Frauen-Kultur-Archiv

Düsseldorfer Autorinnen der Gegenwart: in memoriam
Diana Canetti (1943-2014)

Vita

Diyana Kaneti wurde am 7. Oktober 1943 in Istanbul geboren; die Mutter war Griechin, der Vater, Aron Kaneti, war türkischer Staatsbürger jüdischen Glaubens. Nach dem Besuch einer türkischen Volksschule in Istanbul absolvierte sie das renommierte französische Gymnasium Notre Dame de Sion in Istanbul. 1963 heiratete sie den Studenten Aydin Yamanlar. Von 1965 bis 1969 studierte sie Anglistik in ihrer Heimatstadt und besuchte gleichzeitig die Theaterschule L.C.C. Sie publizierte Kurzgeschichten, Theaterberichte und Kritiken in der Zeitschrift „Yeni Insan“. (‚Der neue Mensch’).

Im Winter 1969 ging sie mit einem Sprach-Stipendium nach Wien und bestand die Aufnahmeprüfung für das Max-Reinhardt-Seminar. Ab dem Sommersemester 1970 studierte sie Theaterwissenschaft an der Wiener Universität. Das Studium finanzierte sie u.a. als Statistin am Burg- und Akademietheater und als Hilfskraft in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur, gefördert von dem Begründer der Gesellschaft, Wolfgang Kraus. Sie begann in Deutsch zu schreiben und konnte Beiträge im ORF und im Studio Graz unterbringen. 1971 drehte sie in Paris den Kurzfilm „Le Pied“, der auf mehreren Festivals gezeigt wurde. 1972 veröffentlichte sie als „Diana Canetti“ den ersten Prosaband im Wiener Europaverlag: „Eine Art von Verrücktheit. Tagebuch einer Jugend“. 1974 folgte der Druck des 2. Romans „Cercle d’Orient“, ebenfalls im Europaverlag.

Im Sommer 1975 promovierte sie in Wien mit der Arbeit: „Das gesellschafts-kritische Theater in der Türkei“ bei Professorin Margret Dietrich, Theaterwissenschaft. Ein einjähriges DAAD-Stipendium führt sie im Januar 1976 nach Berlin, wo sie als „Artist in Residence“ Gast des „Literarischen Colloquiums“ war. Sie arbeitete u.a. journalistisch für den Rundfunk Rias Berlin. Zur P.E.N.-Tagung und -Lesung in Den Haag vom 10. - 13. Mai 1976 war sie als Vertreterin der Türkei eingeladen und trat neben Stefan Heym (DDR) und Günter Grass (BRD) auf.

Seit Frühjahr 1977 lebte Diana Canetti in Düsseldorf und gab von 1978 bis 1986 Kurse zu deutscher und englischer Literatur an der VHS. Sie bot freie Theaterarbeit in einer Düsseldorfer Realschule an und ab 1983 arbeitete sie im Jugendtheater des Düsseldorfer Schauspielhauses. 1985 dokumentierte sie die Entwicklung des Antisemitismus in der Ausstellung „Erziehung zum Vorurteil“ im Schauspielhaus. Während dieser Düsseldorfer Jahre schrieb sie u. a. mehrere Versionen des 3. Romans: „Ein Mann von Kultur“, für den sich aber keinen Verlag fand.

Neue Horizonte suchte sie ab Dezember 1988 in Ghana, wohin sie ihre Cousine Susie Malka Kaneti Barry, eine Soziologin und Entwicklungshelferin, eingeladen hatte. Die Afrika-Erfahrungen verarbeitete sie in der Romancollage „Goldstaub“, der im Selbstverlag erschien und 1991 im Dokumentarfilm „Queen of Bokuruwa“ über Entwicklungshilfe in Ghana.

Von 1992 bis 1993 absolvierte sie eine Ausbildung als Rundfunkjournalistin und arbeitete anschließend als freie Autorin für den WDR und den SDR und parallel seit 1994 für die „Westdeutsche Zeitung“. 1998 Diana Canetti engagierte sich im Kontext der Lokalen Agenda 21, Gruppe Kultur für die „Frauenvernetzung“, die u. a. den Aufbau eines Künstlerinnenhauses und den globalen Künstlerinnenaustausch anzuschieben versuchte. In Paris, ihrem Zweitwohnsitz, pflegte sie Kontakte zu Intellektuellen, so etwa zur in Frankreich und Griechenland lebenden Philosophin und Autorin Mimika Cranaki.

Krankheitsbedingt konnte Diana Canetti seit 2006 nicht mehr schreiben. Im November 2012 erinnerte das Frauen-Kultur-Archiv der HHU mit Lebens- und Werk-dokumenten an das interkulturelle Wirken der Autorin im Kontext der Ausstellung in der ULB Düsseldorf: „Prometheus-Funken. Zum deutsch-türkischen Wissens- und Kulturtransfer seit 1933“. Zum 70. Geburtstag präsentierte das Frauen-Kultur-Archiv im Oktober 2013 im Heine-Institut eine Lesung aus der vom Archiv herausgegebenen Edition ihrer „Betrachtungen zu Mulitkulturalität, Heimat und Fremdsein“, an der Canetti nicht teilnehmen konnte.

Nach langer schwerer Krankheit starb Diana Canetti am 22. Juli 2014 in Düsseldorf. Ihr Grab befindet sich auf dem dortigen Nordfriedhof.

© Ariane Neuhaus-Koch

Publikationen

Prosa

Ungedrucktes

Beiträge in Anthologien, Sammelbänden

Radio-Beiträge für den SWR 2 (Auswahl)

Selbstaussage der Autorin

Wenn man aus einer doppelten christlich-jüdischen Wurzel stammt, dann fühlt man sich prädestiniert, das Verhältnis zwischen Juden und Christen klären zu helfen, sei es auch um den Preis, daß man hinfällt. Wenn sich aus dieser Anregung jedoch keine sinnvolle Arbeit zu ergeben scheint, was kann dann der Sinn für einen Menschen wie mich sein? Meine alte Tante hatte mir zum Glück die unabänderlichen religiösen Elemente in salbungsvolle Sprüche gekleidet und mir mit auf meinen Lebensweg gegeben. Sie sind immer wieder Wegweiser gewesen, einfach da, um meine Verzweiflung zu bekämpfen.

An seine „Matratzengruft“ gefesselt, wußte der Dichter Heinrich Heine, was Verzweiflung heißt. „Es ist mehr Verwandtschaft zwischen Opium und Religion, als die meisten Menschen sich träumen lassen“ schrieb er. Wenn Heine seine Schmerzen nicht ertragen konnte, dann nahm er Morphium und andere Betäubungsmittel. Nicht umsonst sagt man, daß man um Hilfe fleht, wenn man zusammenbricht.

Mit zunehmendem Alter merkte ich, daß alle Religionen, Traditionen, Gebote und Gesetze etwas Gemeinsames haben. Sie alle sind Versuche, die Schwierigkeiten und die Schmerzen des Lebens zu verkraften. In der Tat, es ist nicht einfach, einer Welt ausgesetzt zu sein, die stets neue Probleme aufwirft. Herauszufinden, welchen Sinn ich in meinem Leben finde und welchen Sinn ich dem eigenen Leben gebe. Nur Geld zu verdienen kann z. B. nicht die Hauptattraktion des Lebens sein. Ich arbeite nicht für den Tanz um das Goldene Kalb. Und ich möchte nicht, daß Geld und Macht zu unserer Religion werden. Ich gehöre rein formal zu keiner Religion, bewahre aber trotzdem auf meine Art und Weise einen Glauben.

Meine Mutter hat ihr Wort gehalten. Sie war als Griechin geboren und starb als Griechin. Zur Kirche ging sie nicht. Über Gott sprach sie nicht. In den letzten Jahren ihres Lebens trug sie allerdings eine Kette mit einem Kreuz, einen Davidstern und einen Bismillahimrahmanirahim. Drei Zeichen, die für Christentum, Judentum und Islam stehen. Heute liegen diese religiösen Symbole auf einem chinesischen Teller in meinem Schlafzimmer. Und ich unternehme gern Pilgerfahrten, um Heiligtümer, Kapellen, Moscheen, Synagogen und fernöstliche Tempel zu besuchen. Wohnorte der Geister und Götter. Ganz bestimmt glauben viele Menschen nicht an Seelenwanderung und Wiedergeburt, wünschten sich aber, daß es sie gäbe. Das Herz hat Beweggründe, die in der Vernunft allein nicht begründet sind. Vielleicht ist das große Kennzeichen der Religionen das „Prinzip Hoffnung“. Wenn wir ganz unten sind, bleibt uns die Hoffnung, daß eine Auferstehung in einem heilen Körper und einer heilen Seele folgen wird. Daß eine Phase zu Ende gegangen ist, fertig ist, abgelegt. Und dass wir bei Gott von ganz vorn beginnen können.

„Wozu Kinder in eine Religion zwingen? Sie sollen selber entscheiden, wenn sie alt genug sind, ob sie Christen oder Juden sein wollen“, sagten meine Mutter und mein Vater gemeinsam. Viele denken, ich gehöre weder zu einer Religion noch zu einer anderen, Daß ich nirgends hingehöre, wird gleichgestellt mit dem Bild, dass ich nirgends einen Tempel habe. Doch so ist es nicht. Wer aus doppelten oder dreifachen Wurzeln wächst, bekommt die Überlieferungen sowohl des einen, als auch der anderen Religion, und kann sein geistiges Haus so schnitzen, wie es aus eigenem Entschluß notwendig ist.

Quelle: „Ich brauche ein geistiges Haus“. Vom Leben in christlicher, jüdischer und griechisch-orthodoxer Tradition zugleich. In: „Leben - einzeln und frei wie ein Baum und geschwisterlich wie ein Wald ist unsere Sehnsucht.“ Türkei, Deutschland, Europa. Impulse für die Gegenwartsliteratur: Das Eigene und das Fremde. Tagung der Evangelischen Akademie Iserlohn vom 12. - 14. Januar 1996. S. 88-90.

Pressestimmen zu Diana Canetti

Ähnlich wie ein Sonnenstrahl. Diana Canetti las im Café der Johanneskirche

Der oft gestellten Frage nach Sinn und Nutzen von Kunst und Kultur ging auch die Autorin Diana Canetti nach – und bot eine Antwort mit ihrer autobiographischen Erzählung „Pygmalion ohne Happy End“. Im Rahmen der Autorenreihe „Literatur um halb fünf“ im Café der Johanneskirche, das jeweils am letzten Freitag eines Monats Lesungen anbietet, lernte die internationale Zuhörerschaft mit Diana Canetti eine interessante Persönlichkeit kennen.

Die promovierte Theaterwissenschaftlerin, Journalistin und Autorin vereint als Person all das, wovon sie in ihren Geschichten erzählt und was man als „interkulturell“ bezeichnen kann. Aufgewachsen in Istanbul „in einem babylonischen Sprachgewirr“ - zu Hause wurde Griechisch, Türkisch, Spaniolisch und Französisch gesprochen - studierte sie Anglistik und verfaßte Erzählungen für eine türkische Zeitschrift. Ende der 60er ging Canetti nach Wien, um Theaterwissenschaften zu studieren. Heute lebt sie in Düsseldorf und schreibt unter anderem Hörspiele für den WDR und SDR, die immer das Thema „interkulturelle Beziehungen“ beleuchten.

Die Erzählung „Pygmalion ohne Happy End“ reiht sich ebenfalls in diesen Themenkreis ein, hat jedoch noch eine spezielle Note. So persönlich und sprachlich schlicht die literarische Erlebnisreise einer Studentin auf der Suche nach ihrer geistigen Welt anmutet, so hebt sie sich durch philosophisch-kluge Gedanken und kritische Selbstreflexion zugleich als eine Geschichte des allgemein Menschlichen hervor. Die junge Studentin ist nicht nur Türkin griechischer Abstammung mit jüdischem Glauben, im deutschen Sprachgebiet lebend auf der Suche nach ihrer persönlichen Kultur, sie ist auch der „in die Welt geworfene“ Mensch, der nicht nur sein Dasein fristet, sondern mit „unbändiger Neugier eine interessante Welt mit einem vollen Geistesleben“ kennenlernen will.

Dabei wird die begeisterungsfähige Studentin immer wieder mit provokativen Thesen ihres Professors konfrontiert, des Pygmalion, der sich mit ihr sein geistiges Abbild zu schaffen versucht. „Alles, was mit Kunst und Kultur zusammenhängt, ist Luxus“, warnt der lebenserfahrene Mentor. Doch die welterfahrene Studentin entgegnet schlicht: „Kultur streichelt unsere Sinne ähnlich wie ein Sonnenstrahl.“ Am Ende spürt sie, daß sie sich aus dem Bann Pygmalions lösen muß, und erkennt: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern auch von Symbolen.“

Renja Greis in: Rheinische Post, 27.01.1997.

Lore Schaumann: Diana Canetti. Lehr- und Wanderjahre in zwei Kulturen

Stellen wir uns vor, wir sollten ein Buch in türkischer Sprache schreiben, nach einigen Studienjahren, gewiß, und nachdem wir uns in dem fremden Kulturkreis umgetan hätten, ohne aber doch einen Zustand von Anderssein jemals ganz überwinden zu können. Kaum denkbar, meinen wir? Diana Canetti, aus Istanbul kommend und deutsche Romane schreibend, zeigt am umgekehrten Fall, daß es möglich ist.

Sie hat sich allerdings westliche Denkformen nicht erst als Erwachsene aneignen müssen - Kind zweier Minderheiten und mehrerer Sprachtraditionen, lebendes Beispiel für die Brückenfunktion des alten Konstantinopel zwischen Abendland und Morgenland. Die Mutter stammte aus einer jener griechisch-orthodoxen Familien, die 1453 nach der Eroberung durch die Türken in Byzanz geblieben waren. Dort hatten die Vorfahren des Vaters, spanische Juden, von der Inquisition verjagt, im gleichen 15. Jahrhundert Schutz gefunden.

„Mit meinem Vater sprach ich das alte Spanisch, mit meiner Mutter griechisch, in der Volksschule türkisch, im Kloster machte ich das Abitur in französischer Sprache“, schreibt Diana Canetti - damals eine oft verzweifelte Schülerin, denn „ich war ein Kind, das sich in keiner Sprache richtig ausdrücken konnte“. Als einzige Nicht-Mohammedanerin hatte sie sich schon in der Volksschule ans Anderssein gewöhnt, ein Anderssein, das wohl verloren macht, aber auch Widerstandskräfte weckt.

Schwieriger war das äußerlich glanzvolle Elternhaus mit seinem Zank und mit seiner Unvereinbarkeit der Charaktere, die schließlich zu Auflösung und allgemeiner Trennung führte. In ihrem zweiten Roman zeigt Diana Canetti einen Ausschnitt aus dem Leben dieser verwöhnten Bürgerschicht: Den Spielclub „Cercle d’Orient“, in dem die schöne stolze Mutter mit anderen Damen der Gesellschaft ihre Nachmittage und Abende verbringt, während der schwer arbeitende Vater das Geld herbeischafft. Aber auch er zwängt sich abends in den Smoking, lebenstoll, versnobt und auf möglichst genaues Nachahmen westlicher Bräuche bedacht.

Die beiden Kinder werden als Belastung empfunden, es gibt kein Nest, aus dem sie herausfallen könnten. So wandert der Sohn später nach Südamerika aus. Und auch Diana, die manchmal auf dem breiten Autositz schlafend die Eltern erwartet hat, rebelliert früh, entdeckt ihre Härte und Zähigkeit - wenn es denn erlaubt ist, die Leila der Romane mit Diana gleichzusetzen. Aber diese beiden Bücher sind so offenkundig autobiografisch, daß die Abweichungen wahrscheinlich minimal sind.

Etwas, woran wir uns halten können, ist das vorangestellte Freud-Zitat, in dem es heißt: „Es war mir längst klargeworden, daß ein großes Stück der Lust am Reisen in der Erfüllung dieser frühen Wünsche besteht, also in der Unzufriedenheit mit Haus und Familie wurzelt.“ Der Koffer mit den Initialen D. C. auf dem Umschlag des ersten ist ein Symbol für die Unruhe, die beide Bücher erfüllt und sie nachträglich als eines erscheinen läßt, obwohl das frühere spontan und ohne Glätte, das zweite stilistisch ungleich besser ist.

Fort! Ich bin geflohen, ich mußte weg, ich hielt es nicht mehr aus - lauter Aufbrüche, lauter sprachliche Chiffren für Fluchtbewegungen, die schon damals, gewiß aber im Rückblick, als Wege auf der Suche nach sich selbst begriffen werden. Bodenlose Wege zuweilen, sie erinnern an Mutproben, an Absprünge aus den Wolken, bei denen man nicht weiß, ob der Schirm sich entfalten wird. Der Aufbruch ins deutsche Sprachgebiet hat etwas Tollkühnes, absolut Irrationales. Warum ging Diana Canetti nicht nach Frankreich, in ein Land, dessen Sprache sie vorzüglich beherrschte? Das sei sie schon oft gefragt worden. Sie habe aber mit einem Stipendium des Österreichischen Unterrichtsministeriums gerechnet, und sie habe geglaubt, am Reinhardt-Seminar Theaterschriftstellerei lernen zu können.

Als beide Voraussetzungen sich als falsch erweisen, bleibt sie dennoch in Wien, wieder in der Position des Außenseiters, eine junge Türkin, die kein Deutsch kann. Sie nimmt sich vor, „das Lernen sollte für mich nicht ein Nebenzweck meines Lebens, sondern das Leben selbst sein“. In dieser Haltung lebenslangen Lernens stimmt sie exakt mit dem großen, gleichfalls spaniolischen, jedoch nicht mit ihr verwandten Namensvetter Elias Canetti überein.

Die Aufnahmeprüfung am Schauspielseminar besteht sie durch die in Istanbul gelernte Ausdruckskunst. Sie nimmt Unterkünfte und Arbeiten jeglicher Art auf sich, am liebsten im Weichbild der Bühne: „Ich kam jeden Abend um 19 Uhr 30. Schminken, Frisieren und Ankleiden dauerten maximal 20 Minuten. Dann nahm ich einen Bleistift und mein Textbuch, ging hinter die Bühne und saß neben dem Feuerwehrmann. Auf jeder Seite fand ich zwischen zwanzig und fünfzig Wörter, die ich nicht kannte. In meiner Freizeit - zwischen zwei Vorlesungen, während der Mittagspause oder in der Stadtbahn - schlug ich ständig in meinem Wörterbuch nach. Nach zwanzig Vorstellungen kannte ich das Stück fast auswendig.“

Diese wahnsinnige Anstrengung mit der deutschen Sprache hat Diana Canetti schließlich das Studium an der Universität ermöglicht. Dem Abitur auf Französisch folgt die theaterwissenschaftliche Doktorarbeit auf Deutsch - über ein türkisches Thema. Triumph der Zähigkeit, Triumph einer außerordentlichen Begabung. Diana Canetti hat dann für eine türkische Zeitung und für deutsche Rundfunkanstalten gearbeitet, Interviews mit Gastarbeitern und Theaterberichte gemacht und sich an Hörspielen versucht. Ein Theaterstück hat sie nicht geschrieben, doch ist ihr kein Bedauern darüber anzumerken. Warum auch - ihre Prosa drückt aus, was ihr wichtig ist: Die Verlassenheit des ausländischen Studenten in einer der großen Industriestädte, die trotzdem immer wieder durchbrechende Freude, jung und schön zu sein und die freien Beziehungen des Westens auszuprobieren. Ein Freund zeichnet ihr griechisch-minoisches Profil.

Gegen die schon in Istanbul erkannten sozialen Ungerechtigkeiten der Türkei wird leidenschaftlich Partei ergriffen, z. T. mit Hilfe und nach den Instruktionen eines revolutionären Landsmanns, der freilich in der Zweierbeziehung den weiblichen Partner genauso ausbeutet wie der Klassenfeind seine rechtlosen Bauern. Das Kapitel Leila und die Männer, Diana und die Männer steht noch deutlich unter dem Eindruck der neugewonnenen sexuellen Freiheit und hat etwas von einem weiblichen Leporello-Album. Daneben stehen einfühlend gezeichnete Kinderporträts: Nalan, die abgerissen und verängstigt am „Cercle d’Orient“ erscheint, weil ihre Mutter sie über dem Glücksspiel vergessen hat. Gökperi, das scheue, elternlose Kind mit den blonden Zöpfen, das auf einer gemeinsamen Bahnfahrt zutraulich wird.

Immer wieder dieses Thema des einsamen Kindes, aber auch der einsamen, kinderlosen Frau. Diana Canetti hat es in einer (später verfilmten) Schauspielszene gestaltet, die für den qualvollen Geburtsakt ein Stück des eigenen Körpers, den Fuß, zum „Baby“ erhebt.

Der beschreibend anschaulich gemachte Vorgang völliger Entäußerung und die verständnislose Reaktion der Lehrer und Schüler am Reinhardt-Seminar rücken etwaige Vorstellungen über die „kulturell zurückgebliebene Türkei“ sehr wirkungsvoll zurecht: Die bessere Schauspielausbildung brachte Diana von Istanbul mit!

Jetzt wird der Koffer nur noch für Ferienreisen hervorgeholt. Das Gehäuse, das sie mit dem Dramaturgen Jürgen Fischer an der Oberkasseler Hansa-Allee bezogen hat, sieht nach Bleiben aus: Eine große, strahlend hell hergerichtete, nach Farbe duftende Altbauwohnung, ideal zum Arbeiten, Umherwandern, Gästehaben.

Drei Jahre Düsseldorf haben sie mit der Stadt befreundet. Ein interessanter Kreis umgibt sie. Im Schauspielhaus hat sie ein Gefühl der Zugehörigkeit, ohne dort angestellt zu sein. Was sie jedoch tut, und was ihr Freude macht, ist die freie Theaterarbeit mit einer Mädchen-Arbeitsgemeinschaft der Realschule Ackerstraße. Und drei Kurse an der Volkshochschule, über Musil und Saul Bellow - genug „Gruppe“, um gegen die einsame Arbeit am neuen Roman einen Ausgleich zu haben.

Sein Titel „Ein Mann von Kultur“ liegt seit langem fest, ihn fertig zustellen dürfte aber schwieriger sein als bei den Vorgängern, weil Diana Canetti nun nicht mehr einfach ihr Leben „abschreiben“ kann, sondern Erfahrenes und Erfundenes zusammenpassen muß. Sie kam als erste Schriftstellerin mit einer ganz klar umrissenen Detailfrage ins Literaturbüro und forderte Hilfe. Solange sie in Bewegung ist, erscheint sie als morgenländische Fee, die sehr genau weiß, was sie will. Aus ihrem schweigenden Gesicht spricht jahrtausendealte Trauer.

In: Düsseldorf schreibt. 22 Autorenporträts, Düsseldorf: Triltsch Verlag, 1981, S. 30–32.

Sensible Verrücktheit. Ein neuer Name: Diana Canetti

„Heute will ich ein weiteres Mal neu beginnen.“ Dieser Satz steht zwar am Ende eines Buches, aber er könnte über jedem Kapitel, jedem Tag, jeder Stunde der Diana Canetti stehen. Ein neues (interessantes und schönes) Gesicht, ein neues, erfrischendes Buch: „Eine Art von Verrücktheit“. Da kommt eine junge Türkin, der Vater türkischer Jude, die Mutter Griechin, aufgewachsen in Istanbul, in einem Gemisch von Judentum, Orthodoxie, Islam und Katholizismus, und schreibt ein Buch über die Emanzipation junger Menschen.

Diana Canetti verbreitet keine Theorien, und selten erwähnt sie ihre marxistische Grundhaltung. Sie schreibt auf, wie sie nach Wien gekommen ist, dort Arbeit, Freunde und Leben gesucht hat. Streiflichter zeigen andere Stückchen Europa, zurückhaltend, erfahrend.

Diese Offenheit zum Leben, die begeisternde Lernbesessenheit und die Fähigkeit, körperlich zu denken und denkend zu handeln, spontan, ohne Rückversicherung, prallen natürlich im blassen Wien, an den blassen, doktrinären Schauspielschülern und -lehrern ab. Momentane Freundlichkeiten, kurze Liebschaften, viel Gerede und Ablehnung - eine eindrücklichere, für uns deprimierende Konfrontation lässt sich gegenwärtig schwer schreiben. Keine lauten Töne und Proteste; D. C. setzt an ihre Stelle den Versuch, ein, mehrere Gegenüber zu finden, darauf einzugehen, nachzudenken über ihre eigene zeitweilige Einsamkeit.

Da sind keine Bindungen, weil es Bindungen gibt. Sondern menschliche Verbindlichkeiten. Solche, die sich verändern, die plötzlich auftauchen und plötzlich sterben. Da ist kein Theoretisieren über die Emanzipation von Geschlechtern, sondern hier wird Emanzipation von Menschen gelebt als Selbstverständlichkeit.

Wenn die Schauspielschülerin D. C. im Wiener Reinhardt-Seminar aus ihrer vitalen Sicht eine Geburt, eine Mutter mit einem toten Kind, den Tod eines Kindes nicht nur zu „spielen“, sondern auf der Bühne ihren Mitschülern vorzuleben sucht, bekommt sie Verweise: ihre Lehrerin findet das obszön, die Mitschüler „würden sich schämen“, und „sowas gehört sich nicht“ usw.

D. C. wird nicht nur von widerlichen oder anziehenden Umständen gefordert. Sie will nicht einfach „ihr Fleisch verkaufen oder verschenken“. Sie sucht Wechselwirkungen, Zärtlichkeit, Liebe, Freundschaft. Uralte Wünsche, die alle unter Bergen von Konventionen, Moden, Religionen, Doktrinen, Trägheit und Machtspielen vergraben sind. Und von denen alle reden. Von jeher.

Diana Canetti schreibt sich, sie denkt sich, sie lebt sich. Das lässt sich einfach sagen. Aber ich finde, sie zeigt zumindest mit ihrem Buch, dass Einsamkeit durchaus schöpferisch, und die Strecke zum andern sehr kurz und unmittelbar sein kann. Diese Art von Verrücktheit löst Komplexe auf. Sie ist viel mehr als ein „Tagebuch einer Jugend“.

Beat Brechbühl in: Züricher Weltwoche, 07.12.1972.