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Düsseldorfer Autorinnen der Gegenwart: in memoriam
Lore Schaumann (1920-2012)

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Nachruf: Das Leben der Literatur gewidmet

Lore Schaumann hatte Gesang studiert und Philosophie, in Wien und in Cambridge; aber dann widmete sie ihr Leben der Literatur. Zuerst arbeitete die vor 92 Jahren in Siegen geborene Lore Schaumann als Bibliothekarin, dann als freie Kritikerin – für das ZDF, auch für die „Rheinische Post“. Ihre Porträts von Autoren wie Dieter Forte, Rose Ausländer, Kay und Lore Lorentz, Käte Reiter oder Niklas Stiller stammen aus den 70er und 80 Jahren und sind bis heute lesenswert geblieben: prägnant, anschaulich, kenntnisreich, unbestechlich.

Nicht nur die Redakteure und die Leser schätzten sie sehr, auch die Autoren, denn sie war eine engagierte Begleiterin vieler Schriftstellertalente. Rolfrafael Schröer holte sie deshalb als Kollegin in das von ihm gegründete Literaturbüro NRW; in den folgenden sechs Jahren bis zu ihrem krankheitsbedingten Ausscheiden war sie vielen Ratsuchenden, die sich von ihr literarisch erkannt wussten, eine kaum zu überschätzende Hilfe.

Menschen, die sie in den vergangenen 15 Jahren begleiteten, berichteten immer wieder über die Freude, diese große Fördererin der rheinischen Literatur in ihrer Wohnung in der Zietenstraße zu besuchen, und gingen nie fort, ohne klüger geworden zu sein. Vor acht Jahren wurde Lore Schaumann für ihre Verdienste schließlich mit der Trude-Droste-Gabe geehrt.

Es sind diese und viele weitere Gründe, weshalb Lore Schaumann in der Düsseldorfer Kultur - und vor allem in der Literaturszene unvergessen bleiben wird.

Michael Serrer in: nachrichten.rp-online.de/regional, 7.09.2012.

Matinee zu Ehren von Lore Schaumann

Lore Schaumann, als Journalistin eine Muttergestalt der Düsseldorfer Literaturszene, ist am 3. April 90 Jahre alt geworden. Geistige Adoptivkinder, Zeitgenossen, Mitstreiter, Kollegen, Schüler, Germanisten, Dichter, ihr früherer Feuilletonchef und viele mehr, die in Jahrzehnten die runde Frau, die spitze Nase, den scharfen Verstand, das tiefe Mitgefühl, die Sachlichkeit, den poetischen Stil des Schreibens nicht nur respektieren, sondern auch lieben und bewundern gelernt haben, trafen sich nun im Heine-Institut zur Geburtstagsfeier – leider in Abwesenheit der gebrechlichen Geehrten. Ein Blumenstrauß wird ihr von der Lyrikerin Käte Reiter überbracht, ein Video wird ihr zeigen, wer alles da war und sie lobte.

Dass Journalismus nicht nur das Werk von Eintagsfliegen fürs Tagblatt ist, sondern bei Kulturgeschichte und deren Fortwirkung auf Dauer mitstrickt, ja fördernd wirkt – den Sinn für diese merkwürdige Kontinuität hat Düsseldorf auch Lore Schaumann zu danken. Die Rheinische Post dankt ebenso gern. Geduld und Sensibilität strahlen aus ihren Artikeln bis heute. Als es damals weder Fax noch E-Mail gab, überbrachte sie der Redaktion persönlich – wie alle Mitarbeiter damals – ihre mit Schreibmaschine getippten und mit handschriftlichen Korrekturen geschmückten Papiere. Man traf sich in den Büros.

Lore Schaumann durfte an die Seelen ihrer Freundinnen und Freunde tasten. „Düsseldorf schreibt“ Unter diesem Titel hat sie beim Triltsch Verlag 1974 zunächst 44 Porträts Düsseldorfer Autorinnen und Autoren veröffentlicht und 1981 weitere 22. Von den 66 Exponenten damals sind viele tot, aber beileibe nicht alle. Die meisten sind gar nicht in Düsseldorf geboren. Die Stadt übte magnetische Wirkung auf kulturelle Einwanderer aus. Schaumann hat dies früh begleitet und gefördert.

Die Gäste bei der Matinee im Heine-Institut sind gerührt. Zum Beispiel liest Kay Lorentz vom „Kom(m)ödchen“ das Porträt seiner Eltern vor. „Warum dieser in der Fremde so hoch geachtete Sohn der Stadt von ihr selbst so konsequent vernachlässigt wird“ – die Frage, die Lore Schaumann 1977 stellte, war nicht auf Heinrich Heine gemünzt, sondern bezog sich auf Dieter Forte. Wie sie irrte und wie sie Recht behielt, dass ist eine der spannenden Fragen zum 90. Geburtstag.

Werner Schwerter in: Rheinische Post, 13.04.2010.

Schreiben, handeln mit Hirn und klarem Witz: Freundin der Autoren: Lore Schaumann wird 80

„Was, 80 werden Sie? Das sieht man Ihnen aber nicht an.“ Solche Floskeln verbieten sich bei Lore Schaumann. Sie ist bekennende, aber keineswegs kokettierende Achtzigerin. Wie kann das anders sein bei einer Frau, die mit einer Krankheit geschlagen ist, bei der das tägliche kleine Elend den großen Weltschmerz mühelos verdrängt. Da ist es kein Trost, dass es eine Krankheit von Berühmten in aller Welt ist. Soviel und nicht mehr davon.

Zu feiern ist eine Frau, die schreibend die Fürsprecherin, nein die Fürschreiberin vieler Schriftsteller-Talente in Düsseldorf gewesen ist, zunächst als Literatur und Theaterkritikerin der Rheinischen Post, dann als Mitbegründerin und verlässliche Partnerin Rolfrafael Schröers im Düsseldorfer Literaturbüro, inzwischen Literaturbüro NRW. Versteht sich, dass es – wie der Schriftstellerverband und das Heine-Institut – Mitveranstalter einer Geburtstagsfeier am 2. April ab 11 Uhr im Heinrich-Heine-Institut ist.

Lore Schaumann hat übrigens am 3. April Geburtstag. Abergläubisch ist sie also nicht; sonst hätte sie die Gratulationscour einen Tag vorher nicht zugelassen. Da passt auch gleich eine Erinnerung aus dem RP-Haus ins Bild, ehe die eigentliche Würdigung ihres Wirkens folgt: Lore Schaumann bekam von der Feuilletonredaktion den Auftrag, über einen Vortrag Erich von Dänikens zu berichten.

Kritisches Wohlwollen

Der hat uns, das muss man jüngeren Lesern erklären, in den siebziger Jahren die Existenz von außerirdischen Wesen und deren Landungen aus dem Weltall, etwa auf dem südamerikanischen Kontinent, beweisen wollen. Für Lore Schaumann war das nicht etwa eine Lachnummer, sondern die Aufgabe, ernsthaft, aber mit Ironie gepaart, über Dänikens Ausführungen zu berichten. Körbeweise mussten wütende Leserbriefe auf die Redaktionstische gekippt werden.

Geboren 1920 in der Rubens-Stadt Siegen im südlichen Westfalen, war sie früh allem Schönen mit jener Ernsthaftigkeit zugeneigt, die ihr hin und wieder das Verständnis für spielerische Dekadenz, wie wir sie im Theater der siebziger Jahre und auch heute noch bejubeln, schwer machten.

Schwere Treppen nie gescheut

Aber genau dieser Ernst, diese ungeheuchelte Aufmerksamkeit, ein Wohlwollen, das nie unkritisch war, machte sie zum Wegweiser, zur verlässlichen Begleiterin junger und auch nicht mehr ganz junger Autorinnen oder Autoren; ihnen sind die Gespräche im Literaturbüro damals an der Bilker Straße, nach Erklettern einer furchterregend knarrenden Treppe, für immer unvergessen. Zweimal veröffentlichte sie unter dem Titel „Düsseldorf schreibt“ Autorenporträts in Buchform, einmal stellte sie 44, danach 22 vor; 22 nur aus Platznot, nicht wegen Mangels an Talenten.

Daran hat sich bis heute nichts geändert. So ist es nur einleuchtend, dass Alla Pfeffer, seit vorigem Herbst an der Spitze des Bezirksverbandes Düsseldorf/Neuss im Verband deutscher Schriftsteller (VS), zur Geburtstagsfeier für Lore Schaumann den Nachwuchs lesen lässt: Pamela Granderath, Peter Philipp, Regina Ray. Auch Otto Vohwinkel liest und Jens Prüss, einst selbst leitender Literaturbürokrat, liest einen Text von Lore Schaumann. Das Schönste aber: Lore Schaumann will kommen, und wir Geburtstagsgäste werden noch eine neue musische Seite von ihr entdecken können, die der ausgebildeten Liedsängerin mit einer Einspielung von Brahms-Liedern.

Gerda Kaltwasser: In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 30.03.2000.

Eine neutrale Instanz für Selbstverleger: Literaturbüro Düsseldorf

Sie wollen weder „literarische Übereltern des Landes“ noch Beamte sein und nennen sich ironisch distanziert „Literaturbürokraten". Seit nunmehr drei Jahren leiten die Kulturjournalistin Lore Schaumann und der Lyriker Rolfrafael Schröer eine Einrichtung, die zum vielgelobten Modell wurde: das erste Literaturbüro der Bundesrepublik, zunächst nur als Projekt für die Stadt Düsseldorf konzipiert, seit einem Jahr von einem Verein getragen und für ganz Nordrhein Westfalen zuständig. Ob das erfolgreiche Modell ohne Abstriche auf das Land zu erweitern ist, ist jedoch noch immer zweifelhaft „Was wir für Dusseldorf gemacht haben, kann man in der bisherigen Form nicht aufs ganze Land übertragen", glauben die beiden engagierten Literaturbürokraten.

Landesweit kaum zu realisieren sind etwa die engen Kontakte zu öffentlichen Institutionen, durch die mittlerweile einige hundert Autorenlesungen ermöglicht wurden. Allein in den beiden ersten Jahren seines Bestehens vermittelte das von Stadt und Land unterstützte Büro mehr als 400 Lesungen, in Schulen wie in Museen, in Behinderteneinrichtungen und Betrieben, in Kneipen und in der Psychiatrie, wo auch das gelang: über die Auseinandersetzung mit Literatur einige der sonst Sprachlosen zum Sprechen zu bringen.

„Eine therapeutische Situation" erleben die beiden Literaturvermittler nicht selten auch in ihrem Büro am Rand der Düsseldorfer Altstadt „Sehr oft kommen Besucher und sagen uns: Sie sind der erste, der mir zuhört Doch auch aggressivere Szenen entstehen, denn: „Wir haben die Eitelkeit der Leute unterschätzt", bekennen Lore Schaumann und Rolfrafael Schröer und beobachten bei nicht wenigen Schreibern „einen völligen Mangel an Selbstkritik Und je mäßiger die Sachen geschrieben sind, desto wütender halten die Leute daran fest".

Entsprechend häufig müssen Illusionen geraubt werden. Zum Beispiel dann, wenn Besucher im Verlauf des Gesprächs stolz ein Buch aus der Tasche hervorziehen, das sie in einem sogenannten Selbstkostenverlag veröffentlichten - gegen erhebliche Kostenbeteiligung. 10 000 Mark zahlte etwa ein Pensionär, um seine Gedichte schließlich in einem schmalen und schlecht gedruckten Bändchen verewigt zu sehen: „Ich möchte doch, daß etwas von mir bleibt. Daß sein Werk kaum Ewigkeitswert erlangen und außer bei Verwandten und Bekannten wenig Abnehmer finden wird, scheint ihn und viele andere von kostspieligen Investitionen nicht abzuhalten: Immerhin kommt etwa jeder vierte Ratsuchende mit einem selbstbezahlten Buch ins Literaturbüro. Dort versucht man dann, ihm auszureden, daß seine lyrischen Ergüsse Literatur sind - „wobei wir ja irren können". Und über Umwege ist manchmal doch noch eine Entdeckung zu machen. So erwies sich der Pensionär, der so gern Lyriker sein wollte, als spannender Erzähler.

Für die zeitaufwendige Entdeckung und Förderung von Talenten bleibt dem Literaturbüro jedoch immer weniger Raum. Auf Wunsch des Kultusministeriums soll es hier kein Vorlektorat mehr geben, die Lektoratsarbeit möglichst wegfallen. Doch gerade in diesem Bereich hegt die besondere Aufgabe des Büros für neue Autoren „Wir werden von ihnen als neutrale Instanz angesehen, weil wir weder als Volkshochschule noch als Literaturwerkstatt auftreten. Sie sitzen hier als Einzelperson und werden als solche ernstgenommen“. Und anders als bei vielen Verlagen werden die Texte auch nicht gleich mit Blick auf eventuelle Marktchancen gelesen „Wir wehren uns gegen jede Art von Trendsetterei“

Hunderte von Manuskripten haben Lore Schaumann und Rolfrafael Schröer in den letzten drei Jahren gelesen und später mit den Autoren besprochen. Weil sie die Manuskript Flut nicht mehr bewältigen konnten, haben sie ihre Sprechtage jetzt neu strukturiert. Der Autor liest aus seinem Text vor, gleich anschließend wird darüber diskutiert.

Die Sicherung von literarischen Nachlässen gehört ebenso wie die Herstellung von Kontakten zu Verlagen und Sendeanstalten oder die Vorstellung von Autoren im Literaturtelefon zu den Aufgaben des Literaturbüros. Es setzt sich zwar als Verein für die Interessen von Autoren ein, aber will doch kein Interessenverband für Schriftsteller oder eine Alternative zu bestehenden Verbänden sein. Ihre erfolgreiche Vermittlungsarbeit für die Düsseldorfer Autoren müssen die beiden Vereinsangestellten nun allerdings einschränken: „Wir müssen versuchen, überall im Land ein Bein zwischen die Tür zu kriegen und eine Situation zu schaffen, die sich der in Düsseldorf angleicht Eines ist schon jetzt sicher: „Wir wollen auch in Zukunft nicht nur Informationsstelle sein.“

Raimund Hoghe in: Die Zeit, 27.05.1983.

Die Freundin der Autoren (1975)

[…] Im Eckzimmer der Erdgeschoßwohnung sitzen wir uns gegenüber und haben vertauschte Rollen vereinbart. Von Januar 1973 bis Januar 1975 hat Lore Schaumann - in alphabetischer Reihenfolge - die in Düsseldorf ansässigen Autoren befragt -: von Ausländer bis Zeller. Zum erstenmal überhaupt hat sie in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt eine gewachsene literarische Szene dingfest gemacht; in mühseliger, zäh ausdauernder Kleinarbeit den Beweis erbracht, daß es in Düsseldorf ein fein- und vielschichtig verästeltes Literatur-Klima gibt. Wirkungsvoll vom Kulturausschuß der Stadt unterstützt; vorabgedruckt in den »Düsseldorfer Heften« (sie wurden dadurch zum eindrucksvollen Podium der Literaten in Düsseldorf), gesammelt dann als Buch, »Düsseldorf schreibt - 44 Autoren-Portraits«, erschienen - wiederum mit Unterstützung des Kulturausschusses der Stadt - im Michael Triltsch Verlag zur ersten großen Selbstdarstellung der Düsseldorfer Literatur-Szene beim „Literaturmarkt“ in der Kunsthalle am 14. Dezember 1974. Unterfangen allesamt, für die es keine Parallele gibt!

Diesmal nun soll uns Andy Warhols Muster Beispiel sein. Plötzlich bei einem Interview zauberte er seinerseits ein Mikrophon hervor und hielt es nun denjenigen Interviewern unter die Nase, die ihn fesselten, um jetzt sie zu befragen. Beispielsweise Truman Capote. So entstand die Warhol-Veröffentlichung „Sonntage mit Mister C.“.

Lore Schaumann, die zwei Jahre lang unermüdlich der Literatur in Düsseldorf eine jetzt im allgemeinen Bewußtsein fest verankerte Existenz überhaupt erst schuf - wer ist das?

Zuerst einmal: Katalysator! „Zu vermitteln ist mir die wichtigste Aufgabe.“ Schräg gegenüber in der Zimmerecke lächelt ein veritabler, südamerikanischer, weiblicher Schrumpfkopf mir ein entrücktes Lächeln entgegen. Lore Schaumann gruselt sich davor. „Eine Frau ist eine Frau“ hieß der zweite Film von Jean Luc Godard. Lore Schaumann will mit allem Nachdruck eine Frau sein, diese Chance verwirklichen.

Der Schrumpfkopf gehört Käte Reiter, ihrer Wohnungspartnerin: „Als alleinstehende Frau ist man nicht gesellschaftsfähig!“ In Lore Schaumanns Arbeitszimmer fasziniert alle Besucher u. a. die exotisch verbrämte Bücherwand. Auch das Team vom Westdeutschen Fernsehen: das aus einer Zeitschrift ausgeschnittene Foto von Marie-Luise Kaschnitz, als sie eine junge, schöne Frau mit schwer zu vergessenden Augen war. Das Bild von Albert Camus, der den „Mythos von Sysiphos“ als Ausweg aus der Hoffnungslosigkeit menschlicher Existenz interpretierte. Das Zimmer ist zum Bersten voll von der Atmosphäre geistiger Auseinandersetzung.

Was Lore Schaumann prinzipiell zuerst interessiert, was sie immer zuerst interessiert hat, ist: inmitten allem und hinter allem der Mensch; das Persönliche, das Private, die Umstände, die ihn so gemacht haben, wie man ihn nun erfährt. Dabei ist ihr Diskretion ehernes Gesetz! Niemals würde sie die Distanz des guten Geschmacks überschreiten. Das hat bei der Folge ihrer Autoren-Porträts immer wieder dazu geführt, daß der jeweilige Mensch, dem sie begegnete, seine eigentlich nur anonym-statistisch existierende Figur als Schreibender überlagert hat. Was für den Leser wiederum den Vorteil mit sich bringt, daß er in Lore Schaumanns Porträts einem wirklich prall mit Leben gefüllten, ganz unverwechselbaren Menschen begegnet. Nicht bloß einem ebenso gut mit dem Computer erfaßbaren Schemen. „Wenn man Menschen porträtiert, urteilt man nicht mehr kategorisch“, sagt sie.

Während mir weiter der Schrumpfkopf jenseitig mild zulächelt, fällt mir auf, daß Lore Schaumann allerdings nur so überfließt vor lauter druckreifen Feststellungen, die wirken wie Steno-Kürzel, langer, langsam und immer wieder neu gemachter Erfahrungen. Beispielsweise: „Ich bin ja verzweifelt ehrlich – das hängt mit meiner protestantischen Erziehung zusammen!“ Und wenn ich bei solchen Äußerungen die lange Reihe von Autoren-Porträts in meinem Hinterkopf Revue passieren lasse, sticht dabei besonders gravierend und durchgehend die Tatsache hervor, dass „Futterneid“ offenbar ein Zustand ist, der in Lore Schaumanns Bewußtsein oder Unterbewußtsein rundherum überhaupt nicht existiert. Jener Neid, der den Menschen etwas Unmenschliches aufsetzt, und der auf dem einen Gebiet als Wettbewerb oder als Konkurrenz ausgegeben wird, und der doch im Grunde nichts weiter im Sinn hat, als sie selbst zu erhöhen, indem man die möglichen Verdienste des anderen schmälert. Das jedenfalls kennt Lore Schaumann nicht. Sonst wüßte man beispielsweise längst allerorten, daß ihr nächstes Buch noch in diesem Jahr erscheinen wird. Im Sassafras-Verlag von Klaus Ulrich Düsselberg und mit dem Thema, das Lokalkolorit jenes weitab liegenden spanischen Dorfs festzumachen, in dem Käte Reiter ein Ferienhaus hat. Und genauso fest eingeplant ist ein Bericht darüber, was aus den Amerika-Auswanderern ihrer siegerländischen Heimat – damals zur Zeit der Depression am Ende der zwanziger Jahre – eigentlich geworden ist. Und weitere Buch-Pläne gibt es außerdem noch. Lore Schaumann ist nicht nur die (Er)Finderin der literarischen Szene Düsseldorf. Sie ist zugleich ihr integrierter Bestandteil.

Immer wieder haben irgendwelche Leute sie gefragt, ob sie ihre musikalische Ausbildung als Sängerin denn einfach so vergessen könne. Aber Lore Schaumann hat sie ja nicht entfernt vergessen. Alle Lieder, die sie kennt und die sie einmal gesungen hat, sind als unveräußerlicher Besitz ständig und immerzu in ihr anwesend. Solcher Besitz vermittelt ihr ein Bewußtsein: „Es ist, als ob man flöge.“ Wenn das nicht pure Poesie ist - Poesie als Form der Existenz - dann weiß ich nicht, was Poesie überhaupt sein könnte.

Zur Literatur kam Lore Schaumann wie im Buch. Als Kind nämlich stöberte sie in Großvaters altem, staubigen Schrank auf dem Dachboden und fand „Onkel Toms Hütte“. Sie „verschlang“ es atemberaubt. Und der Kreis dieser ersten Begegnung mit Literatur und mit diesem speziellen Problemkreis solchen Inhalts schloß sich 38 Jahre später wieder bei einem Besuch ihrer beiden mittlerweile amerikanische Staatsbürger gewordenen Geschwister in den USA. Das war 1966, und die Rassenunruhen hatten ihre Höhepunkte. Die Besucherin aus der fernen Bundesrepublik wurde ganz hautnah darin verstrickt. Noch während der Rückreise an Deck des Schiffes las sie pausenlos alles, was mit der US-amerikanischen Rassenfrage zu tun hatte. Auch in den Filmen, die sie für Eva Hoffmanns ZDF-Redaktion „Der internationale Kurzfilm“ fortlaufend untertitelt, hat sie es thematisch immer wieder mit sozialen Themen zu tun: mit Ghetto-Problemen oder mit denen der Minderheiten-Befreiung.

Zum Journalismus, zum Schreiben, zu den definitiv gemachten Anfängen der Schriftstellerin hat es immer wieder erst einmal Anstöße von außen gegeben. Sie glaubt inzwischen, daß sie solche Anstöße braucht, um aktiv werden zu können. Aber dann erweist sich ihr große, geistige Beweglichkeit - wichtiges Kennzeichen eines kreativen Charakters - jedes Mal als ihr großes Plus. Lore Schaumann greift die Anregung auf, setzt sich damit auseinander, wird gepackt und steht dann unter dem fast manischen Zwang zu formulieren, sich mitzuteilen, Öffentlichkeit für „ihr“ Thema anzustreben. Man sollte viele Anregungen an Lore Schaumann herantragen!

Hat ihr Buch mit den Porträts von 44 Düsseldorfer Autoren für sie selbst eine Konsequenz; innerlich? Es war ihr erstes Buch. Von namhaften Schriftstellern hört man immer wieder, nach Beendigung einer Arbeit wären sie entweder überglücklich oder - häufiger - total ausgelaugt. Lore Schaumann sagt, am Ende jeden Jahres, in unseren tristen Wintern, sei sie bisher jedesmal in die gleiche, anhaltende Deprimiertheit gesunken. Am Ende des Jahres 1974, in diesem Winter allerdings, sei sie zufrieden, sei sie nun glücklich, weil sie etwas in der Hand hat.

Dieser Sachverhalt kann die von Lore Schaumann gefundenen, vorgestellten und zu einem von nun an nicht mehr verlierbaren Bestandteil von Düsseldorfs geistigem Fluidum gemachten Autoren deshalb doppelt ruhig machen. Sie haben dazu beigetragen, einen Menschen glücklich zu machen. Wenigstens mittelbar und für einen Winter; für diesen.

Klaus Ulrich Reinke in: »OFFKÖ«. Berichte aus der Düsseldorfer Szene 1960-1980. Hrsg. vom Kulturamt und Presseamt der Landeshauptstadt Düsseldorf. Wuppertal: Wasserloos Edition , 1980, o. S.

Zwei Texte von Lore Schaumann

Besuch bei Rose Ausländer

Düsseldorf-Golzheim, eine kurze stille Straße dicht am Nordpark; vom Nelly-Sachs-Haus schaut man überall ins Grüne. In diesem Elternheim der jüdischen Gemeinde wohnt seit 1973, als sie nach einem Unfall ständige Pflege brauchte, die Lyrikerin Rose Ausländer. Ihr Zimmer im vierten Stock hat ein Hospitalbett mit Nachttisch, im Kleiderschrank und auf der Kommode häufen sich die Papiere – ein dauerndes Provisorium, Krankenzimmer, Empfangsraum, Schreibwerkstatt. An der Wand ein paar leuchtende Bild-Akzente von HAP Grieshaber.

Rose Ausländer kann sich nur mühsam bewegen, meist liegt sie, von schwerer Schlaflosigkeit so sehr gequält, daß sie manchmal nicht weiß, wie sie durchhalten soll. Wer würde denken, daß in dieser Situation Gedichte entstehen? Aber sie wachsen aus dem Innenort verborgener Kämpfe, übersteigen ihn ins Zeitlose, sprechen aus einem existentiellen Kern unmittelbar in die Existenz anderer Menschen hinein. Da gibt es keine Spur von Wehleidigkeit, beschworen wird nicht nur das Paradies Erinnerung, sondern die gegenwärtige Kraft, sich zu erneuern, in verständlichen, leicht zu deutenden Worten und Bildern.

Von dieser Wirkung will ich diesmal mit Rose Ausländer sprechen. Die Verleihung des Ida-Dehmel-Preises und des Andreas-Gryphius-Preises hat erst kürzlich wieder mit ihren Daten bekannt gemacht: Aufgewachsen im altösterreichischen vielsprachigen Czernowitz, hochgespannte Geistigkeit des bürgerlichen Elternhauses, Beschäftigung mit den Lehren Spinozas und Constantin Brunners, Weisheit der Chassidim. Nach überstandenem Getto, nach deutscher und russischer Besatzung Emigration in die USA. Seit 1965 in Düsseldorf.

„Meine Wirkung?“ sagt sie und lehnt sich in die Kissen zurück. „Meine Wirkung hat alle Erwartungen übertroffen. Ich komme aus dem Staunen nicht heraus. Das fing schon an mit meinem ersten Gedichtband Der Regenbogen. Ich wurde in Czernowitz sehr gefeiert. Aber auch aus Bukarest und aus dem Ausland meldeten sich bekannte und unbekannte Leser. Arnold Zweig schrieb mir aus Jerusalem, Hans Carossa aus Deutschland, Hermann Hesse aus der Schweiz. Ein halbes Jahr später brach der Krieg aus, und alles war zu Ende.“

Von der glücklichen Erfahrung dieses ersten Hervortretens spannt sich jetzt ein Bogen ins Düsseldorfer Krankenzimmer. Denn wieder schreiben viele, sehr viele Leser. Auf dem Tisch stehen rote Rosen eines unbekannten Verehrers: „Ich komme mir manchmal vor wie eine Märchenprinzessin, der man huldigt. Kein Tag vergeht ohne Post, herrliche Briefe manchmal. Zum Geburtstag war mein Zimmer ein Blumenmeer, und es kam eine Flut von Briefen und Telegrammen.“ Besonders rührte sie der Anruf einer Nonne, die ihr mitteilte, sie habe in ihrem Namen fünf Bäume in Israel pflanzen lassen. In New York hatte Rose Ausländer die Aufmerksamkeit der großen, von ihr verehrten amerikanischen Dichterin Marianne Moore gefunden, die ihr den Ehrenpreis des Wagner College verschaffte. In Deutschland haben sich Zustimmung und Interesse der Leserschaft von Band zu Band gesteigert: Wenig Echo auf den in Österreich erschienenen Blinden Sommer, öffentliche Anerkennung (Heine-Taler, Droste-Preis der Stadt Meersburg) für 36 Gerechte. Die Kollegen Piontek, Keller und Jokostra meldeten sich. Marie Luise Kaschnitz sagte bei einem Besuch: „Rose Ausländer, Sie schreiben ja viel bessere Gedichte als ich.“ Zu ihr fand sie sofort zwanglos vertrauten, brieflich und telefonisch fortgesetzten Kontakt; sie schrieb Rose Ausländer das Nachwort für den vielbeachteten Band Andere Zeichen.

Aber die stärkste Wirkung geht von den Gesammelten Gedichten aus. Gedichte werden ihr gewidmet, erschütternde Briefe stellen Fragen an sie, zur Verleihung des Gryphius-Preises kam ein junger Mann aus Heidelberg angereist, der einen Aufsatz über ihren Zeitbegriff geschrieben hat. Wie erklärt sie sich dieses Echo? „Ich habe, was man Wirklichkeit nennt, auf meine Weise geträumt, das Geträumte in Worte verwandelt und meine geträumte Wortwirklichkeit in die Wirklichkeit der Welt hinausgeschickt. Und die Welt ist zu mir zurückgekommen.“

Gut, aber der Mann, der aus dem Gefängnis schreibt, der Selbstmörder, dem ihre Lyrik geholfen hat – spüren sie nicht vor allem die verwandte und überwundene Notsituation? „Die Leute wissen doch gar nicht, dass ich krank bin. Sie fragen, was Poesie ist, warum ich schreibe, was mein zentrales Interesse ist.“ Die Antworten darauf hat sie schon oft formuliert: Sie schreibt, zunächst für sich, unter innerem Zwang, publiziert aber für ihre Mitmenschen. „Ich gehöre nicht mir selber.“ Lange Jahre beschäftigten sie die Erfahrungen der Verfolgung, des Exils und der Heimatlosigkeit. Ihr jüdisches Volk wird immer wieder zum Thema. Gegenstand ihrer Dichtung sind aber auch „Probleme über Leben und Tod, die Zeit im Sinn der Vergänglichkeit, der Dauer und unserer Zeit, Sprache, das Mysterium des Kosmos. Doch mein wesentlichstes Interesse gilt Frieden und Gerechtigkeit unter den Menschen.“

In diesem Sinne beantwortet sie jeden Brief, den unscheinbarsten und den des Professors aus Cincinnati, der über sie eine Arbeit veröffentlichen will. Sie hat wirkliche Freunde gewonnen. Und sie wundert sich über die eigenen unerklärlichen Reserven: „Alles ist ein Geheimnis.“ Zu ihrer Arbeitsweise befragt, sagt sie: „Ich schreibe fast nur nachts. Die erste Fassung steht in Gabelsberger Stenogrammschrift auf Zettelchen. Sie kristallisiert sich um einen Gedanken, einen Einfall. Manchmal steht der erste oder der letzte Satz fest. Nach Tagen, wenn ich Distanz gewonnen habe, nehme ich die Zettelchen wieder vor. Dann kann es sein, das Gedicht ist fertig, so wie es ist. Oder ich vertausche die erste und die letzte Strophe, schreibe um, verbessere. Ob es bleibt oder ob ich es wegwerfe, entscheide ich später.“

Von dem, was geblieben ist, haben sich bildende Künstler wie Otto Piene und Rupprecht Geiger anregen lassen. Der Freund HAP Grieshaber schuf zu dem Gedicht Die Arche einen Farbholzschnitt, der mit der dreisprachigen Fassung als Jahresgruß der Buchmesse in die Welt ging.

Rose Ausländer mischt in ihren Bänden Altes und Neues. Sie datiert ihre Gedichte nicht, sogenannte Entwicklungen aufzuzeigen ist daher schwierig. Sie weiß aber, daß in einem Jahr (war es 1973?) gar nichts entstanden ist, während ein anderes etwa 200 Gedichte brachte. Für den Auftrieb durch Preise ist sie ein lebendiges Beispiel. Die Äußerungen ihrer Leser haben ihr neue Kräfte gegeben: „Es ist wert, zu leben und zu schreiben.“ Das Tablett mit dem Abendessen wird gebracht, wir müssen unser Gespräch beenden. Und da kommt auch der Bruder aus New York herein. Sie hat ihn jetzt nach Düsseldorf holen können.

In: Der Wegweiser, Düsseldorf, 8/197.

Frauen, die lesen – Frauen, die schreiben

Nachmittag in einer Frauen-Bücherstube. Die junge ehrenamtliche Mitarbeiterin hört eine Schlagersendung im Radio, telefoniert mit ihren Freunden, fängt ein lautes, von Kichern unterbrochenes Gespräch an, als eine zweite Helferin dazustößt. Ich höre „Selbsterfahrungsgruppe“ und „die ist neurotisch, oder eigentlich schon psychotisch, könnte man sagen.“
Eine junge Frau mit Kinderwagen und mäßig unruhigem kleinem Jungen blätterte sich still durch den kleinen, aber sorgfältig zusammengetragenen Buchbestand, fragt schließlich nach einem Band von Ricarda Huch. Dem Mädchen am Verkaufstisch ist dieser Name unbekannt. Später sagt sie „Wer ist das, was hat die geschrieben?“ Einer kleinbürgerlich wirkenden Frau in mittleren Jahren, die „etwas Leichtes“ zum Verschenken sucht, empfiehlt sie Virginia Woolf und Simone de Beauvoir. „Nein, doch lieber nicht“, beendet das Gespräch, läßt die Frau unschlüssig hinausgehen. Die kommt bestimmt nicht wieder.

Literaturkenntnisse, angewandte Psychologie? Nur das derzeit Modische, also alles, was sich auf die großen „Selbst“-Wörter reimt. Aus dem Hintergrundgespräch rieselt es heraus: Selbstbild, Selbstbewußtsein, Selbstbehauptung, Selbstverwirklichung, Selbstbestimmung. (Ein Mann sagt neulich „Nur das Wort selbstlos hört man gar nicht mehr.“ Sagte er das, weil er ein Mann ist?)

Auf den Regalen steht alles, was „bewegte“ Frauen zwischen zwanzig und dreißig interessiert: Erziehung, Psychologie, Soziologie, Biographie und Historisches, die Feminismus-Klassikerinnen Friedan, Greer und Janssen-Jurreit mehrfach gestaffelt. Dazu feministische Zeitschriften mit verschiedenen Schwerpunkten. Bücher über Gewalt gegen Frauen, Alkoholismus, Wohngruppen, Heilkräuter, Naturkosmetik, Getreidegerichte, Frauen der Dritten Welt zeigen, wie die Bewegungen ineinander verschränkt sind. Bei den Sachbüchern kann man offenbar auf männliche Beiträge nicht verzichten. In der Belletristik dagegen sind Männer von der linkshändigen Frau bis zu Anna Karenina nur mit Frauen-Titeln zugelassen. Nicht auf Literatur liegt die Betonung, sondern auf Anleitung zum Leben, auf Information als Diskussionsgrundlage.

Aber liest zum Beispiel jemand Mary Wollstonecraft? Ihre „Verteidigung der Rechte der Frau“ ist 1792 erschienen und nimmt alles Heutige voraus. Sollte es mit der ungebrochenen literarischen Tradition Englands zusammenhängen, daß Frauen dort so viel selbstverständlicher, phantasievoller und besser schreiben als bei uns? England hat immer Exzentrikerinnen und Abenteuerinnen hervorgebracht und geduldet; auch für Frauen erweiterte das Empire die Welt. Schriftstellerinnen wie Doris Lessing und Nadine Gordimer wären ohne diesen Hintergrund nicht denkbar.

Was Angela Praesent über Lese-Erfahrungen mit Manuskripten für ihre Reihe „neue frau“ berichtet, deutet dagegen bei den deutschen Einsenderinnen auf unentwegtes Um-sich-selbst-Kreisen hin. Zum besseren Schreiben gehört aber neben viel Können die Fähigkeit, über sich hinaus und von sich abzusehen. (Nicht umsonst ist der Lebensbericht „Brombeerblüten im Winter“ von Margaret Mead das bisher beste Buch in Praesents Reihe.) Würde unsere deutsche Tradition – die es ja gibt – zur Kenntnis genommen, so wäre da manches zu lernen etwa von Lou Andreas-Salomé, wenn sie die weibliche Tendenz beklagt, sich immer nur zur Selbstentfaltung zu bringen, „anstatt dies eigene Sein in sachlicher Hingebung an ein Einzelziel zu setzen.“
Dem Frauenbuchladen schräg gegenüber liegt eine vorzüglich geführte Familienbuchhandlung, in der die sehr kenntnisreiche Frau wesentlich mitwirkt. Auf die Frage, wieweit sie Frauenliteratur verkaufe, antwortete sie, das sei für ihren Kundenkreis kein Kriterium. Sie verkaufe Literatur.
Übrigens stimme ihre eigene Erfahrung selten mit den Bestseller-Listen überein, die halte sie für manipuliert. Sie kennt ihr Fach, ist vielseitig gebildet und hat ein selbständiges Urteil.

Warum gehen die Frauen mit ihren Wünschen nicht zur Fachfrau, die ja auch Bibliothekarin sein kann? Daß die öffentlichen Büchereien bei uns immer noch eine viel zu bescheidene Rolle spielen, ist historisch bedingt und ein Kapitel für sich. Wie soll man die Freude am Suchen und Finden von Lesestoff kennenlernen, wenn man es nicht übt? Im Frauenbuchladen steht alles handlich beieinander. Zu jedem Thema die These, und der gemeinsame „echt starke“ Jargon gibt Tuchfühlung. Das Bedürfnis nach Gruppierung und ihren Losungsworten tritt in jeder Generation neu auf, nur die Vorzeichen ändern sich. Für mich hat der Feminismus mit seinen grotesken Abgrenzungserscheinungen etwas von einer nach außen wehrhaften Wagenburg, in der man sich gegenseitig hilft. Junge Frauen suchen Orientierung, rufen allenthalben nach mehr Gerechtigkeit. Und wie immer gibt es mehrere Bewußtseinsstufen nebeneinander: Manche legen das Ohr an die Erde, während andere ihren Jet-Flugschein machen.

Frauen, die lesen, Frauen, die schreiben – stimmt es nicht tatsächlich, daß die Frauenbewegung neue literarische Kräfte ans Licht gebracht hat? Ganz gewiß sind die schreibenden Frauen sicherer und mutiger geworden. Im Augenblick kommt ihnen aber der Markt mit ungewöhnlicher Bereitschaft entgegen. Es wird sich zeigen müssen, ob der Trend dauert. Übrigbleiben werden die Könnerinnen mit oder ohne Charisma, Frauen, die üblicherweise studiert haben, einen Wortberuf als Lektorin, Redakteurin, Dozentin oder Übersetzerin ausüben und den Literaturbetrieb kennen – Leute also, die sich ohnehin durchgesetzt hätten.

Gegenwärtig bietet ein Überblick über „weibliche“ Literatur im deutschen Sprachraum das Bild einer erstaunlichen Vielfalt und Begabungsfülle – wenn man schon geschlechtsspezifisch einteilen will. Daß dies geschieht, daß der Aufbruch registriert wird, ist auch eine Folge der Frauenbewegung. „Frauen schreiben ein neues Kapitel deutschsprachiger Literatur“, mit dieser als Buchtitel formulierten Behauptung steht Jürgen Serke nicht allein, und sie wird durch seine 30 Porträts schreibender Frauen von heute bekräftigt. Die Freude über die „erste umfassende Geschichte der Frauenliteratur in deutscher Sprache“ ist allerdings buchstäblich geteilt. Denn 15 straff und konzis formulierten Kurzporträts stehen hier 15 lange gegenüber, von denen einige nur allzu deutlich ihren ursprünglichen Erscheinungsort verraten: Beim Friseur war man 1977 plötzlich in einer Illustrierten auf Details von Barbara Frischmuths trauriger Ehe gestoßen. Ein andermal sprach sich Karin Struck über Liebe und Leben aus – Tratsch mit Anspruch, sonst auf darstellende Berufe beschränkt. Jetzt findet man ihn zwischen zwei Buchdeckeln wieder. „Gabriele Wohmann und ich haben in ihrer Darmstädter Wohnung drei Tage lang verbal gekämpft“, heißt ein sehr charakteristischer Satz. Jürgen Serke verfolgt sein literarisches Wild mit dem Jagdinstinkt des Reporters, und er will Blut sehen. Jagen, zur Strecke bringen, Halali – nicht umsonst fällt einem das uralte symbolische Männlichkeitsvokabular ein. Wissen wir nun mehr über Sarah Kirsch, weil drei Männernamen beziehungsvoll ausgesprochen werden? Gewinnt Brigitte Schwaiger durch das Breittreten ihrer Affären und Nervenzusammenbrüche an literarischem Interesse? Kümmert es uns, von wem Karin Struck ihre drei Kinder hat? Jedem die Darstellung, die er provoziert. Wer sich ins Schaugeschäft begibt, kommt darin um.
Es haben sich nicht alle hineinbegeben. Wo Serke verehrt, wo ihm eine Persönlichkeit den Widerstand natürlicher Würde entgegensetzt, ändern sich Stil und Methode. Anna Seghers, Christa Wolf, Ilse Aichinger behandelt er literarisch sorgfältig. Der Zorn, den dieses Buch erregt, wird weniger durch seine tratschhaften Partien und die parteiische Arithmetik der Enthüllungen ausgelöst als durch die Beweise, daß Serke es besser kann, daß er ein guter Leser ist, dem, wenn er will, Einfühlung und kritisches Urteil zu Gebote stehen. „Frauen schreiben“ erweist sich als Fall eines schreibenden Mannes, den das auftraggebende Medium zerstört.

Serke merkt gar nicht, daß er seine eigenen, im essayistischen Vorwort proklamierten Einsichten verrät. Da bietet er eine aus Wahrheiten und Halbwahrheiten anmutsvoll gemischte, gut zu lesende Bestandsaufnahme, in der Männer der gegenwärtigen Literatur als „Resignationsriege“ bezeichnet werden, weil sie an der Realität oder an deren Verlust scheitern, während die doppelt belasteten Frauen sie bestehen und gestalten. Ihre Selbständigkeit bedeutet nicht Alleinsein-wollen. „Die Mehrzahl der Autorinnen deutscher Sprache haben sich nicht eingrenzen lassen durch die neuen Grenzen des Feminismus,“ hebt Serke hervor. Für die Aspekte ihres neuen Selbstbewußtseins bringt er viele gut gewählte Zitate bei. Ihre Bejahung der eigenen Sinnlichkeit, ihre Suche nach Liebe jenseits männlicher Unterdrückung, ihre aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Prozeß, ihr Anzweifeln des Machtbegriffs werden deutlich gemacht. Kluge weibliche Worte, etwa von Christa Wolf: „Auch eine eingeschränkte Existenz läßt sich dehnen bis zu ihren Rändern, die vorher sichtbar sind. Nur das, wofür wir keine Sinne haben, ist uns verloren.“ Befremdlich wirkt nach solchen Bekundungen Serkes Neigung, innere Abhängigkeiten seiner Autorin zu enthüllen. Wo es irgend geht, ist bei ihm die Wirklichkeitserfahrung der Schriftstellerin auf die Beziehung zum Mann reduziert. Das gilt eingeschränkt sogar für Ilse Aichinger, die von Serke ausführlich und einfühlend interpretiert wird. Sieht man sie nicht auf Knien ihres Herzens vor dem Monument des toten Günter Eich?

In der „weiblichen“ Literaturgeschichte gibt es störende Lücken, es fehlt vor allem Marie Luise Kaschnitz, eine große Schriftstellerin, glücklich verheiratet, geformte Persönlichkeit – gab sie deshalb zu wenig her? An der gleichfalls fehlenden Hilde Spiel wäre zu zeigen gewesen, was auch beim Nachlesen von Rose Ausländer und Hilde Domin schmerzlich klar wird: Der Verlust an Geist durch den Verlust des Judentums, der Mangel an Welt bei den Jüngeren, nicht in ihr Herumgestoßenen. Flucht, Emigration, Vertreibung, das Erleben fremder Länder haben die künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten gesteigert, ja, manchmal erst geweckt.

Das gilt auch für Erica Pedretti, die, aus einer deutschen Familie in Mähren stammend, nach dem Krieg in der Schweiz und in New York lebte, dann einen Schweizer heiratete und jetzt im französischsprachigen Schweizer Jura wohnt. Das Leben ganz, ohne die chaotische Selbstbezogenheit mancher Jungen, Erica Pedretti lebt es. Fünf Kinder, ein malender Ehemann, Schreiben neben Putzen und Kochen, vielfache Belastung und Fülle, eine ganz eigenwillige Entwicklung – und keine Spur von Feminismus. Wenn ich nach diesem Buch irgendjemand kennenlernen möchte, so ist es diese Frau.

Ihr schönes Porträt sei Serke gutgeschrieben, ebenso wie das kurzgefaßte der offenbar nicht klatsch- und illustriertenwürdigen Hilde Domin. Auf zwei Druckseiten sagt er alles Wesentliche über sie, streift ihren Lebensgang, soweit er für ihr Werk wichtig ist, beschränkt sich dann auf dieses, greift ein wichtiges Domin-Gedicht heraus („Abel, steh auf“), druckt es ab und geht sogar auf den unterbewerteten Roman „Das zweite Paradies“ ein. Auf solchem Niveau hätte sich eine ernstzunehmende Darstellung von Frauenliteratur zu bewegen – konzentrierter, sachlicher, und ohne den Wahn, als könne man durchs private Schlüsselloch das Entstehen von Literatur studieren.

Daß ein künstlerisches Werk sich selbständig macht, dass es sein Eigenleben führt, neben der vielleicht kläglichen, vielleicht ausgebrannten Existenz der Schreibenden – sollte das bei Frauen anders sein?

In: Frau und Kultur. Erleben und Gestalten. 83. Jg., Heft 2, 1980, S. 18-19.