Düsseldorfer Frauengeschichte
Düsseldorfer Autorinnen der Vergangenheit
Biografie
- 1881 Als sechstes Kind des bekannten Verlagsbuchhändlers Wilhelm Leuchs und seiner Frau Lina, geb. Meister, kam sie am 15. Dezember in Nürnberg zur Welt. Sie wuchs in einer weltoffenen, großbürgerlichen Atmosphäre auf. Zunächst war sie in Nürnberg Schülerin des Port'schen Instituts, dann ging sie nach Friedrichshafen ins Paulinenstift und schließlich ins Lohmannsche Institut. Mit 12 Jahren schrieb sie ihr erstes Drama „Odin, Tor und Freya“. Daneben entstanden Gedichte und Erzählungen. Der Privatunterricht des Altphilologen Dr. Schunck lenkte Hanna Leuchs zur klassischen Dramenliteratur hin und vermittelte ihr die Liebe zum Humanismus.
- 1899-1902 An der Münchner Universität hörte sie Vorlesungen bei den Professoren Furtwängler (Archäologie), von Heigel (Geschichte) und Muncker (Germanistik). In ihrem ersten Münchner Jahr verfasste sie das historische Schauspiel „Ulrich von Hutten“ und das Gesellschaftsdrama „Hertha“. Zusammen mit dem Literaturwissenschaftler Franz Muncker und dessen Frau unternahm Hanna Leuchs 1901 Reisen in die Schweiz und nach Italien. Sie schrieb das Drama „Dämon“ und reiste im folgenden Jahr nach Dänemark, Schweden und Norwegen. Ihre Märchenoper „Dornröschen“ wurde am 13. April 1902 im Stadttheater Nürnberg aufgeführt. Heirat mit dem Oberingenieur Ernst Rademacher. 1904 kam der Sohn Hans Carl in Berlin auf die Welt; 1905 wurde der Sohn Ernst geboren. Die Familie zog nach Leipzig.
- 1911-12 Im Verlag von Ernst Rowohlt in Leipzig erschien das Drama „Johanna von Neapel“, das eine Frau im Zwiespalt zwischen Liebe und Macht zeigt. Ein Jahr später inszenierte Matersteig das Stück im Stadttheater Leipzig. „Ein echtes Renaissanceschicksal, in packender Sprache, den rauhen Lauten des Mittelalters dargestellt, im Rahmen knapper, streng gefaßter Szenen. Der Erfolg war stark und unbestritten“ urteilte die „Deutsche Tageszeitung“ in Berlin.
- 1914 Hanna Rademacher zog mit ihrer Familie nach Düsseldorf in die Venloerstraße 22. Das Drama „Golo und Genovefa“ erschien bei Kurt Wolff in Leipzig.
- 1920-23 Im Stück „Utopia“ werden kommunistische und pazifistische Tendenzen der Zeit in die Antike transponiert und satirisch behandelt. Drei Jahre nach dem Druck erlebte das „heitere Spiel“ im Neuen Schauspielhaus in Königsberg seine Uraufführung und erfuhr durchaus Widerspruch: „ein Kuriosum, eine unpolitische Satire auf eine politische Angelegenheit“ („Literarisches Echo“, Berlin, H. 5, 1924). „Golo und Genovefa“ wurde ebenfalls 1923 uraufgeführt, am 15. Januar im Stadttheater Saarbrücken: „Die Handlung ist wuchtig, gut aufgebaut und durchgeführt; die Charaktere sind lebensvoll gezeichnet, die Sprache ist von vollendeter Schönheit.“ („Landeszeitung Saarbrücken“). Im gleichen Jahr erschien ein weiteres Renaissance-Drama, „Rosamunde“, im Verlag des Ehemanns, in dem auch die nächsten Stücke ediert wurden.
- 1925 Das Schauspiel um den großen Humanisten „Wilibald Pirckheimer“, bereits ein Jahr zuvor gedruckt, wurde unter der Regie von Eugen Herbert-Kuchenbuch am 27. April im Stadttheater Bochum uraufgeführt. Dem Zeitgeist entsprach ein deutschnationaler Zug des Stücks. Die „Deutsche Allgemeine Zeitung“ in Frankfurt drückte dies sehr deutlich aus: „Im Vordergrund der Handlung steht Nürnbergs bester Mann, Wilibald Pirckheimer, umtost von dem Gezänk der Parteibonzen seiner Vaterstadt. Er aber hat nur einen einzigen Leitspruch für sein Handeln: ,Nürnbergisch vor allem! Deutsch über allem!! Übt Treue euch und dem Vaterlande! Was nur einen Menschen, nur eine Stadt anzugehen scheint, wird ein Stück deutsches Schicksal.“ In den zwanziger Jahren pflegte Hanna Rademacher viele Freundschaften, so mit Walter Kordt, H. W. Keim und Karl Lehmann, mit der Vortragskünstlerin Amelie Trescher-Schier und mit der Autorin und Übersetzerin Maria Ewers aus‘m Weerth.
- 1928 Im Deutschen Volkstheater in Charlottenburg wurde die Komödie „Haus der Freunde“ erstmals aufgeführt.
- 1932 Das Schauspiel „Cagliostro“ (1931 gedruckt) gelangte bei den Benrather Schloss-Spielen zur Uraufführung. Die „Düsseldorfer Nachrichten“ hoben das psychologische Interesse der Autorin hervor, die „mit sehr viel Feinsinn und Klugheit dem wirklichen Wesen dieses sonderbaren Menschen nachgespürt und die Hintergründe bloßgelegt hat, auf denen seine suggestive Persönlichkeit zum Hochstapler, seine Menschenkenntnis zur Zauberei, seine Gewandtheit zum Schwindel werden konnte“ (8. 7. 1932). Es entwickelte sich eine lebenslange Freundschaft mit der Vortragskünstlerin und Regisseurin Erika Müller-Benrath und der Kostümbildnerin und Malerin Hilde Viering. In den „Fränkischen Monatsheften“ erschien die autobiographische Skizze „Meine Jugend in Franken“.
- 1936-38 Auf Veranlassung der NS-Frauenschaft Düsseldorf hielt Hanna Rademacher einen Vortrag über eine „heimatliche Frauengestalt“, über die ermordete Herzogin Jakobe von Baden als Opfer einer religiös-indoktrinierten Machtpolitik. Daraus entstand das Schauspiel „Jakobe von Baden“, das am 22. Juni 1938 zur 650-Jahrfeier der Stadt Düsseldorf im Schauspielhaus uraufgeführt wurde. Die „Westfälische Landeszeitung Rote Erde“ urteilte über die Umsetzung des Stoffs durch die Autorin wie folgt: „Nun hat sich auch eine der wenigen erfolgreichen deutschen Dramatikerinnen, Hanna Rademacher, des Stoffs (...) angenommen und ihn auf einer breiteren Ebene betont religiös-politisch entrollt, um gleichzeitig eine ebenso warmherzig-liebenswürdige Zeichnung des jungen unglücklichen Weibes zu geben, wie die hintergründigen Kräfte in einer nur denkbar grausen Schwärze festzulegen“.
- 1939 Die Autorin zog sich aus der Öffentlichkeit zurück und lebte fortan in einem kleinen Ort im Sauerland, Fleckenberg, in ihrem Sommerhaus „Tors Hütte“. Eine Reihe weiterer Dramen entstanden, z. B. „Willkommen. Ein heiteres Spiel“ (1940) und ein Drama über die Königin Luise „Dem Genius Preußens“ (1942).
- 1951-73 Eine große Anzahl weiterer Dramen entstand, zumeist im Selbstverlag ediert. Wieder stehen Frauengestalten der Geschichte im Vordergrund, so in „Maria Theresia“ (ursprünglich „Im Licht der Ewigkeit“, 1961, mit 80 Jahren fertiggestellt), wo die spezifische Leistung der österreichischen Kaiserin zur Friedensbewahrung herausgestellt wird. Einige Prosatexte haben sich im Nachlass als Manuskript erhalten, „Mechthilde von Magdeburg“ oder „Anna Margarethe Fuggerin“ (hier wiedergegeben). Mit 92 Jahren beendete sie ihre letzte Komödie „Schuß im Damenheim“.
- 1979 Hanna Rademacher starb am 31. Juli in ihrem 98. Lebensjahr. Ihr Grab befindet sich auf dem Düsseldorfer Nordfriedhof.
- 1988 Im Rahmen der 700-Jahr-Feier der Stadt Düsseldorf wurde von der Kleinen Oper Düsseldorf ein Musikalisches Schauspiel „Jacobe“, nach Hanna Rademachers Drama, zur Aufführung gebracht.
© Ariane Neuhaus-Koch
Erinnerungen
Meine Jugend in Franken
Meine Jugend in Franken?! – Da taucht zuerst ein Haus auf, ein kleines Haus, das wir bewohnten. Hinter dem Haus war ein Garten, mit einer großen, einem Rundbau ähnlichen Laube. Später baute mein Vater sich ein neues Haus; aber die Gärten des alten und des neuen Hauses stießen zusammen und in das alte Haus zogen Verwandte. So blieb die Verbindung bestehen. Das neue Haus war groß, viel größer als das alte. Es hatte Säulen, Freitreppen, die Wände und Decken der Zimmer waren bemalt und überall war Raum, Licht, Sonne. Und der Garten des neuen Hauses war größer und herrlicher als der des alten. Es gab Rosen in Fülle. Buschrosen und hochstämmige. Mein Vater liebte sie. Mit zärtlicher Behutsamkeit schnitt er die schönsten ab, um sie seinen Gästen zu schenken. Blutbuchen standen im Garten, Wiesen gabs, Springbrunnen, einen Sportplatz und neben dem Sportplatz eine Allee junger, zarter, gebogener Weichselbäume, die im Frühling Wolken weißer Blüten trugen.
Das Bild wäre unvollkommen, wollte ich nicht eines Hauses noch gedenken, des Stammhauses der Leuchs, der Vorfahren meines Vaters, am Obstmarkt. Es reichte vom Obstmarkt bis zum Dötschmannsplatz und das Vordergebäude war mit dem Hintergebäude durch eine der in Nürnberg üblichen Galerien verbunden. In der Mitte war ein Hof. Im Hof stand ein vergessener Steinbrunnen. Dieses Haus war nicht so licht, nicht so schön wie das Haus draußen in St. Johannis; aber es hatte einen anderen Reiz für mich: es war mit allem Raunen der Vergangenheit durchzogen. Hier hatte mein Urgroßvater gelebt, Johann Michael Leuchs. Seine Vorfahren hatten den Leuchsenhof besessen; als Abkömmling eines Bauerngeschlechtes arbeitete er sich aus eigener Kraft empor. Er hörte in Wien Vorlesungen, in Köln, Amsterdam, Brüssel, Paris und Straßburg und kehrte dann nach Nürnberg zurück. Ueber 20 000 Bände umfaßte seine große Bücherei in dem Haus am Obstmarkt. Und alle Wissenschaften waren darin vertreten. Er schrieb das System des Handels und beschäftigte sich auch mit literarischen Arbeiten. Heute gilt er als der klassische Vertreter der Handelswissenschaften. Die Universität Köln liest ein Kolleg über ihn. Seinen Sohn ließ er durch Hofmeister unterrichten. Als er 1836 starb, führte mein Großvater seine verschiedenen Unternehmungen fort. Er begründete den Verkündiger, eine Zeitschrift, die Fichte zu ihren Mitarbeitern zählte. Nach einem halben Jahr mußte er ihr Erscheinen einstellen, auf Befehl Napoleons, da sie „einen bösen Geist zeige“ und die Freiheit in die Völker trüge. Dieser Großvater hat mehr als hundert Werke technischer, kaufmännischer, ökonomischer und staatswissenschaftlicher Art verfaßt. Er war Mitglied mehrerer gelehrter Gesellschaften. Zweimal wurden seine Arbeiten preisgekrönt. Für eine dieser Preisschriften über die Schönheit des menschlichen Körpers erhielt er die goldene Medaille von Harlem. Seinen stärksten Erfolg aber hatte er mit der Einführung des Adreßbuches von Europa. Er begründete den Generalanzeiger von Nürnberg, die spätere Nürnberger Stadtzeitung. Als er starb, führten mein Vater und seine beiden Brüder seine Arbeiten fort.
Unsere Ferien verlebten wir Kinder meist in Eschenbach bei Hersbruck. Lieblich anmutig an der Pegnitz gelegen, eingebettet in Wiesen und Wälder, war es so recht geeignet das Paradies unserer Kinderjahre zu bilden. Das Stammschloß der Freiherrn Ebner von Eschenbach steht in dem Dörfchen und hier habe ich zum ersten Mal einen Ahnensaal, Pergamentbriefe unter Glas und den Wehrgang eines Schlosses kennen gelernt. Später lernte ich dann das Stammschloß eines unserer ältesten fränkischen Adelsgeschlechter kennen, das der Freiherrn Stromer von Reichenbach in Grünsberg bei Altdorf, mit deren Nachkommen mich noch heute eine lebendige Freundschaft verbindet.
Denke ich an die zahlreiche Verwandtschaft in Nürnberg zurück, so sehe ich sie alle voll Rubensscher Weltfreudigkeit und Genußkraft, voll Eigenart und Selbstwilligkeit. Und solche, im besten Sinn der Erde zugewandte Gestalten waren es, die mir zur Seite traten, als ich den Pirkheimer schuf.
Meine Großmutter mütterlicherseits stammte aus München. Der König Max Josef wollte sie zur Sängerin ausbilden lassen: aber ehe ihre Ausbildung noch vollendet war, verheiratete sie sich. Neunzehnjährig. Sie sprach Latein, war voll Humor und konnte noch im Alter von 70 Jahren von aufbrausender Leidenschaft sein. Sie war eine gläubige Christin. Ich wähle absichtlich nicht das Wort Katholikin, denn ihre Söhne und Töchter heirateten in dem protestantischen Nürnberg Protestanten, und sie ist uns Enkelkindern immer eine tief fromme, nie aber eine konfessionelle Großmutter gewesen. Ihre Tochter, meine Mutter, erbte ihre vielfältigen Talente: ihre Lebensbejahung, ihre Geistigkeit, ihre Freude am Scherz; aber auch ihr Pflichtgefühl und vor allem ihre Fähigkeit, Aufschwung und Aufopferung in das Leben hineinzutragen.
Wir besuchten das Portsche Institut in Nürnberg. Wenn ich an unsern Schulweg denke, spüre ich immer noch den herben Hopfengeruch, der uns aus einer Gasse anwehte. Wenn man wollte, konnte man auch am Bratwurstglöcklein vorüber zur Schule gehn und unzertrennlich mit dem Bratwurstglöckchen ist mir das Bild eines großen Schweines verbunden, das abgebrüht da draußen vor dem Bratwurstglöcklein in einem Trog lag und in knusprige Würstchen verwandelt werden sollte.
Freundinnen hatte ich und hatte ich nicht. Drei von ihnen sind jung gestorben. Am liebsten spielte ich mit meinen Vettern. Später erst trat eine bedingungslose Hingegebenheit an Freundinnen ein. Bedingungslos in meinem Festhalten an ihnen. Ich konnte monatelang nichts von ihnen hören um ihnen doch die alte zu bleiben.
Ein kunstfreudiger Gönner unserer Stadt, Herr Oberamtsrichter Schrodt, versammelte junge Talente um sich. Dort begann meine Freundschaft mit Charlotte Westermann, der feinsinnigen Dichterin der Knabenbriefe, die eine außergewöhnliche Begabung auch auf das politische Feld rief.
Unsere Lehrer hab ich noch alle im Gedächtnis. Das stärkste Band aber umschloß mich mit einem Lehrer nach der Wahl unsres Seelsorgers Krausold: mit Dr. Schunck, der mit mir, in Eigenstunden, die Dramen der eben auftauchenden Dramatiker las. Auch griechische und römische Kulturgeschichte wurde durchgenommen, Homer gelesen, Aeschylos, Sophokles. Er brachte mir den Geist des Humanismus nahe und sein höchstes Ziel, die freie, volle Entfaltung der Persönlichkeit.
Später, in München, schloß ich eine weitere Freundschaft, der ich zu tiefem Dank verpflichtet bin, die teilnehmend und fördernd in mein Schaffen griff: die Freundschaft mit Franz Muncker, dem ordentlichen Professor der Literatur der Universität München. Mit ihm und seiner, nicht nur künstlerisch hochbedeutenden Frau, deren Heim noch jetzt einen Sammelpunkt des geistigen München bildet, machte ich Reisen ins Ausland. Doch das greift schon über Franken hinaus.
Meine besondere Liebe in Nürnberg gehörte dem Albrecht Dürerhaus und der Burg. Ich entsinne mich noch der Kaisertage in Nürnberg. Es gab ein großes Festessen im Rathaussaal. Da auch mein Vater, als Rat der Stadt, daran teilnahm, war es uns Kindern möglich, geführt von einer mitfühlenden Seele, in ein oberes Gemach des Rathauses zu gelangen, wo man von oben herab auf die Pracht sehen konnte. Mir ist noch das Lichtergeflirr der Kerzen und der Glanz der silbernen Teller erinnerlich, von denen zu Ehren des Kaisers gegessen wurde. Noch deutlicher aber entsinne ich mich des Hermelinumhanges der Kaiserin.
Er lag in diesem Gemach auf einem Stuhl. Ich fühlte ihn an und noch heute kann ich in mir das Gefühl des Staunens und der Ungläubigkeit zurückrufen, das mich überkam, darüber, daß es in meiner Macht lag, ihn anzurühren.
Am Sylvesterabend gingen wir Kinder immer mit der Mutter in die kleine Kapelle auf dem Johannisfriedhof. Schon der Gang an den Bronzeplatten der großen Toten vorüber, stimmte feierlich. Der Johannisfriedhof ist für mich der schönste Friedhof geblieben. Vor zwei Jahren sah ich ihn wieder. Die Rosen blühten. Die Vögel sangen… auf und neben dem Grab Albrecht Dürers saßen Wandervögel, Buben und Mädels, und der Himmel blaute. Da war kein Vergessen. Da war lebende Verbundenheit.
Italien, Sizilien, Schweden, Dänemark, Norwegen, Frankreich und den Westen und Osten Deutschlands hab ich durchzogen. Aber schöner als alles dünkt mich der silberne Bauch Frankens, der deutsches Wesen am innigsten spiegelt.
Quelle: Undatiertes vierseitiges Typoskript aus dem Nachlass von Hanna Rademacher im Frauen-Kultur-Archiv der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Historische Miniaturen
Anna Margarethe Fuggerin
„Muß i denn, muß i denn zu-um Städtele naus, Städele naus – u-und du, mei Schatz, bleibst hier“ – trällerte die junge Anna Margarethe Fuggerin vor sich hin, als sie rasch aber behutsam ein Kleid nach dem andern aus ihrem reichgeschnitzten Kleiderschrank zog um es dann nachdenklich, mit krauser Stirne kritisch zu betrachten.
„Das Leibfarbene tut es nicht,“ sagte sie laut vor sich hin, „und schon gar nicht das Schwarztafftene. Das ist zu düster und zu dicht .. Es muß eins sein, das Leben und Lustigkeit ausstrahlt, das keine Langeweile aufkommen lässt, -- ist doch der junge Kaiser Karl ein gar grämlicher Geselle, der den Mund nur auftut zum Essen und Trinken. Am besten ists, ich zieh das Rotsammtene an mit dem silbernen Latz in der Mitte und Perlen und Edelsteine so viel als die Kisten und Kasten hergeben“.
Und schon kramte sie in ihren goldbeschlagenen Schmuckkästen und nahm alles heraus, was ihr ihr Eheliebster von seinen vielen Reisen mitgebracht hatte. Da war vor allen Dingen eine Perle, „10000 Goldgulden wert“, die sollte an einer feinziselierten goldenen Kette auf dem silbernen Latz zu liegen kommen, und zwei Perlen, ihr ähnlich, aber kleiner und von einfacherem Wert, mußten an die Ohren, und auf ihrem braunen Haar sollte ein Reif aus Rubinen und Diamanten blitzen, … an den Fingern aber sollte alles funkeln, was sie an güldenen Ringen verziert mit Chrysopras, Saphiren, Türkisen, Opalen und Ametysten besaß. Die Majestät war Pracht gewohnt –
Die Anna Margarethe Fuggerin breitete stolz und zufrieden das rotsammtene Kleid auf dem großen polierten Tisch aus und legte die Schmuckstücke daneben. Sie war so in ihr Tun versunken, daß sie nicht bemerkte, daß die Türe aufging und ihr Mann hereintrat.
„Alles beisammen?“ frug er lächelnd als er die Pracht sah und sich über Anna Margarethe beugte um einen Kuß auf ihr Haar zu drücken.
„Ach, Jakob!“ Die Fuggerin sprang auf und legte die Arme um seinen Hals. „Meinst du, ich gefall ihm, dem Kaiser, in all dem Zeug und dem Plunder?!“
„Dem Kaiser?!“ lachte der Kaufherr. „Das ist ein kränklicher, mißtrauischer Knabe, der noch nicht weiß was das Schicksal mit ihm vorhat und wie er allem begegnen soll. – Mir – sollst du gefallen und mein Haus hast du zur Geltung zu bringen, obwohl auch die Kaiserliche Majestät weiß, wie es dasteht!“
„Natürlich weiß sie es,“ sagte die Anna Margarethe Fuggerin stolz und zufrieden. „Die römische Krone hätt er nicht erlangen könne ohne dich und dein Geld.“
„Geb es Gott, daß sie ihm zum Glück ausschlägt, ihm und uns,“ sagte Jakob Fugger einen Augenblick ernst und nachdenklich. Seine Stimme zog sich zusammen, glättete sich aber gleich wieder, als er sah, daß sein Weib besorgt zu ihm aufschaute.
„Mach dir keine Gedanken,“ sagte er rasch. „Wir haben getan, was wir für Recht hielten und was wir dem edlen Kaiser Maximilian, dem Großvater des jungen Kaisers, schuldig waren. Nun ists an ihm, an dem Enkel, hineinzuwachsen in die Macht und in die Verantwortung.“
„Warum kommt er zu Dir?“ frug die Anna Margarethe Fuggerin.
„Warum?! Meinst du nicht, daß er mir den Besuch schuldig ist, nach allem, was ich für das Zustandekommen seiner Wahl getan habe?! Auch glaub ich beinahe, es ist wieder etwas im Werk – und es sollte mich nicht wundern, wenn sein Besuch auf eine zweite Anleihe hinausliefe.“
Am Mittag des nächsten Tages saßen in dem großen marmornen Prunksaal des weitläufigen Hauses der Fugger, der junge Kaiser Karl, Jakob Fugger, seine Frau und der ständige Begleiter des jungen Kaisers, sein Erzieher und Kammerherr, Herr von Chièvres an dem mit Kristall, Silber und Blumen in verschwenderischer Pracht gedeckten Tisch.
Es gab gebratene Tauben, Hähne, Hühner, Gänse, und Weine aus Portugal und Spanien, ja selbst von den griechischen Inseln.
Der Kaiser, mittelgroß, blond, blaß, mit melancholisch verschleierten Augen und hängender Unterlippe, von Natur schüchtern und durch eine grobe Mißbildung seines Unterkiefers zum undeutlichen Sprechen gezwungen, hatte nach ein paar kurzen Sätzen, die ihm von seinem Erzieher eingeprägt waren, und die er nicht ohne eine gewisse Würde hervorgegurgelt hatte, eifrig den Speisen und den Weinen zugesprochen und seinem Kammerherrn und Erzieher die Mühe, für die in französischer Sprache geführte Unterhaltung, überlassen.
Dieser, ein eleganter, gepflegter Mann in den vierziger Jahren, der den ganzen Vormittag lang den Zwang hatte erdulden müssen, Bittsteller zu sein für eine neue Anleihe des Kaisers, entschloß sich nun kurzerhand, sich für die vermeintliche Erniedrigung seiner Person zu entschädigen, und nun seinerseits diesen Pfeffersack, wie er den reichen Fugger in seinen Gedanken nannte, empfindlich zu demütigen. Denn ungeachtet dessen, daß Jakob Fugger vor kurzem in den Grafenstand erhoben worden war, vermeinte Herr von Chièvres’ Hochmut noch immer in ihm den kleinen Händler und Raffer zu sehen, und es kam ihm jetzt, da er das Gold sicher in der kaiserlichen Kutsche wußte, unter der handfesten Bewachung von vier kräftigen Hellebardieren, nur darauf an, dem Jakob Fugger zu zeigen, daß man auch ohne Geld noch um ein Erhebliches über den hinausragte, der selbstsicher und zufrieden auf den aufgetürmten Ballen seiner Reichtümer tronte.
So sagte er denn zu dem neben ihm sitzenden Kaufherrn und die Zunge war ihm gelöst von dem Wein, dem er reichlicher zugespochen hatte, als seine vorsichtige und kalte Natur es sonst zuließ: „Eure Weine in Ehren – und Euer Geld. – Beides ist gut. Aber es wird erst vorzüglich, wenn es in unsren Händen ist und zu weittragenden Plänen Verwendung findet. Denn immer noch wird die Welt regiert vom Geist, der jeglichem Ding Wert verleiht, auch Eurem Geld, das in uns erst seine einwandfreien Meister findet.“
Aber ehe noch Jakob Fugger, der ruhig und bedächtig in seinem, von kostbarem Pelzwerk geschmücktem Gewand neben dem Kaiser saß und die Pflichten des Hauswirtes bereitwillig und höflich erfüllte, die anmaßenden und hochmütigen Wortes seines Gastes in seinem besonnenen Herzen gerecht überprüfen konnte, hatte sein Weib, die junge Anna Margarethe Fuggerin das Wort ergriffen, und jetzt sprach sie deutsch, denn was jetzt zu sagen war, konnte in keinen wälschen Lauten über ihre Zunge gehen.
„Gott hat die Stände erschaffen, aber den Hochmut hat er nicht gebraut. Ob Ihr mit Hilfe unserer Gulden regiert oder wir durch unsere Gulden mit Eurer Hilfe, das ist ihm alles Eins; das Eine ist ihm so viel wert wie das andere, wenn nur das Haupt, das für uns und für Euch die Verantwortung trägt, nicht wurmstichig ist und uns führt nach Seinem, des größeren Herren Gott, Wohlgefallen.“
Und bei diesen ihren Worten ließ sie als echte Tochter ihrer allezeit ewig jungen Mutter Eva ihre Grübchen spielen und warf ein wahres Feuerwerk von unschuldigen und zugleich wissenden Blicken auf den Kammerherrn, daß es diesem war, als habe ihn zu unrechter Zeit ein Funkeln der unerbittlich klaren Sonne getroffen und ihn in seiner ganzen, wenig anziehenden Nacktheit gezeigt.
Der Kaiser aber wandte die matten Augen, die unter den schweren Lidern fast verschwanden, auf den jetzt etwas zusammengesunken dasitzenden Kammerherrn. Er hatte nicht verstanden um was es sich handelte, denn er sprach ja kein Wort Deutsch und er war langsam und schwer im Auffassen, aber er sah zum ersten Male seinen Erzieher und Lehrer, der ihn beherrschte, und in strenger Form sein ließe, überrumpelt, verlegen, zum Schweigen gebracht, und die sonst so geschwinde Zunge spielte ihm unschlüssig im Maul.
Da wandte der Kaiser den Kopf nach der anderen Seite, um die anzusehen, die dieses Wunder vollbracht hatte, und was er da sah, zum ersten Male mit Bewußtsein sah an diesem Tag, denn vorher hatte er sich nicht die Mühe genommen, genau nach ihr hinzusehen, das war kein stolzes hochfahrendes Weib, und schon gar keine kalte, herrschsüchtige Hofdame, – was da neben ihm saß, was sich am Tisch neben ihm behauptete, klein, rundlich, mit roten Wangen, ohne Puder und Schminke, und mit einem herzhaften Brennen in den Augen, die sich voll Wißbegier und Bereitschaft gleichsam in alle Erscheinungen des Lebens hineinbissen, das war die Natürlichkeit selbst, die Gesundheit, die Geradheit, der unverfälschte Instinkt in eigener Person.
Und zum ersten Mal an diesem Tag lächelte der Kaiser, und er lächelte noch, als er später, mit den wohlverwahrten und wohl bewachten Gulden des reichen Herrn Fugger davonfuhr, in eine ungewisse Zukunft hinein, in eine, bereits von den nahenden Stürmen der Reformation aufgewühlte, drohende und unheilschwangere Gegenwart.
Quelle: Undatiertes viereinhalbseitiges Typoskript aus dem Nachlass von Hanna Rademacher im Frauen-Kultur-Archiv der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Mechthild von Magdeburg
„Gib mir, Herr, daß ich Deine Stimme höre, daß ich erkenne, wie Du es meinst. Denn meine Gedanken irren oft ab von Deinen Worten, das Tägliche durchkreuzt sie, wir aber sollen Erfüller Deiner Gebote sein. Gib, daß ich nicht in Anfechtung falle. Gib, daß ich nicht müde werde, Dir zu gehorchen. Laß mich Dein Geschöpf bleiben. Und, wenn es not tut, erfülle mich mit Deiner Glut. Gib meinen Worten Kraft. Umgürte mich mit der Gewalt Deines Zornes. Wahr laß mich bleiben um Deiner großen Wahrheit willen – Gerecht, um Deiner hehren Gerechtigkeit willen, aufrecht, um Deiner unumstößlichen Gewißheit willen… und immer und überall Dein eigen.“
Tief neigte die Nonne ihr Haupt. Ihr Kopf lag auf ihren gefalteten Händen, lange, so lange, bis eine wohltuende Wärme sie durchdrang, bis ihr Herz bebte vor Glück. – Gott hatte ihr Gebet erhört. Er hatte es in Gnaden angenommen. Gesegnet würde er sein, der Tag, und sie mit ihm.
Sie stand auf. Niemand außer ihr war im Dom. Senkrecht, leuchtend stiegen die schlanken Pfeiler in die Höhe und schlossen sich droben, wie sich der Himmel wölbt über der Erde, schützend, befreiend.
Sie trat auf die Straße. Eine Hand berührte sie. Sie sah in die weinenden, entzündeten Augen der alten Schwester Agnata.„Er kann nicht leben und er kann nicht sterben,“ flüsterte die alte Schwester. „Viermal schon wurde ihm die heilige Wegzehrung gegeben, aber es ist, als hielte ihn etwas ab, zu Gott einzugehen.“
„Ich komme,“ sagte die Nonne Mechthild. Kurz darauf stand sie in dem ärmlichen Stübchen des Kranken. Es war einer der einfachen Tagelöhner, wie sie zu Dutzenden am Rande der stadt wohnten, ein Mann, der täglich im Kloster gearbeitet hatte, der allen Nonnen vertraut war. Und nun lag er da und sollte sterben.
Seine Augen waren weit offen, aber es war keine Furcht in ihnen, nur eine abgrundtiefe Traurigkeit. Und plötzlich glaubte die Nonne zu verstehen, warum seine Seele sich so schwer von der Erde lösen konnte.
„Er hat Dir gedient, Gott,“ sagte sie heiß und laut und von Dankbarkeit erfüllt. Er hat Dir gedient, Gott, mehr als jeder andre Deiner Knechte. Warum läßt Du ihn nicht in Frieden sterben?! – Zürnst Du ihm, weil er deine Erde geliebt hat? Er hat sie geliebt mit der Einfalt und Inbrunst Deiner ersten Menschen, denen Du diese erde zum Geschenk gemacht hast. Er hat sie geliebt und er ging durch sie wie ein Kind, selig, und einer ungewissen Erwartung froh. Ein großes Staunen war in ihm und eine immer sich erfüllenmüssende Dankbarkeit. Mußt Du ihn nicht belohnen dafür, daß seine Augen hier unten schon das sahen, was Du das Ewige nennst? Warum also verwehrst Du ihm den Aufstieg in Dein Reich? Hat er nicht, mehr als jeder andere, deine Erde erkannt, als das, was Du wolltest, daß die Menschen in ihr sehen sollten? War ihm nicht jede Arbeit ein Dienst in deinem Namen? Geschah nicht alles, was er tat, um Dich zu ehren? – Nichts war ihm zu gering: das Holz, womit er die Dächer unserer Häuser ausbesserte, es war ihm nicht nur Holz, es wurde unter seinen Händen Schutz, Hilfe, Wärme, Geborgenheit… Grub er die Erde um in unseren Gärten, so lag sie da, wie von einer guten Hand aufgeschüttelt, locke rund leicht, und die Blumen blühten köstlicher und reicher. Göttlich war ihm Deine Erde… Göttlich der Dienst an ihr… Göttlich die Arbeit.
Heilig hielt er alles, was Deinen Odem trug. – Wenn Einer Deine Gebote erfüllt hat, dann war er es, Herr – Warum also verweigerst Du ihm jetzt den Aufstieg in Dein Reich? – Warum gönnst Du ihm die Heimkehr in Deinen Schoß nicht? – Nimm die Traurigkeit aus seinen Augen – Laß ihn wissen, daß es gut und recht ist, das Himmelreich auf Erden zu formen, sag ihm aber, daß droben bei Dir die Bäume machtvoller rauschen, die Brunnen gewaltiger springen! Sag ihm, daß diese Deine Erde nur ein schwacher Abglanz der Herrlichkeiten Deiner Himmel ist – Sag ihm, daß droben bei Dir ein unendlicher Friede auf die wartet, die hier unten ihre Arbeit getan haben – ein Friede und eine alles überstrahlende selige Heiterkeit!“
Das Gesicht des Sterbenden hatte sich erhellt. Er hatte die Worte der Nonne gehört und jetzt sah er es ganz deutlich: eine Leiter senkte sich herab vom Himmel auf die Erde, und er stieg empor in eine rosenrote Halle, mühselig zuerst, dann immer leichter, befreiter, hinein in die kristallklare Ewigkeit.
Quelle: Undatiertes zweieinhalbseitiges Typoskript aus dem Nachlass von Hanna Rademacher im Frauen-Kultur-Archiv der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Biografie
Am 22. November 1879 in Düsseldorf geboren, verbrachte Leonore (Nora) ihre Jugend im elterlichen Haus auf der Grafenberger Allee 64. Durch die Mutter gefördert, die aus England stammte und mit Walter Scott verwandt war, entwickelte sie literarische Neigungen. Vom Vater, dem Landschaftsmaler Heinrich Deiters, erhielt sie früh Malunterricht, um die Tradition der Familie später auch als Beruf fortzusetzen.
In dem von Heinrich Deiters verfassten Festspiel zum 50. Jubiläum des Malkastens spielte sie 1898 die Düsselnixe. Nora hatte eine enge Bindung zu ihrem Bruder Hans, dem späteren Kunstmaler. Sie absolvierte die Marienschule. Einige frühe Prosastücke und Gedichte wurden in den folgenden Jahren in Düsseldorfer Zeitungen abgedruckt.
Bedingt durch die Heirat mit dem Kölner Rechtsanwalt Dr. J. Niessen zog sie 1903 nach Köln und widmete sich nach der erfolgreichen Veröffentlichung der Erzählung „Jan Schüddeboom“ in der „Kölnischen Zeitung“ ganz der Schriftstellerei. Gedichte veröffentlichte sie weiter in Düsseldorfer Zeitungen.
Auf den 8. Kölner Blumenspielen, von der Literarischen Gesellschaft durchgeführt, wurde sie 1906 zur Blumenkönigin gekürt in Anerkennung ihrer lyrischen Leistungen. Bei der Enthüllung des Kinkel-Denkmals in Bonn huldigte Leonore Niessen-Deiters der Bonner Autorin Johanna Kinkel.
Im Cotta-Verlag erschien 1907 ein erster Erzählband „Leute mit und ohne Frack“, mit Scherenschnitten von Hans Deiters. Die „Neue Hamburger Zeitung“ prägte dafür den Begriff „poetische Silhouetten“: „Ihre Wirkung beruht wie die Silhouette auf strenger Beobachtung einerseits und virtuoser Beherrschung eines knappen einzigartigen Ausdrucksmittels andererseits“ (1. März 1908). In der „Kölnischen Zeitung“ erschien eine Reihe weiterer humorvoller, satirischer bis ernster Kurzgeschichten, die bei Cotta ein Jahr später im Band „Mitmenschen“ gesammelt wurden.
Die Autorin trug ihre Texte vor der Literarischen Gesellschaft in Köln zu Beginn des Jahres 1910 vor, des Weiteren im Kölner Frauenklub und im Düsseldorfer Malkasten. Ende 1910 erschien ein weiterer Erzählband „Im Liebesfalle“. Dazu führte Karl Freiherr von Perfall in der „Kölnischen Zeitung“ aus: „Neben ihrem graziösen, das Leben mit gutmütiger Ironie betrachtenden Humor zeigt sie auch diesmal, dass sie recht wohl, wie jeder echte Humorist, in den Ernst des Lebens hineinblicken und mit beweglicher Stimme uns zum Mitleid wirksam auffordern kann“ (23. Dezember 1910).
Unter „Belletristische Kleinkunst“ fasste die „Kölnische Zeitung“ den 1912 in der Deutschen Verlags-Anstalt erschienenen Band „Die unordentlich verheiratete Familie“, der 1913 bereits die 3. Auflage erreicht hatte. Ihr erster Roman erschien 1912, „Der Faun“, ein Liebesroman im Düsseldorfer Malermilieu, der ein Malkastenfest von 1888 zum Ausgangspunkt hat. „Treffliche Milieu-Schilderung und gut gesehene Gesellschaftsbilder aus dem Leben der rheinischen Kunststadt“ sah die „Wiesbadener Zeitung“ darin gestaltet (4. Mai 1913).
Eine stark deutsch-nationale Gesinnung fand ihren ersten Ausdruck im Band "Die deutsche Frau im Auslande und in den Schutzgebieten"(1913).
Auf einer Südamerikareise, die sie 1914 im Auftrag der „Kölnischen Zeitung“ unternahm, lernte sie den Juristen, Historiker und Diplomaten Ernesto de Quesada kennen. Im ersten Kriegsjahr verfasste sie die deutsch-patriotischen Artikel „Zum großen Krieg“, für die sie ca. 12 Veröffentlichungsorgane fand. Als „Kriegsbriefe einer Frau“ erschienen sie 1915 in Buchform. In verschiedenen Städten hielt sie Vorträge über „Deutsche Frauen als Kulturträgerinnen im Ausland“. Sie war Mitbegründerin des Auslandsbundes Deutscher Frauen. Auch in der politischen Flugschrift „Krieg, Auslandsdeutschtum und Presse“ schlug sie nationalkonservative Töne an.
Nach der Scheidung von ihrem ersten Mann zog sie 1919 nach Buenos Aires zu Ernesto de Quesada. Sie veröffentlichte in den folgenden Jahren sowohl in deutschen Zeitungen und Zeitschriften, an erster Stelle in der „Kölnischen Zeitung“ und in der Illustrierten Wochenschrift „Reclams Universum“, als auch in deutsch-argentinischen, zum Beispiel in der „Deutschen La Plata Zeitung“. Leonore N.-Deiters de Quesada, wie sie jetzt ihre Artikel zeichnete, wendete sich mehr und mehr dem Kulturjournalismus zu. Eine große Besprechung von Oswald Spenglers „Untergang des Abendlands“ erschien 1922, eine Studie über die Nibelungen 1923, ebenso eine über Wagner und Mathilde Wesendonk (die beiden letztgenannten auf Spanisch). Sowohl mit dem Philosophen Oswald Spengler als auch mit dem Schriftsteller Rudolf Herzog waren sie und Quesada befreundet.
Von Spiez in der Schweiz aus, wo sie inzwischen in der Villa Olvido beheimatet war, knüpfte sie 1930 wieder Kontakte zur „Kölnischen Zeitung“ und zur „Neuen Deutschen Frauenzeitschrift“ und veröffentlichte Auszüge aus ihrem „Seetagebuch“. (Das Manuskript dazu befindet sich im Teilnachlass im Frauen-Kultur-Archiv).
Im Februar 1934 starb Ernesto de Quesada, nachdem er seine Bibliothek von 82000 Bänden dem Ibero-Amerikanischen Institut in Berlin geschenkt hatte. Aus dieser Zeit haben sich Gedichte von ihr erhalten. Am 29. Juni 1939 starb die Autorin mit 60 Jahren nach langer Krankheit in Spiez.
© Ariane Neuhaus-Koch, Frauen-Kultur-Archiv
Texte der Autorin
Eine Denkmalsenthüllung in Düsseldorf (1914)
„Die Stadt Düsseldorf ist sehr schön, und wenn man in der Ferne an sie denkt und zufällig dort geboren ist, wird einem wunderlich zu Mute. Ich bin dort geboren, und es ist mir, als müsste ich gleich nach Hause gehn. Und wenn ich sage, nach Hause gehn, so meine ich die Bolkerstrasse und das Haus, worin ich geboren bin.“
Als ich das zum ersten Mal las, war ich ein Kind und hockte mit glühenden Backen über dem Buch Le Grand. Damals bin ich zum ersten Mal aufrichtig stolz auf meine Vaterstadt gewesen; und ich wunderte mich, wie man etwas so Buntes und Schönes und bis zum Herzklopfen Berauschendes aus den nämlichen Strassen und Gassen machen könnte, durch die man mit seinem Schulranzen trabte oder durch die man mit seiner Mutter zur Kirche ging.
„Die Stadt Düsseldorf ist sehr schön – “
Das habe ich nun heute morgen wieder gelesen. Es stand mit säuberlich gemalten Buchstaben auf einem Schild, und das Schild hing im Wirtshaus „Zum goldenen Kessel“ auf der Bolkerstrasse in Düsseldorf, grade gegenüber dem Geburtshaus des vielgeliebten, vielgeschmähten und viel nachgeahmten Rheinländers und Juden Harry Heine.
Vor der Tür hatten Lorbeerbäume gestanden. Eine lange Fahne hatte herausgehangen, darunter stand zwischen Lastfuhrwerk und Handwagen etwas vereinsamt und nicht ganz in den Stil der alten Bolkerstrasse passend ein einzelnes Automobil, und drum herum balgten und schubsten sich neugierig ein Haufen rotznasiger kleiner Kluten: „No süch! Wat es denn do loss?“ –
Und dann ist es drinnen beängstigend voll Menschen. Im Flur, im Weissbierausschank – in der Kneipe. Herren und Damen, Menschen aus den verschiedensten Lebenskreisen. Für den Stadtkundigen manch bekanntes Gesicht darunter. Das drängt und schiebt vorwärts, an einer Ecke vorbei, wo vor einem schwarzverhüllten Etwas ein Busch frischer Blumen duftet. Ein wunderliches Gemisch ist das: der süsse Duft der Blumen, beissender Tabakrauch – ernsthafte Erwartung, Witzworte, die leicht hin und wieder schwirren – das Gefühl des Zuhauseseins und zugleich das des ironischen Protests.
Jetzt kann wahrhaftig keine Seele, weder sitzend noch stehend, mehr Platz finden. Die „Köbese“ drängen sich schwitzend und beschwerlich kaum noch durch mit ihren Flaschen und Gläsern. Man könnte denken, es wäre Rosenmontag, aber ein Rosenmontag mit einem ernsthaften, fast wehmütigen Nebenklang.
Und dann schweigt langsam alles still. Von Meisterhand gespielt perlen die Weisen Robert Schumann’s süss und rein über diese bunte Menge in der Altdüsseldorfer Weissbierkneipe. In der folgenden Stille aber steht plötzlich ein Rheinländer, Herbert Eulenberg, neben dem schwarzverhüllten Etwas in der Ecke und spricht den Festtext zu dieser Feier, zu der sich, wie er es ausdrückt, „das mündige Düsseldorf“ zusammengefunden habe: zur Feier der Enthüllung des ersten Heinedenkmals in seiner Geburtsstadt Düsseldorf.
Denn das ist der Sinn des Lorbeers, der Blumen, der langen Fahne, des einsamen Automobils und der dicht gedrängten Menschenmenge. Unter den brausenden Hochrufen der versammelten Menge verwandelt sich das schwarzverhüllte Etwas flugs in weissschimmernden Marmor, in eine Büste des jugendlichen Heine. Dann aber bekommt augenblicklich Harry Heine selbst das Wort mit den allerschönsten Liedern aus der „Dichterliebe“ (von E. Hanfstängl und Kapellmeister Schwarz meisterlich interpretiert), und im Nu schafft sich der alte Hexenmeister diese bunte, zusammengewürfelte Menge in eine andächtige Gemeinde um.
„Keine Messe wird man singen, keinen Kadosch wird man sagen –“?
Freilich ist dies eine Feier eigner Art. Eine putzige Art einer Denkmalsenthüllung.
Kein Frack. kein Stern. Keinerlei Spitzen der Behörden. Nicht einmal Spitzen der Gesellschaft. Sogar nicht einmal ein Komitee im Bratenrock mit ’nem Schleifchen im Knopfloch. Rein gar nichts von alledem. Wie gesagt: Ein Altdüsseldorfer Wirtshaus auf der Bolkerstrasse, mit dem manchmal sogar fast zu lauten Geräusch und Gemurmel des Wirtsbetriebes und des Strassenlärms im Hintergrund – einem Geräusch, als wollten die ewigen Meinungsverschiedenheiten über diesen unruhvollen Geist immer noch nicht zur Ruhe kommen. Und darüber wegklingend das „Am Rhein, am heiligen Strome“ und eine weisse Büste im Hintergrund. Und als die Künstler drinnen schweigen, setzt sich der Gesang draussen im Volksliedton fort und in den noch nicht beendeten Applaus mischt sich schon die erste Strophe der ewigjungen Loreley –
Nebenbei gesagt: die Büste ist gut. Einfach, grosslinig. Der Bildhauer Jungbluth-Sahl hat sie gemacht und sie verdiente wohl, im Grünen der Sonne zu stehen statt in der Ecke einer Altstadtkneipe.
Aber nun hat sie der „Goldene Kessel“, und es gebührt ihm der Dank dafür. Er sollte mit in die Heineliteratur aufgenommen werden dafür, dass er im Jahre des Heils 1914 dem Harry Heine aus der Bolkerstrasse das erste Denkmal auf Düsseldorfer Boden setzte – wenn es auch, wie Eulenberg sagte, eine Art „Käfigdenkmal“ ist.
Aber was das Denkmal anbetrifft - - - Lieber Gott ja. Wenn sich für einen nach hundert Jahren so viel unterschiedliche Menschen am Werktag in einem schlichten Altstadtwirtshaus zusammenfinden, wo man weder „bemerkt“ noch dekoriert noch sonst irgend etwas werden kann, wo keiner die geringste Aussicht hat, selber irgendwie in die Erscheinung zu treten, schon aus dem einfachen Grunde, weil es dazu viel zu eng und zu winklig ist – wenn einen nach hundert Jahren die Künstler ehren und die Bürger lieben und das Volk singt – lieber Gott ja, da möchte man schon lieber eine Büste in der Ecke vom Goldenen Kessel an der Bolkerstrasse haben, als ein prächtiges Denkmal, zu dem sich alsmal ein durchreisender Fremder verirrt, die Brille auf die Nase setzt und den Sockel studiert, um zu lesen, wie der Kerl doch wohl geheissen hat - - - -
(Die Denkmalenthüllung fand am 9. April 1914 statt.)
Quelle: Undatiertes maschinenschriftliches Manuskript aus dem Teilnachlass von Leonore Niessen-Deiters im Frauen-Kultur-Archiv der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf]
Rezensionen zu den Erzählbänden
Rezensionen zu „Mitmenschen“, Stuttgart, Berlin 1908
Wie im „Leute mit und ohne Frack“ deutet auch der Titel von Leonore Niessen-Deiters jetzt erschienenem Novellen- und Skizzenbande „Mitmenschen“ auf ein Element der Gesellschaftssatire. Und hier wie dort deutet er ferner an, daß die Schärfe des Spottes von liebevollem Verstehen des Mitmenschen gemildert ist. Die herzliche Beziehung der Dichterin zu ihren Gegenständen, die deutlich genug auch aus der knappsten Linienführung, der schärfsten Pointierung spricht, stellt Leonore Niessen-Deiters in die Reihe der wahren Humoristen. Freilich ist ihre besondere Note die knappe Artistik, wie in der Skizze „Die Welt von der anderen Seite“. Besonders liebevoll und auch detaillierter ausgemalt sind ihre Frauengestalten, von der gutmütigen, unglaublich gutmütigen „Mutter Schanettchen, die Konsequente“ – den Lesern der Neuen Hamburger Zeitung aus dem Feuilleton bekannt – bis zu den schrulligen alten Schachteln, den Piepjunges, die sich 13 Jahre mit ihrem Pflegesohn quälen, bis er auf die Universität zieht, ihr jungfräuliches Heim von seiner männlichen Gegenwart erlösend, um den Entsetzten nach kurzer Zeit – einen neuen Pflegesohn ins Nest zu legen. Wie die Piepjunges dies schreckliche Begebnis auf die von ihnen verabsäumte „Aufklärung“ des jungen Mannes schieben, ist mit köstlichstem Humor geschildert. Mit derselben Beherrschung der Form, die in Kunstdingen den Ausschlag gibt, schlägt Leonore Niessen-Deiters auch tragische Akzente an: „Giovanna Testa“, „Eine glänzende Partie“. Den Schattenrissen vergleichbar, mit denen der Bruder der Verfasserin, der Düsseldorfer Maler Hans Deiters, auch dieses Buch wieder geschmückt und besonders wertvoll gemacht hat, ihnen vergleichbar an anmutig beweglicher, subtil hingehauchter Wirkung ist „Eine Begegnung“ im Walde zwischen einem eben entsprungenen Zuchthäusler und einer jungen Spaziergängerin. Der hohe künstlerische Wert des Buches, die warmen Herzenstöne, das aus dem wohlvertrauten täglichen Leben gewählte Stoffgebiet machen es zu einem Volks- und Familienbuche in des Wortes edelstem Sinne. Möge uns die Dichterin deren noch viele schenken. (Oswald Pander)
In: Neue Hamburger Zeitung, 5. 12. 1908.
Ernst und ein feiner besinnlicher Humor mischen sich auch in dem Geschichtenband „Mitmenschen“ von Leonore Niessen-Deiters (mit köstlichem Silhouetten-Buchschmuck von Hans Deiters, erschienen bei J.G. Cotta Nchf., Stuttgart und Berlin. 1908. Geh. 3 M.).
Die Verfasserin ist einer scharfe Beobachterin des Lebens, eine seelenkundige Betrachterin besonders der sonderlichen und kuriosen Käuze, die in dieser Welt herumlaufen und die sie besonders ins Herz geschlossen hat. Zugleich verfügt sie über einen feinen Spott, eine liebenswürdig-überlegenen Ironie, die all ihre abgerundeten und sicher pointierten Schilderungen menschlicher Eigenschaften und gesellschaftlicher Zustände unendlich reizvoll und anziehend machen. Prächtig weiß sie die bösartige Klatsch- und Verleumdungssucht ihrer geschätzten Mitmenschen etwa in der „Geschichte von drei Seiten“ zu verspotten; sie zeichnet in „Mutter Schanettchen, der Konsequenten“ das schalkhaft lebendige Charakterbild einer unverbesserlich gutmütigen Frau, deren Verstand einen ständigen Kampf mit ihrem Herzen führt und ständig darin unterliegt; sie läßt einen grimmeren Humor spielen, wenn sie in „Onkel Theodor“ die Erbschaftsberechnungen einer Familie an der unverwüstlichen Lebenskraft eines verkommenen alten Junggesellen zu schanden werden läßt, dem das grausame Geschick es vergönnt, alle seine Erbe zu überdauern. Auch tragische Töne stehen ihr zu Gebot, wie die Liebesnovelle „Giovanna Testa“ und die „Glänzende Partie“, eine scharfe Kritik der üblichen Berechnungs- und Geldheiraten, zeigen, aber diese Arbeiten haben doch nicht die selbständige und eigenartige Haltung, wie die übrigen, in denen Humor und Ironie in allen Spielarten vom Uebermut bis zum Lächeln unter Tränen triumphieren. Da eignen Frau Nießen-Deiters Frische und eine aus Lebenskenntnis erquellende Liebenswürdigkeit des Verstehend, Originalität der Einfälle und Knappheit der Ausdrucksmittel. Und selbst, wo sie ein so altes Thema aufgreift, wie die Verspottung gesellschaftlicher Torheiten in der Schlußgeschichte „Närrische Hühner“ (die unsern Lesern übrigens aus der Sonntagsbeilage bekannt ist), weiß sie ein neue, apart und amüsante Seite aufzudecken.
In: Allgemeine Zeitung, Königsberg, 19.02.1909.
Rezensionen zu „Im Liebesfalle“, Stuttgart, Berlin 1910
Mit ihrem Drillingswerk bietet uns die Verfasserin eine Fortsetzung fein pointierter Schöpfungen aus dem Innenleben, die wir schon in ihren beiden Vorläufern zu schätzen gewußt haben. Wie es schon gewohnheitsmäßig geworden, fehlen die künstlerisch hervorragenden Silhouetten des Bruders der Schriftstellerin auch in diesem Werke nicht und bieten uns eine edel einzuschätzende Belebung der beschriebenen Seelenakte. Unter den sechs Titeln der Schilderungen bieten vier einen tiefgehenden Einblick in das Denken und Fühlen des bäuerlichen Milieus und führen uns, das Erotische fein verhüllend, an von der großen Menge als „unsittlich“ gekennzeichneten Lebensfragen des Naturmenschen vorbei, uns zugleich die eifrige Hingabe der Verfasserin für das Studium dieser Klassen vor Augen führend. Eine Kleinmalerei, die kaum durch Zolasche Werke übertroffen werden konnte, bietet sich uns in reichstem Maße dar und verleiht den an und für sich kurzen Fabeln der einzelnen Abrisse ein volle Aufmerksamkeit der Leser weckendes Interesse. In der „Stina Rapps“ finden wir einen leichten Ueberschuß von Gedankenmalerei, die in den übrigen kurz gefaßten Schilderungen nicht zu so krasser Geltung kommt, als hier; doch löst der tragische Schluß dieses Dramas eine nervenspannende Empfindung des Lesers gleichzeitig derart aus, daß die vorhergegangenen Längen verblassen. Die „Heim“ betitelte Schilderung spielt in die Wohltätigkeitsmanie der höheren Gesellschaftssphäre hinüber und gibt uns Bekanntes in neuer Form zu belächeln. „Ein Brief“ ist unseres Erachtens ein Seelenakkord, der vielfach im Herzen so manchen Lesers und so mancher Leserin nachhallen dürfte und gerade seiner Kürze wegen am nachhaltigsten Wirkung ausübt. Wir wollen nochmals zum Schluß des wirklich hervorragenden Buchschmuckes von Hans Deiters, Düsseldorf, Erwähnung tun, dessen Begleitung zum Erwerber dieses Buches ein Schatz an und für sich bedeutet, und dasselbe zur Zierde eines jeden Weihnachtstisches dienen dürfte.
In: Lübeckische Anzeigen, 5.11.1910.
[…] Die beiden von der Kritik günstig aufgenommenen Werke „Leute mit und ohne Frack“ und „Mitmenschen“ haben den Namen der rheinischen Erzählerin bekannt gemacht. Auch dies neue Buch Erzählungen und Skizzen ist eine reife Gabe, ein Werk voll Humors tiefsten Ernstes und mit einem Einschlag treffender Satire. Die Dichterin zeigt uns verschiedenen Arten der Liebe oder dessen, was man so nennt. Der Schauplatz ist das Dorf oder die Kleinstadt, beide ebenso gut gesehen und charakterisiert wie die Menschen. Die größere Novelle „Stina Rapp“ ist das feinste Stück des Bandes. Mit großer dichterischer Kraft ist da ein eigenartiges Frauenschicksal bis zum erschütternden Ende dargestellt. „Liebe“ und „Die Unschuld vom Lande“ sind vortreffliche Ausschnitte aus dem Lebe einfacher Menschen mit ganz unkompliziertem Empfinden, und eine kräftige Satire auf die Mitwirkung von Damen der Gesellschaft die Skizze „Das Heim“. Alle diese Stücke und noch zwei andere schmückte der Bruder der Verfasserin mit Bildern voll Reiz, die nach Silhouetten hergestellt wurden, die der Künstler mit der Schere schnitt. Das Buch ist zu empfehlen. L. Schr.
In: Leipziger Neueste Nachrichten, 12.12.1910.
Rezensionen zu „Die unordentlich verheiratete Familie“, Stuttgart, Berlin 1912
Was ist das: eine unordentlich verheiratete Familie? Der auf dem Umschlag stehende Storch, der lustig klappernd einen Stammbaum zu studieren scheint, läßt im Verein mit diesem Titel kleine pikante Geschichten erwarten, wie sie auch der ernster gerichtete Leser zur Abwechslung einmal nicht verschmäht. Aber das neue Buch der Niessen-Deiters bringt doch mehr. Diese Reihe anscheinend bunt zusammengewürfelter Erzählungen und Skizzen, die indessen nach einem ganz bestimmten Plane geordnet sind, macht uns mit allen Mitgliedern einer weitverzweigten Familie bekannt, den braven, bürgerlich soliden, zum Teil sogar zu „höheren Schichten“ der Gesellschaft aufgestiegenen und den verwilderten, in der Welt herumzigeunernden, die unverschämt genug sind, den riesigen Abstand von jenen gar nicht einmal zu erkennen. Auf ein Familienmeeting bringt das Haupt der Familie, die unglaublich vornehme Tante von Meier – der Onkel fabriziert Emaillewaren, züchtet Vollblut und ist für seine Verdienste um die Landwirtschaft geadelt –, alle Angehörige des Geschlechts, die ihr etwas zu versprechen scheinen, zusammen, um den Familiensinn zu stärken und die „ordentlich“, d.h. standesgemäß Verheirateten und aus solchen Ehen hervorgegangenen zu einer engeren Verbindung zu vereinigen, mit der sie prunken kann. Und sie muß es erleben, daß die Zahl dieser „Ordentlichen“ bei näherem Zusehen schauderhaft zusammenschrumpft! Die einzige „Adlige“ des Kreises entpuppt sich als ein verarmtes Fräulein, das in Stellung ist und Zwirnhandschuhe trägt, der „dekorative“ Vetter Udo, ein schneidiger Kavallerieleutnant, hat seinen Attila mit dem Zivil des Weinagenten vertauschen müssen, der vermeintliche Großkaufmann vom Rhein ist ein Kleinkrämer untersten Ranges und die Gattin des weltmännischen Egon Lobschütz führt sich gar als Exzentrik-Tänzerin Fanny-Fanny vom Wintergarten ein. So wird der schöne Bund gesprengt, noch ehe er geschlossen, und die Tante von Meier verläßt mit den Einzigen, die ihrer würdig, einem hanseatischen Landrichter und einem Fräulein Klotilde, der „Tante mit den vornehmen Bekanntschaften“, zürnend den Familientag. Sehr ergötzlich und mit liebenswürdiger Bosheit schildert die Verfasserin in den folgenden Kapiteln: „Fanny-Fanny“, „Das unverschämte Fräulein“, „Tante Klotildens Brunnenbekanntschaft“, „Udo der Edelsozialist“ und „Onkel Felix“, die Vorgeschichte und die weiteren Schicksale der Helden dieser Familien-Komödie, wobei es weiter nicht verwunderlich ist, wenn die Unordentlichen, das arme „Fräulein“, die Tingeltangeltänzerin usw. sich als aufopfernde, seelisch starke Naturen erweisen, während die Ordentlichen sich allesamt sehr blamabel aufführen. Von besonderem Reiz ist in dem frisch geschriebenen Buche die originelle Gestalt des gelehrten Onkel Felix, der allen Leuten die Wahrheit sagt und dem es Vetter Udo, der Edelsozialist, zu danken hat, wenn er nach einer verzettelten Jugend noch ein Mann wird. Die einzelnen Geschichten, deren Grundstimmung Humor ist, obgleich sie keineswegs im landläufigen Sinne humoristisch sind, sind mit fein-satyrischen Zeichnungen von Hans Deiters geschmückt.
In: Hannoverscher Curier, 17.09.1912.
Immer mit dem gleichen Vergnügen begegnet man dieser so humorreichen, lebenskundigen und liebenswürdigen Schriftstellerin. Ich habe die Freude gehabt, schon manchen ihrer Romane von ganzer Seele über das Schellendaus loben zu können; dem vorliegenden neuen Werke erweise ich mit Vergnügen denselben Liebesdienst. Frau Niessen-Deiters löst diesmal die Romanform auf lustige Art in ein Geschichtenbündel auf, und eine kostbare Galerie närrischer, böser und guter Käuze stellt sich vor, denen die Verfasserin, als Verkörperung der ausgleichenden poetischen Gerechtigkeit, Strafe und Belohnung nach Verdienst zuteilt. Es ist nicht genug gesagt, wenn man in jede dieser Figuren verliebt zu sein behauptet; man lebt mit ihnen; glaubt sie seit Jahrzehnten zu kennen und lächelt bewegt über ihr Geschick und Mißgeschick. Auch die schwächeren Kapitel, z.B. das über Udo, den Edelsozialisten, der sich nachher dank einer großen Erbschaft so wunderbar zum Edelmenschen entwickelt, machen der Verfasserin noch hohe Ehre. Die feine Herzenskündigerin hat und wieder ein Buch voll Musik und Glockenklang, dabei doch auch voll hellem, echtem, kernigem Gelächter und überlegener Weltweisheit geschenkt. (r.n.)
In: Deutsche Tages-Zeitung, 28.09.1912
Autobiografisch-regionale Texte
Eine Kindheit im alten Düsseldorf
Von dem heutigen Düsseldorf, das als eine der schönsten Städte der Rheinlande gilt, weiß ich nichts zu sagen. Es ist mir fremd. Fremd geworden wie ein Gesicht, dessen liebe Züge man aus der Jugendzeit her genau im Gedächtnis trägt, das man zeichnen könnte, wenn man das Talent dazu besäße, in das man sich aber nicht mehr hineinfinden kann, wenn man es nach Jahren wiedersieht, weil aus dem schlichten Kindergesicht mit den einfachen Linien ein kompliziertes geworden ist – das Gesicht einer vornehmen, eleganten Frau.
Ach, mein Düsseldorf, nein, du bist es nicht mehr! Wenn ich jetzt auf meiner Fahrt nach der Eifel in Düsseldorf Halt mache, um das Grab meines Vaters zu besuchen, der draußen weit an der Golzheimer Heide seine letzte Ruhe gefunden hat, dann fahre ich durch lauter Straßen, die ich nicht kenne. Das sind lange, breite, wohlgepflegte Straßen, und die elektrischen Bahnen rollen, und die Autos tuten, und die Droschken beeilen sich; das ganze laute, hastige Treiben einer Großstadt umfängt mich. Und ich stehe verwirrt, und es wird mir so wehmütig: wo ist mein stilles, gemütliches, altes Düsseldorf geblieben? Es lebt nur noch in meiner Erinnerung.
Und so bitte ich denn die, die mit mir durch Düsseldorf wandern wollen, sich in die Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückzuversetzen, in denen noch die alte Akademie, das frühere kurfürstliche Schloß stand – unweit davon, wo jetzt die großartige Brücke herüberführt nach Krefeld – und mit schwärzlichen Augen hinab auf den Rhein blickte. Schön war sie nicht, die alte Akademie, und ich bin gewiß, die neue am Hafen ist auch ungleich zweckentsprechender, aber wenn man von der „Anderen Seite“ herüber nach dem düsteren Gemäuer blickte, dann machte sich das sehr malerisch, und es kroch einem zugleich an angenehmer Schauer über den Rücken. Da oben in jenem Saal, da – da ließ sich zuweilen die schöne Jakobe von Baden sehen, die unschuldig Gemordete. Sie eilte im weißen Nachtgewand mit fliegenden Haaren an den Fenstern vorbei und suchte ihren Häschern zu entkommen. Der Wind vom Rheine blies, er winselte und pfiff um die vorspringenden Simse – das war der Jakobe Klageruf, der immer noch nicht schwieg! –
Die Akademie brannte ab, als ich noch ein kleines Mädchen war. W a n n weiß ich nicht genau; ich weiß nur, dass ich die Masern hatte und starkes Fieber, und meine gute Mutter deshalb die Nacht an meinem Bettchen saß. Es mochte Mitternacht sein. Da ging ein Lärmen und Tuten, ein Schreien und Laufen auf unserm sonst so stillen Schwanenmarkt los, daß ich aus wirrem Schlummer aufschreckte. Halb war’s Wirklichkeit, halb Fiebertraum – läuteten nicht alle Glocken? Die eine dröhnend dumpf, die andere wimmernd hell: „Bimbam, bim bam bum!“ – Rettet, helft! Das alte Schloß brennt! Alle Bilder brennen! Alle Häuser rundum brennen! Ganz Düsseldorf steht in Flammen!
Meine Mutter hatte die Läden zurückgestoßen und das Fenster geöffnet – unser Zimmer lag zu ebener Erde – sie beugte sich weit heraus.
„Mutter, Mutter, brennen wir auch ab?!“ Oh weh, wie sollte ich wohl so geschwind weglaufen können, ich war doch krank! Meine Stirn glühte, und doch klapperten mir die Zähne, der Angstschweiß brach mir aus, wirre Gedanken jagten durch meinen schmerzenden Kopf. „Mutter, Mutter!“ – Da legte meine Mutter ihre kühle Hand auf meine Stirn: „Schlaf, mein Kind, schlaf! Was sprichst du denn von brennen?! Draußen sind Angetrunkene, die machen Lärm auf dem Schwanenmarkt!“
Aber am Morgen war’s doch wahr, am Rhein ragten ausgebrannte Mauern traurig in den noch von Qualm umdüsterten Himmel – das alte Schloß war nicht mehr.
Noch eine Weile standen seine Trümmer. Wir sahen sie, wenn wir zum Zolltor hinausspazierten, am Rhein entlang auf holperigem Pflaster, um zu den Äpfeln zu gelangen, die zur Herbstzeit gerade da aus den Kähnen geladen wurden und in Körben, wohlgeordnet in Reih und Glied, verlockend leuchteten. Ich habe nie mehr in meinem Leben solch schöne Äpfel gesehen, auch nicht in Bozen und Meran, dem gepriesenen Obstland. Es gab Reinetten, riesengroße-glattgrüne, und solche mit feinen Pünktchen; die Rabauen waren zwar grau nur und unscheinbar von außen, aber innen, ach, so aromatisch und mürb. Und da waren die lieben Borsdorferchen, die es jetzt gar nicht mehr gibt; klein, gelb mit roten Bäckchen, auf denen winzige Warzen saßen. Christkind! Christkind! Hei, das waren ja die Weihnachtsäpfel! Auf der einen Seite vergoldet, hängen sie am Christbaum, und wenn man das Schaumgold abreibt und hineinbeißt, dann weiß man ganz genau, wie Weihnachten riecht und schmeckt, dann ist man ganz voll von dem Zauber dieses wundersamsten aller Feste, an dem das Christkind in der Krippe liegt, und ich mit unserer katholischen Dienstmagd bei stockfinsterer Nacht vor Morgengrauen in die Jesuitenkirche tappte, um es mit heiligem Entzücken zu schauen. –
Das Kind hatte viele Feste im Düsseldorf der Vergangenheit. Noch lebt das Martinsfest, aber ich glaube kaum, daß es die Kinderherzen jetzt noch so begeistert wie dazumal. Die elegante Stadt hüllt sich nicht mehr in den Schmalzduft der Puffertkuchen, den ich noch immer rieche, wenn ich an Bolker- und Flingerstraße denke, an all die Gassen der Altstadt, in denen sich das Treiben des Martinsabends am konzentriertesten abspielte.
Da zogen wir um den Jan Willem auf dem Markt, und der alte Herr, auf dessen Allongeperücke immer so unendlich viele Spatzen saßen, sah ganz wunderlich-vergnügt drein beim Martinslämpchenschein. Sein mächtiger Gaul mit dem langen Schwanz hob die Hufe, als wollte er gleich mitstampfen: Lustig, lustig, trallerallalla!
Das helle Schirpen der Kinderstimmen war damals die einzige Musik, schrill und dünn klang es durch die Novembernacht, aber so fröhlich, so selig wie erster Lerchenwirbel im Frühlingsfeld; man kannte es damals noch nicht, von Musikchören begleitet zu werden. Den ausgehöhlten Kürbis, in dem ein dünnes Kerzchen brannte, hoch auf dem Stecken oder wie ein Körbchen, an dünnen Schnüren schaukelnd, in der Hand, so zog man aus. „Hier wohnt ein reicher Mann – Der uns wohl was geben kann!“ Es gab damals nicht so viel reiche Leute in Düsseldorf wie jetzt – mit dem Werden zur Industriestadt ist der Reichtum gewachsen - aber reich genug waren viele, um die vor der Tür singenden Kindertrüppchen zu beschenken: Puffertkuchen, Spekulatius, Printen, Äpfel, Nüsse und Kastanien, allerlei Leckers, das wir jetzt wohl kaum mehr als Leckerbissen erachten würden.
So oft ist vom Martinsabend berichtet worden in Geschichten und Bildern, das Gewimmel der im Dunkel leuchtenden Martinslichter hatte etwas Phantastisches, etwas Malerisches, Knaus und Vautier, damals die Größen der Düsseldorfer Genremalerei, hatten gewiß ihre Freude daran. Nun ist der Kürbis, wie so manches andere, zu seinen Vätern versammelt. Sterne, Monde, Sonnen, Lampions in allen möglichen Formen und Ausgestaltungen, leuchtend in Farben; die Papierlaterne aus dem Lande Japan hat den schlichten gelben und grünen Kürbis verdrängt, der in manchem Gärtchen, an mancher Böschung sorgsam gezogen wurde, von Kinderaugen ängstlich gehütet, von kleinen Händen fleißig begossen, damit er so groß, so dick wurde, dass man ihn dann kaum tragen konnte auf der Stange.
Im Rücken des Jan Willem auf dem Markt stand damals das Theater. Kein schöner Bau; ihm kann selbst meine Erinnerung keine verklärtere Gestalt anzaubern. Es war die reine Räuberhöhle, so eng, so finster, so unheimlich die engen Gänge, höchst feuergefährlich und miserabel ventiliert. Und doch, es war dasselbe Theater, in dem Immermann mit feinfühlender Hand Schätze der Dichtkunst enthüllte, und aus der Düsselstadt eine Stätte zu schaffen suchte, von der aus nicht nur Gemälde bis in alle Fernen gingen, sondern die auch geistig befruchtend auf die ganze literarische Welt Deutschlands wirkte.
In dieser schmutzigen, verkommenen Bude wirkte zu meiner Zeit freilich kein Immermann mehr, aber, o was gäbe ich darum, könnte ich noch einmal klopfenden Herzens zu jenem alten Musentempel pilgern, mit dem ganzen naiven Entzücken des Kindes, das Käthchen von Heilbronn in mich aufnehmen oder mit durstigem Ohr die göttlichen Klänge des Fidelio trinken! Man machte keine schlechte Musik in der alten Bude; das, was innen geboten wurde, stand mit dem Äußeren des Theaters in keinem Vergleich. Was an der Aufmachung fehlte, das ersetzten die Leistungen – oder war ich damals wirklich so kritiklos, daß ich mich jetzt im modernen Theater mit der raffinierten Ausstattung so sehr zurücksehne nach der rumpligen Bude am Düsseldorfer Markt?!
Das alte Theater stand noch eine Weile, als das schöne neue an der Alleestraße schon gebaut war; es wurde noch Sonntags drinnen gespielt zu ermäßigten Preisen. Dann verschwand es vom Erdboden. Ich weiß nicht, ob noch viele sich seiner dankbar erinnern, ich tue es jedenfalls; denn es hat mir selige Abende geschenkt, Abende, an denen meine Wangen glühten, meine Augen leuchteten, und ein vielleicht noch unbewusstes und doch schon drängendes Sehnen mein junges Herz erhob zu jenen Höhen, auf denen die Kunst wandelt. –
Von Martinslampen, Äpfeln und Theater ist’s nicht allzu weit zur Kasernenstraße, noch kann ich den Weg ganz gut finden. Da wohnte gleich am Anfang oder am Ende – je nachdem von welcher Seite man kommt – der Konditor Neuhaus. Der backte so prachtvolle Cremeschnitten – Gott, was waren die groß für einen Groschen! Und dann seine Weckmänner zum Nikolaus! Darin war er Meister. Ich weiß nicht, ob die jetzigen Weckmänner auch ein so leckeres Zitronatmaul haben und solch süße Schokoladenknöpfe bäuchlings herunter. Bei uns in der Luisenschule war’s Sitte, den Klassenlehrer oder die Klassenlehrerin zu Nikola mit einem Weckmann zu beglücken, und das Gaudium der Klasse war groß, und wir fanden uns ungeheuer witzig, als wir für unsere ältliche Mademoiselle dem Weckmann einen Zettel ins Maul einbacken ließen: “Wer warten kann – kriegt auch ’nen Mann!“
Ein Stückchen von Konditor Neuhaus die Kasernenstraße hinauf fingen die grauen Mauern der alten Kaserne an. Sie waren schon damals recht bröcklig, abgeplatzt, mit Kreide beschmiert, von unnützen Händen mit allerlei Fratzen verunziert. Und doch war es mir, als ich hörte: die alte Kaserne wird abgerissen, als sei es jammerschade um dieses Wahrzeichen von Düsseldorf. Ich freue mich, daß ich es in der „Wacht am Rhein“ festgehalten habe.-
Wieviele hundert Male bin ich an dir vorbeigegangen, du alte Kaserne! Auf meinem täglichen Schulweg. Aus den Fenstern lümmelten sich die Drillichjacken und pfiffen hübschen Mädchen nach. Auf dem großen Exerzierplatz, der offen an der Straße lag, nur durch eine Eisenstange abgegrenzt, ritten die Offiziere ihre jungen Pferde ein, und das schnarrende Kommando des wutschnaubenden Unteroffiziers reizte ebenso zum Zugucken wie das verzweifelte Beinwerfen der gedrillten Rekruten.
Ich bin selber oft in der alten Kaserne gewesen; zu Friedenszeiten freilich nur ein paar mal, als meine Schulgenossin, die Feldwebeltochter, mich heimlich mitschleppte, aber desto öfter in jenem großen Jahr, im Jahre Siebzig. Da lag die Kaserne voll von Verwundeten, meine Mutter pflegte darin, und die kleine Klara ging oft durch die Säle, half an schulfreien Nachmittagen den Nonnen den Kaffee, die Butterbrote austeilen und legte auch manchesmal dem todwunden Turko eine Traube zur Erquickung auf die Bettdecke.
O das waren glorreiche Zeiten für Düsseldorf! Ich glaube, jede Stadt wird sich jener Tage besonders rühmen – viel Begeisterung, viel Opferfreudigkeit – aber mir ist es, als wäre damals durch die Straßen und Sträßchen, durch Düsseldorfs Gassen und Gässchen ein Geist gewandelt, der Reiche und Arme, Hohe und Niedrige so zusammenführte, als sei da kein Abstand mehr. Ich sehe noch den alten Schuster Einbrod, wie er meinem großen Bruder, der mit in den Krieg mußte, die Feldstiefeln anmaß, und wie er, der sonst so Demütige, allzeit ans Knien Gewöhnte, sich plötzlich von den Knien erhob, seine gedrungene Proletariergestalt zu dem schlanken Jüngling aufreckte, ihm die Hand auf den Scheitel legte und ihn mit so feierlich-inniger Stimme segnete, als sei der Ausziehende sein eigener Sohn. Meine Mutter stand still dabei, dann gab sie dem Meister Einbrod die Hand und sagte: „Ich danke Ihnen!“ und mir, die sonst so gern über den kleinen krummen Schuster lachte, fiel es heute gar nicht ein, auch nur ein bisschen zu lächeln.
Über die Schiffbrücke, die vom Zolltore hinüberführte auf die „Andere Seite“ und immer dann gerade ausgefahren wurde, wenn man hinüber wollte, marschierten am tauigen Frühmorgen die jungen Söhne der Stadt nach dem kleinen Bahnhöfchen Oberkassel. Da wurden sie verladen. Es gaben ihnen viele das Geleit: Herren und Damen, Männer und Frauen; e i n e Familie war es, die da von ihren Kindern Abschied nahm.
Wir hatten einen Rosenstrauch im Garten, eine ganz gewöhnliche weiße, halbwilde Rose, aber der Strauch blühte immer so reich, daß er wie beschüttet stand mit lauter schlohweißen Blumen. Von diesen Rosen hatte meine Mutter dem ausziehenden Sohn eine an den Helm gesteckt. – „Der kommt nicht wieder“, flüsterte man bang, „eine Totenrose!“ – Es schellten viele bei uns an, nicht bloß die Nachbarn, nein, auch Leute, die man gar nicht kannte, frugen treulich nach dem Herrn Ferdinand. Wenn die kleine Klara auf der Steinstufe der Haustür saß und ihre mühseligen Viermal’rum am Strumpfe strickte oder Charpie zupfte, dann wurde oft gefragt: „Habt ihr Nachricht von deinem großen Bruder, wie geht es ihm?“
„Janz jut“, sagte ich dann jedesmal. Weiter wusste ich nichts. Ich war zu jung, um den Ernst jener Tage zu begreifen. Es machte mir Spaß, dass ich mir jetzt soviel allein überlassen war, es machte mir noch mehr Spaß, in der Kaserne herumzuhuschen; es grauste mich nicht vor all den Verwundeten, die da Bett an Bett, Freund und Feind dicht nebeneinander lagen, und es grauste mich auch nicht vor den Papptafeln, die auf meinem Weg zur Schule vor manchem Haus im Winde Schaukeln sah: „Hier sind die schwarzen Pocken.“ Meine Mutter ließ sich impfen, ich wurde geimpft, alle Welt ließ sich impfen. Von der Größe jener Zeit, von ihrer Angst und Not aber war keine Spur in meinem Kinderherzen. Nur zwei Momente sind mir erinnerlich, deren Eindruck ich heute noch fühle.
Die Schlacht von Spichern war geschlagen, unsere Neununddreißiger waren mit dabei – mein Bruder! Eine Karte kam von ihm, mit Bleistift gekritzelt: „Liebe Mutter, ich bin gesund, aber viele von uns sind gefallen, Unteroffizier Wiegmann auch.“ Und am selben Tag kam die Mutter jenes jungen Wiegmann, eine in Düsseldorf berühmte Malerin, zu meiner Mutter in die Kaserne. Sie stürmte herein, von Angst gepeitscht, ihre schwarzen Haare flogen um das todblasse Gesicht. Ich stand neben meiner Mutter, fasste unwillkürlich nach deren Kleid, mir wurde ganz angst. Wie verwildert die Augen der Frau blickten!
„Sie haben Nachricht von Ihrem Sohn, hörte ich – von meinem Sohn habe ich keine! Ich habe keine! Wissen Sie, sagen Sie – oh, wissen Sie, lebt mein Sohn?!“ – Ich fühlte meine Mutter erzittern, ich zitterte auch. Es faßte mich das Leid jener Zeit an, zum erstenmal. - -
Und dann kam der zweite September. Vater und ich saßen ahnungslos beim Abendessen, die Mutter war noch in der Kaserne, da erhob sich draußen auf dem Schwanenmarkt ein Rufen, ein Durcheinanderschreien. Das war kein gewöhnlicher Lärm. Neugierig wollte ich aufspringen, da riß auch schon unsere Nachbarin, die Regierungsrätin, die zwei Söhne im Feld hatte, die Tür auf; ihr Gesicht strahlte, und ganz deutlich drang es jetzt von außen zu uns herein: „Sieg – großer Sieg - Napoleon gefangen - Krieg aus!“ Bum – da fiel auch schon ein Kanonenschuß – noch einer, noch einer! Und jetzt fingen alle Glocken an zu läuten, die evangelischen und die katholischen. Und aus ihren Häusern stürzten die Leute, sie lachten, sie weinten, sie fielen einander in die Arme auf offener Straße: o Jubel, o Jubel, nun war der Krieg gewiß bald aus!
Mein Vater eilte zur Mutter in die Kaserne, ich blieb allein am dunkelnden Abend. Und ich setzte mich auf meinen Stammsitz, die Haustürschwelle, da wollte ich die Eltern erwarten. Der Lärm auf dem Schwanenmarkt war jetzt verstummt, alles war in die innere Stadt gelaufen; es war still unter den Lindenbäumen, noch sommerlich-warm, und in den wilden Grasflächen unseres Platzes zirpten die Grillen. Und dunkel war’s, nur an je einer Ecke des Vierecks brannte eine Laterne. Ich war fast eingeschlafen, schon senkte sich mein müder Kopf auf die Knie – da – plötzlich ein Zischen, ein Knattern! Am schwärzlichen Nachthimmel fuhr ein Stern in die Höh’, seinen langen bläulichen Schweif schleppte er über die Dächer. Und nun noch so einer, noch einer! Raketen – Freudenlichter, von den Bürgern entzündet, Sterne des Jubels, so groß und leuchtend, daß sie die kleinen Sternchen des Himmels beschämten. Und jetzt aus der Hohen Straße, aus der Bilker Straße heraus, vom Karlplatz her, ein Sausen, ein Brausen, ein Meer von Stimmen, Hunderte, Tausende, aber sich einend zu gewaltigem Singen: „Nun danket alle Gott!“
Ich saß still, wie geduckt, und faltete meine Hände. Es rührte an die kleine Seele des Kindes die große Stunde – da empfand ich mit Schaudern auch das Glück jener Zeit. -
Als der Krieg zu Ende war, freilich nicht gleich nach Sedan, sondern erst lange nachher, wurde manches anders in Düsseldorf. Es wurde vieles gebessert auf Plätzen und Straßen, unser Schwanenmarkt zum Beispiel bekam einen Springbrunnen in seine Mitte, und das war mir damals das Interessanteste. Aber noch immer stellte man abends die Eimer mit Kehricht und Küchenabfall, die dann nächtlicherweile abgeholt wurden, draußen vor die Haustür. Noch immer fluteten die Rinnsteine breit, noch immer konnten wir ungestört Seilchen auf der Straße springen, Stelzenlaufen und Doppschlagen, und noch stieg allfrühjährlich, wenn die Eisschollen auf dem Rhein schmolzen, das Grundwasser in unseren Keller.
Dieses Wasser im Keller ist eigentlich meine fröhlichste Erinnerung an Düsseldorf. Wenn ich nachts aus meinem tiefen Kinderschlaf aufwachte, geweckt durch dröhnende Kanonenschüsse vom Rhein her, dann freute ich mich: aha, jetzt waren die Eisschollen, die wir gestern noch fest wie vor Anker liegen sahen, ins Treiben gekommen. Ha, wie der Westwind blies! Er drehte alle rostigen Riegel, daß sie jammernd quietschten, er klapperte mit allen Läden und drückte gegen die Mauern, daß man sein Ungestüm bis mitten hinein in die Stube fühlte. Aber er war dabei mild, warm-lösend, er brachte den Frühling mit auf seinen Schwingen. Fort mit dem Eis, immer - runter den Rhein – krach, gegen die Schiffbrücke an – schwupp, jenseits ans flache Ufer, dass die Wiesen bald ganz unter Wasser standen. Die „Andere Seite“ sah aus wie ein See; die Schiffbrücke war ausgefahren, sie hätte dem treibenden Eis nicht standgehalten, die Oberkasseler drüben waren ganz von der Stadt abgeschnitten.
In einer solchen von splitternden Eisschollen durchkrachten, von Kanonenschüssen durchdröhnten, sehr dunklen Nacht war es, dass ein Brückenwärter, der sich nicht rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatte, mit einem losgestoßenen Ponton den Rhein hinabgetrieben wurde. Er rief, er schrie; niemand konnte ihm zu Hilfe kommen, ein Nachen wäre zerquetscht worden. Vom reißenden Wasser getrieben, in wirbelnder Fahrt, entschwand er gen Holland. Ich glaube nicht, daß ihm weiter große Unheil geschehen ist, aber jedenfalls habe ich immer an ihn gedacht, als ich später in der Schule das schöne Gedicht auswendig lernte: „Wir hatten musizieret in der Frühlingsnacht, - Wir gingen über die Elbe, als das Eis schon kracht.“ –
Meist aber waren die Eindrücke der Düsseldorfer Wassersnot mir höchst erheiternde. Die Leute, die unten am Zolltor wohnten, hatten ihr Parterre preisgegeben und hockten in ihrem oberen Stockwerk. Da saßen sie nun wie gefangene Vögel im Bauer der obersten Stange, und das Futter musste ihnen von außen durch die Fenster zugereicht werden. An langen Stöcken schwankten die Eimer mit Wasser, schaukelten die Körbe mit Kartoffeln und Brot. Ein Nachen kreuzte beständig in dem bedrohten Stadtteil. Bergerstraße, Flingerstraße, Bolkerstraße, Hunsrück-, Ratinger- und Mühlenstraße und wie sie alle heißen, alle unter Wasser. Um den Jan Willem auf dem Markt spülten hochgehende Wogen, und selbst bis zur Alleestraße hin schwuppte die schwarze Tunke. Die Laternen, die man nicht mehr hatte ausdrehen können, brannten flinzelnd in den Tag hinein; auf schwankenden Laufbrettern stahl man sich von einem Haus zum anderen, die Straßenjungen patschten barfuß mit aufgekrempelten Hosen, die feinen Herren schlugen die Beinkleider um, und die Damen hoben die Röcke so hoch, dass man ganz genau wußte, wer dünne und wer dicke Waden hatte. Das Allerkomischste war mir aber, daß mein Vater, mein ernster Vater, in einen Nachen steigen und sich herunterfahren lassen mußte zur Regierung oben an der Mühlenstraße.
Bei uns am Schwanenmarkt kam die Magd wie eine Nixe aus dem Keller herauf; ihre nassen Kleidersäume tropften. Oh je, da konnte man nun nicht mehr herunter, selbst die Kartoffeln, die doch am höchsten lagen, waren schon bespült, das Sauerkraut schwamm bereits in seiner Ecke und hinten im Kohlenkeller stand eine schwärzliche Brühe. Die Kellertreppe herauf retteten sich die Ratten, die vom nahen Lopohl her leider immer die Nachbarschaft besuchten; entsetzt aufschreiend schlug ich einmal eine auf der Treppe tot. Aber es hielt uns weder das Ungeziefer, noch die Gefahr, gründlich naß zu werden, davon ab, in einer Waschbütte, mit zwei Holzscheiten rudernd, unten im Keller Wasser zu fahren. Es war uns zwar streng verboten; höchstens wurde uns gestattet, Nussschalen mit brennenden Wachslichtstückchen schwimmen zu lassen und an die tiefen kleinen Gondeln, die von der Treppe abstießen und bald wie märchenhafte Leuchten im fernen Dunkel des Gewölbes glimmten, unsere helle Freude zu haben.
Nun wird es wohl kein Wasser in den Düsseldorfer Kellern mehr geben, und wie diese Freude meiner Kindertage sind auch die Wiesen verschwunden, die sogenannten Hammer Wiesen, auf denen das fette Vieh der Neußer Viehhändler graste, auf denen wir den jungen Sauerampfer suchten, Butterblumen und Wiesenschaum, und unter den Weidenbüschen am Rheinufer die ersten duftenden Veilchen fanden. Ich bin im Frühjahr fast an jedem schulfreien Nachmittag mit meinen Freundinnen dorthin ausgezogen, jede von uns mit einem Körbchen und mit einem Stecken bewaffnet, um dem neugiereigen Vieh, das oft zudringlich wurde, eins aufs Maul zu geben.
Ich begreife es jetzt eigentlich nicht, daß man mich damals so sorglos gehen ließ. Man könnte das jetzt gar nicht mehr. Nicht nur, daß von den Wiesen herzlich wenig übriggeblieben ist – ein kümmerlicher Rest einer uns einstmals unbegrenzt erscheinenden üppig-grünen Weite – es ist auch viel zu unsicher geworden um die große Stadt herum. Fabriken über Fabriken. Schornsteine überpusten den Umkreis mit schwarzem Staub, Arbeiter aus aller Herren Länder kennen uns nicht, und wir kennen sie nicht.
Was wohl von den Spaziergängen noch übrig geblieben sein mag, die ich damals mit meinem großen Bruder machte? In den fetten Wiesen auf der „Anderen Seite“ haben wir herrliche Sträuße gepflückt, dann im Wirtshaus Makai gegessen und Schwarzbrot dazu; wir sind dann weiter gewandert über einsame Wiesen, die nur ein Kuhmuhen belebte, der Knall einer Hirtenpeitsche oder das Schnalzen eines Fisches in dem uns begleitenden Strom, bis Heerdt und Neuß, und sind dann mit einer Ponte übergefahren nach dem Kappes – und Spargeldorf Hamm.
Man kam rascher hinaus ins Freie; wo jetzt lange Häuserzeilen sich recken, standen damals lauter Kohlköpfe. Das evangelische Krankenhaus lag in weiten Feldern von Kartoffeln und wogendem Korn. Landschaftlich schön waren die Felder ums alte Düsseldorf gewiß nicht, aber sie waren voll des köstlichen Duftes der tragenden Erde, der Fruchtbarkeit.
Viele, viele glückliche Wege sind wir gegangen, mein großer Bruder und ich; er führte mich an der Hand wie sein Kind. Im Ellerer Busch, am sumpfigen Wasserlauf pflückte er mir Vergissmeinnicht, im Aaper Wald suchten wir Brombeeren und im März schon den Waldmeister. In Grafenberg, wo noch keine einzige Villa stand, nur ein paar ländliche Wirtshäuser, saßen wir in der Schaukel; bis Gerresheim, Erkrath, Hochdahl sogar führten uns unsere Ausflüge. Ich sah da jetzt im Vorüberfahren mit der Eisenbahn einen Wald von Schloten sich recken. Gott sei Dank, die gab’s zu meiner Kinderzeit eigentlich erst im Bergischen Land. Gerresheim, Erkrath stille Dörfer; bachdurchsickerte Wiesen, lauschige Buchenwälder, aus denen das Reh äugte. Meine Mutter fuhr alle Jahre einmal – es war im Frühjahr, wenn ich nicht irre – mit einer Bekannten nach Elberfeld zum großen Inventurausverkauf. So wurden die Kleidchen für mich, die Weihnachtsgeschenke für die Dienstboten, mancherlei, was man im Jahr gebrauchte, in Elberfeld gekauft; und Knöpfe, Litzen, Band, alles gleich en gros. Als ich einmal mitgenommen wurde und von oben herab in das enge düstere Tal von Elberfeld hinunterblickte, an dessen Hängen die Häuser mit den schwarzen Schieferdächern übereinander kletterten, und lange Reihen von ganz gleichen Arbeiterwohnungen mich angähnten, da wurde mir ganz beklommen. Der Himmel war grau, ein feiner Regen nässte – und in unserem Düsseldorf hatte die Sonne doch so hell geschienen! Mich dünkte, es sei ein Hexenkessel, in den ich hineingeworfen werden sollte: enge Gassen, düstere Höfe, rauchende Schlote. Und schwarze Gestalten im Flammenschein. Und ein Dunst, ein Qualm, ein stickiger Brodem und ein Fluß, so schwarz wie Tinte, von dem ich es nie, niemals glauben würde, dass er ein Nebenfluß unseres hellgrünen Rheines sein sollte. Die Leute eilten mit Regenschirmen und Gummischuhen; betrübt senkte ich den Kopf und kniff die Augen zu: wäre ich doch lieber daheim geblieben, hätte ich doch ruhig abgewartet, bis der Korinthenstuten, den meine Mutter immer von Elberfeld mitbrachte, und der sehr lecker war, zu mir kam!
Mich verlangte nach Hause, nach der freundlichen, hellen, liebenswürdigen Stadt an der Düssel, deren ich auch jetzt, nach so vielen Jahren, noch gedenke mit einem Lächeln der Rührung, mit einem Nicken der Freude darüber, daß sie meiner Kindheit einst Heimat war.
In: „Rheinische Erzähler“. Agenda des Hauses Leonhard Tietz. Düsseldorf 1914, S. 27-34)
Die drei Brauten
Ich soll etwas von mir selber erzählen, gleichsam in den Spiegel schauen, und, wie ich mich darin sehe, ehrlich beichten – es fällt mir schwer. Denn so ein einfaches Frauenleben, das am liebsten zwischen den Wänden des eigenen engumhegten Heimes dahinfließt, was kann das wohl an reichen Bildern zeigen?! Es wirft nicht Glanz noch Schimmer ins Spiegelglas; es gleicht der Flut in einer friedvollen Bucht, an der der müde Mann gerne sitzt und ruht und lachende Kinder spielen.
Und das was meine Augen nachdenklich gemacht hat und meinen Mund, trotzdem er ganz herzlich lacht, ernst, das was ich innerlich erlebt, das steht ja alles in meinen Büchern; denn welcher Autor spänne nicht eigenen Faden auf seinem Webstuhl und knüpfte diesen an fremde Fäden an und schlänge ineinander und durcheinander, bis daß er selbst nicht mehr weiß, wo Eigenes aufhört und Fremdes anfängt.
Also von mir möchte ich nicht reden, wohl aber von dem, was meinem Herzen teuer ist: von meiner Heimat. Vielmehr: von meinen Heimaten. Mir geht’s, wie es Onkel Bräsig ging – ich habe „drei Brauten“. Und wie ein Mann um die Liebste wirbt, so werbe ich um die drei; aber welche von ihnen meine Madame Nüßlern ist, die Heißgeliebteste und Ewiggeliebte, das verrate ich nicht. –
Ich sehe in den Spiegel – – – da fließt klar und leise die liebe Mosel! Wie ein blaues Band schlingt sie sich grünen Bergen eng um die Füße, im schwärzlichen Schiefergestein wachsen Reben, Stock bei Stock, dicht gesetzt, wie im Plattland die Kartoffeln. Weiße Städtchen hüben und drüben, in denen der Frühling früher und goldner einzieht als anderswo, in denen großdoldiger lila Flieder in Bündeln über bunte Gnadenbilder hängt und tiefbrauner Goldlack und rote Federnelken – alles Farbe, alles Duft.
Und hinter den lachenden Rebenhügeln tauchen die runden Eifelkuppen auf, steil führen die Pfade hinan. Die Ebereschen, die den Chausseerand säumen, lassen weiße Mooszipfel im rauen Regenwind flattern, ernste Maare ruhen schweigend im vulkanischen Bett, endlose Wälder schlagen die dunklen Wogen um einsame Dörfer, verlorenen Heiden träumen im blendenden Sonnenglanz. Jungfräuliches Land noch, das im Dornröschenschlaf des erlösenden Kusses harrt – weltenfern, weltenweit das rührige Leben. Nur Kirchenglocken dröhnen durch die Stille, und der herbe Eifelwind trägt diesen einzigen Klang hierhin und dorthin, allüberall hin.
Die Glocke mit der mächtigsten Stimme hängt zu Trier; da ruft sie vom Dom, eine beredte Zeugin der uralt-eingesessenen, siegreichen Kirche. Und doch ist‘s nur ein Katzensprung von da zur Porta nigra; Christentum und Heidentum treten sich in Trier fast auf die Füße. Ich habe mir just den schönsten Winkel der ganzen schönen Rheinlande zum Geborenwerden ausgesucht. In Trier, unweit der „Poort“, wie das Römertor im Volksmund heißt, stand meine Wiege; sie schaukelte im Takt mit den frommen Kirchenglocken, ich schlummerte süß bei deren Schall, und doch war ich ein Ketzerkind.
Meine Amme, die schwarze Anna, war eine echte Tochter der Eifel. Als sie in meiner Mutter Wochenstube, hinauf in den ersten Stock, geführt wurde, traute sie sich dort nicht von der Türe fort; es war nicht ländliche Schüchternheit, wie man anzunehmen geneigt war. Die schwarze Anna hatte noch niemals ein Haus mit mehreren Etagen betreten; nun, da die Dielen unter ihren Nägelschuhen knarrten, fürchtete sie, durchzubrechen, und zitterte für ihr Leben. Auch von der Reinlichkeit hatte sie merkwürdige Begriffe; es dauerte eine ganze Weile bis man ihr abgewöhnte, auf einen Zipfel der Windel zu spucken und hiermit ihrem Pflegling das Gesichtchen zu waschen.
Mit der trefflichen Milch dieser schwarzen Anna habe ich schon die Liebe zu meiner ersten Braut eingesogen. Tief, tief bis ins Innerste erfüllt die mich, zäh ist sie mir im Herzen eingewurzelt, wie eine starke Tanne im Eifelforst, fest ist sie, wie der festeste Stein der heimatlichen Felsen. Und wenn ich so ganz still für mich sitze, dann glaube ich oft die Glocken des uralten, heiligen Römertrier zu hören, wie sie voll und sonor über die uralte und doch jugendschöne Mosel schwingen und in den Eifelbergen verhallen. Ich höre sie, wo ich auch bin; ihr Klang kommt mir nicht aus den Ohren. Immer wieder rufen sie mich, Jahr um Jahr; ich glaube, sie läuten mir auch bis zum Ende. –
Da ich anfing die Schule zu besuchen, wurde mein Vater als Oberregierungsrat nach Düsseldorf versetzt. Das war eine Veränderung! Von der sanft gleitenden Mosel zum breitflutenden Rhein, aus der Stille des kleinen Trier, wo das Gras zwischen den Pflastersteinen wächst, in das heitere Leben der eleganten Gartenstadt!
Und doch war es noch nicht das schnellwachsende, großstädtische Düsseldorf der letzten anderthalb Jahrzehnte; man kannte noch jeden, der in der Straße wohnte. Man lief Stelzen und sprang Seilchen vor der Haustür, man kletterte über Gartenmauern und prüfte des Nachbars Birnen; man machte im Abenddunkel „Schellemännkes“ und lauschte klopfenden Herzens, glühend vor Aufragung hinter dem nächsten Hausvorsprung auf das Schelten der Magd, die , wütend über das Reißen an der Klingel, öffnete , und, fand sich niemand draußen, noch wütender zukrachte.
Noch flutete der Rinnstein neben dem Trottoir, der hochgeschossenen Backfisch hat verschiedentlich nähere Bekanntschaft mit ihm gemacht, wenn er, entrückten Blickes in die Luft starrend, sich ein märchenhaftes Glück der Zukunft zurechtphantasierte.
Und all die Feste! St. Martins-Abend – „Lustig, lustig, trallerala, heut ist Martins Abend da!“ – die ganze Stadt roch nach Puffertkuchen und wimmelte von Kürbissen und bunten Laternen. Keine Eltern so arm, dass sie ihrem Kind nicht ein buntes Papierballönchen gekauft hätten, in dem das Kerzchen flackerte. Und die Weckmänner auf St. Nikola, Korinthenaugen hatten sie und eine Tonpfeife im breiten Maul! Die Bratäpfel und Kastanien, die in der Herdröhre zischten und knackten, wenn der erste Schnee fiel! Das Suchen nach Sauerampfer und Veilchen auf den Hammer Wiesen! Das Rheinbaden in der primitiven Bretterbude an heißen Sommertagen! Und nicht zu vergessen: das Grundwasser, wenn der Rhein hoch ging!
Was den Ältern höchsten Ärger schaffte, war uns Kindern höchste Wonne. Eine dunkle Flut schwamm im Keller, wir mitten auf dem Weltmeer in einer Bütte, Holzscheite die Ruder; Robinson war nichts gegen uns. Und wenn gar der Rhein unterm Zolltor durchlief, die Straßen der Altstadt überflutete, dem alten Jan Willem auf dem Markt die Füße wusch, die Bewohner der anliegenden Häuser in die oberen Etagen jagte, wenn kreuzende Kähne die Flüchtlinge durch Eimer an der Stange mit Speise und Trank versorgten, dann kannte unser Jubel keine Grenzen.
Und noch lacht mir das Herz, wenn ich der Freuden gedenke, die, zwölf Jahre hindurch, die zweite Braut mir bot. Es ist mein Wunsch, dies heitere Bild Düsseldorfer Lebens in einem nächsten Roman festzuhalten.
Mein lieber Vater starb; ich war eben erwachsen, das Bisherige trat zurück. Meine Eltern stammen beide aus der Provinz Posen, daher, wo man sich, wie man in dem von der Natur so bevorzugten Rheinland denkt, Hasen und Füchse Gutenacht sagen. Da kam ich nun hin.
Eisenbahn gab es nicht bis zum Gut der Verwandten, der Wagen wartete auf der kleinen Station; endlos gings durch Sand und Korn und Rübenfelder, und weiter durch Rübenfelder, Korn und Sand. Rebhühner schwirrten auf, wenige Dörfer zeigten sich, die Räder holperten in ausgefahrenen Landweggeleisen, und der Himmel stülpte sich über das flache Land, wie eine Glasglocke über den Teller.
Hier soll ich bleiben?! Fast wars ein Angstruf. Und doch, wie schön ist auch dieses flache Land! Inseln gleich liegen die Gutshöfe im Meer der Felder, abgeschlossenen Reiche für sich, jeder Gutsherr ein König.
Weit schweift der Blick über die nährende Erde: hier wächst unser Brot. Goldenen Ähren wiegt der Sommerwind, der Kiefernwald blaut in der Verne; am Horizont der Ebene sieht man die Sonne aufsteigen und versinken, rosige Wolken schwimmen im verklärten Glanz.
Meine dritte Braut ist keine Schönheit auf den ersten Blick, man muß sie näher kennen lernen. Und das habe ich getan. Polnisch und deutsch hat sie zu mir gesprochen. Die, freilich nur unoffiziell geschwungene Peitsche mit den verknoteten Lederriemchen, die so empfindlich die gebückten Rücken der Polaki trifft, habe ich ebenso gut kennen gelernt, wie das gütig-patriarchalische Regiment, das noch auf dem , weit über hundert Jahre der Familie gehörenden, deutschen Stammgut geführt wird.
Die Kosiniery in Schlapphut und rotem Hemd traf ich im Feld und auch die deutschen Schnitter; fröhliche und verdrossenen, aufrührerische und zufriedene, stupide und intelligente Arbeiter sind an mir vorübergezogen. Die Zeit ist mir nie lang geworden. Man bangt vor dem Gewitter und ersehnt tränkenden Regen für das verdorrte Land, man grämt sich wegen der Disteln im Acker und jauchzt jedem glücklich eingebrachten Fuder zu. Die Erntekrone wird dem Herrn vors Haus gebracht, „Nun danket alle Gott!“ erklingt es von unmelodischen Stimmen; gleich darauf quiekt die Fiedel und parpt die Harmonika, der Knecht schwingt die Magd auf der Tenne im Erntetanz, derweil die Alten trinken.
Ich aber schlich mich von dannen, hinter die Scheuer und weiter über die Äcker bis in den blauen Kiefernwald. Da blieb ich stehen im Heidekraut. Harziger Duft umschwebte mich wie eine Wolke, und in der Wolke kam ein Gruß jener anderen Kiefern, jener rotstämmigen, knorrigen Gesellen, die auf Eifelheiden wachsen. Natur ist immer verwandt, und Bauer ist Bauer, und Mensch ist Mensch. –
In West und Ost und am Niederrhein wohnen so meine drei Brauten. Einer jeden von ihnen gehört mein Herz, einer jeden danke ich viel Glück, allen zusammen aber mein Höchstes – meine Kunst.
Drei Brauten – und wenn ich’s recht bedenke, bin ich Bräsigen doch noch über, ich habe eigentlich vier. Die vierte Braut ist Berlin. Aber nein, was sage ich denn?! Keine Braut! Mit Berlin bin ich – verheiratet!
In: Das literarische Echo, 3.Jg. 1900/01, Sp. 313-316