Frauen-Kultur-Archiv

Düsseldorfer Autorinnen der Gegenwart: in memoriam
Renate Neumann

Vita

Geboren am 2. Februar 1954, ermordet am 23. April 1994

In einer xenophilen Familie in Mönchengladbach aufgewachsen, studierte sie in Marburg, Berlin, Heidelberg und Düsseldorf Germanistik, Philosophie und Sprachwissenschaft. Sie promovierte 1985 mit der Arbeit „Das wilde Schreiben. Graffiti“. Renate Neumann arbeitete u.a. journalistisch in der feministischen Monatszeitschrift „Kom’ma“ in Düsseldorf und veröffentlichte seit 1990 Prosaminiaturen und Novellen-Teile in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften.

Zu ihren geistigen Müttern zählte sie Rahel Varnhagen und Hannah Arendt. Besondere Affinität bekundete sie gegenüber „der jüdischen Salonkultur in der französischen Revolutionszeit und dem intellektuellen Widerstand gegen den Nationalsozialismus und gegen undemokratischen Machtanspruch“.

Ihre Prosaminiaturen sah sie in der Tradition der Briefe einer Rahel Varnhagen: „in sich abgeschlossen und doch offen; beim Schreiben entsteht der in die Zukunft offene Text“.

Der erste Prosaband erschien posthum, nur wenige Monate nach ihrem gewaltsamen Tod. Er war mit ihr erarbeitet worden, sollte Ende 1994 erscheinen.

Publikationsliste

Pressestimmen

Aus den schaurigen Schatten. Texte der Düsseldorfer Autorin Renate Neumann im Otto-Brües-Haus

Renate Neumann: ungewöhnlich ihre Kunst, ihr Leben, ihr Schicksal. Ungewöhnlich auch die Referentin, die berichtete, las, erläuterte. Sophia Willems, Feuilleton-Redakteurin dieser Zeitung, war für ihr Thema doppelt prädestiniert: fachlich als Rezensentin, menschlich als Freundin Renate Neumanns, „eine der ungewöhnlichsten literarischen Persönlichkeiten“, nur vergleichbar vielleicht mit Elfriede Jelinek. Schreiben war Renate Neumann eine hohe innere Notwendigkeit.

Die 1954 in Mönchengladbach Geborene, promovierte Germanistin und Philosophin hatte zuletzt, vor ihrem grauenhaften Tod – ermordet am 23. April 1994 – einen Lehrauftrag an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. 1994 erschienen die Prosatexte „Du weckst die Nacht“, ein schmales Buch, dessen Veröffentlichung die Schriftstellerin nicht mehr erlebt hat. Wir hörten daraus, von Sophia Willems gelesen, einige wenige Texte. Wir konnten diese so hautnah erleben, weil Sophia Willems Stimme sie für uns so erlebbar machte. Da schienen im kleinen, vollbesetzten Raum des Otto-Brües-Hauses plötzlich die Metaphern auf: die schaurigen Schatten, die Wörterschatten, die Träume, die Alpträume, die Grenze am Tod...

„Entdeckt werden kann sie kaum“, heißt es in der Miniatur „Auf dem Weg“. Daran knüpft Sophia Willems an: „Entdeckt wurde sie in der Tat nur von wenigen.“ Ihr großes Werk „Der Ort der Dinge“, ein „enzyklopädisch angelegter Selbstversuch“, blieb bis heute ein von den Verlegern abgelehntes Manuskript. Seine Bewegungsabläufe, seine innere und äußere Zeit rückt Sophia Willems in die Nähe von Proust’s „Recherche“.

Die an Sophia Willems geschriebenen Briefe der Freundin Renate atmen die Sprachsuggestion von all ihren Texten. Sätze wie Rhythmen von Ravel oder auch wie von Gertrude Stein – staccato und prestissimo -, und so auch von Sophia Willems übermittelt. Die verwandelnde Kraft der Sprache einer Unangepaßten wurde hörbar, deren geistige Geschwister Hannah Arendt, Else Lasker-Schüler und Robert Walser waren.

„Wassertropfen an den Wimpern – auch Tränen“ bei etlichen Anwesenden. Auch bei mir.

Marianne Gatzke in: Westdeutsche Zeitung, Krefeld, 22.März 1996.

Wahre, unbequeme Sätze als Nachlaß. Prosa von Renate Neumann im Brües-Haus

Renate Neumann, 1954 in Mönchengladbach geboren, fiel 1994, kurz nach ihrem 40. Geburtstag, einer mörderischen Gewalttat zum Opfer. Die promovierte Germanistin hinterließ ein schmales literarisches Werk, das größtenteils unveröffentlicht blieb. Die Düsseldorfer Journalistin Sophia Willems stellte jetzt auf Einladung des Otto-Brües-Freundeskreises im Brües-Haus Prosa der Neumann vor.

Sie sei von der Qualität der Arbeiten überzeugt, sonst würde sie sich nicht dafür einsetzen, sagt Willems, die mit der Autorin befreundet war. Der Nachlaß umfaßt ein Theaterstück, ein Romanfragment, eine Novellentrilogie, den keiner Gattung zuzuordnenden Text „Der Ort der Dinge“. Erschienen ist bisher nur eine kleine Auswahl unter dem Titel „Du weckst die Nacht“ im Neusser Ahasvera Verlag (132 Seiten, 24 Mark).

Unangepaßte Persönlichkeit

Sophia Willems schilderte ihre Freundin als eine unangepaßte, nicht einfach funktionierende, eher mit zuvielen Zweifeln behaftete Persönlichkeit. Ihre letzten Jahre seien vom Kampf gegen Armut und um die versagte literarische Anerkennung geprägt gewesen. Manuskripte lagen Suhrkamp vor – hier gab es keine Antwort -, der Hanser Verlag lehnte eine Veröffentlichung in zynischem Ton ab.

Für Willems hat Renate Neumanns Werk „einsame Größe und große Einsamkeit“. Aufgrund der vorgestellten Texte ist leicht nachvollziehbar, was große Verlage von einer Veröffentlichung absehen lässt. Das Werk ist sperrig, Zeugnis einer Selbstsuche im Raum der Sprache, weit über dem Niveau, das man bloß selbsttherapeutischen Schreibversuchen zubilligen mag. Die Brüche der Identität werden hier nämlich keineswegs gekittet, sondern zur Sprache gebracht. Der Grad der Verdichtung ist hoch, eine leichte Lektüre ausgeschlossen. Kommerzieller Erfolg würde diesem Werk sicher versagt bleiben. Willems hofft, daß vielleicht eine Kulturstiftung zur Finanzierung einer Veröffentlichung beiträgt.

Beschädigtes Leben

Diesem Wunsch kann man sich anschließen, denn der schonungslose Blick auf die Wirklichkeit, wie ihn die Schriftstellerin vermittelt, ihre Auseinandersetzung mit der Trauer über das beschädigte Leben und das Scheitern der Beziehungen, sie verdienen, in einer für andere zugänglichen Form bewahrt zu werden. „Wir müssen wahre Sätze finden“, hat Ingeborg Bachmann gesagt. Das Werk der Neumann, das konnte man im Brües-Haus hören, hat solche und deshalb auch unbequeme Sätze zu bieten.

kMs in: Rheinische Post, Krefeld, 22. März 1996.

Räume in nuce. Renate Neumann: Du weckst die Nacht. Prosaminiaturen.

Wer Welt en miniature darstellt, liebt Paradoxien. Miniaturisten, behauptet Bachelard, in seiner Poetik des Raumes, lassen den Kern sich den Apfel erschaffen. Sie entdecken mit dem Vergrößerungsglas ihrer Aufmerksamkeit ein Detail nach dem anderen und beschreiben so minutiös den Raum, „als gebe es Weltmoleküle, als könnte man ein ganzes Schauspiel in das Molekül einer Zeichnung einschließen“.

In ihren 70 unter dem Titel Du weckst die Nacht erschienenen Prosaminiaturen muß Renate Neumann die „Weltmoleküle“, die sie unter die Lupe nimmt und perspektivisch umkehrt, zuerst mit der Taschenlampe – als Lichtmoleküle – aus dem Dunkel der Indifferenz herauslösen. Doch nicht Licht ist das Sichtbare. Und so läßt Renate Neumann eine Abfolge von düsteren Capriccios (ergänzt durch 7 Zeichnungen) entstehen, flottierende Sinnmoleküle, verbunden allein durch das als Vergessen um Kitsch und Kapital sich windende Band, jenes „goldne Gängelband“, mit dem Hölderlin Gott und Menschen verbunden wußte, als Verbundenheit mit dem Grauen desavouierend und Kunst und Künstlerin in ein Spiel mit dem Tod einbindend: „Spiel mit dem goldenen Band in deinem Haar, Shulamit, weggezogen in ein anderes Land oder Gast?“. Die Räume, die Neumann erschließt, laden nicht zum Verweilen ein; die Moleküle werden zur Weite, Weite aber erweist sich dem Gast, der nicht zum Bleiben aufgefordert wird, als Irrweg und Gefängnis: „Sie geht lebenslänglich. Sie kommt nicht an, erreicht ein Ufer, schwimmt hinüber, kehrt am anderen Ufer um, macht Umwege, verläuft sich. Kleine Papierschnipsel gräbt sie unterwegs ein, hängt Lampions an die Bäume, arbeitet mit an der Straßenbefestigung. Der Tod ist zu, sie kommt nicht rein, muß wieder weiter.“ Sie spinnt sich eine Lebenslinie am Tod vorbei: „Deine Linie weist daran vorbei, geht ins Leere, kann sich nicht aufrichten, der Schlangenbeschwörer hat seine Flöte vergessen.“ Ein weiteres Gedicht Celans alludierend: „Stimmen vom Nesselweg her: Komm auf den Händen zu mir. Wer mit der Lampe allein ist, hat nur die Hand, draus zu lesen.“ verknüpft sie Hand und Buch: „Handschriftschlängel auf Linienpapier, wohlgeordnet, eingegrenzt, gleichmäßig, parallel, bis zum Ende des Heftes, das liniert ist. Auf einer Treppe in Rom, sitzend und auf liniertes Papier zeichnen, quer zu den Linien, schräg dazu, in Schieflage, das Buch in einen Brunnen werfen und warten, bis es sich neben den Münzen auflöst. Ein gutes Zeichen für die Zukunft, wenn es da glitzert, das Kupfer.“

Renate Neumann bewegt sich im Kreis. Unter dem Stern des Todes erweist sich künstlerisches Schaffen – im traditionellen Bild der Schöpfung aus dem Wasser, den Shulamit-Wasserfällen, evoziert – als ein Unmögliches: „Wieder welche, die mit den Händen den Quell fangen wollen, Wasserfalldusche, das nehmen die zum Unbill.“ Nicht sind die „sperrangelweiten Sterne“ im Wasser (das Tiefste ist das Höchste) zu fassen, von keiner Hand, auch von der der Künstlerin nicht; die Existenz einer reinen Hand (Goethe) ist zu bezweifeln. Der Stern, auch er, „comme l’eau à garder dans la main qui tremble“ (Tzara). Ein Zeitmolekül, zu groß, um durch die Sprachgitter den „Wortschlägern“, dem Dunkel des Tages preisgegeben zu werden?

Wasser, das sich „ballen“ ließe (Goethe), erstarrt zu Kristallen, zu Diamanten gefrorener Momente glücklicher Liebe (die Biologie, ein Artefakt und ein Fossil ihrer selbst), auf dem steifleinernen Kleid der Mutter erscheint als blauer Kringel sich materialisierende Kindheitserinnerung, ein Nichts, von Sehnsucht eingekreist, läßt Hohlräume naher Fremdheit entstehen, Epiphanien einer mörderischen Banalität („Riesengeranien“). Banales ist riesig, Riesiges banal. Ein „Urtrauma“, mit der Lupe betrachtet, wird zu Spielzeugschreck, um – durch eine sarkastische Volte – schließlich als Schmuckstück am Revers zu landen. Das Schreckliche, dem Vergessen preisgegeben, wird (Kafkas Odradek ähnlich) zum skurrilen „buntscheckigen Scheusal“, das es als ansehnliche Leiche zu konservieren gilt.

Wie Scheherazade reiht Renate Neumann Geschichte an Geschichte und wirft dem Zeitgeist zur Ablenkung Parabeln zum Fraß vor. Doch hatte die Märchenspezialistin es leichter: Ihr Tyrann hatte ein Gesicht, die Banalität in der Welt Neumanns hat keins. Alles ist verkehrt in dieser Welt: Kleines ist groß, Großes klein, Krankes gesund, Rekruten sterben an Pilzvergiftung, eine Gefahr sind die Friedfertigen. Und wieder anders als Scheherazade erschließt Neumann Räume nicht auf ein Telos hin, ihr wird die Zeit selbst zum Raum: „Was wäre, wenn der Tag nicht mehr geradeaus ginge, sondern sich wie Papierschlangen immer weiter um sich selbst drehte.“ Die Zeit schlängelt sich um sich selbst, wird zum Raum, zum weißen Blatt, das bereit ist, Spuren aufzunehmen. In solchem Raum sind Ausgrenzungen nicht möglich; er bietet sich als ideale Lebensform an für die Ausgegrenzten par excellence, für Frauen und Juden. Von Text zu Text findet Neumann eine flüchtige Bleibe. An die Briefe der Rahel Varnhagen anknüpfend, weiß sie, daß solche Texte unterwegs sind wie jene, die sie schreiben , und ihnen stets das Risiko der verfehlten Kommunikation mitgegeben ist.

Es ist diese Ortlosigkeit, die Frauen, als das andere verkörpernd, die Abweichung von Normen und Ideologien, dazu »verurteilt, die Wahrheit zu sprechen und nicht den schönen Schein« (Jelinek).

Renate Neumann diagnostiziert die Absenz eines erfahrungsfähigen Subjekts. In 70 Miniaturen reiht sie dehumanisierte Fragmente nicht lebbarer Realität aneinander: „Gütige Sekunden, Splitter des Vergessens, nur nicht mehr wissen, unbedingt verschweigen, nicht näherrückenlassen, ausblenden. … Stunden gemächlicher Innenreise, aber ohne Erinnerung, nur nicht aufkommen lassen, nicht hochkommen lassen, nur nicht auskotzen. Gesprächsweise Unterschlagungen begehen, Wissen verschweigen, Können verbergen, nicht zu sehen sein, sich nicht hören lassen, die Toten schweigen ohnehin, Ermordete schweigen noch stiller, laß die Erinnerung nicht durch die dünnen Ritzen drängen, Zeitgeist.“

Du weckst die Nacht erschien posthum. Renate Neumann, geboren am 2. Februar 1954, wurde am 23. April 1994 ermordet.

Gerlinde Roth in: Virginia. Frauenbuchkritik Nr. 19, 26. Oktober 1995.

Das Lied des Todes singen. Zum ersten Todestag von Renate Neumann

„Der Tod ist unfaßlich“, schrieb Renate Neumann, kurz bevor sie starb. Es muß in ihrem Leben entsetzliche Momente gegeben haben, die sie innerlich zertrümmerten, die bei ihr sogar eine Todesangst aufkommen ließen. Welche Momente? Sie sind uns Rätsel, so wie sie uns ein Rätsel war mit ihren entweder mehrdeutigen Aussagen oder ihrer Wortkargkeit.

Sie konnte beharrlich sein in ihrem Schweigen und unternahm dann Forschungsreisen nach Innen. „Du weckst die Nacht“, der Titel ihres im Ahasvera Verlag, Neuss, erschienenen Buches, ist eine Anspielung auf diesen stummen Schrei.

Renate Neumann (geb. 1954) hat Germanistik, Soziologie und Philosophie an der Freien Universität Berlin unter anderem bei Jacob Taubes studiert. Der jüdische Emigrant hielt Vorlesungen über die nationalsozialistische Politik der Vernichtung. Die Ermordung von Millionen Menschen entsetzte die Studentin, wirkte wie ein Schock, der sie nicht mehr heimisch werden ließ auf dieser Welt und der immer wieder eingehen sollte in ihre Literatur.

„Tieflader ins Moor, die Vergrabenen, Verschütteten, viele Menschen, die bleiben da unten, da folgt nichts draus, die Geschichte geht weiter und doch gibt es einen Nerv der Vergangenheit, der durchstrahlt, der durchleuchtet, der die Gegenwart beschäftigt. Es gibt eine Zeit bis in die Gegenwart, da kehrt die Erinnerung ständig wieder, die verfolgt die Jetztzeit und blickt auf die Zukunft und erstreckt sich weiter und läßt sich nicht verdrängen und nicht vergessen, Stachel vergangener Zeit“.

Hier spricht sie deutlich aus, was sie bedrückt und beschämt. Die Vergangenheit, die unversehens in die Gegenwart zurückkehrt, wenn man sie vergißt. „Wissen verschweigen, Können verbergen, nicht zu sehen sein, sich nicht hören lassen, die Toten schweigen ohnehin, Ermordete schweigen noch stiller, laß die Erinnerung nicht durch die dünnen Ritzen dringen, Zeitgeist.“

Neumann übte Kritik am Verlust geschichtlichen Denkens. Mit ihrem unverwechselbaren Ausdruck zeigte sie uns ihr Sich-Nicht-Abfinden mit Verdrängen und Vergessen. Ihre ganze Prosa singt das Lied des Todes. „Der Tod in diesem Land hat eine Geschichte“, und sie trauerte im Namen des deutschen Volkes: „Die Trauertage sind die Klagemauern der Völker…“

Worte, die man in diesen Tagen, zu den Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag des Kriegsendes, durchaus zitieren kann. „Die Luftwaffenbomber und die Bodenkrieger lassen sich zusammenfassen als kriegsführende Parteien. Das verdunkelt den Tag, dennoch will ich leben, um den Krieg zu verhindern, große Einbildungen zu kreieren und mich auszuruhen, bis ich in mir zusammenlaufe, um wieder die Arme schwenken zu können.“

Bilder von Waffengeschäften und Kriegen verdunkelten ihren Alltag. Aber Renate Neumann war bereit zum Handeln. Sie wollte leben, um den Krieg zu verhindern. Sie wollte Widerstand leisten. Ausharren. Noch einmal bei Frühlingsduft am 1. Mai radfahren, darin liegt die Ahnung ihres Todes.

Sie starb am 23. April 1994 als Opfer eines unerklärlichen, beinahe symbolisch anmutenden Mordes. Den 1. Mai hat sie nicht mehr erlebt. Einmal wird man wissen wollen, wer Renate Neumann war, wird mehr wissen wollen, als die bloße Tatsache, daß sie Dozentin und Schriftstellerin war. Wird man sich fragen, ob Renate Neumanns Stimme nicht die Zeit überdauern wird. Aber wann, wenn nicht jetzt?

Sophia Willems in: Westdeutsche Zeitung, Düsseldorf, 22. April 1995.

„Du weckst die Nacht“. Prosaminiaturen von Renate Neumann

„Einzelne Momente des glücklichen Lebens, gibt es das?“ Die so fragt, heißt Renate Neumann. Wenige Zeit nach ihrem tragischen Tod erschien ihr erstes Buch. Hinter dem poetischen Titel „Du weckst die Nacht“ verbergen sich siebzig Prosaminiaturen und sieben Zeichnungen der Autorin.

Gequält vom Hunger nach einem „außerordentlichen Erlebnis“, skizziert Renate Neumann „belanglose Einzelheiten, die sich zu Kleinigkeiten summieren“. Geschichten, angesiedelt „zwischen Jenseits und Nirgendwo“, gezeichnet vom „Stachel vergangener Zeit“. Wo Absurdes und Alltägliches, Gewöhnliches und Ungewöhnliches aufeinandertreffen, entpuppt sich das Banale schnell als das Wesentliche.

Da begegnet uns eine Frau, die ihren Sommerurlaub aus dem Koffer zaubert, um dem Alltag zu entfliehen, eine andere, die sich nach nüchterner Betrachtung ihrer Situation in graubraune Luft auflöst, und wieder eine andere, die alleine ißt und das Gefühl genießt, daß ihr keiner etwas wegnehmen kann. Wir erfahren von dem Mann, der nackt und seltsam unbeachtet in einer Kneipe steht, hören von der Sprachlosigkeit in der Geschwätzigkeit, von der Wachheit, die den Schlaf träumt, von Berührungen, die die Distanz vorwegnehmen, und von einer Intimität, die Fremdheit atmet.

Als flüchtiger Gast, stets auf dem Sprung, unternimmt Renate Neumann Streifzüge durch Tage und Nächte. Sie scheint auf der ständigen Suche nach dem Leben zu sein. Sie taucht in die Welt des eigenen Ichs ein, treibt in den Kosmos ihrer Mitmenschen, verliert sich in Traumvisionen und stellt sich dem alltäglichsten Alltag. Bei aller narzißtischen Selbstbespiegelung sind ihre Beobachtungen nie ohne ironische Brechung. Sie ist und bleibt eine Zerrissene. Wo sie auftaucht, fühlt sie sich heimisch und fremd zugleich. Ihre Unbehaustheit treibt sie weiter. Gierig beobachtet sie Menschen und Situationen. Im täglichen Miteinander deckt sie Unsicherheiten und Brüche auf, im erotischen Beieinander entlarvt sie Irrungen und Verwirrungen. Einige ihrer Gestalten scheinen nicht aus Fleisch und Blut zu sein. Gleich „Traumgesindel“ lösen sie sich auf, verschwinden im Nichts. Andere dagegen sind greifbarer. Sie gehen ins Kino und zu Demonstrationen, verspeisen Butterbrote und trinken Wein, lieben und zanken sich – kurz: sie leben. Die Autorin entwirft ihre Begegnungen mit dem Ich und dem Du in konstruierter Flüchtigkeit. Sie verliert sich nicht in Beschreibungen, vernachlässigt Erklärungen und begnügt sich mit Andeutungen. Ihre Sprache wirkt häufig ruhelos, manchmal getrieben. Ein assoziatives Spiel mit Worten, artifiziell und nur selten umgangssprachlich. Sie gibt sich nicht redselig, erzählt in gleichbleibendem Tempo und schweift nur dann ab, wenn sie Gefühlen auf die Spur kommt. Wo sie Leidenschaft als Leiden denunziert, wirkt ihre Sprache erkaltet wie Asche. Wo sie Erinnerung bannt, Gewesenes festhält, glüht der Wortfluss.

Die Welt Renate Neumanns ist selten heiter und selten licht. Zu häufig bleibt die fieberhafte Suche nach Leben unerfüllt. Die Zeit scheint vor ihrer Zeit gestorben. „An einer Kette hängen die Wochentage aneinander, kommen wieder, ohne sich umzudrehen.“ Das „wieder von vorn“, das „Wiederholen des Spiels“ ist eines der immer wiederauftauchenden Themen. Man kann die Prosaminiaturen zügig lesen und noch zügiger vergessen. Man kann sich aber auch müßig dem Wortstrom überlassen und ohne intellektuelle Deutungsarbeit den Text als guten Geist verstehen, der die Phantasie beflügelt, um am Ende mit der Autorin zu dem Schluß zu kommen: „Glück war vielleicht der Moment hier…“

Petra Urban in: La LiBerta, Heft. 33, März/April 1995.

Unerschöpfliche Komplexität. Prosaminiaturen von Renate Neumann, gelesen von Bela Winken im Bis

Renate Neumann identifizierte sich mit Opfern von Gewalt, hat ihnen ihre Stimme geliehen. Auf der anderen Seite weisen ihre Texte „intensive Daseinsfreude“ auf. Die Verlegerin Dr. Ariane Neuhaus-Koch hat gemeinsam mit der Autorin die Veröffentlichung „Du weckst die Nacht“ redigiert.

Renate Neumann wurde dieses Jahr, knapp 40 Jahre alt, ermordet. Nach ihrer Schulzeit verließ sie ihre Heimatstadt Mönchengladbach, studierte Germanistik, Philosophie und Sprachwissenschaft, gab zuletzt Unterricht an der Düsseldorfer Universität. Die Schauspielerin Bela Winken las die Prosaminiaturen im Kulturzentrum „Bis“. Nach den ersten gehörten Zeilen ahnt man die Lust auf Wiederholen: Wiederholen, um stets tiefer zu begreifen, zu fühlen und sich von den Wortkombinationen überraschen zu lassen. Renate Neumanns Texte sind komplex und in ihrer Komplexität anscheinend unerschöpflich. Die Affinität zur Sprache sticht unmittelbar hervor; in kurzen, prägnanten Wortvernetzungen beschreibt die Autorin vielfältige (Gefühls)-Zustände. Vermeintlich alltägliche kleine Situationen und Momente werden mit Lebendigkeit gefüllt. „Verkehrte“ Assoziationsketten schaffen neue, fesselnde Bedeutungen. Durch die Offenheit der Schreibenden hat man das Gefühl, sie ein Stück weit kennengelernt zu haben. Tiefe Betroffenheit löste der an das Ende gelegte Text „Gefälligst leben“ unter den Anwesenden aus. Wochen vor ihrem Tod, als sie eine schwere Krankheit zu überwinden hatte, schrieb Renate Neumann diese kämpferischen Zeilen.

pr in: Westdeutsche Zeitung, Mönchengladbach, 28.11.1994.

Den Tod nicht gesucht

Sie zeichnete und schrieb bis zu ihrem schrecklichen Tod im April dieses Jahres. Sie half vielen Menschen, zu sich selbst zu finden. Sie war schön und nicht sehr glücklich. Stoff für einen Groschenroman? Stoff für dicke Schlagzeilen in dünnen Blättern? Nein, dazu hat sich Renate Neumann nicht geeignet, auch nicht durch ihren Tod. [...]

Sie war hochbegabt und hochsensibel. Aber sie fand für ihre Texte keinen Verlag, für ihr Zeitgespür kaum Förderung. Jetzt ist ein Buch mit Prosa-Miniaturen unter dem Titel "Du weckst die Nacht" (24 Mark) herausgekommen, an dem sie bis zu ihrem Tod mitgewirkt hat. Es enthält auch sieben Zeichnungen der Autorin.

Ihre Zeichnungen - Strichmännchen, Graffiti. Und doch anders; nicht fordernd, eher federnd. die Zerbrechlichkeit ist Schein. Ihre Texte - selten "wild", oft fein. Sie stellt alles Gegebene in Frage, auch sich selbst. So, wenn sie uns mit unserer Muttersprache bekannt macht. Oder mit unserer und ihrer Redseligkeit. Der Tod ist ihr Thema und das Leben. Aber "der Tod ist unfaßlich". Sie hat ihn nicht gesucht, trotz "Zukunftsangst, Krankheitsangst", der Resignation in der "Krankenbewahranstalt". Am 9. Februar 1994 schrieb sie: "Ich bin im Urlaub vom Krankenhaus und habe mir den Freispruch von der Arbeit erkämpft.‘ "

Jetzt wird Renate Neumann wohl "entdeckt" werden, spät, wenn auch nicht ganz so spät wie jene schreibende Frau, die heute in aller Munde ist: Rahel Varnhagen. Die entdeckte Renate Neumann schon, als Rahels Name einer unter vielen jener war, die sich Heinrich Heines Freunde nannten.

Gerda Kaltwasser in: Rheinische Post vom 22.09.1994.

Nachrufe

Renate Neumann ist ermordet worden. Nachruf

Diese erschreckende und schreckliche Tatsache machte sich die Regenbogenpresse sofort zu eigen, um herauszustellen, daß ‚sowas’ nur ‚denen’ passiert. ‚Diese’, das sind die ‚Lesbischen’, ‚Obdachlosen’, ‚psychisch Kranken’, ‚KünstlerInnen’. Ein Wort, das ich seit Jahren nicht mehr gehört hatte, kursierte durch die verschiedenen Blätter: das Wort Milieu. Was ein Milieu nun eigentlich genau sein soll, weiß keineR. Da leben halt ‚die’.

Der Lebensraum der Renate Neumann war jedoch kein Abgeschlossener. Hätte sie sich ausschließlich in ihrem ‚Milieu’, wie die Zeitungen suggerieren, aufgehalten, wäre sie ihrem Mörder niemals begegnet. Renate Neumann war diejenige Dozentin, die ihre StudentInnen zu sich einlud und ihnen ihre Bücher lieh. Sie war diejenige politisch aktive Frau, die verschiedene bewegte Frauen zusammenführte. Sie war diejenige Schriftstellerin, die drei junge unbekannte (und von daher noch nicht bedeutende) Schriftstellerinnen sozusagen als Kuckucksei zum Schriftstellerinnenkongreß NRW einlud. Sie war aber auch diejenige, die sich vor Anschlägen von Rechtsradikalen fürchtete, Drohanrufe bekommen hatte. Dem wurde, trotz Insistieren von FreundInnen, nicht nachgegangen, da die Polizei sich das einfach nicht vorstellen konnte.

Zynischerweise hat die Möglichkeit, den Mord an Renate reißerisch auszuschlachten, und ihre relative Bekanntheit in dieser Stadt ihr und uns überhaupt erst zu einer größeren Zukenntnisnahme der Tatsache durch die Medien verholfen. Wenn auch weder in ihrem noch in unserem Sinne. Mord, und vor allem Mord an Frauen, ist keineswegs die Ausnahme. Frauen werden zerstückelt und unter der Werkbank aufbewahrt. (WDR 2 nennt das dann „Mord aus Liebe“). Die tägliche und strukturelle Gewalt an Frauen ist keine drei Titelseiten wert. Sonst könnte vielleicht auch der/dem Letzten aufgehen, daß es auch um ihr/sein Leben geht. Ich weiß nicht, ob das, was Renate zugefügt wurde, uns allen passieren könnte, aber ich bin mir sicher, daß es uns alle angeht!

Renate Neumann war nicht eine von ‚denen’, sie war eine von UNS.

Nach und trotz allem ist es mir wichtig, in dieser Zeitung dem Menschen Renate Neumann mit Respekt und Anmut zu begegnen, diesem Menschen, der nach dem Mord an ihr nicht einfach so aufhört zu existieren, der uns auch so viel zurückgelassen hat.

Daher möchte ich die Menschen, die ihr am nächsten standen, ihre Schwester und ihre langjährige Partnerin, hier für sie und an sie sprechen lassen und nicht zuletzt Renate selbst.

Mithu M. Sanyal in: TERZ, Stadtzeitung, Düsseldorf, Jg. 3, Juni 1994.

Rede der Schwester, Usch Neumann, gehalten am 29.4.94 an Renates Sarg

Liebe Menschen.

Renate ist meine Schwester. Sie war ein besonderer Mensch mit Antennen für Herz, Seele und Gewissen anderer Menschen.

Ihre Texte lassen die Gedanken fliegen, das Herz hüpfen und die Seele suchen, aber der Verstand windet sich durch die Anspielungen und widersetzt sich, dem genialen Chaos zu entkommen.

Renate hämmerte an die Wände in uns, klopfte an Türen und bohrte ihre Fühler in unsere Abgeklärtheit. Ihr Leben war eine ständige Herausforderung, Normen in Frage zu stellen, den beliebten Satz „es gehört sich nicht“ an die Wand zu nageln, um endlich neue Antworten zu finden.

Wie trostlos, grausam, Entsetzen und Angst machend, bis zur Versteinerung werdend Renates Tod ist.

Sie hätte den Wunsch gehabt, ihn nicht nur persönlich zu betrachten, sondern aufzurütteln gegen Gewalt in unserer Gesellschaft. Für sie waren die Terrorakte gegen Asylsuchende gleichzusetzen mit der Judenverfolgung.

Renate hatte schreckliche Angst vor dieser Gewalt und fühlte sie wie am eigenen Körper.

Brennende Heime politisch Verfolgter sind keine Schlagzeile mehr wert, sie konnte deshalb nicht schlafen.

Ihr grausamster, gewalttätiger Tod ist eine Tragödie, er bereitet uns Schmerzen in unserer Menschlichkeit, klagt uns an, die Unmenschlichkeit in unserer Gesellschaft zu betrachten.

Renate hätte gewollt, daß dieses furchtbare Entsetzen, das uns den Hals zuschnürt, uns wachrüttelt gegen Menschenverachtung, Ausgrenzung Andersartiger und Fremdenhaß.

Und daß wir anfangen nachzudenken über eine liebevolle, gerechte, soziale und weltumfassende Form des Zusammenlebens aller Menschen und aller Nationen.

Renate fehlt uns unendlich, sie ist nicht zu ersetzen, aber die Vorstellung, daß sie im Himmel die Seelen von Rahel Varnhagen, Hegel, Karl Marx, Rosa Luxemburg und Shakespeare wachkitzelt und zur Reinkarnation anstachelt, hilft mir ein wenig.

So wie ihr Leben unvergessen häufig eine Provokation war, so wird ihr Tod ein Mahnmal bleiben.

Abgedruckt in: TERZ, Stadtzeitung Düsseldorf, Jg. III, Juni 1994.

Pressestimmen vor der Ermordung

Plötzlich rückt Geheimes nahe. Ein Porträt der in Düsseldorf lebenden Schriftstellerin Renate Neumann

„Sehr geehrte Damen und Herren, mit diesem Brief schicke ich Ihnen als ‚work in progress’ meinen Text in Arbeit, damit Sie einen Einblick in Aufbau, Stil und Technik meines Schreibens und Erzählens gewinnen können…“ Aber welchen Verlag interessiert schon noch „Aufbau, Stil und Technik“, wenn nicht hinter dem Autor, in diesem Falle: der Autorin, ein kassenfüllendes Programm, eine Publicity versprechende Person, eine power group, ein literarisches Quartett oder gut absetzbare Randgruppen (Alte wie Anna Wimschneider, Irre wie Ernst Herbeck) stecken? Soll Renate Neumann deswegen ihren Briefentwurf an die Lektorate gleich dem Papierkorb anvertrauen? Das wäre nicht nach dem Temperament einer femme de lettres, die an der Universität Arbeiten mit Titeln wie „Das wilde Schreiben“ (über Graffiti) und „Nicht mehr lieblich schweigen“ (über Rahel von Varnhagen) vorlegte.

Sprache, sagt sie, habe sie zunächst nicht sonderlich interessiert, sie zog mit Stiften und Aquarellfarben über Land; und in ihrer Wohnung hängen bedrängende Gemälde. Jenes, das sie nach der Japan-Reise 1987 zum Kongreß der Deutschen Friedens-Gesellschaft malte, strahlt es aus, das Geheimnis alles Bildens und Abbildens, die Ferne, das Unnahbare, Unwägbare, Ungewisse. Jenes Unnennbare, in das auch ihre Texte immer wieder schweben und den Leser sanft mitreißen in eine andere Welt: Beginnend mit einer Banalität des Alltags, sie zuspitzend, latent sarkastisch, leicht ironisch – und dann der Sturz, der Bruch, der Riß, wenn die Wirklichkeit zu innerer Kenntlichkeit umgeschrieben ist. Das Reale wird surreal – damit wir uns nicht entsetzen müssen, nein, jetzt erst recht entsetzen können.

Langsam also, nach manchen Krisen, schmerzhaften Verwerfungen und Umschichtungen der Seelen-Landschaft, gelangte sie über das Abbilden, das Analysieren der Wissenschaften, des Privatisieren der Tagebücher zu jenem Schreiben, das nun als Literatur vorliegt – ungedruckt, sieht man von Wenigem ab, aber umfänglich: Über 200 Seiten Kurzprosa („Minimale Geschichten“), eine Novellentrilogie, der Roman „Wenn A in B verliebt ist (ist B in C verliebt)“, ein Theaterstück.

Die autobiographische Folie läßt eine kosmopolitische Familie zum Vorschein treten, in der sich Menschen aller Sprachen ebenso versammelten wie die Temperamente sich schieden. War die Großmutter eine Briefautorin von Rang, verkaufte der Vater in alle Welt Rohrwalzwerke; über die Jahre in Pittsburgh/Pennsylvania (1979/82) hat die Mutter wiederum ein geistreiches Buch verfaßt. Ihre älteste Tochter Renate, geboren 1954 in Mönchengladbach, gewöhnte sich den schwäbischen Zungenschlag, Familienerbteil, in der rheinischen Grundschule rasch ab: „Ich war wie ein Ausländer.“ Sprach-Enteignung.

Das Etappenhafte in Renate Neumanns Schreib-Geschichte schlägt sich in der Struktur ihrer wundersamen Texte nieder als Abfolge von Schritten aus einer Wirklichkeit in eine andere. „Mir ist eine merkwürdige Labilität zugestoßen“, sagt sie. Damit ist ihre Fähigkeit bezeichnet, das Geheimnis der Dinge zu erspüren, es in Sprache zu verwandeln, ohne es zu verletzen. Es bleibt unnennbar. Und doch spüren wir lesend plötzlich seine Nähe, sehen sein Bild.

Sophia Willems in: Westdeutsche Zeitung, Düsseldorf 11, Mai 1993.

Texte von Renate Neumann

Die Verantwortliche für diese Internetseiten war die Verlegerin von Renate Neumann und verfügt über das Abdruckrecht für diese Texte.

Gedanken, Gedenken

Zielstrebig erinnern, ungezielt vergessen. Samtweiche Gefühle in dem Moment der glücklichen Erinnerung, einzelne Momente des glücklichen Lebens, gibt es das? Sekunden der Gutmütigkeit in der Erinnerung und einzelne Sätze, die auf Papier standen, die dort weiter stehen, die die Erinnerung forcieren, sich dort schwarz auf weiß eingegraben haben. Gültige Sekunden, Splitter des Vergessens, nur nicht mehr wissen, unbedingt verschweigen, nicht näher rücken lassen, ausblenden. Heftiger Erinnerungsschwall wird wieder in die Schachtel verpackt. Ausweglos in die Gegenwart geworfen, der Vergangenheit entronnen, der Zeit entkommen. Erinnerungsgeschenk, verpackt, verschnürt, zugebunden, nicht herauslassen, drinnen stecken lassen, verschnürt, zugebunden, nicht herauslassen, drinnen stecken lassen, nur nicht öffnen, draußen nichts davon sehen lassen, bis ins Unterste verbergen. Stunden gemächlicher Innenreise, aber ohne Erinnerung, nur nichts aufkommen lassen, nicht hochkommen lassen, nur nicht auskotzen. Gesprächsweise Unterschlagungen begehen. Wissen verschweigen, Können verbergen, nicht zu sehen sein, sich nicht hören lassen, die Toten schweigen ohnehin, Ermordete schweigen noch stiller, laß die Erinnerung nicht durch die dünnen Riten dringen, Zeitgeist. Wartestellung auf Durchbruchsversuche des Gedächtnisses, hochgekommene Zeiten, Schalen voll Erbrochenem, Ausgespucktem, Rübergerettetem. Ausgeschwiegen, herauskommen, deutlich werden, aber wo ist die Grenze? Die Erinnerung abschotten, das quillt dann aus allen Ohren wieder heraus, versickert wieder, macht keinen Effekt, bedeutet wenig. Unscheinbar, kleinkariert, Miniaturgeschichte, ausweglose Situation, merkwürdig, beobachtet, schnell erfasst, durchgegriffen, zu spät gekommen. Tieflader ins Moor, die Vergrabenen, Verschütteten, viele Menschen, die bleiben da unten, da folgt nichts draus, die Geschichte geht weiter und doch gibt es einen Nerv der Vergangenheit, der durchstrahlt, der durchleuchtet, der die Gegenwart beschämt. Es gibt eine Zeit bis in die Gegenwart, da kehrt die Erinnerung ständig wieder, die verfolgt die Jetztzeit und blickt auf die Zukunft und erstreckt sich weiter und läßt sich nicht verdrängen und läßt sich nicht vergessen, Stachel vergangener Zeit.

In: Renate Neumann: Du weckst die Nacht. Prosaminiaturen. Neuss: Ahasvera Verlag 1994, S. 87f.

Es ist spät, Lieb’

Aus der Kurve der Nacht kommt Liebesgeflüster, da stehen die Besucher Schlange in der Peepshow. Kolchosenarbeit, dann Nacht, dann einschlafen, doch Liebesgeflüster in den Sternen. Sie krallt sich um ihren Kragen. Wegelosigkeit. Dann eingeschlafen. Weggenommene Stunden, ausgewichene Tage, unsteuerbare Wochen, Monate gerade jetzt, in diesem Moment. Einstellungssache. Da erkürt sich die Freundin eine Freundin der Freundin, der Liebe. Liebes, es wird spät. Zur Frau geboren. Wegebahnen, Ausweichstellen, vollgestellte Straßenbahn. Arbeit, schlafen, essen, aufwachen, weitergehen, unentwegt verstreichende Stunden, weiterschlafen, weiterwachen. Wo bleibt da die Sekunde, der Einschlag? Gehäckseltes Stroh, darin Nachtgeflüster, Sternenanbetung, Gewinde der Erinnerung. Wo bleibst du Lieb’, wo steckst du, wo sind deine Momente? Liegen sie unter dem Pflaster, auf der Straße, in der Woche, in einem Jahr. Wo sind deine Stunden, wie ist dein Monat? Entschwunden, gegangen, verloren, wo bist du Lieb’? Wer hat vergessen, den Kuß unterm Schirm, es schüttete, wer hat daran gedacht, der Kuß am Rhein. Wer hat daran gedacht, die Dachlatte in der Hand, den Boden unter den Füßen, die Stunden vergessen. Wieder von vorn. In der Nacht stehen die Nutten auf den Füßen, die Freier liegen ihnen zu Füßen, keine Geburt, kein Aufwachen. Käse zum Frühstück, Kandelaber im Film, Rotlicht aus dem Fön, Schwarzkuchen als Brot. Geschmeidige Wintersonne, die sich zerstäubt. Weggewandte Zeit.

In: Renate Neumann: Du weckst die Nacht. Prosaminiaturen. Neuss: Ahasvera Verlag 1994, S. 10.

Du weckst die Nacht

Einsame Nächte umspielen wie Kautschuk den Körper. Liebesabenteuer werden kolportiert, nicht ausgegrenzt. Faulenzende Nächte im Arm des Mondes. Da hämmert es sich gut und schneidet ins Fleisch. Suchmeldung: Wo ist die Nacht? Gieriges Aussaugen der Stunden, die die Nacht hergibt. Sie liest im Bett und stützt den Arm dabei auf, bis er einschläft. Die Einschlaflektüre ist leise. Als sie die Nacht durchmachten, tunkten sie sich nicht in blaugeblümte Pyjamas. Laß die Nacht ruhen! Sie hat dir nichts getan. Du hattest keine außergewöhnlichen Wünsche im Bett, was uns nicht daran hinderte, wunschlos glücklich zu sein, eine Sekunde, die ganze Nacht. Unter uns Wasser, zwischen uns Feuer. Die trauerumflorte Nacht runzelt die Stirn, Umarmung im Treppenhaus. Der Schlüssel klemmte. Nur diese eine Nacht. Sucht der Nacht. Keine Nacht allein, immer wieder. Dein liederliches Ehebett. Wenn du die dicken Vorhänge vorgezogen hast und den Baldachin über deinem Bett ausbreitest, klingt der Beischlaf postmodern. Kissen saugen Geräusche auf. Sie wickelte ihr goldenes Haar um seine Knie. Am nächsten Morgen schnitt sie es ab. Asymmetrisch. Schwebende Trauernacht. Dein Lachen, dein goldenes Haar. Sie legte sich am Abend schon das Frühstücksei zurecht, weil sie so früh aufstand. Sie hatte vier Kinder.

In: Renate Neumann: Du weckst die Nacht. Prosaminiaturen. Neuss: Ahasvera Verlag 1994, S. 28.

Muttersprache

Gehen, Hören, Riechen, Schmecken. Aufrecht stehen lernen, Fremdheit lernen. Antennen entwickeln, sprechen lernen. Was kann das Kind denn schon? Was will es verstehen? In welchem Land leben wir? Laß mich deine Muttersprache hören, wie klingt sie, wie surrt sie in deinen inneren Tönen? In welcher Sprache träumst du, verstehst du im Schlaf Papierrascheln, Insektensausen, Füßescharren? Weltsprache. In der verstehen wir uns, hören uns, könnten uns Liebe sagen, aber nun ist doch deine Sprache meiner fremd. Ich kann nicht hören, was du sagst. Was ist deine Sprache? Ja, das ist etwas anderes, die Autosprache, Zeichen geben, Verkehrsregeln, internationale Verständigung, mit internationalem Führerschein kommst du überall durch. Aber was ist deine Muttersprache? Ist es schon das Brabbeln des Kindes, wenn es die ersten Laute hervorbringt, sandig, erdig, warm, eingelullt in der Sprache der Blumen. Diese knistern, wenn du damit zu mir kommst, laß uns durch Blumen sprechen. „Da muß ein klares Wort gesprochen werden.“ Genau, das ist der Ton der deutschen Sprache, die so durchdringend ist, daß sich ihr niemand entziehen kann, aber auch eine Sprache mit Idealismus. Ohren zuhalten würde nichts nutzen. Klingend in einer schönen Stimme, geradlinig, befehlend, beschimpfend, kasernenhörig. Aber hat sie nicht auch den Klang der Literatur, wie sie reimt, wie sie charmant tönt, warm klingen ihre Melodien, unsere Ohren sind durchlöchert von der Muttersprache, es könnte ein Gesang sein.

In: Renate Neumann: Du weckst die Nacht. Prosaminiaturen. Neuss: Ahasvera Verlag1994, S. 32f.

Auf dem Weg

Sie erneuerte sich auf dem Weg. Grenze am Tod. Sie erfährt Hinweise auf die richtige Richtung, hört von Umwegen, rennt weiter, kommt voran. Sie sieht Gabelungen, hinter ihr nichts, vor ihr Kreuzungen. Sie begleitet einige auf dem Weg, an Kurven verlieren sie sich aus den Augen. Kaum einer kommt ihr entgegen. Sie geht abwartend, stolpert. Der Weg bricht ab, sie geht querfeldein, der Weg hört auf, sie springt ins Weite. Sie geht lebenslänglich. Sie kommt nicht an, erreicht ein Ufer, schwimmt hinüber, kehrt am anderen Ufer um, macht Umwege, verläuft sich. Kleine Papierschnipsel gräbt sie unterwegs ein, hängt Lampions an die Bäume, arbeitet mit an der Straßenbefestigung. Der Tod ist zu, sie kommt nicht rein, muß wieder weiter. Blaue Pfeile sind auf den dürftigen Weg gemalt, dort wo es weitergeht. Sie folgt der Richtungsanzeige. Immer wieder bricht der Weg ab, sie fängt tausendfach wieder an, immer an der gleichen Stelle, verliert die Menge, geht allein. An Mauern entlang, überall zu Hause, mit dem Kopf im Moos, selbst langsam in den Farben der Natur, verwittert, lernend, vergessend. Weg ist, wo ihre Füße gehen. Schachteln liegen am Rand, Bauschutt, Geröll, ein alter Kühlschrank, sie klettert einen Abhang hinunter, dann Vororte, Zentren, Städtebilder gerafft. Sie geht durch Gemäuer, verfallene Durchblicke, die sie abseitig liegen läßt. Sie streicht an Wänden entlang, streicht mit den Händen darüber, saftiges Grau, Leben der Steine. Sie kennt die Richtung, verändert sich auf dem Weg, erkennt alte Pfade nicht wieder. Sie ist nicht in der Spur. Sie hört von Stockungen im Verkehr, schleicht weiter, wandert über Halden, sieht Erker und Gesimse, studiert Fensterfarben und Türformen. Sie geht längs, entlang am Vergessen. Sie fängt Wegweiser, sonst zerrinnt der Weg. Die Schuhe finden ihn, die Füße sind vorwärtsgerichtet. Die Wege im Park sind durch Sehenswürdigkeiten geschmückt, geschickt arrangiert eine Brücke. Sie fällt ins Wasser, Frosch. Nach Trockenpause geht sie wieder auf den Weg und findet wieder einen anderen, keiner von vorher, immer undurchsichtig. Sie findet sich nicht zurecht, aber sie findet weiter. Entdeckt werden kann sie kaum.

In: Renate Neumann: Du weckst die Nacht. Prosaminiaturen. Neuss: Ahasvera Verlag 1994, S. 65f.

Lebenslinien

Sie legte sich Linien zurecht. Schnurgerade Linien. Eine Lebenslinie, liliengleich, bleich, doch noch so ein Berg, schadhafter Nesselberg, der Stoffberg, darunter Kribbelndes, Krabbelndes, der Stoffberg wird weggetragen. Sie hat einen Vergewaltiger gespürt, einen Messerstecher gesehen, im Fernsehen, von Schlächtereien gehört, im Radio, und spinnt weiter an der Lebenslinie, einem Faden. Du hattest ihn um das Handgelenk gewickelt. Deine Linie weist daran vorbei, geht ins Leere, kann sich nicht aufrichten, der Schlangenbeschwörer hat seine Flöte vergessen. Der Strick bleibt im Korb. Sie fädelt den Faden durch Schlüssellöcher, verschließt damit die Tür, der Faden reißt immer wieder, sie knotet ihn zusammen. Und legt Linien damit, auf italienische Marmorböden, marmorierende Linien, vergißt den Ausgang. Der Stock klappt zusammen, bestrickendes Scharnier. Sie legt Fäden, sie kennt Spinnereien, Handauslegerinnen, weise Frauen. Handlinienleserinnen, sie hat sie gesehen, erlebt, aber die Linie weist daran vorbei. Auf der Leinwand eine satte Linie, Menschenfigur, nicht ausgemalt, Umrisse, ohne Inneres, Profil, ohne Zeichen, Zeichnung, unerkennbar, das bleibt doch anonym. Glaube an die Umrisse, der Blick sticht durch die Leinwand, ein unbewegtes Bild, es bleibt sich gleich. Sie läßt sich aufhängen, die Linien werden mittransportiert. Sie kennt Politiker, die Linien ziehen, mit dem Stöckchen im Sandkasten, daraus Weltentwürfe basteln, sie hat sie gesehen, sie stiegen nicht aus, sondern blieben im Betrieb, wurden seriös dabei, nur die Karikaturisten machten sie zu dünnen Strichen. Handschriftschlängel auf Linienpapier, wohlgeordnet, eingegrenzt, gleichmäßig, parallel, bis zum Ende des Heftes, das liniert ist. Auf einer Treppe in Rom, sitzend und auf liniertes Papier zeichnen, quer zu den Linien, schräg dazu, in Schieflage, das Buch in einen Brunnen werfen und warten, bis es sich neben den Münzen auflöst. Ein gutes Zeichen für die Zukunft, wenn es da glitzert, das Kupfer.

In: Renate Neumann: Du weckst die Nacht. Prosaminiaturen. Neuss: Ahasvera Verlag 1994, S. 108.

Epilog: Gefälligst leben

Sie hat die Ordnung zum Leben, sie hat die Wut zum Leben, sie will weiterleben. Ihre Krankenhäuser benutzt sie zum sich Hospitalisieren, sie liegt dort und steht und geht dort, und die Krankenhäuser geben ihr Urlaub.

Ich bin im Urlaub vom Krankenhaus und habe mir den Freispruch von der Arbeit erkämpft. Unter meiner Sonne liegt meine Mondin (plattgepreßt wie Blüten im Lexikon), darunter die Venus, und der Saturn verdämmert am Horizont. Recht hast du, sagt sie sich selbst und die Wahrheit sagst du, sagte sie sich selbst, und ich bin eine Sie, die dem Männlichen ausweicht, es nicht versteht, kaum anbändelt. Jetzt nicht jedenfalls.

Hochaufgewürfelt sind die Holzscheiben und darüber Klötzchen. Auf dem Boden liegen die Kinderschuhe, und auf der Straße gehen die Kinder geradewegs zum Hort, zum Kindergarten, zur Schule nicht mehr so oft in Begleitung der Mutter. Ich rastere mir meinen Weg. Die Büdchen und die Läden stehen mir wieder offen. Ich bin in Urlaub und habe gefälligst zu leben, weil selbst wenn geschnitzte Schlangen sich an den Hals des Kranichs hängen, er sich schüttelt und mir seine Schwingen zeigt. Weil die Sonne auch hinter den Wollen scheint. Weil die Mondin nachts manchmal auch mir ihr Gesicht zeigt. In der Zeit, wo das Telefon erreichbar ist, will ich leben. Den Fernseher könnte ich eigentlich verkaufen. Die Stühle hingegen sind soweit in Ordnung. Die Säbelrassler sind nicht hier, sondern klingen zu laut, um endlos zu schlafen. Die Luftwaffenbomber und die Bodenkrieger lassen sich zusammenfassen als kriegführende Parteien. Das verdunkelt den Tag, dennoch will ich leben, um den Krieg zu verhindern, große Einbildungen zu kreieren und mich auszuruhen, bis ich in mir zusammenlaufe, um wieder die Arme schwenken zu können. Außerdem will ich noch einmal bei Frühlingsluft auf dem Fahrrad zum 1. Mai fahren. Ich will noch einmal Beethovens Sinfonien hören und die gehörnte Eidechse sehen, die Pfirsichsaft dann, erst dann von meinen Beinen lecken darf.

9. Februar 1994

In: Renate Neumann: Du weckst die Nacht. Prosaminiaturen. Neuss: Ahasvera Verlag 1994, S. 126f.