liebes- und Partnergedichten werden dem Pfau die Federn gerissen, reifen Steine in den Netzen der Träume. Der Tenor ist auch hier: An die böse Liebe des Lebens und an die liebe Liebe des Sterbens glauben.

Darauf, daß Käte Reiter Dichterin ist, würde niemand kommen, der sie außerhalb eines literarischen Kreises kennenlernt. Sie redet weder vom Tod noch von Steinen und Federn, ist nüchtern, sachlich, vergnügt und meidet auch das Generalthema aller Schriftsteller: „Wann werde ich wo gedruckt?“ Ein Doppelleben? Keineswegs. Sondern es ist dieses eine, klare und schöne, das sie aus ihren Anlagen entwickelt hat - weg von der bunten prallen Folklore ihres Ursprungs in eine sehr anspruchsvolle Eigenwelt. Ein Leben der Verantwortung, Einfühlung und Hilfsbereitschaft. Sie brauchte keine Zeile zu schreiben, um zu sein, was sie ist.

In: Düsseldorf schreibt. 44 Autorenporträts. Düsseldorf: Triltsch Verlag, 1974, S. 165-168.

Nachwort von Rolfrafael Schröer zu: „Federort. Gedichte“ (1973):

Um das, was gesagt wird, verstehen zu können, richtig verstehen zu können, brauchte es eine Schilderung des jeweiligen Hier und Jetzt, ein riesiges Tabellarium über die sagende Person an sich und deren Position in und gegen Zeit und Raum. Jede Aussage ist nur noch von ihrem Ort her zu verstehen.

Aller Aussage voraus gälte es, ihren Ort zu bestimmen, also vorauszusagen. Eine Voraussage ist auch eine Aussage. Also den Ort der Voraussage voraussagen, um die Voraussage der Aussage verstehen zu können, um die Aussage verstehen zu können.

Hier soll nicht Poesie germanistisch interpretiert werden, hier wird der Versuch unternommen zu orten, woher diese Verse sprechen, von welchem Standpunkt aus diese Dichterin das Ihre sagt, so sagt, dass es wesentlich wird und wir hinhören.

Der Ort heißt „Federort“, ist ein Gegenort. Nur ein Windzug, ein Hauch trägt ihn, treibt ihn. Wohin? Ins Zufällige? Der Ort fällt der Stelle zu, „die uns verläßt“. Käte Reiter spricht: „tritt mit mir / auf diese eine stelle / die uns verläßt“.

Ein Ort ist im anderen, hebt sich auf im anderen, wird uns bewußt als Ort dann, wenn er uns fremd ist.

ich öffne die tür
die ich schließe
ich trete ein
ein ort ist ein windzug
der wohnt
ein wort macht sich deutlich
am nächsten
bestimmt bin ich fremd hier

Dieses Gedicht spricht das zutreffend aus. Und es ist mehr als eine Feststellung, es ist die Einsicht, daß es ihr bestimmt ist, an flüchtigen Orten Erkenntnis zu suchen. Der Windzug selbst ist der Ort, der wohnt. Ein Vorübergehender, und sie lädt ihn ein, auf ein Wort, ein Minutengast zu sein, und sie bittet ihn: „iß ein stück mit mir / vom neinbrot / vom jabrot.“

Käte Reiter ist 1927 in Düsseldorf geboren. Als der Vater gestorben war, nahm die dreizehnjährige Volksschülerin Putzstellen an, um ihrer Familie zu helfen. Auch bei einer Ärztin arbeitete sie, die ihr eines Tages einen Band Rilke-Gedichte auf den Kopf schlug, von wegen: „Du hast doch auch Köpfchen, Mädchen.“ Die Zwanzigjährige suchte und fand die Freundschaft zu Marie Luise Kaschnitz, die ihr Antwort gebende und Fragen stellende Freundin geblieben ist. Die über Vierzigjährige lebt noch immer in ihrer Geburtsstadt und arbeitet intensiv, schwer und mitverantwortlich in einem kaufmännischen Betrieb, der Millionenumsätze macht. So etwas sollte der Leser wissen.

Diese Frau, die so spät erst ihre Gedichte herzeigt, ist täglich „vor Ort“, arbeitet wie die meisten von uns, vielleicht etwas mehr als du und ich, und sie ist durch große Verantwortung gebunden. Auch an den Ort ihrer Tätigkeit gebunden. Der „Federort“ ist ihr Wunschort: „übernimm dich / flieg mit dem federort“ heißt es im Titelgedicht. Es ist die ständige Aufforderung, die diese Autorin an sich selbst richtet.

Manchmal philosophieren die Verse entlang den Worten, Worten, die eindringlich bis verzweifelt die Begriffe zu halten suchen, Begriffe von der Angst verdunkelt, der Furcht überschattet: vor lauter Tätigsein und Tun das Denken, das ursächliche Denken zu verlieren. In diesen Gedichten wird nicht beschrieben, keine Erzählung breitet sich aus, nimmt Wohnung; denn „das unbewohnbare wendet / raumlos um uns herum“. Diese Gedichte denken, daher diese stetige Bewegung, dieses unentwegte von – woher – nach – wohin. Selbst das Zuständige oder Zusichwerdende wird bewegt. Im selben Gedicht heißt es: „anstelle der träume / verfinstert sich etwas / in die hoffnung.“

Alle Wege dieser Dichtung laufen im Schatten, führen vom gemäßigt Hellen ins Dunkle, Dunklere bis: „wenn du für mich / in den abgrund meines todes gehst“, und wenn die Verzweiflung über das täglich erfahrene, ärmliche, nur erfolgprogrammierte, das Menschsein im Menschen auslaugende Da- und Sosein überhandnimmt, wird der Vers zur Aufforderung, wehren sich die Worte, die Worte als die letzte Instanz unseres Bewußtseins, und es heißt: „iß ein stück mit mir“ oder „trink mit mir“, „erzähl mir“.

Und darin ist mit enthalten die Anrede, das Verlangen nach dem Gegenüber. Anlaß ist, wie meist, Einsamkeit. Aber in diesem Falle die Einsamkeit dessen, der tätig die Welt besteht, der in ihr zurechtkommt, mit ihr fertig wird, klaglos und der darum ein grundsätzlicheres Gespräch sucht. Das Gespräch über den Sinn des Lebens und damit über den Sinn des Todes. Die Enge dieser Dichtung ist zugleich ihre Stärke.

Der mächtigen Kraft des Todes, die heute vielerorts geleugnet wird, die ganze Lebenserwartungsindustrien verdrängen, die durch Krankenhäuser anonymisiert wird, dieser Kraft gilt ihre Ansprache, Anrede, und so trägt sie ein uraltes Wissen weiter: „und ich hätte nicht alle die alter / die ich dem tode austrage und nicht / eine weisheit davon.“ Diese Weisheit, die nicht nur wert ist, bewahrt und weitergegeben zu werden, sondern die wichtig und nach wie vor von zentraler Bedeutung für das Selbstverständnis des Menschen ist.

Die Poetin Käte Reiter gewinnt aus diesem Wissen für sich die Freiheit und den Mut zu ihrem „Federort“. Und ich zitiere zum Schluß meiner Verstehensübung dieses nachdenkenswerte Gedicht von ihrer Freiheit, in dem sie das Bewußtsein, daß der Tod allgegenwärtig ist, als Lebensansporn begreift.

ich habe die Freiheit
in meinem tod zu wohnen
mein leben
ist mein gefängnis
in meinem gefängnis
habe ich alle lebenden tode
die mich suchen

Nachwort zu Käte Reiter: „Federort. Gedichte“. Düsseldorf 1973, S. S. 75- 77.