Frauen-Kultur-Archiv

Düsseldorfer Autorinnen der Vergangenheit
Leonore Niessen-Deiters (1879-1939)

Biografie

Am 22. November 1879 in Düsseldorf geboren, verbrachte Leonore (Nora) ihre Jugend im elterlichen Haus auf der Grafenberger Allee 64. Durch die Mutter gefördert, die aus England stammte und mit Walter Scott verwandt war, entwickelte sie literarische Neigungen. Vom Vater, dem Landschaftsmaler Heinrich Deiters, erhielt sie früh Malunterricht, um die Tradition der Familie später auch als Beruf fortzusetzen.

In dem von Heinrich Deiters verfassten Festspiel zum 50. Jubiläum des Malkastens spielte sie 1898 die Düsselnixe. Nora hatte eine enge Bindung zu ihrem Bruder Hans, dem späteren Kunstmaler. Sie absolvierte die Marienschule. Einige frühe Prosastücke und Gedichte wurden in den folgenden Jahren in Düsseldorfer Zeitungen abgedruckt.

Bedingt durch die Heirat mit dem Kölner Rechtsanwalt Dr. J. Niessen zog sie 1903 nach Köln und widmete sich nach der erfolgreichen Veröffentlichung der Erzählung „Jan Schüddeboom“ in der „Kölnischen Zeitung“ ganz der Schriftstellerei. Gedichte veröffentlichte sie weiter in Düsseldorfer Zeitungen.

Auf den 8. Kölner Blumenspielen, von der Literarischen Gesellschaft durchgeführt, wurde sie 1906 zur Blumenkönigin gekürt in Anerkennung ihrer lyrischen Leistungen. Bei der Enthüllung des Kinkel-Denkmals in Bonn huldigte Leonore Niessen-Deiters der Bonner Autorin Johanna Kinkel.

Im Cotta-Verlag erschien 1907 ein erster Erzählband „Leute mit und ohne Frack“, mit Scherenschnitten von Hans Deiters. Die „Neue Hamburger Zeitung“ prägte dafür den Begriff „poetische Silhouetten“: „Ihre Wirkung beruht wie die Silhouette auf strenger Beobachtung einerseits und virtuoser Beherrschung eines knappen einzigartigen Ausdrucksmittels andererseits“ (1. März 1908). In der „Kölnischen Zeitung“ erschien eine Reihe weiterer humorvoller, satirischer bis ernster Kurzgeschichten, die bei Cotta ein Jahr später im Band „Mitmenschen“ gesammelt wurden.

Die Autorin trug ihre Texte vor der Literarischen Gesellschaft in Köln zu Beginn des Jahres 1910 vor, des Weiteren im Kölner Frauenklub und im Düsseldorfer Malkasten. Ende 1910 erschien ein weiterer Erzählband „Im Liebesfalle“. Dazu führte Karl Freiherr von Perfall in der „Kölnischen Zeitung“ aus: „Neben ihrem graziösen, das Leben mit gutmütiger Ironie betrachtenden Humor zeigt sie auch diesmal, dass sie recht wohl, wie jeder echte Humorist, in den Ernst des Lebens hineinblicken und mit beweglicher Stimme uns zum Mitleid wirksam auffordern kann“ (23. Dezember 1910).

Unter „Belletristische Kleinkunst“ fasste die „Kölnische Zeitung“ den 1912 in der Deutschen Verlags-Anstalt erschienenen Band „Die unordentlich verheiratete Familie“, der 1913 bereits die 3. Auflage erreicht hatte. Ihr erster Roman erschien 1912, „Der Faun“, ein Liebesroman im Düsseldorfer Malermilieu, der ein Malkastenfest von 1888 zum Ausgangspunkt hat. „Treffliche Milieu-Schilderung und gut gesehene Gesellschaftsbilder aus dem Leben der rheinischen Kunststadt“ sah die „Wiesbadener Zeitung“ darin gestaltet (4. Mai 1913).

Eine stark deutsch-nationale Gesinnung fand ihren ersten Ausdruck im Band "Die deutsche Frau im Auslande und in den Schutzgebieten"(1913).

Auf einer Südamerikareise, die sie 1914 im Auftrag der „Kölnischen Zeitung“ unternahm, lernte sie den Juristen, Historiker und Diplomaten Ernesto de Quesada kennen. Im ersten Kriegsjahr verfasste sie die deutsch-patriotischen Artikel „Zum großen Krieg“, für die sie ca. 12 Veröffentlichungsorgane fand. Als „Kriegsbriefe einer Frau“ erschienen sie 1915 in Buchform. In verschiedenen Städten hielt sie Vorträge über „Deutsche Frauen als Kulturträgerinnen im Ausland“. Sie war Mitbegründerin des Auslandsbundes Deutscher Frauen. Auch in der politischen Flugschrift „Krieg, Auslandsdeutschtum und Presse“ schlug sie nationalkonservative Töne an.

Nach der Scheidung von ihrem ersten Mann zog sie 1919 nach Buenos Aires zu Ernesto de Quesada. Sie veröffentlichte in den folgenden Jahren sowohl in deutschen Zeitungen und Zeitschriften, an erster Stelle in der „Kölnischen Zeitung“ und in der Illustrierten Wochenschrift „Reclams Universum“, als auch in deutsch-argentinischen, zum Beispiel in der „Deutschen La Plata Zeitung“. Leonore N.-Deiters de Quesada, wie sie jetzt ihre Artikel zeichnete, wendete sich mehr und mehr dem Kulturjournalismus zu. Eine große Besprechung von Oswald Spenglers „Untergang des Abendlands“ erschien 1922, eine Studie über die Nibelungen 1923, ebenso eine über Wagner und Mathilde Wesendonk (die beiden letztgenannten auf Spanisch). Sowohl mit dem Philosophen Oswald Spengler als auch mit dem Schriftsteller Rudolf Herzog waren sie und Quesada befreundet.

Von Spiez in der Schweiz aus, wo sie inzwischen in der Villa Olvido beheimatet war, knüpfte sie 1930 wieder Kontakte zur „Kölnischen Zeitung“ und zur „Neuen Deutschen Frauenzeitschrift“ und veröffentlichte Auszüge aus ihrem „Seetagebuch“. (Das Manuskript dazu befindet sich im Teilnachlass im Frauen-Kultur-Archiv).

Im Februar 1934 starb Ernesto de Quesada, nachdem er seine Bibliothek von 82000 Bänden dem Ibero-Amerikanischen Institut in Berlin geschenkt hatte. Aus dieser Zeit haben sich Gedichte von ihr erhalten. Am 29. Juni 1939 starb die Autorin mit 60 Jahren nach langer Krankheit in Spiez.

© Ariane Neuhaus-Koch, Frauen-Kultur-Archiv

Texte der Autorin

Eine Denkmalsenthüllung in Düsseldorf (1914)

„Die Stadt Düsseldorf ist sehr schön, und wenn man in der Ferne an sie denkt und zufällig dort geboren ist, wird einem wunderlich zu Mute. Ich bin dort geboren, und es ist mir, als müsste ich gleich nach Hause gehn. Und wenn ich sage, nach Hause gehn, so meine ich die Bolkerstrasse und das Haus, worin ich geboren bin.“

Als ich das zum ersten Mal las, war ich ein Kind und hockte mit glühenden Backen über dem Buch Le Grand. Damals bin ich zum ersten Mal aufrichtig stolz auf meine Vaterstadt gewesen; und ich wunderte mich, wie man etwas so Buntes und Schönes und bis zum Herzklopfen Berauschendes aus den nämlichen Strassen und Gassen machen könnte, durch die man mit seinem Schulranzen trabte oder durch die man mit seiner Mutter zur Kirche ging.

„Die Stadt Düsseldorf ist sehr schön – “

Das habe ich nun heute morgen wieder gelesen. Es stand mit säuberlich gemalten Buchstaben auf einem Schild, und das Schild hing im Wirtshaus „Zum goldenen Kessel“ auf der Bolkerstrasse in Düsseldorf, grade gegenüber dem Geburtshaus des vielgeliebten, vielgeschmähten und viel nachgeahmten Rheinländers und Juden Harry Heine.

Vor der Tür hatten Lorbeerbäume gestanden. Eine lange Fahne hatte herausgehangen, darunter stand zwischen Lastfuhrwerk und Handwagen etwas vereinsamt und nicht ganz in den Stil der alten Bolkerstrasse passend ein einzelnes Automobil, und drum herum balgten und schubsten sich neugierig ein Haufen rotznasiger kleiner Kluten: „No süch! Wat es denn do loss?“ –

Und dann ist es drinnen beängstigend voll Menschen. Im Flur, im Weissbierausschank – in der Kneipe. Herren und Damen, Menschen aus den verschiedensten Lebenskreisen. Für den Stadtkundigen manch bekanntes Gesicht darunter. Das drängt und schiebt vorwärts, an einer Ecke vorbei, wo vor einem schwarzverhüllten Etwas ein Busch frischer Blumen duftet. Ein wunderliches Gemisch ist das: der süsse Duft der Blumen, beissender Tabakrauch – ernsthafte Erwartung, Witzworte, die leicht hin und wieder schwirren – das Gefühl des Zuhauseseins und zugleich das des ironischen Protests.

Jetzt kann wahrhaftig keine Seele, weder sitzend noch stehend, mehr Platz finden. Die „Köbese“ drängen sich schwitzend und beschwerlich kaum noch durch mit ihren Flaschen und Gläsern. Man könnte denken, es wäre Rosenmontag, aber ein Rosenmontag mit einem ernsthaften, fast wehmütigen Nebenklang.

Und dann schweigt langsam alles still. Von Meisterhand gespielt perlen die Weisen Robert Schumann’s süss und rein über diese bunte Menge in der Altdüsseldorfer Weissbierkneipe. In der folgenden Stille aber steht plötzlich ein Rheinländer, Herbert Eulenberg, neben dem schwarzverhüllten Etwas in der Ecke und spricht den Festtext zu dieser Feier, zu der sich, wie er es ausdrückt, „das mündige Düsseldorf“ zusammengefunden habe: zur Feier der Enthüllung des ersten Heinedenkmals in seiner Geburtsstadt Düsseldorf.

Denn das ist der Sinn des Lorbeers, der Blumen, der langen Fahne, des einsamen Automobils und der dicht gedrängten Menschenmenge. Unter den brausenden Hochrufen der versammelten Menge verwandelt sich das schwarzverhüllte Etwas flugs in weissschimmernden Marmor, in eine Büste des jugendlichen Heine. Dann aber bekommt augenblicklich Harry Heine selbst das Wort mit den allerschönsten Liedern aus der „Dichterliebe“ (von E. Hanfstängl und Kapellmeister Schwarz meisterlich interpretiert), und im Nu schafft sich der alte Hexenmeister diese bunte, zusammengewürfelte Menge in eine andächtige Gemeinde um.

„Keine Messe wird man singen, keinen Kadosch wird man sagen –“?

Freilich ist dies eine Feier eigner Art. Eine putzige Art einer Denkmalsenthüllung.

Kein Frack. kein Stern. Keinerlei Spitzen der Behörden. Nicht einmal Spitzen der Gesellschaft. Sogar nicht einmal ein Komitee im Bratenrock mit ’nem Schleifchen im Knopfloch. Rein gar nichts von alledem. Wie gesagt: Ein Altdüsseldorfer Wirtshaus auf der Bolkerstrasse, mit dem manchmal sogar fast zu lauten Geräusch und Gemurmel des Wirtsbetriebes und des Strassenlärms im Hintergrund – einem Geräusch, als wollten die ewigen Meinungsverschiedenheiten über diesen unruhvollen Geist immer noch nicht zur Ruhe kommen. Und darüber wegklingend das „Am Rhein, am heiligen Strome“ und eine weisse Büste im Hintergrund. Und als die Künstler drinnen schweigen, setzt sich der Gesang draussen im Volksliedton fort und in den noch nicht beendeten Applaus mischt sich schon die erste Strophe der ewigjungen Loreley –

Nebenbei gesagt: die Büste ist gut. Einfach, grosslinig. Der Bildhauer Jungbluth-Sahl hat sie gemacht und sie verdiente wohl, im Grünen der Sonne zu stehen statt in der Ecke einer Altstadtkneipe.

Aber nun hat sie der „Goldene Kessel“, und es gebührt ihm der Dank dafür. Er sollte mit in die Heineliteratur aufgenommen werden dafür, dass er im Jahre des Heils 1914 dem Harry Heine aus der Bolkerstrasse das erste Denkmal auf Düsseldorfer Boden setzte – wenn es auch, wie Eulenberg sagte, eine Art „Käfigdenkmal“ ist.

Aber was das Denkmal anbetrifft - - -  Lieber Gott ja. Wenn sich für einen nach hundert Jahren so viel unterschiedliche Menschen am Werktag in einem schlichten Altstadtwirtshaus zusammenfinden, wo man weder „bemerkt“ noch dekoriert noch sonst irgend etwas werden kann, wo keiner die geringste Aussicht hat, selber irgendwie in die Erscheinung zu treten, schon aus dem einfachen Grunde, weil es dazu viel zu eng und zu winklig ist – wenn einen nach hundert Jahren die Künstler ehren und die Bürger lieben und das Volk singt – lieber Gott ja, da möchte man schon lieber eine Büste in der Ecke vom Goldenen Kessel an der Bolkerstrasse haben, als ein prächtiges Denkmal, zu dem sich alsmal ein durchreisender Fremder verirrt, die Brille auf die Nase setzt und den Sockel studiert, um zu lesen, wie der Kerl doch wohl geheissen hat - - - -

(Die Denkmalenthüllung fand am 9. April 1914 statt.)

Quelle: Undatiertes maschinenschriftliches Manuskript aus dem Teilnachlass von Leonore Niessen-Deiters im Frauen-Kultur-Archiv der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf]

Rezensionen zu den Erzählbänden

Rezensionen zu „Mitmenschen“, Stuttgart, Berlin 1908

Wie im „Leute mit und ohne Frack“ deutet auch der Titel von Leonore Niessen-Deiters jetzt erschienenem Novellen- und Skizzenbande „Mitmenschen“ auf ein Element der Gesellschaftssatire. Und hier wie dort deutet er ferner an, daß die Schärfe des Spottes von liebevollem Verstehen des Mitmenschen gemildert ist. Die herzliche Beziehung der Dichterin zu ihren Gegenständen, die deutlich genug auch aus der knappsten Linienführung, der schärfsten Pointierung spricht, stellt Leonore Niessen-Deiters in die Reihe der wahren Humoristen. Freilich ist ihre besondere Note die knappe Artistik, wie in der Skizze „Die Welt von der anderen Seite“. Besonders liebevoll und auch detaillierter ausgemalt sind ihre Frauengestalten, von der gutmütigen, unglaublich gutmütigen „Mutter Schanettchen, die Konsequente“ – den Lesern der Neuen Hamburger Zeitung aus dem Feuilleton bekannt – bis zu den schrulligen alten Schachteln, den Piepjunges, die sich 13 Jahre mit ihrem Pflegesohn quälen, bis er auf die Universität zieht, ihr jungfräuliches Heim von seiner männlichen Gegenwart erlösend, um den Entsetzten nach kurzer Zeit – einen neuen Pflegesohn ins Nest zu legen. Wie die Piepjunges dies schreckliche Begebnis auf die von ihnen verabsäumte „Aufklärung“ des jungen Mannes schieben, ist mit köstlichstem Humor geschildert. Mit derselben Beherrschung der Form, die in Kunstdingen den Ausschlag gibt, schlägt Leonore Niessen-Deiters auch tragische Akzente an: „Giovanna Testa“, „Eine glänzende Partie“. Den Schattenrissen vergleichbar, mit denen der Bruder der Verfasserin, der Düsseldorfer Maler Hans Deiters, auch dieses Buch wieder geschmückt und besonders wertvoll gemacht hat, ihnen vergleichbar an anmutig beweglicher, subtil hingehauchter Wirkung ist „Eine Begegnung“ im Walde zwischen einem eben entsprungenen Zuchthäusler und einer jungen Spaziergängerin. Der hohe künstlerische Wert des Buches, die warmen Herzenstöne, das aus dem wohlvertrauten täglichen Leben gewählte Stoffgebiet machen es zu einem Volks- und Familienbuche in des Wortes edelstem Sinne. Möge uns die Dichterin deren noch viele schenken. (Oswald Pander)

In: Neue Hamburger Zeitung, 5. 12. 1908.

Ernst und ein feiner besinnlicher Humor mischen sich auch in dem Geschichtenband „Mitmenschen“ von Leonore Niessen-Deiters (mit köstlichem Silhouetten-Buchschmuck von Hans Deiters, erschienen bei J.G. Cotta Nchf., Stuttgart und Berlin. 1908. Geh. 3 M.).

Die Verfasserin ist einer scharfe Beobachterin des Lebens, eine seelenkundige Betrachterin besonders der sonderlichen und kuriosen Käuze, die in dieser Welt herumlaufen und die sie besonders ins Herz geschlossen hat. Zugleich verfügt sie über einen feinen Spott, eine liebenswürdig-überlegenen Ironie, die all ihre abgerundeten und sicher pointierten Schilderungen menschlicher Eigenschaften und gesellschaftlicher Zustände unendlich reizvoll und anziehend machen. Prächtig weiß sie die bösartige Klatsch- und Verleumdungssucht ihrer geschätzten Mitmenschen etwa in der „Geschichte von drei Seiten“ zu verspotten; sie zeichnet in „Mutter Schanettchen, der Konsequenten“ das schalkhaft lebendige Charakterbild einer unverbesserlich gutmütigen Frau, deren Verstand einen ständigen Kampf mit ihrem Herzen führt und ständig darin unterliegt; sie läßt einen grimmeren Humor spielen, wenn sie in „Onkel Theodor“ die Erbschaftsberechnungen einer Familie an der unverwüstlichen Lebenskraft eines verkommenen alten Junggesellen zu schanden werden läßt, dem das grausame Geschick es vergönnt, alle seine Erbe zu überdauern. Auch tragische Töne stehen ihr zu Gebot, wie die Liebesnovelle „Giovanna Testa“ und die „Glänzende Partie“, eine scharfe Kritik der üblichen Berechnungs- und Geldheiraten, zeigen, aber diese Arbeiten haben doch nicht die selbständige und eigenartige Haltung, wie die übrigen, in denen Humor und Ironie in allen Spielarten vom Uebermut bis zum Lächeln unter Tränen triumphieren. Da eignen Frau Nießen-Deiters Frische und eine aus Lebenskenntnis erquellende Liebenswürdigkeit des Verstehend, Originalität der Einfälle und Knappheit der Ausdrucksmittel. Und selbst, wo sie ein so altes Thema aufgreift, wie die Verspottung gesellschaftlicher Torheiten in der Schlußgeschichte „Närrische Hühner“ (die unsern Lesern übrigens aus der Sonntagsbeilage bekannt ist), weiß sie ein neue, apart und amüsante Seite aufzudecken.

In: Allgemeine Zeitung, Königsberg, 19.02.1909.

Rezensionen zu „Im Liebesfalle“, Stuttgart, Berlin 1910

Mit ihrem Drillingswerk bietet uns die Verfasserin eine Fortsetzung fein pointierter Schöpfungen aus dem Innenleben, die wir schon in ihren beiden Vorläufern zu schätzen gewußt haben. Wie es schon gewohnheitsmäßig geworden, fehlen die künstlerisch hervorragenden Silhouetten des Bruders der Schriftstellerin auch in diesem Werke nicht und bieten uns eine edel einzuschätzende Belebung der beschriebenen Seelenakte. Unter den sechs Titeln der Schilderungen bieten vier einen tiefgehenden Einblick in das Denken und Fühlen des bäuerlichen Milieus und führen uns, das Erotische fein verhüllend, an von der großen Menge als „unsittlich“ gekennzeichneten Lebensfragen des Naturmenschen vorbei, uns zugleich die eifrige Hingabe der Verfasserin für das Studium dieser Klassen vor Augen führend. Eine Kleinmalerei, die kaum durch Zolasche Werke übertroffen werden konnte, bietet sich uns in reichstem Maße dar und verleiht den an und für sich kurzen Fabeln der einzelnen Abrisse ein volle Aufmerksamkeit der Leser weckendes Interesse. In der „Stina Rapps“ finden wir einen leichten Ueberschuß von Gedankenmalerei, die in den übrigen kurz gefaßten Schilderungen nicht zu so krasser Geltung kommt, als hier; doch löst der tragische Schluß dieses Dramas eine nervenspannende Empfindung des Lesers gleichzeitig derart aus, daß die vorhergegangenen Längen verblassen. Die „Heim“ betitelte Schilderung spielt in die Wohltätigkeitsmanie der höheren Gesellschaftssphäre hinüber und gibt uns Bekanntes in neuer Form zu belächeln. „Ein Brief“ ist unseres Erachtens ein Seelenakkord, der vielfach im Herzen so manchen Lesers und so mancher Leserin nachhallen dürfte und gerade seiner Kürze wegen am nachhaltigsten Wirkung ausübt. Wir wollen nochmals zum Schluß des wirklich hervorragenden Buchschmuckes von Hans Deiters, Düsseldorf, Erwähnung tun, dessen Begleitung zum Erwerber dieses Buches ein Schatz an und für sich bedeutet, und dasselbe zur Zierde eines jeden Weihnachtstisches dienen dürfte.

In: Lübeckische Anzeigen, 5.11.1910.

[…] Die beiden von der Kritik günstig aufgenommenen Werke „Leute mit und ohne Frack“ und „Mitmenschen“ haben den Namen der rheinischen Erzählerin bekannt gemacht. Auch dies neue Buch Erzählungen und Skizzen ist eine reife Gabe, ein Werk voll Humors tiefsten Ernstes und mit einem Einschlag treffender Satire. Die Dichterin zeigt uns verschiedenen Arten der Liebe oder dessen, was man so nennt. Der Schauplatz ist das Dorf oder die Kleinstadt, beide ebenso gut gesehen und charakterisiert wie die Menschen. Die größere Novelle „Stina Rapp“ ist das feinste Stück des Bandes. Mit großer dichterischer Kraft ist da ein eigenartiges Frauenschicksal bis zum erschütternden Ende dargestellt. „Liebe“ und „Die Unschuld vom Lande“ sind vortreffliche Ausschnitte aus dem Lebe einfacher  Menschen mit ganz unkompliziertem Empfinden, und eine kräftige Satire auf die Mitwirkung von Damen der Gesellschaft die Skizze „Das Heim“. Alle diese Stücke und noch zwei andere schmückte der Bruder der Verfasserin mit Bildern voll Reiz, die nach Silhouetten hergestellt wurden, die der Künstler mit der Schere schnitt. Das Buch ist zu empfehlen.  L. Schr.

In: Leipziger Neueste Nachrichten, 12.12.1910.

Rezensionen zu „Die unordentlich verheiratete Familie“, Stuttgart, Berlin 1912

Was ist das: eine unordentlich verheiratete Familie? Der auf dem Umschlag stehende Storch, der lustig klappernd einen Stammbaum zu studieren scheint, läßt im Verein mit diesem Titel kleine pikante Geschichten erwarten, wie sie auch der ernster gerichtete Leser zur Abwechslung einmal nicht verschmäht. Aber das neue Buch der Niessen-Deiters bringt doch mehr. Diese Reihe anscheinend bunt zusammengewürfelter Erzählungen und Skizzen, die indessen nach einem ganz bestimmten Plane geordnet sind, macht uns mit allen Mitgliedern einer weitverzweigten Familie bekannt, den braven, bürgerlich soliden, zum Teil sogar zu „höheren Schichten“ der Gesellschaft aufgestiegenen und den verwilderten, in der Welt herumzigeunernden, die unverschämt genug sind, den riesigen Abstand von jenen gar nicht einmal zu erkennen. Auf ein Familienmeeting bringt das Haupt der Familie, die unglaublich vornehme Tante von Meier – der Onkel fabriziert Emaillewaren, züchtet Vollblut und ist für seine Verdienste um die Landwirtschaft geadelt –, alle Angehörige des Geschlechts, die ihr etwas zu versprechen scheinen, zusammen, um den Familiensinn zu stärken und die „ordentlich“, d.h. standesgemäß Verheirateten und aus solchen Ehen hervorgegangenen zu einer engeren Verbindung zu vereinigen, mit der sie prunken kann. Und sie muß es erleben, daß die Zahl dieser „Ordentlichen“ bei näherem Zusehen schauderhaft zusammenschrumpft! Die einzige „Adlige“ des Kreises entpuppt sich als ein verarmtes Fräulein, das in Stellung ist und Zwirnhandschuhe trägt, der „dekorative“ Vetter Udo, ein schneidiger Kavallerieleutnant, hat seinen Attila mit dem Zivil des Weinagenten vertauschen müssen, der vermeintliche Großkaufmann vom Rhein ist ein Kleinkrämer untersten Ranges und die Gattin des weltmännischen Egon Lobschütz führt sich gar als Exzentrik-Tänzerin Fanny-Fanny vom Wintergarten ein. So wird der schöne Bund gesprengt, noch ehe er geschlossen, und die Tante von Meier verläßt mit den Einzigen, die ihrer würdig, einem hanseatischen Landrichter und einem Fräulein Klotilde, der „Tante mit den vornehmen Bekanntschaften“, zürnend den Familientag. Sehr ergötzlich und mit liebenswürdiger Bosheit schildert die Verfasserin in den folgenden Kapiteln: „Fanny-Fanny“, „Das unverschämte Fräulein“, „Tante Klotildens Brunnenbekanntschaft“, „Udo der Edelsozialist“ und „Onkel Felix“, die Vorgeschichte und die weiteren Schicksale der Helden dieser Familien-Komödie, wobei es weiter nicht verwunderlich ist, wenn die Unordentlichen, das arme „Fräulein“, die Tingeltangeltänzerin usw. sich als aufopfernde, seelisch starke Naturen erweisen, während die Ordentlichen sich allesamt sehr blamabel aufführen. Von besonderem Reiz ist in dem frisch geschriebenen Buche die originelle Gestalt des gelehrten Onkel Felix, der allen Leuten die Wahrheit sagt und dem es Vetter Udo, der Edelsozialist, zu danken hat, wenn er nach einer verzettelten Jugend noch ein Mann wird. Die einzelnen Geschichten, deren Grundstimmung Humor ist, obgleich sie keineswegs im landläufigen Sinne humoristisch sind, sind mit fein-satyrischen Zeichnungen von Hans Deiters geschmückt.

In: Hannoverscher Curier, 17.09.1912.

Immer mit dem gleichen Vergnügen begegnet man dieser so humorreichen, lebenskundigen und liebenswürdigen Schriftstellerin. Ich habe die Freude gehabt, schon manchen ihrer Romane von ganzer Seele über das Schellendaus loben zu können; dem vorliegenden neuen Werke erweise ich mit Vergnügen denselben Liebesdienst. Frau Niessen-Deiters löst diesmal die Romanform auf lustige Art in ein Geschichtenbündel auf, und eine kostbare Galerie närrischer, böser und guter Käuze stellt sich vor, denen die Verfasserin, als Verkörperung der ausgleichenden poetischen Gerechtigkeit, Strafe und Belohnung nach Verdienst zuteilt. Es ist nicht genug gesagt, wenn man in jede dieser Figuren verliebt zu sein behauptet; man lebt mit ihnen; glaubt sie seit Jahrzehnten zu kennen und lächelt bewegt über ihr Geschick und Mißgeschick. Auch die schwächeren Kapitel, z.B. das über Udo, den Edelsozialisten, der sich nachher dank einer großen Erbschaft so wunderbar zum Edelmenschen entwickelt, machen der Verfasserin noch hohe Ehre. Die feine Herzenskündigerin hat und wieder ein Buch voll Musik und Glockenklang, dabei doch auch voll hellem, echtem, kernigem Gelächter und überlegener Weltweisheit geschenkt. (r.n.)

In: Deutsche Tages-Zeitung, 28.09.1912