Frauen-Kultur-Archiv

Düsseldorfer Frauengeschichte
Gedenken an engagierte Frauen Düsseldorfs

Doris Burkhardt (1939 - 2013)

Laudatio des Düsseldorfer Frauenforums auf Doris Burkhardt zur Verleihung der Ehrenbrosche des Frauenforums

Verfasst und gehalten von Barbara Herz, Frauen-Bücher-Zimmer am 8. März 2001 im WBZ, Bertha von Suttner-Platz, Düsseldorf

Meine Damen und Herren, meine liebe Doris, ich freue mich, Sie und Euch begrüßen zu dürfen zur Ehrung für Doris Burkhardt, die heute mit der Ehrenbrosche des Frauenforums ausgezeichnet wird. Wir Frauen vom Frauenforum fanden, dass in unserer Heimatstadt - wie in vielen Städten - das Engagement und die ehrenamtliche Arbeit von Frauen nicht recht gewürdigt wird und starteten deshalb im letzten Jahr die Vergabe dieser Ehrenbrosche, die nun immer zum 8. März, dem Internationalen Frauentag, einer Frau aus dem Frauenforum für ihre hervorragende Arbeit verliehen wird. Zur Erklärung, falls einige von Ihnen nicht recht wissen, was sich hinter dem Begriff „Frauenforum“ verbirgt: Das Frauenforum ist ein Zusammenschluss von Düsseldorfer Fraueninstitutionen, Frauenvereinen und -verbänden sowie Düsseldorfer Bürgerinnen. Wir tagen immer am 2. Mittwoch im Monat im Rathaus und beschäftigen uns mit frauenpolitischen Themen; wir unterstützen einander so gut wir können und versuchen, der Stadt politischen Dampf zu machen, wenn es um die Sache der Frauen geht. In diesem „Frauenforum der Stadt Düsseldorf“ hat Doris Burkhardt - von einer kurzen Auszeit abgesehen - sehr engagiert mitgewirkt. Nun zunächst allgemein wenige Einblicke in das Leben von Doris Burkhardt. Sie wurde 1938 geboren und verlebte Kindheit und Jugend in Herdecke und Hagen. Nach einer Ausbildung zur Kaufmannsgehilfin arbeitete sie einige Jahre als Lohnbuchhalterin. Der Wunsch, im Sozialbereich tätig zu werden, ließ sie nicht los. So schloss Doris 1966 mit Erfolg hier in Düsseldorf im Evangelischen Krankenhaus die Kinderkrankenpflege-Ausbildung ab und war einige Jahre als Kinderkrankenschwester in Krankenhäusern und Kinderheimen tätig.

In Frankfurt am Main arbeitete sie in einem städtischen Kinderheim - für ein Jahr sogar nur halbtags -, um mit 37 Jahren noch bei einer Fachschule für Sozialpädagogik die so genannte Fremdenprüfung zur „Staatlich anerkannten Erzieherin“ gut zu bestehen.

Doris erzählte mit Stolz, dass sie in den 70-er Jahren in Frankfurt an der „Wiege der neuen Frauenbewegung“ gelebt und gewirkt habe und dass diese Zeit der Frauen-Foren sie sehr beeinflusst hätte. Sie wohnte nach ihrer Frankfurter Zeit in Nordbaden für ein Jahr in Mosbach als Untermieterin in dem dortigen Frauenzentrum. Von dort aus nahm sie im Mai 1981 an dem ersten bundesweiten Kongress der „Fraueninitiative 6. Oktober“ in Bonn teil. - Das Markenzeichen von Doris war wohl auch schon damals das einer aktiven Frauen-Kämpferin. Wir „alten Häsinnen“ wissen ja, dass sich gerade auch in kleinen Orten die Frauen auf den Weg machten, um Erstaunliches zu leisten. Der Kampf um die Streichung des § 218 zum Beispiel mobilisierte viele Frauen und animierte sie immer wieder, ihren Forderungen auch auf anderen Gebieten kreativ nachzugehen.

Seit Herbst 1981 lebt Doris wieder in Düsseldorf und arbeitete noch viele Jahre im psycho-sozialen Bereich der Altenpflege (Gruppenarbeit/ Gedächtnis-Training). Heute gibt sie als Rentnerin ehrenamtlich in einer Senioren-Begegnungsstätte einmal wöchentlich einen Kurs „Gedächtnistraining“.

Bei einem Besuch in ihrer kleinen Wohnung mit Balkon in zentraler Lage empfand ich diese wie ein Archiv: Zu jedem Frauen-Thema hat sie die passenden Zeitungsausschnitte, Aufsätze und Bücher gesammelt und geordnet, dazu auch sehr, sehr viele Bilder. Ein beeindruckendes Zuhause einer Frau, die sich ganz den frauenpolitischen Zielen verschrieben hat.

Doris brachte sich mit ihrer Erfahrung und Kreativität dann erfolgreich in die Düsseldorfer Frauenbewegung ein. Das Gedankengut ihrer Frankfurter Zeit und besonders das der „Fraueninitiative 6. Oktober“, Bonn, deren Auffassung vom Feminismus ihrem eigenen Denken entsprach, gab sie als Impulse weiter – und den Bonner Frauen für deren „Ifpa“ (Initiative Frauenpresse-Agentur mit bundesweitem Verteiler) manche Information aus Düsseldorf, z. B: über die Forderung des Frauenforums nach öffentlichen Geldern für obdachlose Mädchen in Düsseldorf oder über das „Aus“ der Frauenmesse in Düsseldorf oder über den bundesweit ersten „Frauen-Armutsbericht“ des Frauenbüros der Stadt Düsseldorf von 1999.

Für September 1982 - vor der ersten großen „Rentenreform 1983/84“ der Bundesregierung - organisierte Doris für die „Fraueninitiative 6. Oktober“ eine bundesweite Arbeitstagung in Düsseldorf - in Zusammenarbeit mit dem „Frauen-Bücher-Zimmer“, das auch seine Räume zur Verfügung stellte. Es wurde die Reform kritisch beleuchtet etwa nach dem Motto „Frauen leben länger - aber wovon?“ unter Frau Eva Rühmkorf, der bundesweit ersten Leiterin einer „Frauen-Gleichstellungsstelle“ in Hamburg. Ich erinnere mich gut, wie viele Abende wir uns ernsthaft, verärgert und enttäuscht mit diesem Thema beschäftigten.

Doris wurde bereits im Frühjahr 1982 für viele Jahre ehrenamtliche Mitarbeiterin bei der ersten Düsseldorfer Frauenzeitschrift „Kom'ma“ auf der Luisenstraße 7, und schrieb zunächst Terminankündigungen, später auch noch verschiedene Artikel.

Außerdem nahm Doris seit 1984 über vier Jahre an dem Volkshochschul-Kurs „Frauen in die Kommunalpolitik“, bei der Kom'ma angesiedelt, teil, den sie schließlich auch selbst leitete.

Bei ihrer Mitarbeit im „Frauenforum“ - bereits vor den monatlichen Sitzungen im Rathaus - brachte sie manche Ideen und Pläne ein. Mit Recht stolz ist sie auf ihr „Kind“ - die Forderung an die Stadt Düsseldorf nach einer „Ehrenamtsstudie über Frauen in Düsseldorf“. Diese Idee brachte Doris November 1987 im Frauenforum ein und sie wurde über viele Monate diskutiert - leider ohne das politische Ziel im Sinne des Frauenforums zu erreichen. Das Frauenforum war seiner Zeit oft voraus, denken wir doch, dass erst jetzt - 2001 - das „Jahr des Ehrenamtes“ ist!

Als 1997 die Stadt Düsseldorf ein Jahr lang für UNICEF für die Straßenkinder der Welt Spenden sammelte, initiierte und organisierte Doris im Frauenforum eine Diskussion und eine Resolution (November 1997) mit der Forderung an die Stadt Düsseldorf, öffentliche Gelder für die Mädchen-Obdachlosen-Arbeit regelmäßig einzusetzen - mit Erfolg, zum Beispiel für das „Trebecafé“ und den „Knackpunkt“ (für Mädchen).

Mit großem Engagement setzte Doris sich auch für die „Lokale Agenda“ ein, bei der sie im Arbeitskreis „Arbeit und Soziales“ mitwirkte (1998/1999) und darüber im Frauenforum berichtete. Die Vorstellung der Frauen für eine „Notwohnung für Opfer von Frauenhandel“ wurde im Rat der Stadt allerdings so stark verändert, dass sie später als Frauenprojekt nicht mehr erkennbar war.

In der Zeit der verstärkten Friedensbewegung (z. B. die Frauen-Friedenskette in Düsseldorf am 17.10.1983) wollten Düsseldorfer Frauen einen zentralen Platz nach einer Frau benennen. Wir stießen bei der Stadtverwaltung nicht auf großes Entgegenkommen, galt es doch - wie immer - unter einer großen Anzahl von Männern auszuwählen. Der Wunsch der Frauen, den Platz vor dem Carsch-Haus „Bertha-von-Suttner-Platz“ zu nennen, schlug fehl.

Aber Doris gab nicht auf und brachte im August 1984 den Punkt dieser Platzbenennung in Verbindung mit dem neuen Platz Hauptbahnhof-Ost als Vorschlag im Frauenforum ein - mit bereits vorbereiteten Briefen an die Stadt und organisierten Unterschriften-Listen. Dieser wurde von den anwesenden Frauen mehrheitlich akzeptiert und war somit auch Sache des Frauenforums. Damals tagte das Frauenforum u. a. in den Räumen der Kom’ma, Luisenstraße 7.

Zum Thema Platzbenennung Hauptbahnhof-Ost wandte sich Doris auch mehrmals mit Erfolg an die Presse - mit unterschiedlichen Informationen und Argumenten, zum Beispiel mit „Mehr Straßen und Plätze nach Frauen benennen“. Diese Hartnäckigkeit bewirkte, dass mit Hilfe von Frauen im Rat der Stadt das Ziel endlich erreicht und der neue Platz hinter dem Hauptbahnhof nach Bertha von Suttner benannt wurde. Ein lebendiger Platz, über den wir heute alle gegangen sind, um den „Internationalen Frauentag“ zu feiern.

Doris kam bei ihrer Arbeit fast immer ihre Fähigkeit zugute, Gedanken, die in der Luft lagen, auszusprechen. Immer wieder lieferte sie Artikel und Redebeiträge zu den anstehenden Themen, Und es ist sicher eine Kunst, im rechten Augenblick loslassen zu können, um auch fachkompetente Frauen zu finden, die ihre Gedanken in die Tat umsetzen.

Es ist nicht ihre Sache, in vorderster Reihe zu stehen. So ist es bezeichnend, dass sie seit Oktober 1996 als „Stellvertretende des Frauenforums“ im Frauen-Ausschluss der Stadt mitarbeitete, wobei sie häufig für die eine oder andere „Vertreterin des FF“ einsprang. Schließlich wurde sie dann seit 1998 selbst „Vertreterin für das FF“. - Aber nach einem Jahr legte sie 1999 frustriert die ehrenamtliche Arbeit im Frauen-Ausschluss nieder und ist dort jetzt als kritische Besucherin anzutreffen.

Doris hat die Eigenschaft, ausdauernd und mit langem Atem ein Thema zu bearbeiten.

Und so danken wird Dir, Doris, dass durch Deine Hartnäckigkeit mancher Brief geschrieben wurde, manches nicht im Sande verlief, weil Du wieder mit einem Artikel kamst, über den Du verärgert warst oder den Du zur Nachahmung in Düsseldorf empfehlen wolltest. Den Dank aller Frauen des Frauenforums darf ich Dir jetzt materialisiert in dieser Brosche, die auch als Anhänger getragen werden kann, überreichen. Ich gratuliere Dir von ganzem Herzen. [Es gilt das gesprochen Wort.]  

Dankesrede von Doris Burkhardt nach der Ehrung durch das Düsseldorfer Frauenforum am 8. März 2001 im WBZ

Liebe Barbara Herz, vielen Dank für deine Worte und insgesamt den Frauen des Frauenforums Dank für die Anerkennung meiner Mitarbeit! Ich bin stolz, diese Ehrenbrosche zu erhalten - und das als Rentnerin, im Jahr des Ehrenamtes, im ersten Jahr des neuen Jahrhunderts und im 20. Jahr als Bürgerin dieser Stadt. Düsseldorf ist mir in den vergangenen Jahren zur Heimat geworden - besonders durch meine nebenberufliche, mir sehr wichtige frauenpolitische Arbeit im außerparlamentarischen Bereich, unabhängig von politischen Partei-Programmen. Im Alleingang wäre manches kaum möglich gewesen. Die enge Zusammenarbeit mit den autonomen Fraueninitiativen und mit dem Frauenforum und mit dem Frauenforum verliehen den Vorhaben mehr Nachdruck und zeigten: "Frauen gemeinsam sind stark!". Für solidarisches Miteinander und gegenseitige Ergänzungen danke ich ausdrücklich den früheren und heutigen Mitstreiterinnen des Frauenforums. Dieser Dank gilt auch dem Team des Düsseldorfer Frauenbüros und allen frauenfreundlich gesonnenen Personen im Düsseldorfer Rathaus und in der Volkshochschule! Ich möchte sie alle hier ermuntern, Räume für Frauen und Mädchen zu fordern, zu schaffen und auszubauen - auf allen Ebenen im privaten und öffentlichen Bereich! In diesem Sinne sei mir erlaubt, drei Beispiele zu nennen:
  1. Schaffung eines sofortigen eigenen Aufenthaltsrechtes für verheiratete Migrantinnen
  2. Bereitstellung ausreichender und angemessener konstanter Schutzräume mit Therapieangebot für Opfer von Frauenhandel - gegebenenfalls wie beim VRR als Verbundsystem von Städten in der Region!
  3. Schaffung eines Rechtsraumes mit gleichem Strafmaß bei gleicher Straftat bei sexueller Nötigung oder bei Vergewaltigung von Frauen mit und ohne Behinderungen. - Dazu werden auf dieser Veranstaltung Unterschriften gesammelt!
Erinnern muss ich Sie an das Jahr 1999 - und an die seit dem 8. März im Rathaus vorliegenden "Wahlprüfsteine" mit Forderungen des Frauenforums und außerdem an die Handlungs-Empfehlungen im Frauenarmutsbericht des Düsseldorfer Frauenbüros! Abschließend erinnere ich Sie gern an Schlagworte, die auch mich begleitet habe: "Das Politische ist privat – das Private ist politisch" "50% aller Plätze für Frauen!" "Einmischen – Mitmischen! Frauen ins Düsseldorfer Rathaus!" "Männern ihre Rechte und nicht mehr – Frauen ihre Rechte und nicht weniger!" Erlauben Sie mir, noch etwas anzumerken zum Thema "Ehrenamt": Es ist bekannt, dass die Frauen des Frauenforums ehrenamtlich, außerdem ohne Fahrgeld-Erstattung und ohne Erhalt von Sitzungsgeldern in Eigen-Regie abends tagen, um Müttern und Erwerbstätigen die Teilnahme zu ermöglichen. Zwei delegierte Frauen des Frauenforums stellen sich außerdem zur aktiven Teilnahme an den Frauen-Ausschuss-Sitzungen zur Verfügung!  Für diese delegierten Frauen sollte im "Jahr des Ehrenamtes" endlich eine "Frauenförderung im politischen Ehrenamt" verwirklicht werden, das heißt: Dienstbefreiung am Arbeitsplatz und Erhalt von Sitzungsgeldern für Verdienstausfall und Erstattung von Fahrgeld-Auslagen! — Danke!

Was bedeutet mir hier und heute Lebensqualität?

(Januar 2002, Text von Doris Burkhardt)
  1. Ein bezahlbares warmes Dach über dem Kopf in einer relativ notwendigen Größe („Ein Zimmer für mich allein“) mit relativem Komfort wie Bad, Küche, Zentralheizung, TV-Technik (mit Kabel), Telefon, Balkon, Aufzug – ohne Treppenhaus-Putzerei-Verpflichtung, pflegeleichte Wohnung, übliche Haushaltsgeräte.
  2. Verkehrsgünstige Lage, gut erreichbare und bezahlbare Geschäfts- und Kultur-Angebote.
  3. Saubere Luft, sauberes Wasser, saubere Nahrungsmittel, saubere Textilien, Nah-Erholungsmöglichkeit.
  4. Soziale Gerechtigkeit, Sicherheit im engeren und weiteren Umfeld ohne „Überwachungs- und Polizeistaat“, bezahlbare gute medizinische Versorgung.
  5. Verschiedene, bezahlbare oder freie Möglichkeiten der persönlichen Kommunikation im Wohnumfeld.
  6. Selbstbestimmtes Leben, ohne besondere Einengungen, mit Hilfsangeboten, die bezahlbar sind.
  7. Nach der Erwerbstätigkeit noch zu bewältigende Aufgaben über den Privatbereich hinaus haben/ausüben.
  8. Eigene Fähigkeiten erhalten oder entwickeln zu: Hobbys praktizieren, Wünsche haben und realisieren, teilen und abgeben, kritisch sein – aber nicht misstrauisch und verbittert werden, sich „nach der Decke strecken“ in gesundheitlicher, sozialer und finanzieller Hinsicht, neugierig bleiben, das Licht sehen, Schatten gegebenenfalls annehmen.
(Handschriftliches Notat aus dem Nachlass von Doris Burkhardt, zunächst aufbewahrt im Frauen-Kultur-Archiv, jetzt im Stadtarchiv Düsseldorf)  

Rede zum Internationalen Frauentag am 8. März 1988 auf dem Schadowplatz in Düsseldorf

als Beitrag der autonomen Frauenbewegung zu einer Frauen-DGB-Veranstaltung Ich bin Doris Burkhardt, ich arbeite in der autonomen Frauenbewegung, unter anderem bei KOM’MA, der Düsseldorfer Frauenzeitung mit Veranstaltungskalender, in dem VHS-Kurs ‚Frauen in der Kommunalpolitik‘. Solidarisch mit der Arbeit der DGB-Frauen spreche ich heute für Frauen der autonomen Frauenbewegung in Düsseldorf. HERAUS ZUM FRIEDEN  – GEGEN DIE UNSOZIALEN SPARMASSNAHMEN!   - - Unter einer ähnlichen Losung fanden die ersten Demonstrationen zum Internationalen Frauentag vor dem 1. Weltkrieg in Deutschland statt. HERAUS ZUM FRIEDEN  – GEGEN DIE UNSOZIALEN SPARMASSNAHMEN!  - – Unter diesem Motto erschien im März 1982 in einer Düsseldorfer Tageszeitung eine Anzeige. Frauen aus unterschiedlichen Bereichen, Gruppen und Initiativen der Düsseldorfer Frauenbewegung riefen darin zur Demonstration auf.

Anneliese Ksiensik (1919 – 2010)

Anneliese Ksiensik - eine Brückenbauerin

Welchen Respekt sich Anneliese Ksiensik in der vielgestaltigen Düsseldorfer Frauenszene, repräsentiert im Düsseldorfer Frauenforum, erworben hatte, zeigte sich am 8. März 2000, als dieses Frauenforum im Düsseldorfer Rathaus zum 1. Mal in seiner Geschichte das Engagement von Bürgerinnen ehrte. Die 79jährige war die Erstgeehrte, die die Schmuckehrengabe in Empfang nehmen konnte.   Im Düsseldorfer Frauenforum vertrat sie den Katholischen Deutschen Frauenbund viele Jahre lang in einer Weise, der ihr Anerkennung und Sympathie über alle ideologischen Grenzen hinweg eintrug. Sie vertrat dezidiert und fundiert ihre Positionen, ohne andere zu verletzen. Sie bemühte sich um Ausgleich zwischen kontroversen Standpunkten und war dabei geistig so unabhängig, dass sie einen Standpunkt begründet vertrat, wohl wissend, dass dieser nicht immer mit dem des KDFB im Einklang stand. Sie pflegte dann in den Sitzungen im Rathaus zu sagen: „ich sehe das jetzt so, aber mein Verein wird dies nicht so sehen“. (A. Ksiensik im Düsseldorfer Rathaus, 8. März 2000)   Zu ihren bleibenden Verdiensten gehört es, das Problem der geringen Renten von älteren Frauen in den öffentlichen Diskurs der Stadt eingebracht und an der Brücke zwischen den katholischen und evangelischen Frauenverbänden gebaut zu haben, was in gemeinsame 8.-März-Aktionen der christlichen Frauenverbände einmündete. Sie war – für ihre Generation sehr progressiv – eine Netzwerkerin, die durch ihre offene, klare und humorvolle Art auch junge Frauen für sich und ihre Überzeugungen gewinnen konnte. Auf diese Weise baute sie nicht nur Brücken zwischen den christlichen Frauenverbänden sondern auch zwischen den Repräsentantinnen der traditionsorientierten Frauenbewegung und der neuen Frauenbewegung.   Dass sie im 3. Reich als junge Christin die aus ihrem Glauben erwachsende Verantwortung offensiv vertrat, das hat sie als Selbstverständlichkeit angesehen und nicht als besondere Leistung. Umso mehr freuten wir uns, dass sie zum Stadtjubiläum 1989 von ihrem Wirken in der NS-Zeit berichtet hatte und wir diese Darstellung hier mitteilen konnten und hier erneut präsentieren können. Ariane Neuhaus-Koch, Frauen-Kultur-Archiv

Anneliese Ksiensik zum Gedenken

Im Alter von 91 Jahren ist am 12. August des Jahres Frau Annelise Ksiensik, Jg. 1919, nach längerer Zeit in einem Pflegeheim in Düsseldorf verstorben. Sie war gläubig und wartete auf den Tod, der sie nun erlöst hat. Frau Ksiensik hat sich um die katholische Kirche und besonders auch um unseren Verband wirklich verdient gemacht. Schon mit 8 Jahren trat sie der franziskanischen Jugend bei; mit 10 Jahren wurde sie Mitglied der katholischen Jugend ihrer Pfarre und mit 13 Jahren Mitglied in der Jugendbewegung „Christi Reich“. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse allgemein musste sie dann mit 16 Jahren die katholische Marienschule verlassen. Von 1935 – 1944 war sie im Einzelhandel und in der Industrie tätig. Nach der Heirat 1944 arbeitete sie bis Kriegsende als Verwaltungsangestellte in Koblenz und 1946 bei der Militärregierung in Düsseldorf.   Mit 16 Jahren trat sie dem Jugendbund des Katholischen Deutschen Frauenbundes bei, dem sie bis 1944 angehörte. Während des Krieges wurde sie von der Gestapo verhört, weil sie Soldaten an der Front mit religiöser Literatur und kirchlichen Nachrichten versorgt hatte, zusammen mit ihrer Schwester. Nach der Geburt ihrer beiden Kinder in den Jahren 1946 und 1949 trat sie schon 1946 dem Zweigverein Düsseldorf bei und widmete sich ab 1962, bis zu ihrem 80. Lebensjahr, dem Pfarrbesuchsdienst. 1972 wurde sie geschieden. Schon ab 1949 war sie berufstätig geworden, zunächst im Einzelhandel, später in der Verwaltung der LVA und der Kreishandwerkerschaft.   Frau Ksiensik zeichnete sich durch ein kluges, ehrliches und ausgewogenes Urteil aus, das überall geschätzt wurde. So vertrat sie vor allem unseren Zweigverein im Frauenforum, einem Zusammenschluss der unterschiedlichsten Frauenverbände, Initiativen und Richtungen. Dort setzte sie sich für die Probleme der älteren Frauen mit kleinen Renten ein und konnte die Lage der alleinerziehenden Mütter verdeutlichen. Am Internationalen Frauentag 2000 zeichnete das Frauenforum sie mit einem erstmals verliehenen Schmuckorden für ihre mutigen Stellungsnahmen aus. 2004, anlässlich ihres 85. Geburtstages, verlieh ihr der Hl. Vater auf Antrag des Zweigvereins den kirchlichen Orden „Pro ecclesia et pontifice“. Darüber hatte sie sich sehr freut und in ihrem Dankesbrief geschrieben: „Die Arbeit im KDFB war mir immer sehr wichtig, und ich bin stolz, was dieser Verband in den 100 Jahren alles geleistet hat. Unsere Nachfolgegeneration genießt alle Erfolge, die wir erkämpft haben“. Heute folgt ihre Tochter als Frauenbeauftragte ihren Spuren. Gott schenke Frau Ksiensik die ewige Ruhe! Für den Zweigverein Düsseldorf: Dr. Marina R. Küppers In: Mitteilungsblatt des KDFB, Zweigverein Düsseldorf e.V., 8/9 2010

Anna Elisabeth Ksiensik: Meine Aktivitäten im 3. Reich

Nach der Schulzeit wurde ich Mitglied im Jugendbund des Katholischen Frauenbundes. Inzwischen waren die meisten katholischen Jugendorganisationen durch die Nazis verboten worden. Wir durften uns nur rein religiös betätigen, das heißt es gab keine Reisen und Wanderungen, sondern nur Wallfahrten und Besinnungstage oder Exerzitien (...). Unter der Obhut des Katholischen Frauenbundes, besonderes durch Vermittlung von Frau Horion, konnten wir im Frauenbundhaus in Bendorf unsere Begegnungen abhalten. Wir feierten dort die Hochfeste; Ferienfreizeiten sowie Führerinnenschulungen wurden uns in diesem Haus ermöglicht. Wir wunderten uns oft, dass die Partei und die Gestapo uns in Ruhe ließen, waren aber auch bemüht, nicht aufzufallen.   Während meiner Berufstätigkeit bei der Firma Franzen hatte ich keinen Kontakt zu Parteigenossen und Nazis (...). Da ich in dieser Firma keine Aufstiegschancen hatte, wechselte ich meine Stelle und arbeitete in einem mittleren Industrieunternehmen in Neuss. Hier lernte ich erst den Einfluss der Nazis kennen, da es sich um einen sogenannten kriegswichtigen Betrieb handelte. Inzwischen waren unsere Brüder, Vettern und Freunde eingezogen worden und kämpften an allen Fronten. Es entstand eine lebhafte Korrespondenz mit ihnen, unter anderem über das Thema „Junger Tod“.   Es hatte nach dem Ersten Weltkrieg im Verlag Albert Langen/ Georg Müller ein Buch gegeben: „Kriegsbriefe gefallener Studenten“. Es interessierte uns sehr, und wir diskutierten und korrespondierten darüber, weil es zeigte, in welch elenden Tod die Kriegsbegeisterung führte. Zu unserer Korrespondenz gehörte auch die Euthanasie-Predigt des Bischofs von Galen in Münster. Das war am 3. August 1941. Ich hatte diese Predigt im Büro in Neuss im Zehnerblock (ein Original und neun Durchschläge) geschrieben.   Jemand muss mich bei der Gestapo angezeigt haben, denn eines Tages erschienen im Büro mit dem Betriebsobmann zwei Gestapobeamte und verhörten mich im Beisein meines Chefs, der kreidebleich war und heftig zitterte. Die Beamten waren bestens informiert und beanstandeten, dass ich nie im BDM und nicht in der Partei war. (...) Dann musste ich noch den Lieferanten der Predigt angeben, es war meine Schwester Maria. Sie wurde eine Woche später ins Polizeipräsidium Düsseldorf geholt und hatte es dort wesentlich schwerer, sich aus der Sache herauszureden. Da sie die Unterlagen von einer Lehrerin hatte, hatten wir schnell überlegen müssen, wen wir als Lieferanten angeben konnten, der nicht in einer Staatsstellung war.   Nach den Verhören durch die Gestapo überlegten wir, wie wir uns nun verhalten sollten, entschlossen uns aber, weiter die Soldaten im Feld mit unseren Briefen zu betreuen und sie zu informieren. Mein Bruder hatte inzwischen auch als Offizier Verbindung zum Widerstand aufgenommen. Er starb in Russland am 11. September 1942. Auch viele unserer Vettern und Freunde waren bereits gefallen. Wir hatten inzwischen eine Schreibmaschine organisiert und arbeiteten noch einige Zeit im Luftschutzkeller weiter. Meine Schwester studierte dann in Bonn und später in Tübingen. Nach meiner Heirat am 15. Mai 1944 zog ich aufs Land in die Nähe von Koblenz und war so der Polizei in Düsseldorf ausgewichen.   Nachdem die Geschwister Scholl im Februar 1943 ihren Widerstand mit dem Leben bezahlen mussten, kam uns die Gefährlichkeit unseres Einsatzes erst recht zum Bewußtsein. Wenn ich heute darüber nachdenke, stelle ich fest, dass wir viel riskiert, aber wenig bewegt und erreicht haben.“   Diese Darstellung ist wiedergegeben im Aufsatz von Monika Bunte: „Emma Horion und der Katholische Deutsche Frauenbund“. In: Der eigene Blick. Frauen-Geschichte und -Kultur in Düsseldorf. Hrsg. von Ariane Neuhaus-Koch. Neuss 1989, S. 116-117.

Elisabeth Büning-Laube zum 10. Todestag, Teil 1

Zum  4. Janaur 2015: Freundinnen, Freunde, Weggefährten erinnern sich

 

Georg Aehling: Erinnerungen an Elisabeth Büning-Laube

Das ‚Literaturschiff‘, gechartert von Michael Serrer, dem Leiter des Literaturbüros, hatte am späten Vormittag soeben vom Altstadtufer Düsseldorf abgelegt. Es war ein Samstag im Juni 2000, der Bücherbummel strebte seinem Höhepunkt entgegen: Literarische Vorträge und Lesungen an Bord des MS Goethe. Die Sonne schien grell, ich trug einen Sommerhut und setzte mich im Salon an einen Tisch am Fenster, wir fuhren los in Richtung Zons.

Eine keck behütete Dame im hellen Sommerkleid, begleitet von ihrem Dackel, den sie Monky nannte, näherte sich meinem Tisch und fragte, ob sie dort Platz nehmen könne, was ich gern bestätigte. Die kleine, rothaarige Frau und auch ihre schnarrende Stimme waren mir bekannt, denn ich hatte zuvor bereits einmal ihren Salon KunstLive besucht. Ich bestellte eine Flasche Rheinwein, wir tranken auf unser gemeinsames Wohl und kamen ins Gespräch. Sie berichtete von ihrem Salon und erwähnte, dass ihr zur Abrundung ihrer Bemühungen um die Förderung von Künstlerinnen und Künstlern bislang noch ein Element fehlte: ein Verlag, der die im Salon auftretenden Literaten publiziert. Sie berichtete mir von ihren Plänen, eventuell einen eigenen Verlag gründen zu wollen und bat mich um Hilfestellung, da ich im Jahr zuvor meinen eigenen Verlag gegründet hatte. Ich wusste daher aus eigener Erfahrung von den nicht unerheblichen Aufwendungen und den zahlreichen zu erwerbenden Kenntnissen und Qualifikationen für die Gründung eines Verlags und riet ihr ab, diese Mühen auf sich zu nehmen. Ich bot ihr dann umgehend an, die verlegerische Tätigkeit selbst zu übernehmen und entwarf auf der ausliegenden Getränkekarte kurzerhand ein Konzept. Wir gaben uns daraufhin eine Stunde Bedenkzeit. Ihre literarisch versierte Hündin Monky wedelte derweilen freudig mit dem Schwanz und gab uns damit das Zeichen, sich noch auf dem Wasser zu einigen.

Bei einer Flasche Goethe-Wein wurde dann die Zusammenarbeit besiegelt: Eine neue, als lose Abfolge von bebilderten Monografien konzipierte Publikationsreihe namens KunstLive, die meine Edition Virgines in Kooperation mit dem gleichnamigen Verein besorgt und die von Elisabeth Büning-Laube sowie z. T. von Holger Ehlert herausgegeben wird, soll dazu beitragen, bekannte und weniger bekannte Literaten, Künstlerinnen und Künstler einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Jeder Band sollte zunächst in einer kleinen Auflage von 50 bis 100 Exemplaren erscheinen. Ich entwarf in den darauf folgenden Tagen ein Logo (als das Parkett, auf dem man auftritt) und schlug ihr vor, jeden Band auf einer anderen Papierfarbe zu drucken, eine bunte Reihe, so bunt wie der Salon.

Wir arbeiteten intensiv zusammen, die Mails flogen täglich mehrfach vom Rechts- zum Linksrheinischen und vice versa hin und her, daneben tägliche Telefonate. Sie war extrem genau in ihren Vorstellungen, Vorgaben und Planungen, auch sehr fordernd, meinte es aber stets gut mit allen Beteiligten. Der Salon war immer aufs Genaueste vorbereitet, das Programm lief jeweils über mehr als 3 Stunden, mit geselligem Intermezzo bei Wein und Snacks. Den 5. Jahrestag des Salons feierten wir im Theatermuseum mit vierstündigem Programm: Literatur, Musik, Darbietungen, einer Kunstausstellung. In lediglich vier Jahren entstanden 16 Bände, für einige Autoren wie Titus Müller erwiesen sie sich als ein Sprungbrett. Im Spätherbst 2004 besuchte ich sie zum letzten Mal, sie war inzwischen bettlägerig geworden, Aufenthalte in Krankenhäusern und in einem Hospiz waren unvermeidlich geworden. Als ich am 4. Januar 2005 von einer Weihnachtsurlaubsreise zurückkam, zählte sie nicht mehr zu den Lebenden. Ich habe erst in den Tagen danach von ihrem Tod Nachricht erhalten. Der Salon starb mit ihr. 5. März 2015  

 Ina-Maria von Ettingshausen

Gewidmet meiner lieben Freundin Elisabeth in Erinnerung an wunderschöne Spaziergänge und tiefe Gespräche über Menschen, Poesie und Natur, über Frauenbilder und unser Selbstverständnis als Dichterinnen.
Lebensmotiv
Im Traum schon die kleinen Stoffbeutel gepackt weiß ich nicht was darin eingesackt vielleicht die ängstlichen Abschiedsgefühle beim Hinter-mir-Lassen der vielen schon abgesessenen Lebensstühle Ein seltsames Unbewusstsein bewegt sich in mir spielt Wege höhlende Töne hinauf und hinab wie auf einem klangoffenen Seelenklavier von dem Himmel so hoch bis ganz tief hinein ins Grab Kann ich noch nichts sagen trag innen treibende Fragen zu Körper empfindendem Gegenwartsnu mich warten lassen die Handlungsschuh Tausende prasselnde Regentropfen lassen mein schlafgründig Lebensmotiv Neubewusstsein frei schreibende Wörter klopfen.  

Klaus Grabenhorst: Die kleine Frau mit großem Hut

Ich war neu in dieser Stadt, von der man sagt, sie hätte die längste Theke der Welt. Mit einem Koffer voll französischer Chansons, die ich zusammen mit französischen Freunden in mein Deutsch gebracht hatte, wollte ich mich in die hiesige Kunstszene stürzen. Ich las den Veranstaltungskalender in den Kulturseiten. Sofort sprang mir ins Auge: „Kunst-Live am Freitag, 19:30 Uhr (nur mit telefonischer Anmeldung).“ Ich griff zum Hörer. „Ein letzter Platz wäre noch zu vergeben“, erklärte mir eine resolute Stimme am anderen Ende, „Sie müssten sich nur gleich entscheiden.“ Ich ließ mich auf die Besucherliste setzen. Knapp fünfzig Personen saßen in diesem Wohnzimmer, das dicht gefüllt war. An der einen Wand hingen Aquarelle, an der anderen sah ich Plakate aus der Literaturszene. Und ich roch den Duft von frischen Blumen. In der Küche standen Käsebrote und Getränke bereit. Eine kleine Frau mit einem großen Hut betrat den Raum. Sie begrüßte die Gäste, setzte sich in ihren Sessel und las eine Geschichte von einer Frau, die ihre Kräfte verlor, nachdem er ins Jenseits gegangen war. „Sie irrte durch einen Wald. Auf einmal bemerkte sie, wie ihr ein rot-gelbes Laubblatt in ihre ausgestreckten Hände fiel. Sie brachte es nach Hause und beim Betrachten des Blattes entdeckte sie die verschiedenen Farbtöne und Nuancen und begann zu erahnen, dass“ – und jetzt sprach die kleine Frau so leise, dass man die Worte kaum hören konnte – „auch der Herbst des Lebens manche Farbenpracht zu bieten hat“. Dann stand sie auf und kündigte die Künstler des Abends an. In der Pause erzählte ich meinen beiden Nachbarn, dass ich zum ersten Mal hier sei und mich darüber freue, noch den letzten Platz bekommen zu haben. Sie erzählten, dass sie hier zu den Stammgästen gehören, und dass auch sie, wie jedesmal, „den letzten Platz“ bekommen hätten. Beim Verabschieden sprach ich der kleinen Frau eine Einladung für mein nächstes Konzert aus. Es war eine heitere Atmosphäre in dem Kellertheater in dem Stadtteil auf der anderen Seite des Flusses. Die kleine Frau, die mit dem großen Hut aussah, als sei sie einem impressionistischen Gemälde entstiegen, saß in der ersten Reihe, kicherte, gluckste und strahlte mich an. „Bezahlen kann ich nichts“, sagte sie nach der Vorstellung zu mir, „aber ich möchte gerne, dass Sie einen Abend in meinem Salon singen. Fragen kostet ja nichts! Als Gegengeschäft haben Sie einen Wunsch bei mir frei!“ Ich erwähnte, dass ich gerne einmal im Geburtshaus von Heinrich Heine singen würde. „Sie meinen im Künstlercafé Schnabelewopski! Das machen wir! Ich kenne den Wirt! Und nicht nur das, junger Mann! Ich werde Sie überall einführen! Allerdings bitte ich Sie, dass jedes Mal vor Ihnen ein bis zwei Lyriker ihre Gedichte vorlesen können, und – das ist ein persönliches Anliegen von mir – bitte vergessen Sie nicht, das Lied von der Margerite zu singen!“ Seither fragte sie mich jedesmal, wenn ich ein Konzert gab, bei dem sie dabei war, nach dem Chanson von der Margerite. Es erzählt von einem Pastor, dem einmal bei seiner Predigt eine Margerite aus seinem Gebetsbuch gefallen ist. Wie wankte da der heilige Ort vor Erregung! Ein Skandal! Die Gemüter kamen in Wallung: „Woher kommt das Gänseblümchen? Kam es zu ihm? Kam er zu ihr? Doch“, so heißt es im Lied, „oben im Himmel unser Herr, kümmert sich wenig um das Getuschel im Parterre“. Und nachdem sich die Gemeinde allmählich wieder beruhigt hatte, heißt es zum Schluss: „Und dass niemand, das sei meine kleine Bitte, zeige auf den Pastor und die Margerite!“ Einmal, als ich die kleine Frau mit dem großen Hut an einem warmen Sommertag zufällig auf der Straße traf, erzählte sie, dass ihr Arzt ihr geraten habe, ab und zu mal ein Bier zu trinken, sie habe zu wenig Eisen im Blut. Ich lud sie für den Abend in einen Biergarten ein und flachste, sie könne mir ja dann nebenbei ihre Lebensgeschichte erzählen. „Das werde ich!“, stieß sie begeistert aus und tippelte von dannen. „Mein Vater war Pianist, meine Mutter Sängerin“, begann sie ihre Geschichte. „Sie waren beide im Widerstand gegen Hitler. Sie kämpften unter Einsatz ihres Lebens. Ich war nicht gewollt, denn ich wurde nur gezeugt, weil die Nazis sonst meine Eltern ins KZ gesteckt hätten. Wir waren fünf Kinder. Wären meine Eltern ins KZ gekommen, hätten wir Kinder in ein Heim gemusst. Das war den Nazis zu teuer. Wir haben damals nicht einmal Lebensmittelmarken bekommen. So musste ich schon als kleines Kind lernen, wie man sich etwas für ‚zwischen-die-Zähne‘ organisiert. Ich bin durch die Nachbarschaft gezogen und habe gesungen. Wenn ich Glück hatte, erbarmte sich jemand und gab mir ein Butterbrot. Noch heute habe ich den Geschmack von einem Butterbrot in meiner Nase. Nach dem Krieg, im Adenauer-Staat, waren meine Eltern wieder auf der Verliererseite und mussten mit ansehen, wie die braune Pest Karriere machte. Ich habe es zuhause nicht mehr ausgehalten. Eines Nachts bin ich aus dem Fenster gehüpft und dann immer den Bahngleisen entlang gegangen. Als es hell wurde, kam ich zu einer Fabrik mit vielen Schornsteinen. Ein Pförtner in einem Häuschen packte gerade sein Butterbrot aus. Ich setzte mich zu ihm und sagte: ‚Hm, so etwas hätte ich auch gerne!‘ Er brach mir die Hälfte ab. Ich sagte: ‚Bei dir möchte ich bleiben.‘ Der Pförtner nahm mich mit nach Hause und zusammen mit seiner Frau schaffte er es, dass ich bei ihm bleiben konnte.“ Die kleine Frau mit den roten Haaren hatte inzwischen ihr Glas ausgetrunken. Ich bestellte ihr ein zweites und fragte, warum sie so gerne das Lied von der Margerite höre. „Also, junger Mann“, fuhr sie fort, „das war, als ich zu den Nonnen kam. Wegen meiner Herkunft hieß es, ich sei des Teufels. ‚Du hast böse Gedanken, ich sehe genau, was du denkst‘, zischte die Obernonne. Ich konnte mir das nicht vorstellen. Ich stellte mich heimlich vor einen Spiegel und schaute mich an. Dann dachte ich an etwas ganz Böses und schaute wieder in den Spiegel. Ich konnte keinen Unterschied feststellen. Doch ich habe in all den qualvollen Jahren auch viel gelernt: Kochen, Kleider nähen, Hauswirtschaft, und: nicht zu lügen! Als die Obernonne mich auf die Prüfung vorbereitete, nahm sie mich zur Seite und sagte mit ernster Miene, dass man mich fragen werde, ob mir der Herr erschienen sei, und dann hätte ich mit ‚ja‘ zu antworten. Vor dem Einschlafen dachte ich lange darüber nach. In der Bibel steht doch: du sollst nicht lügen! Und da mir der Herr wirklich nie erschienen war, sagte ich in der Prüfung die Wahrheit. Sie können sich vorstellen, junger Mann: meine Tage bei den Nonnen waren gezählt!“ Eine Geschichte nach der anderen sprudelte aus ihr heraus und da ich mein zweites Bier auch ausgetrunken hatte, fiel es mir immer schwerer, mir die vielen Details zu merken. Später sei sie Krankenschwester geworden. An der Uni-Klinik. Und einmal habe sie zu dem berühmten Professor Doktor Hüsgen gesagt, er dürfe seine Mitarbeiter nicht so anschnauzen: „Das macht man nicht! Das haben die Menschen, die hier arbeiten, nicht verdient!“ Der perplexe Professor habe sie daraufhin mit nach Hause genommen und seiner Frau vorgestellt. So sei sie bei ihm Haushälterin geworden. „Mein späterer Mann, der übrigens dreißig Jahre älter war als ich, wollte mich kurz nachdem wir uns im Schnabelewopski kennengelernt hatten, zu meinem sech­zigsten Geburtstag zum Essen einladen und anschließend mit mir eine Lesung besuchen. Aber es gab in der ganzen Stadt keine einzige Literaturveranstaltung. ‚Dann laden wir eben selber ein paar Dichter ein‘, schlug er vor. Der Abend wurde ein voller Erfolg. Und alle waren der Meinung, wir sollten doch öfters solche Abende veranstalten. Und so entstand der Salon. Als mein Mann zwei Jahre später starb, sagte er auf dem Sterbebett zu mir: ‚Schätzgen, jetzt machst du den Salon alleine weiter!‘ Wir hatten doch gerade erst geheiratet! Wir waren glücklich. Und er freute sich immer, wenn die Gäste eintrafen. Er stand da, wie ein Leuchtturm, so stolz war er. Vorher hatten wir geputzt, die Künstler ausgesucht, die Presse informiert, Einladungen verschickt, frische Blumen geholt, Butterbrote und Getränke bereitgestellt. Und immer, wenn alles fertig war, sagte er: ‚Schätzgen, und jetzt setzt du deinen Hut auf!‘ Kurz vor unserer Hochzeit, junger Mann, war noch etwas passiert! Wir waren alle in einem Hotel auf dem Land. Da erzählte mir am späten Abend eine Verwandte von ihm, dass er bei der Waffen-SS war. Das muss man sich mal vorstellen! Ich wollte gerade schlafen gehen, und dann das! Ich, die Tochter aus einem Elternhaus aus dem Widerstand, heirate einen Nazi, der bei der Waffen-SS war! Um Mitternacht stellte ich ihn zur Rede: ‚Warum hast du mir das nicht gesagt?‘ ‚Liebchen‘, antwortete er, ‚weil du mich dann nicht genommen hättest!‘ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Am nächsten Morgen sollte die Hochzeit sein. Um sechs Uhr in der Früh, nach einer langen Nacht, in der er mir alles erzählt hatte, sagte ich völlig erschöpft: ‚Ich kann darüber n i c h t richten!‘ Und dann habe ich ihn geheiratet.“ Manch schönes Konzert stellte die kleine Frau seitdem mit mir auf die Beine. Und als ihr Salon vom Kulturamt offiziell anerkannt war und die ersten Fördergelder flossen, frohlockte sie „jetzt kannst du bei mir singen“ und fügte voller Stolz hinzu „für Mucken!“ Einmal lud sie mich zu ihrem Geburtstag ein. Mein bester Freund war in diesen Tagen gestorben. Ich fühlte mich nicht in der Lage, auf eine Geburtstagsfeier zu gehen. Sie verstand, rief mich aber zwei Tage vorher noch einmal an und bat mich inständig, zu kommen. Ihr Salon platzte an diesem trüben Novembernachmittag aus allen Nähten. So viele Menschen hatte ich dort noch nie gesehen! Mit ihrem großen Hut saß sie in ihrem Sessel. Die Füße hatte sie auf ein Bänkchen gelegt. Sie las von einem kleinen Mädchen vor, das auf Befehl christliche Worte zu verinnerlichen hatte: „Wollte sie an ihnen nicht ersticken, musste sie gehorchen. Wer weiß, ob dieser Gott, von dem sie keiner befreien konnte, nicht noch viel grausamer war als der Führer, der sich umgebracht hatte, als der sinnlose, lange Krieg verloren ging. Ihr Schicksal war für sie ein vorprogrammiertes Verlorensein, ein Leben, das von Gott aus unweigerlich darin bestehen sollte, für die Ewigkeit zu leiden. Die Höllenschilderungen der Ordensfrauen quälten sie mehr als die Nazis es je gekonnt hatten.“ Sie trank mit zitternder Hand einen Schluck aus ihrem Glas. „Immer jedoch spürte das Mädchen in sich ein Sehnen. Wonach es sich allerdings sehnte, wurde ihm erst klar, als es Jahrzehnte später den Schlüssel zu seiner Innerlichkeitskammer fand, in der sich alte und neue Worte versteckt hielten und sich ihr nun, da sie die seelische Kraft der Erinnerung besaß, offenbarten.“ Sie beendete ihre Lesung mit einem Gedicht. Danach stand sie aus ihrem Sessel auf und kündigte die nächsten Vortragenden an. Nach drei Stunden bedankte sie sich und erklärte, dass dies die letzte Salon-Veranstaltung gewesen sei. Inzwischen war es dunkel geworden. Ein paar Kerzen brannten auf den Tischen. Sie bewegte sich langsam durch den Raum und schaute jedem einzelnen lange in die Augen, berührte ihn, ging zum Nächsten, vor dem sie wieder lange verweilte. Es fiel kein Wort. Spät in der Nacht war ich einer der letzten, die das Haus verließen. Sie hatte von ihrer Krankheit erzählt und dass sie den Arzt gefragt habe, ob er sie, wenn sie seine Frau wäre, in Anbetracht der Befunde operieren würde. Der Arzt hatte verneint. Nach ein paar Monaten bekam ich einen Anruf von einem Hospiz. Sie hätte gebeten, dass ich komme. Abgemagert und zerbrechlich wie ein zerrupftes Vögelchen im Schnee lag sie in ihrem Bett. Ihr kleiner Kopf mit den roten Haaren guckte aus der weißen Bettdecke und ruhte auf dem großen weißen Kopfkissen. Der Tisch war voll prächtiger Blumengeschenke. Daneben lag ihr Hut. Ich setzte mich auf die Bettkante. Sie konnte kaum sprechen und wir lächelten uns an. Sie sah, dass ich meine Gitarre mitgebracht hatte. „Die Margerite?“ Sie strahlte. „Man darf andere kritisieren, aber man darf ihnen nie ihre Würde nehmen!“, seufzte sie. Sie wurde immer müder. Sie setzte ihre Brille mit den dicken Gläsern ab und legte die beiden Hörmuscheln mit der Verkabelung auf ihr Nachtschränkchen. Ich hörte sie leise sagen: „Mit der Kunst ist es möglich, uns auf die Zehenspitzen zu stellen, um mit unserem dummen Kopf ein Stück vom Himmel zu berühren.“ Ich streichelte ihr Gesicht und küsste ihre Wangen. Dann schlief sie ein. Ich hielt noch lange ihr kleines Händchen. Von da an rechnete ich jeden Tag damit, einen Anruf mit der Nachricht ihres Todes zu bekommen. Nach drei Wochen aber war sie selbst am Telefon: „Ich bin wieder zuhause! Willst du kommen?“ Sie schimpfte: „Halsabschneider! Alle wollten nur mein Geld!“ Über mehrere Monate hatte sie viel Besuch. Es war ein Kommen und Gehen. Allerdings konnte sie kaum noch hören und magerte noch weiter ab. Als ich sie das nächste Mal besuchen wollte, war die Wohnung ausgeräumt. Sie wurde gerade renoviert und ich konnte einen letzten Blick in die Räume des Salons werfen. Später hörte ich, dass sie mit einem jungen Künstler in die Schweiz gefahren sei und eine Kapsel genommen habe. „Eine Beerdigung wollte sie nicht“, hieß es, sie wollte „in den Wolken begraben sein.“ Aus: Klaus Grabenhorst: „Ein Stück vom Himmel“, Geistkirch-Verlag, Saarbrücken 2011, S. 7-15. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Geistkirch-Verlags.  

Clemens Hüsgen: Das Besondere

Von vielen Freunden von damals wird bedauert, dass keine Nachfolge des von Elisabeth initiierten Salongedankens erfolgte. Die atmosphärische Dichte wird weder in der „Blauen Stunde“ in der Destille noch im Literaturkreis von Prof. Gepa Klingmüller (bei anderer Zielsetzung) erreicht. Das aber war das Besondere: Konzentrative Stille bei größter körperlicher Nähe der dichtgedrängt sitzenden Zuhörer zum Vortragenden, aber auch locker-freundschaftlicher Umgang in der großen Pause bei Gebäck und Wein. Von der Gitarre bis zur Percussionsgruppe, vom Gesang bis zum Schauspieler waren Künstler und Künstlerinnen vertreten. Lesetexte mussten, vorher genehmigt, den Ansprüchen nach Form und Aussage genügen. Elisabeths leise, sensible Art bewirkte ein kultiviertes Miteinander ohne je förmlich-steif zu sein. Ich erinnere mich noch lebhaft an meine erste Lesung bei ihr, mit Lampenfieber trotz Erfahrungen vor großem Publikum (Waldhotel Wesel, Schloss Beck, Schloss Ringenberg  u. a.) – das hier war eine andere Welt: Kurz vor sich spürt man jeden Blick, ist wie ausgeliefert bei jeder Bewegung, die geringste Nervosität wird wahrgenommen. Doch Elisabeth führte mich ans Micro, stellte mich vor, sprach beruhigend zu mir, alles Befremdliche war verflogen. So mag es manchem ergangen sein, der die Intimität dieses Salons kennenlernte und sich dann später draußen weiterentwickelte. Hilfreich war sicher die Aufnahme in eine Buchreihe, aber entscheidender war wohl die Bewährung vor einem sachkundigen Publikum, die freundschaftlichen Verbindungen untereinander, die Anregungen durch vielfältige Darbietungen. Elisabeth Büning-Laube hat sich mit der Förderung junger Talente verdient gemacht, doch ihr eigentliches Anliegen, die Wiederbelebung des historischen Vorbilds eines „Salons“ mit einem kultivierten Fluidum jenseits vom lautstarken, oft literarisch wenig Anspruchsvollen – diese Idee ist nach meiner Kenntnis in Düsseldorf nicht weitergeführt worden. Eine große Wohnung, Engagement und künstlerisch vielfältige Verbindungen als Voraussetzung für dieses Vorhaben sind heute wohl nicht mehr zu bewerkstelligen. Schade, - umso größer ist ihr Verdienst, umso lebhafter und dankbarer unsere Erinnerungen an viele schöne Stunden. Ihr weithin sichtbarer, großer Hut schmückte unsere Nordstraße, unser Viertel ist kulturell ärmer geworden.  

Heidede Morgenbrod (1933-2001)

Nachruf auf Heidede Morgenbrod: Ein großer Verlust

Heidede Morgenbrod ist von uns gegangen. Sie starb im Alter von 68 Jahren. Ihre Erkrankung war so kurz und heftig, dass man wohl sagen kann: Mitten aus dem Leben gerissen. Auf der Rückfahrt von der Gesamtvorstandssitzung in Altleiningen im März diesen Jahres äußerte sie die Absicht, den Landesvorsitz in NRW, den sie seit 1990 innehatte, in jüngere Hände zu geben. Ich war verblüfft, weil wir nie zuvor davon gesprochen hatten. Mit großer Zielstrebigkeit (und Vorahnung?) führte sie Telefongespräche, und so konnten wir im Mai in Düsseldorf einen neuen Landesvorstand wählen. Am 9. Juni musste sie ins Krankenhaus, das sie nicht mehr verlassen sollte. Wie kann ich ihr Leben und ihre Leistung würdigen? Am besten gebe ich etwas von dem weiter, was sie mir erzählt hat. Nie hat sie die Flucht aus Ostpreußen vergessen können, vor allem nicht die nächtlichen Schreie von vergewaltigten Frauen im Sommer in dem Notquartier in Mecklenburg. Dieses Trauma war die eine Wurzel ihres frauenpolitischen Engagements. Eine andere Wurzel liegt in ihrer Erfahrung, dass eine Frau ihre finanzielle Eigenständigkeit durch ein Kind verliert und dass Kinderbetreuung durch Freunde nicht so leicht zu haben ist und auch nicht unbedingt gewünscht wird. Als ihre erste Ehe Mitte der 60er Jahre scheiterte und sie in ihrem erlernten Beruf als Buchhalterin mit halber Stelle arbeiten wollte, erwies sich die Betreuung des jüngeren Sohnes als unüberwindliches Hindernis. Die Kindergärtnerin des älteren Sohnes räumte ihr - außerhalb der Legalität - die Möglichkeit ein, den Kleineren ohne Anmeldung im Kindergarten „mitlaufen“ zu lassen. Dass sie als Preußin/Ostpreußin gezwungen war, etwas „Gesetzwidriges“ zu tun und dass sie eine andere Frau, die Kindergärtnerin, veranlassen musste, ebenfalls etwas "Gesetzwidriges" zu tun, hat sie zutiefst verstört und aufgebracht und nach anderen Lösungen suchen lassen. Sie dachte an etwas, das wir heute „Gehalt für Familienarbeit“ nennen. Später heiratete sie wieder. Ihr Mann hatte zwei Kinder, und sie hatte zwei, und sie machte die ganze Familienarbeit für den großen Haushalt. Im Jahr 1979 kam eine Halbtagsstelle als Buchhalterin dazu. Anfang der 70er Jahre gehörte sie zu den Frauen, die im Düsseldorfer actionsring frau und welt den „Gesellschaftspolitischen Arbeitskreis“ gründeten. Nach dem Wahlsieg der SPD bei der Bundestagswahl am 5. Oktober 1972 (mit der darauf folgenden Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler) gehörte sie zu den Gründungsmitgliedern der Initiative 6. Oktober, die die Regierungspartei „am Tag nach der Wahl“ mit den Forderungen der Frauenbewegung konfrontierte. Von 1979 bis 1989 war sie Mitbegründerin und aktive Mitarbeiterin im autonomen Frauenprojekt „Frauen-Bücher-Zimmer“ in Düsseldorf (Frauenbuchladen, Kulturbetrieb und „ständige Informationsbörse“ verbunden mit gesellschaftspolitischer Arbeit). Für diesen eingetragenen Verein machte sie die Buchhaltung und sorgte dafür, dass er gemeinnützig war. Im Rahmen ihrer gesellschaftspolitischen Arbeit hatte sie schon vor 1979 brieflichen Kontakt zu Dr. Gerhild Heuer, die später die dhg gründete. Für Heidede Morgenbrod war offensichtlich, dass bei der Frauenbewegung der 70er Jahre die „Familienarbeiterin“ überhaupt nicht im Blickfeld lag. Daher galt ihre besondere Liebe seit 1979 der dhg. Dass es in Düsseldorf bald eine aktive Ortsgruppe gab, ist ihrem Impuls und ihrer Anregung zu verdanken. Auf jeder Messe, auf jeder Ausstellung, fast auf jedem Kirchentag übernahm sie „Schichten“.

Im Jahr 1991 verunglückte sie schwer bei der Einrichtung des dhg-Standes bei der Messe „Aktiv leben“. Sie stürzte und hatte wegen eines komplizierten Bruches einen langen Klinikaufenthalt. Im Jahr 1995 übernahm sie zu allen übrigen Verpflichtungen die Buchhaltung mit großer Umsicht und Gewissenhaftigkeit. Sie schaffte es mit ihren Vorschlägen zur Satzungsänderung, dass die dhg gemeinnützig wurde. Der Namensänderung von der geliebten dhg-Hausfrauengewerkschaft zu dhg-Verband der Familienfrauen und -männer stand sie reserviert gegenüber. Aber Heidede war zutiefst demokratisch, und sie trug die Mehrheitsentscheidung mit.

Was mich an ihr fasziniert hat: ihre Fähigkeit, „Atmosphäre“ zu fühlen und atmosphärische Veränderungen zu registrieren und darauf zu reagieren. Irgendwann erfuhr ich, dass sie als junges Mädchen gern und viel Schach gespielt hat. Da wurde mir klar, dass ihre Art zu denken die einer Schachspielerin war; sie spielte strategisch einschließlich der Rösselsprünge, und ihre Intuition hatte sie wohl mit einer 360-Grad-Antenne begabt.

Der evangelische Pastor in Korbach, der sie nie gekannt hat und der sich auf die Angaben der Familie und der Freundinnen stützte, zitierte aus Heidedes Selbstdarstellung (dhg-Rundschau 2/94): „(...) ich lebte im Dauerzorn über die bisher geschaffenen Strukturen und immer wieder dreisten Veränderungen zu Lasten von Frauen.“ Er hatte als Vers für die Trauerrede bei der Beerdigung den Spruch gewählt:

 

Lebt als Kinder des Lichts. Die Frucht des Lichts ist Gerechtigkeit, Güte und Wahrheit.

 

Alle Flaggen standen am 13. August auf Halbmast. Es war zur Erinnerung an „40 Jahre Mauerbau“, aber es passte auch zur Beerdigung der (frauen-)politisch denkenden und handelnden Heidede Morgenbrod. Für sie war die Gerechtigkeit für Mütter Herzenssache. Wir wollen unsere dhg-Arbeit in ihrem Sinne fortsetzen. Monika Bunte, Düsseldorf

 

Texte von Heidede Morgenbrod

  Selbstdarstellung von Heidede Morgenbrod in der dhg-Rundschau 2/94 1933 bei Insterburg in Ostpreußen geboren, habe ich innerhalb von zwei Ehen vier Kinder betreut und erzogen, zeitweilig auch als Alleinerziehende. Seit 1979 bin ich bis auf den heutigen Tag halbtags erwerbstätig. Als gelernte Steuerfachgehilfin lebe ich im Dauerzorn über die bisher geschaffenen Strukturen und immer wieder dreisten Veränderungen zu Lasten von Frauen. Mein gesellschaftliches Engagement gilt seit 20 Jahren der Frauenpolitik mit dem Schwerpunkt: „Eigenständige soziale und finanzielle Sicherung der Frau“. Ich bin felsenfest davon überzeugt, daß der Lohn für häusliche und soziale Pflegearbeit die einzige brauchbare und gerechte Lösung darstellt, finanzierbar durch Ungestaltung des Sozial- und Steuerrechts. Glücklich bin ich, daß die dhg diese Zielsetzung mittlerweile in ihr Grundsatzprogramm aufgenommen hat. Glücklich bin ich auch, daß sich viele junge Frauen aktiv für diese Forderung einsetzen und damit Druck auf die Parteipolitik ausüben. Von 1979 bis 1989 war ich Mitbegründerin und aktive Mitarbeiterin im autonomen Frauenprojekt "Frauen-Bücher-Zimmer" in Düsseldorf (Frauenbuchladen, Kulturbetrieb und "ständige Informationsbörse" verbunden mit gesellschaftspolitischer Arbeit). Seit 1979, also seit Gründung der dhg, bin ich Mitglied und seit drei Jahren im Vorstand und im Arbeitskreis Grundsatzfragen tätig.   Frauen–Bücher–Zimmer (1980) Am Anfang stand die Idee einer „ständigen Informationsbörse“. „Informationsbörse“, ein Begriff geprägt durch Antje Huber, ist eine Selbstdarstellung der etablierten Frauenverbände ihrer Zielsetzung und Programmgestaltung. Räume hierfür wurden in der Bundesrepublik in den verschiedenen Städten von den Stadt-Sparkassen zur Verfügung gestellt. Diese Informationsbörsen in den verschiedenen Städten fanden bisher nur einmal statt und dazu begrenzt auf maximal 14 Tage zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Zu der Idee „ständige Informationsbörse“ kam die Frage nach der praktischen Durchführung und der Wunsch zur Einbeziehung aller Frauengruppierungen außerhalb der unter dem Dach des Deutschen Frauenrates zusammengefassten Verbände. Hier wurde an die Frauenbewegung, sowie an die Bürgerinitiativen von Frauen, wie Spielplatzforderungsgruppen oder ähnlich gedacht. Das heißt, die „ständige Informationsbörse“ soll ein Dach sein für etablierte wie für autonome Frauengruppierungen. Zur praktischen Durchführung der Idee „ständige Informationsbörse“ wurde ein Verein gegründet als Rechtsform, der dieser Idee wegen auch die vorläufige Gemeinnützigkeit seitens des Finanzamtes erhielt und zwar begrenzt bis zum 31.12.1980. Der Verein wird vom Finanzamt dann überprüft auf die Einhaltung seines Zweckes, um die Gemeinnützigkeit für die Zukunft zu bekommen. Zur praktischen Durchführung der Idee „ständige Informationsbörse“, wurden Räume in zentraler Lage Düsseldorfs gemietet, wo die Informationsbörse Herberge finden konnte. Wie die Informationsbörse arbeiten soll, ist in § 2 „Zweck“ der Satzung des Vereins Frauen-Bücher-Zimmer sehr ausführlich dargelegt, sogar noch mit Nachtrag zur Verdeutlichung besonders für das Finanzamt. Der Frauenbuchladen erscheint unter § 2 „Zweck“, Punkt 4: Informationsbüro mit dem Angebot entsprechender Literatur. Unter Punkt 1 kommt die Vermittlungstätigkeit der Informationsbörse zum Ausdruck mit dem Satz: „Informationen aus allen Lebensbereichen zu sammeln und an interessierte Frauen weiterzugeben (z. B. Termine für Vorträge, Bekanntmachungen über Frauengruppen, -verbände, Seminare)“. Unter Punkt 3 kommt die Eigeninitiative des Vereins Frauen-Bücher-Zimmer zum Ausdruck mit dem Satz: „Kommunikative Veranstaltungen, z. B. Referate, Diskussionen, Austausch von Meinungen und Erfahrungen“. Diese Konzeption zeigt eindeutig auf, dass das Frauen-Bücher-Zimmer keinen 26. Frauenverband Düsseldorfs darstellt oder eine autonome Frauengruppe mit einer eindeutigen Meinung. Bei den langen Vorverhandlungen mit der Leitung der Arbeitsgemeinschaft Düsseldorfer Frauenverbände sowie anderer Organisationen, die nicht einsahen, wieso nun noch wieder eine neue Frauengruppierung entstehen soll, wo es doch schon so viele Frauengruppierungen gibt, wurde von uns immer argumentiert, dass wir uns nicht als 26. Frauenverband oder eine neue autonome Frauengruppe ansehen, sondern ein Dach (Überbau) darstellen wollen, um allen bestehenden Frauengruppierungen eine ständige Selbstdarstellung und ein ständiges Programmangebot zu ermöglichen. Dieser Zielsetzung, die in der Satzung des Vereins Frauen-Bücher-Zimmer festgelegt und mit dieser Zielsetzung auch im Vereinsregister des Amtsgerichts Düsseldorf angemeldet ist, steht nun vom Grundsatz her absolut entgegen, dass der Verein Frauen-Bücher-Zimmer sich einem Frauenverband oder einer autonomen Frauengruppe in der Öffentlichkeit stützend zur Seite stellt. Dieses heißt aktuell konkret, dass gar nicht zur Debatte stehen kann, dass wir Aufrufe zu Demonstrationen mitunterschreiben und Slogans, Parolen aufnehmen und unterstützen (z. B. „Stoppt Strauß“, „Wir pfeifen auf linke Vögel“, oder „Stoppt Kernenergie“, „Wozu brauchen wir Kernenergie, bei uns kommt der Strom aus der Steckdose“), da unsere Beschlussfassung im § 9 der Satzung nach demokratischem Verständnis festgelegt wurde und unter Ziffer 2 „Mehrheitsverhältnisse“ steht: „Sofern das Gesetz oder die Satzung nicht entgegenstehen, werden alle Beschlüsse mit einfacher Mehrheit der erschienenen stimmberechtigten Mitglieder wirksam.“ Um eine groteske Zukunftsvision zu verdeutlichen, hierzu zwei Beispiele:
  1. Das jetzt aktuelle Beispiel: Die demokratische Fraueninitiative, über die sich jede Frau von uns ein Bild aus dem Courage-Artikel vom April 1979 machen kann, ruft zur Demonstration auf und demonstriert u. a. für die Streichung des § 218 aus dem Strafgesetzbuch. Die von uns erschienenen Mitglieder stimmen mit einfacher Mehrheit zu, wir unterschreiben den Aufruf, erscheinen hiermit in allen Zeitungen Düsseldorfs und marschieren mit dem Transparent „Frauen-Bücher-Zimmer“ auf der Straße mit.
  2. Eine mögliche Situation in naher Zukunft, da der Wahlkampf vor der Tür steht und diese und ähnliche Anliegen besonders häufig jetzt auf uns zukommen werden.

Eine katholische Frauengemeinschaft ruft zur Demonstration auf, den § 218 im Strafgesetzbuch beizubehalten und die Konstellation unserer Mitglieder ist an dem Abstimmungstag so, dass mit einfacher Mehrheit der erschienenen Mitglieder dem zugestimmt wird, wir erscheinen wiederum als Mit-Aufrufer zur Demonstration in allen Zeitungen Düsseldorfs und marschieren auf der Straße mit dem Transparent „Frauen-Bücher-Zimmer.“ Wir verstoßen gegen die Satzung und gegen den Zweck des Vereins, wenn wir Parolen, Slogans, Aufrufe, Resolutionen jeglicher Art im Namen des Frauen-Bücher-Zimmers unterstützen. Persönliches Engagement und Beitritt zu entsprechenden Vereinen und Gruppierungen bleibt jeder Frau unbenommen.

Heidede Morgenbrod, Düsseldorf den 28.01.1980

  Wir stellen zur Diskussion: „Düsseldorfer Tarifpapier“ (1988) Jede Arbeit, die im Haushalt mit Kindern anfällt, muß bezahlt werden, wenn sie an zuständige Dienstleistungsbetriebe in Auftrag gegeben wird. Übernimmt dieselbe Arbeit die Hausfrau oder der Hausmann, dann wird sie zu einer unbezahlten Arbeit. Private Gegebenheiten, wie der Gang zum Standesamt mit vollzogener Hochzeitsnacht, sind Leistungen im Sinne des Steuerrechts und führen zum Ehegattensplitting. Private Gegebenheiten, wie die Anzahl der Kinder, sind Leistungen im Sinne des Steuerrechts und führen unter anderem zu Kinderfreibeträgen, die wiederum über die Höhe des Erwerbseinkommens in ihrer Höhe unterschiedlich ausfallen. So gibt es eine Reihe von steuerlichen Leistungen des Staates, die lediglich aufgrund privater Gegebenheiten erbracht werden, aber nichts mit der Erwerbsarbeit zu tun haben. Der Nettolohn der Erwerbstätigen wird hiermit erhöht: zum Beispiel: Mit diesem Tarif-Modell ist auch die eigenständige soziale Sicherung von männlichen und weiblichen Personen gesichert, die sich für Kindererziehung und Kinderbetreuung entscheiden. Gewährleistet sind dann: eigenständige Versicherung für das Altersruhegeld sowie für die Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente, eigenständige Krankenversicherung. Gewährleistet ist dann die gesetzliche Unfallversicherung (möglicherweise der Gemeindeunfallversicherung einzugliedern). Häusliche Pflege- und Erziehungsarbeit begründet dann auch Ansprüche auf vermögenswirksame Leistungen, Urlaubsgeld, Weihnachtsgratifikation sowie Förderung, Fortbildung und Umschulung durch das Arbeitsamt. Tarifpartner ist der Bund. Heidede Morgenbrod für die Düsseldorfer Arbeitsgruppe „Lohn für häusliche Pflege- und Erziehungsarbeit“ der dhg. In: dhg-Rundschau der Deutsche Hausfrauengewerkschaft e. V., H. 1, 1988, S. 5.    

Else Loelgen (1900-1997)

Nachruf für Else Loelgen

Else Loelgen hat uns kurz vor ihrem 97. Geburtstag für immer verlassen. Ein langes Leben ging zu Ende – doch in der Erinnerung der um sie Trauernden wird sie fortleben. Wir dürfen Else Loelgen zu den bedeutenden Frauen unseres Verbandes zählen, die immer auch in die Zukunft hineingewirkt haben.   Bereits 1955 bei einer Begegnung mit Eleonore Späing, der damaligen Vorsitzenden der Gruppe Düsseldorf, wurde ihr Interesse für die kulturellen Bestrebungen des Verbandes geweckt. Sie wurde Mitglied und übernahm sehr bald das Amt der Sachgebietsleiterin für Schrifttum in der Gruppe Düsseldorf.   Schon 1960, auf der damaligen Jahrestagung des Verbandes in Kiel, wurde sie zur Verbands-Sachgebietsleiterin gewählt. 1982 fand die Jahrestagung wieder in Kiel statt, diesmal verabschiedete sich Else Loelgen von ihrem Amt, sie sagte: „Meine Zeit als Sachgebietsleiterin rundet sich am Ende wieder in den Anfang. Ich kann kein besseres Zeichen finden, in sich geschlossen, harmonisch rund, erfüllter kann ein langer Abschnitt des Lebens nicht sein.“   Das Rund war angefüllt mit vielerlei Begegnungen und Gesprächen, sachlicher Unterrichtung, zuverlässiger Gemeinsamkeit und herzlicher Zuneigung. Wenn wenig Widerhall aus den Gruppen kam, fragte sie sich nach dem Sinn ihrer Arbeit und erkannte immer wieder, daß mit der Arbeit auch ein Reifeprozeß ihres Lebens vor sich ging. Die größte Freude an ihrem Sachgebiet brachten ihr die Reisen in die Gruppen mit literarischen Referaten und Lesungen.   In den Jahren von 1968 - 1975 war Else Loelgen gleichzeitig 2. Verbandsvorsitzende und konnte in dieser Zeit manche vermittelnde und aufklärende Rolle übernehmen. Vor allem die Änderung des Verbandsnamens von „Deutsche Frauenkultur“ in „Deutscher Verband Frau und Kultur“ brauchte Schlichterinnen wie Gerritje Meldau und Else Loelgen, um eine Übereinstimmung bei der erforderlichen Abstimmung herbeizuführen. Von beiden sind viele neue Ideen auf den Weg gebracht worden, für die wir den schöpferischen Frauen danken.  

Bis zuletzt war Else Loelgen an der Entwicklung der Düsseldorfer Gruppe interessiert, wenn sie auch nicht mehr zu den Veranstaltungen kommen konnte. Wer ihr begegnet ist, wird sie in der Erinnerung behalten:

„Wenn durch einen Menschen ein wenig mehr Liebe und Güte ein wenig mehr Licht und Wahrheit in der Welt war hat sein Leben einen Sinn gehabt.“

(Kathrin Pingel in: frau und kultur. Zeitschrift des Deutschen Verbandes Frau und Kultur e.V. 1/97, S. 25)

Vita

Else Loelgen, geb. Bagel (21. März 1900 - 4. Januar 1997) Eltern: Fritz Bagel, Verleger, Papierhersteller, Druckereibesitzer in Düsseldorf, und Helene Bagel, geb. Doerth aus Schwerte. Nach der Geburt von Else im Jahr 1900 folgten noch 3 Brüder. 1915 Tod der Mutter bis 1917 Besuch des Schuback-Schmidt-Lyzeums 1917-18 Besuch der Haushaltsschule Schloß Wasserburg am Bodensee 1918-24 Buchbindeausbildung in der Firma Bagel 1920-27 Sprechunterricht bei Frau E. Dalands am Schauspielhaus Düsseldorf 1922-24 Else Bagel verbringt die Wintersemester in München auf der Kunstgewerbeschule (ehemals Depschitz-Schule). Sie hat u. a. Unterricht bei der Schriftkünstlerin Anna Simons und besuchte Vorlesungen in Kunstgeschichte bei Heinrich Wölfflin, in Theatergeschichte bei Arthur Kutscher. Sprechunterricht erhielt sie bei Arnold Marlé. 1925-26 Als Buchbinderin in Düsseldorf tätig u. a. für die Galerie Flechtheim, Ausstellung ihrer Arbeiten im Kunstverein und tätig für die „GeSoLei“ im Jahr 1926. Nebenbei war sie als Rezitatorin auf verschiedenen Veranstaltungen tätig. Gerne wäre sie Schauspielerin geworden, was aber der Vater nicht billigte. So versuchte sie aus der sie nicht befriedigenden Tätigkeit der Buchbinderei zur Innenarchitektur zu wechseln. 1927 Volontariat im Architekturbüro von Emil Fahrenkamp 1927-28 Besuch der Klasse für Innenarchitektur in der Kunstgewerbeschule in Berlin. 1929 Heirat mit Carl August Loelgen, Sohn von August und Käthe Loelgen, Inhaber des renommierten Modehauses „Loelgen-Kriegel“ in Düsseldorf. Kinder: Sohn Thomas im Dezember 1929 und Tochter Dorothea im Dezember 1933 1933 Zunahme der schweren Erkrankung ihres Mannes, der er 1937 erlag. 1938 Umzug nach Bayern, wo sie mit ihren Kinder den Krieg überlebt. 1947-48 Sprechlehrerin am „Theater der Jugend“ in München unter Martin Hellberg. Es schloss seine Pforten 1948, als Hellberg in die DDR ans Theater in Dresden wechselte. 1947-1956 Sprecherin (mit Unterbrechungen) der ersten Blinden-Hörbibliothek Deutschlands in Kiefersfelden. Die Gründerin und Leiterin der Blinden-Hörbibliothek war Frau Peters. 1951 Rückkehr nach Düsseldorf unter Beibehaltung des Hauses in Bayern. In den folgenden Jahren leistete sie Regiearbeit bei Schülertheatern an verschiedenen Schulen und wirkte weiter als Sprecherin der Hörbibliothek. 1955 Beginn der Tätigkeit im Verband „Frau und Kultur“, vor allem in der Sparte Literatur. Sie wurde auch Verbandsvorsitzende. Viele Lesungen führten sie als Rezitatorin mit eigenen Programmen durch Deutschland. 1982 Beendet sie 82jährig ihre aktive Tätigkeit bei „Frau und Kultur“, blieb jedoch dem Verband bis 1993 eng verbunden. 4. Januar 1997 Hoch betagt stirbt sie 60 Jahre nach ihrem Mann. Das Grab befindet sich auf dem Düsseldorfer Nordfriedhof. (Text von Dorothea Kubanek, Tochter von Else Loelgen)

Texte von Else Loelgen

Abschiedsrede von Else Loelgen als Sachgebietsleiterin für Literatur auf der Jahrestagung des Verbands Frau und Kultur 1982 Liebe Mitglieder, ein sonderbarer Zufall oder sollte es keiner sein? Ich stellte nämlich beim Lesen alter Akten fest: 1960 habe ich das Sachgebiet Schrifttum übernommen und zwar auf der damaligen Tagung in Kiel. Ich erinnere mich sehr genau an die Tagung. Sie fand in dem heute abgerissenen Hotel „Bellevue“ auf der Höhe statt, und als erstes war ich fasziniert von dem Blick über die Förde. Was die Literatur anlangt, so las der Lesekreis Düsseldorf – ich hatte damals schon seine Leitung – Texte von Barlach, Frau Kramer aus der gastgebenden Gruppe Kiel las aus seinen Briefen. Und nun nochmals Zufall oder keiner, ich werde in der kommenden Woche in Düsseldorf zum zweiten Mal das Barlachprogramm lesen. Meine Zeit als Sachgebietsleiterin rundet sich also am Ende wieder in den Anfang. Soll ich dieses merkwürdige Zusammentreffen als ein Zeichen für meine Tätigkeit nehmen? Ich glaube, ich kann kein besseres finden. In sich geschlossen, harmonisch rund. Erfüllter kann ein langer Abschnitt des Lebens nicht sein. So ist es mir eine Freude, vor Ihnen stehen zu können und allen lieben Menschen, mit denen ich in gemeinsamer Arbeit gestanden habe, ein Dankeschön zu sagen. Ein Dankeschön für die freundliche Hilfe, mit der Sie zur Rundung eines fast ¼ Jahrhunderts meines Lebens beigetragen haben. Denn was wäre das Rund, wenn es nicht angefüllt wäre mit vielerlei Begegnung, sachlicher Unterrichtung, ehrlicher Widerrede, zuverlässiger Gemeinsamkeit und herzlicher Zuneigung. Ganz besonders gedenke ich in diesem Augenblick derer, die auf dem Wege zur Rundung meiner Jahrzehnte nur noch in meiner Erinnerung lebendig sein können. Ich nenne als Vertretung für alle nur zwei Namen: Elisabeth Meyer-Spreckels, Leiterin des Sachgebietes Lebensgestaltung, heute staatsbürgerliche Verantwortung, und Dorothea Husserow, langjährige Vorsitzende der Düsseldorfer Gruppe. Vielen von Ihnen sind diese Namen völlig fremd, doch sollten Sie in den Annalen unserer Geschichte immer wieder genannt werden. Beide waren Persönlichkeiten von außerordentlicher Aktivität und Einsatzbereitschaft. Und was brauchen wir heute dringender in unserer Gemeinschaft, um uns den Problemen, die Zeit und Umwelt mit sich bringen, nur in etwa stellen zu können? Doch ich will dem Gespräch über die Zukunft des Verbandes nicht vorgreifen. Wie oft habe ich mich während meiner Amtszeit gefragt, wenn wenig Wiederhall aus den Gruppen kam: warum machst du das Ganze eigentlich? Und immer wieder erkannte ich, daß mit der Arbeit auch ein Reifeprozeß meines Lebens vor sich ging. Die Verbindung mit den verschiedensten Menschen förderte meine Einsicht in ihre Verhaltensweisen. Ich wurde gezwungen, mich in meinem Verhalten auf sie einzustellen, ihnen entgegenzukommen, soweit es Wahrheit und Gerechtigkeit für mich zuließen. Einblicke in das Schicksal anderer Menschen ließen mich nachdenken über das Eigene, die Zusammenhänge Leben und Umwelt wurden vertieft, Unterscheidungen zwischen Wert und Unwert klärten sich für mich. So lernte ich, um mit Peter Handke zu sprechen, über die „Außenwelt, die Innenwelt“ kennen. Nach diesen und ähnlichen Überlegungen wußte ich dann stets, warum ich das Ganze machte: Staunen und Neugier waren die Triebfedern meiner Arbeit. Freudig wandte ich mich nach dieser Erkenntnis wieder meiner Tätigkeit zu: Der intensiven Beschäftigung mit der – wie so schön gesagt wird – gehobenen Literatur. Sie führte mich in konkrete und abstrakte Welten ein, in differenzierte seelische Probleme, in heiter, bedachtsame Nischen des Lebens, vor allem aber offenbarte sie mir immer wieder die Notwendigkeit des Bewußtwerdens über die Schönheiten und vielfältigen Möglichkeiten einer gestalteten Sprache. Ich bin in die Düsseldorfer Gruppe 1955 eingetreten, schon mit der Bestätigung im Amt der Sachgebietsleiterin für Schrifttum. 1960 begann wie gesagt die erweiterte Arbeit für den Verband.

In dem kleinen Düsseldorfer Kreis gab es Rede und Gegenrede, aber nun ging meine Rede ins Weite, zu über 30 verschiedenen Gruppen, und die Gegenrede ließ auf sich warten. Die Lesekreise waren sehr locker organisiert, hatten kaum Konnex miteinander, und die Berichte, die einliefen, waren nicht nur spärlich, sondern auch komisch.

Zum Beweis dafür lese ich Ihnen aus zwei Berichten vor: Im ersten geht es um die Erzählung der Kaschnitz „Popp und Mingel“. --- „Mit der Erzählung, Thema Schlüsselkind, war es auch nicht ganz so aufregend, aber auch nicht befriedigend.“

Im zweiten Bericht wird über einen Theatervortrag gesprochen: --- „Ein letzter Hinweis des Redners galt dem Passionsspiel und dem religiösen Erlebnis, das dabei mit dem Bühnenerlebnis einhergeht und einem wirklichen Bedürfnis entspricht.“

Als ich nun aber noch folgenden Satz in einem Bericht lesen mußte, da konnte ich mich nicht mehr zurückhalten; es geht um einen Vortrag über die Sprache --- „Falsch ist auch die Möglichkeitsform zu meiden, es heißt: wenn ich das täte und nicht wenn ich das tun würde.“

Mit etwas erhobenem Zeigefinger ging ich daran, die sprachliche Form der Berichte anzugreifen und machte in meinem Appell den etwas pathetischen Schluß: So sei jedem Mitglied ein Studium nicht nur der großen Magier des Wortes empfohlen, sondern zugleich Kleinarbeit an der eigenen Ausdrucksweise im Umgang mit der Muttersprache.

Und dieses Schreiben, muß ich sagen, hatte eine hervorragende Wirkung. Es herrschte Schweigen, keine Gruppe war dafür, keine dagegen. Doch das Schweigen hat Frucht getragen für viele Jahre. Sie wissen alle, aus welcher Fülle gewandt geschriebener Berichte ich heute den Jahresbericht zusammenstellen kann.

Die Lektüre in den einzelnen Gruppen erschien mir ziemlich wahllos ohne Zusammenhang. Nach meinem grammatikalischen Angriff auf das Selbstbewußtsein der Lesekreise setzte ich mich nun für einen „roten Faden“ für die Wahl eines bestimmten Themas ein und machte einen Vorschlag, und hier fand ich bald Wiederhall. Mehrere Gruppen fühlten sich beeinträchtigt in ihrer „Pressefreiheit“ und wollten von solch einer Uniformierung der Arbeit nichts wissen. Doch ich wußte die Einwände zu zerstreuen mit der Bemerkung „roter Faden – kein Zwang“. Wer andere Themen besser findet für seinen Kreis, selbstverständlich, nur muß es ein bestimmtes Thema sein, dem nachgegangen wird.

So ist es geblieben bis heute. Der rote Faden hat manche Interessentin gefunden.

Meine Arbeit war angelaufen und lief nun in bestimmte Richtungen. Der jährlich herausgegebene rote Faden und der Jahresbericht machten den Lesekreisen Mitteilung über das, was gelesen werden konnte und über das, was gelesen worden war. Das später eingeführte Gruppengespräch über einen bestimmten, in der Zeitschrift veröffentlichten Artikel gab den Mitgliedern der Lesegemeinschaften Gelegenheit, sich im Gespräch zu üben.

Ein freundliches Echo brachten die Jahresberichte; das machte mir deshalb Spaß, weil es oft gar keine Mitglieder eines Lesekreises waren, die mir schrieben, sondern irgendwelche Leserinnen der Zeitschrift, die dem Bericht Anregungen entnommen hatten. So war der Jahresbericht nicht nur eine Bestätigung für mich, sondern vor allem für die Berichterstatterinnen der Gruppen.

Die größte Freude an meiner Arbeit brachten mir meine Reisen in die Gruppen mit den verschiedensten literarischen Lesungen. Nur durch sie habe ich eine direkte Verbindung vor allem zu den Vorständen der Gruppen bekommen und manche anregende Gespräche führen können.

Das letztere war mir besonders wichtig, als ich noch zweite Vorsitzende im Hauptvorstand war; ich konnte da manche vermittelnde und aufklärende Rolle übernehmen.

Meine Abschiedsrede will ich schließen mit nochmaligem Dank für alles Liebe und Gute, was ich erfahren durfte durch zahlreiche Mitglieder. Ich danke Ihnen für Ihre Herausforderung und Ihren Widerspruch; das gehört für mich zum geistigen Leben.

Meiner Nachfolgerin wünsche ich, daß ihr das Sachgebiet ebenso viel Befriedigung und Freude bringen wird, wie es mir gebracht hat. Dem Verband wünsche ich, er möge noch manche Berg- und Talfahrt überstehen, wie er dies nun über 80 Jahre getan hat. (Typoskript im Teilnachlass von Else Loelgen, deponiert im Frauen-Kultur-Archiv)  

Selma Lagerlöf  (1974)

Das 19. Jahrhundert hat die skandinavische Literatur weit über die Grenzen einer nationalen Kunst hinauswachsen lassen. Die beiden großen Anreger und Former des modernen Theaters, Ibsen und Strindberg eroberten die Bühnen Europas. Björnson und Hamsun, die Norweger, beschritten neue Wege der Erzählkunst. Jens Peter Jakobsen und Hermann Bang, die Dänen, gehören heute zu den Klassikern der psychologischen Romans.

  Eine Sonderstellung unter den nordischen Dichtern nimmt der Däne Hans Christian Andersen ein, der mit seinen Märchen die Welt eroberte und die Schwedin Selma Lagerlöf. Selma Lagerlöfs Erzählkunst wurzelt ganz im Heimatlichen. Ihre Werke lassen die Sagen, Märchen und Legendenwelt ihrer engeren Heimat Värmland immer wieder aufleuchten. Immer wieder tauchen dieselben Helden, dieselbe Landschaft, dieselben Höfe und Häuser auf, oftmals unter anderem Namen oder in anderen Bindungen. Aber diese Abenteuer, in die ihre Helden verstrickt werden, sind nicht bloß Nacherzählung mündlicher Überlieferung, sondern werden erst durch Selma Lagerlöfs Erzählkunst in die Sphäre des Dichterischen erhoben und nur so ist zu erklären, wie sie mit diesen heimatlich gebundenen Inhalten ihres Werkes weit über Schweden hinaus Berühmtheit erlangte.   Selma Lagerlöf ist am 20. Nov. 1858 auf dem Hofe Mårbacka in Värmland geboren. Mit 3 ½ Jahren wurde sie von einer Beinlähmung befallen, die aber nach einem Jahr so weit behoben war, dass die kleine Selma wieder laufen konnte, wenn sie auch für ihr ganzes Leben ein Beinleiden zurück behielt. So war sie von manchem Spiel anderer Kinder ausgeschlossen und ihre Anlage zu besinnlicher Beschäftigung in der Welt der Phantasie wurde früh gepflegt. Die stärkste und wichtigste Persönlichkeit der frühesten Kindheit war die Großmutter, die ihr jeden Tag Geschichten erzählte. Mit 23 Jahren, 1881 verließ Selma Lagerlöf ihr geliebtes Vatershaus zum ersten Mal für längere Zeit. Sie besuchte ein Lehrerinnenseminar und wurde 1885 Lehrerin an einer höheren Mädchenschule. Schon früh hatte Selma angefangen zu schreiben, aber nie Widerhall gefunden mit ihren kleinen Erzählungen und Gedichten. Ab 1885 begann sie an dem Roman Gösta Berling zu schreiben aus der Erkenntnis, in den mündlichen Überlieferungen der Heimat, den Geschichten der Värmland-Kavaliere einen ganz besonderen Stoff für eine Gestaltung gefunden zu haben.   1890 beteiligte sie sich mit einigen Kapiteln des Buches an einem Preisausschreiben für Novellen und errang den 1. Preis. Nun war der Bann gebrochen; man wurde auf sie aufmerksam und ihr Weg ging steil bergauf. Sie legte ihr Lehramt nieder. Sie machte große Reisen, die sich in ihren Büchern „Wunder des Antichrist“, „Jerusalem“ und den Christuslegenden widerspiegeln. Sie bereiste ganz Schweden, als sie im Auftrage der Regierung ein Lesebuch für die schwedischen Kinder schrieb, „Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden“, in dem sie nicht nur geographische Kenntnisse erschloss, sondern wiederum das Sagengut der Heimat verarbeitete.   1907 ging ein Traum ihres Lebens in Erfüllung: die Rückerwerbung ihres väterlichen Hofes Mårbacka, der drei Jahre nach dem Tode des Vaters 1888 hatte verkauft werden müssen und an den sie sich mit allen Fasern ihres Wesens gebunden fühlte. Der ihr 1909 zugesprochene Nobelpreis ermöglichte er ihr, auch die den zum Hof gehörenden Ländereien zurückzukaufen und von da an war sie bis an ihr Lebensende Gutsherrin auf dem Grund und Boden, mit dem sie auch in ihrer Kunst zutiefst verwurzelt war.   Als größte Ehrung wurde ihr 1914 die Mitgliedschaft in der schwedischen Akademie zuteil, der noch nie eine Frau angehört hatte. Am öffentlichen kulturellen Leben nahm Selma Lagerlöf lebhaften Anteil. In vielen Ausschüssen und Verbänden setzte sie sich für die verschiedensten Dinge ein, die ihr am Herzen lagen. Ohne Politikerin zu sein vertrat sie die Ansicht, dass der Frau das Stimmrecht gebühre, aus dem rein menschlichen Argument heraus, dass männliche und weibliche Denkungsart und Arbeit sich auch im staatlichen Leben ergänzen müssten.   1940, im Alter von 82 Jahren starb Selma Lagerlöf auf Mårbacka, als die Welt zum 2. Mal von einem Krieg erschüttert wurde und unter dem Dröhnen des Tumultes vergaß, dass es Inseln der Stille gibt, auf denen der Wind des Geistes weht, der immer und überall den Ausschlag geben wird. (Typoskript im Teilnachlass von Else Loelgen, deponiert im Frauen-Kultur-Archiv)    

Die Unterhaltungslektüre unserer Eltern und Großeltern (Referat für ein Podiumsgespräch der Ortsgruppe Düsseldorf des Verbands Deutsche Frauenkultur e.V. vom 27. Februar 1973 im Frauenbundhaus, Stresemannstr.21)

  Liebe Mitglieder, ich begrüße Sie sehr herzlich zu unserem Podiumsgespräch. Unsere Runde wird Ihnen – das hoffe ich sehr – mit der Auswahl der Zitate aus alten beliebten Unterhaltungsromanen oder mit deren Erläuterung, eine rechte Herausforderung sein, sich lebhaft an der anschließenden allgemeinen Diskussion zu beteiligen.   Als Motto über unsere heutige Veranstaltung setze ich das Wort von Heinrich von Treitschke, welches auch Gabriele Strecker für ihr Buch „Frauenträume – Frauentränen“ (1969) gewählt hat: „Alle Zeiten lassen sich die Wandlungen des sozialen Lebens aus den Werken jener kleinen Schriftsteller, welche nur die Meinung aller Welt wiedergeben, am sichersten erraten.“ (aus: „Deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts“)   So wollen wir Einblick nehmen in die Welt des Jedermanns, in „die Welt der Gartenlaube“, ein in den letzten Jahren zum Slogan gewordener Begriff, seit die Soziologie diese Zeitschrift als besonderen Blickpunkt ihrer Arbeit ansieht.   Nicht umsonst – das nur nebenbei – hat unsere Geschäftsstelle in Gütersloh ständig zunehmende Anfragen von Studenten und Institutionen, die Einsicht nehmen wollen, auch in unsere Zeitschrift. Sie besteht seit 1897, ist lückenlos im Archiv einzusehen und ist ebenfalls eine Fundgrube für die gesellschaftlichen Strömungen des jeweiligen Zeitabschnitts.   Doch zum Thema: Obwohl wir uns nur mit der Unterhaltungsliteratur der vergangenen Eltern- und Großeltern – ja schon Urgroßelternzeit beschäftigen wollen, so können wir nicht an der „Gartenlaube“ vorbeigehen; denn die damals bekannten Schriftsteller und vor allem die Schriftstellerinnen haben großenteils im Auftrag der „Gartenlaube“ geschrieben oder sie haben hier einen guten Platz für ihre der Zeitschrift angebotenen Werke gefunden.   Als zeitgemäße Besonderheit sei gesagt: Die Schriftstellerinnen hielten sich gerne mit der Angabe ihrer Weiblichkeit zurück, um nicht mit der damals üblichen Abwertung schöpferisch tätiger und geistig arbeitender Frauen beurteilt zu werden, sondern ihrer wirklichen Leistung gemäß. Gaben sich z. B. Mary Anne Evans (1819-1880) = George Eliot, Charlotte Brontë  (1816-1855) = Currer Bell und Aurore Dudevant (1804-1876) = George Sand nicht nur fremde Nachnamen, sondern auch männliche Vornamen, so machten es sich die Schriftstellerinnen, von denen wir heute hören, einfacher; der Vorname blieb offen. Man zeichnete mit E. Marlitt – Eugen oder Eugenie? W. Heimburg – Wilhelm oder Wilhelmine? E. Werner, F. Lehen.   So ereignete es sich, daß Ernst Keil, der Herausgeben der Gartenlaube, einen Brief an den Herrn E. Marlitt richtete, welcher ihm 1865 zwei Novellen eingereicht hatte. Es heißt da: „Wenn man genötigt ist, so viele verfehlte, triviale schülerhafte novellistische Arbeiten zu lesen, wie dies die Redaktion einer Zeitschrift wie meine Gartenlaube ist, nichts anders mit sich bringt, so tut es doppelt wohl, stößt man unter der Menge der Einsendungen einmal auf eine Schöpfung, die nach Stoff und Form unwiderleglich den Stempel des Talents an sich trägt […] ich wäre mit Vergnügen bereit, auch ferner novellistische Beiträge von Ihnen zu akzeptieren und sie zu den ständigen Mitarbeitern meiner Gartenlaube zu zählen, und würde Ihnen, sobald sich auch Ihre andern Erzählungen etc. zum Abdruck in meinem Blatt eigneten, liberale Honorare in Aussicht stellen.“ Ernst Keil wünschte nun selbstverständlich die persönliche Bekanntschaft mit dem Autor und kündete seinen Besuch an. Das Geheimnis mußte gelüftet werden und Ernst Keil schrieb: „Verehrtes Fräulein […] ich gestehe, daß mich diese Enthüllung des Geheimnisses zwar einigermaßen, aber doch nicht so völlig überrascht hat, da ich in der Schilderung der weiblichen Charaktere in der Tat eine weiblich warme und weiblich feine Feder zu erkennen glaubte.“   Doch nun zu Entstehung und Wirkung der Gartenlaube selber. Um das rechte Bild zu geben, will ich versuchen, trotz der Kürze des Berichtes einige Lichter auf den zeitgeschichtlichen Hintergrund zu werfen, denn der Herausgeber der Gartenlaube war eine politisch engagierte Persönlichkeit; und aus diesem Engagement heraus ist die Zeitschrift entstanden.   Die Gartenlaube war nicht das erste, aber wohl das später erfolgreichste „Familienblatt“. Diese Familienblätter waren inhaltlich weit gefächert. Sie kamen dem Informationsbedürfnis des Kleinbürgertums und der mittleren Bildungsschicht entgegen. Diese Bevölkerungsschicht verlangte nach einer einfachen verständlich geschriebenen Berichterstattung; anders konnte sie sich nicht mehr auf dem Laufenden halten über die Entwicklung der immer mehr das tägliche Leben beeinflussenden, technisch naturwissenschaftlichen Forschungen und Praktiken.   Der Gründer der Gartenlaube war, wie schon eben gesagt, der Journalist Ernst Keil (1816-1878). Er hatte sich schon vor 1853, dem Gründungsjahr der Gartenlaube, mit der Herausgabe verschiedener Zeitschriften befasst. 1845 war „Berlin Leuchtturm“ erschienen; Keil vertrat darin eine politisch liberale Gesinnung. Drei Jahre konnte das Blatt trotz der damals so eingeschränkten Pressefreiheit bestehen. Aber als sich die Redaktion 1848 – als es um die Erkämpfung um Bürgerrechte ging – für die liberal revolutionären Ideen einsetzte, da griff die Zensur zu: Die Zeitschrift wurde verboten und Ernst Keil kam ins Gefängnis.   Doch von seinen Vorstellungen einer liberalen Gestaltung der bürgerlichen Gesellschaft ging er nicht ab. Er gehörte zu jener gehobenen Bildungsschicht, die sich für eine demokratische Verfassung einsetzte, für eine Volksvertretung im Parlament und vor allem für die nationale Einheit. Keil grübelte im Gefängnis darüber nach, wie er mit seinen Gedankengängen Einfluss auf eine breite Bürgerschicht bekommen könne.   Der politischen Aktivität des Bürgertums war nach den Aufständen von 1848 und der gescheiterten Nationalversammlung eine tiefe Lethargie auf diesem Gebiet gefolgt. Hier nun mußte angesetzt werden. Ein Familienblatt sollte die liberalen und nationalen Ideen wieder zu neuem Leben wecken. So mußte man zunächst mit einer solchen Zeitschrift der Stimme des enttäuschten Publikums gerecht werden, um langsam wieder aufzubauen. Dieses Publikum war, nach allen gemachten enttäuschenden Erfahrungen, eher geneigt, sich unverbindlich unterhalten zu lassen. Deshalb mußte das Familiäre, der traulich umbaute Raum des privaten Lebens herausgestellt werden, um dem Wusch nach Geborgenheit vor der rauen politischen Wirklichkeit zu entsprechen.   Am 1. Jan. 1853 erschien das erste Heft mit einer Begrüßung Ernst Keils an seine Leser: „Grüß Euch Gott. Liebe Leute im deutschen Lande. Wenn Ihr im Kreis Eurer Lieben die langen Winterabende am traulichen Ofen sitzt oder im Frühling, wenn vom Apfelbaume die weißen und roten Blüten fallen, mit einigen Freunden in der schattigen Laube – dann lest unsere Schrift. Ein Blatt soll’s werden für’s Haus und die Familie, ein Buch für groß und klein, für jeden, dem ein warmes Herz an den Rippen pocht, der noch Lust hat, am Guten und Edlen! Fern von aller räsonierenden Politik und allem Meinungsstreit in Religions und anderen Sachen wollen wir Euch in wahrhaft gute Erzählungen einführen, in die Geschichte des Menschenherzens und der Völker, in die Kämpfe menschlicher Leidenschaften und vergangener Zeiten. So wollen wir unterhalten und unterhaltend belehren. Über das Ganze aber soll der Hauch der Poesie schweben wie der Duft auf der blühenden Blume und es soll Euch anheimeln in unserer Gartenlaube, in der Ihr gutdeutsche Gemütlichkeit findet, die zu Herzen spricht.“   Es war ein großes Programm, was da angedeutet wurde. Keil hat es erfüllt und außerdem seine politische Zielsetzung nicht vergessen. Wie stark dieses politische und soziale Engagement des Herausgebers war, das ist deutlich zu ersehen aus der Inhaltsführung der Romane und Novellen, die in der Gartenlaube erschienen sind. Die Auflageziffern stiegen mit der Beliebtheit der Romanschriftsteller. Die Zeitschrift erreichte 1874 – als das berühmte Buch „Die zweite Frau“ von der Marlitt erschien – einen Kreis von 325 000 Abonnenten.   1878 starb Ernst Keil; unter seinen Nachfolgern wurde die national-liberale Richtung langsam nationalistisch-konservativ, ja sogar militaristisch. Und so hat die Gartenlaube gewiß ideell manches zu den Konflikten beigetragen, die zum Ausbruch des ersten Weltkrieges 1914-18 geführt haben. 1924 erschien der letzte Jahrgang. Die Leser hatten sich gewandelt. Sie verlangten nach einer anderen Kost als es ein Familienblatt zu bieten hatte.   Nach diesem gedrängten Überblick wollen wir uns nun den Fragenkomplexen zuwenden, die Sie im Programm dieses Monats gelesen haben. Wir hier in der Reihe haben die verschiedensten unterhaltungsliterarischen Bücher gelesen, um Ihnen mit Zitaten aus diesen Romanen des kleinen Mannes oder der großen Masse das Wort Treitschkes zu beweisen, daß sie eine soziologische Fundgrube sind. Sie werden hinter blumenreichen und sentimentalen Wendungen viel damals aktuelle Probleme der Familie und der Gesellschaft kennen lernen. Sie werden überrascht sein, wie sehr sie uns zum Teil auch noch heute angehen. Die Umstrukturierung zur modernen Gesellschaft hat schon in der Gartenlaube einen Ausdruck gefunden. (Typoskript im Teilnachlass von Else Loelgen, deponiert im Frauen-Kultur-Archiv)    

Gerda Kaltwasser (1930-2002)

Gedenken, Würdigungen

   „Uns Gerda“ ist nicht mehr bei uns. Die frühere RP-Lokalredakteurin Gerda Kaltwasser starb gestern im Altern von 71 Jahren   Das erste Treffen bleibt unvergesslich: Ein Verlag stellte damals, es muss 1981 gewesen sein, einige Bücher über das Rheinland vor. Die Tür ging auf, eine kleine Dame - vom Hut über die Pelerine bis zum Kostüm komplett und keck in rotem Pepita gekleidet - kam herein, warf einen sehr skeptischen Blick auf die Machwerke, stellte zwei Fragen, fällte ein kurzes, aber vernichtendes Urteil. Und ging wieder. Erschienen ist über diese Bücher in der RP keine Zeile. Das war Gerda Kaltwasser, damals stellvertretende Lokal-Chefin der RP in Düsseldorf.   „Uns Gerda“, wie wir sie in der Redaktion genannt haben, war wandelndes Düsseldorf-, Heine-, Harry-Schmitz und Hetjens-Museum-Lexikon. Sie kannte alle und alles, denn sie hatte diese Stadt ja seit ihrer Geburt buchstäblich er-lebt. Aufgewachsen als Tochter eines Metzgers in Bilk, kam sie nach dem Abitur auf dem Luisen-Gymnasium früh zum Schreiben, seit 1962 tat sie es bei der Rheinischen Post, noch vor wenigen Wochen stand ihr Name über einem Text in der RP.   Immer hat sie in, aber nicht ausschließlich für Düsseldorf gelebt. Sie liebte die Stadt, aber auch aus der Ferne - damit dem von ihr verehrten Heine durchaus ähnlich. Kaum ein Land der Welt, das „uns Gerda“ nicht besucht hat. Sie war schon auf Tonga, als hier zu Lande keiner wusste, dass es dieses Inselreich überhaupt gibt. Gerdas „Schreibe“ war von einer Qualität, die Nachwuchsjournalisten anspornt - einmal so fein, so packend, mit so wenigen Mitteln sprachlich ins Schwarze treffen. Sie konnte es meisterlich, bis zuletzt. Und wenn der Begriff „spitze Feder“ jemals passte, dann bei ihr. Viele, vor allem die ihr suspekten Selbstdarsteller, haben das häufig erleiden müssen. Benachteiligte, egal aus welcher Ecke, konnten dagegen auf ihre Hilfe zählen. Ein Engagement, das die Stadt 2000 mit dem Jan-Wellem-Ring belohnte. Jahrelang war sie der Lambertus der RP - für diese Samstag-Glosse ging er (also sie) langsam durch die Stadt, und erzählte, was er (also sie) sah.   Als ihr Körper wegen einer tückischen neurologischen Krankheit (von der sie seit langem wusste!) den Dienst versagte, bremste dies ihre Energie und die Freude an der Arbeit nicht. Sie rollte im Elektrowagen zu Terminen - und schrieb am Computer so fit und flott wie eh und je.   Nun ist sie nicht mehr bei uns. Gestern Morgen starb Gerda Kaltwasser. Sie wurde 71 Jahre alt. (ho-) in: Rheinische Post, 25. Juli 2002.     Stadtgewissen mit lächelnden Augen Flüchtige Anmerkungen zu Gerda Kaltwassers 70. Geburtstag   Ach, Gerda, was sollten wir denn tun ohne dich? Ohne das leichte, unermüdete Stadt-Gedächtnis, das auf einer Karosse mit vier Gummirädern schnurrt, elektrisch angetrieben, deren Merkwürdigkeiten einem Satiriker wie Hermann Harry Schmitz gewiss ein paar hübsche Sottisen aus der Feder gespritzt hätten.   Eine Journalistin ist dies, die das Klischee scheut wie der Teufel den Weihrauch. Immer wieder wunderbar und vorbildlich, wie sie in flüssiger Schreibweise zwischen den Gemeinplätzen durchsegelt ohne Angst vor Skylla noch Charybdis.   Biografische Fakten? Zu skizzieren ist der Lebenslauf der Metzgerstochter aus der Friedrichstadt übers Schlittschuhlaufen am Schwanenspiegel zum Amerika-Stipendium nach dem Krieg zur Ochsentour über verschiedene Tageszeitungen bis hin zur Rheinischen Post (1962). Dort machte sie sich vor allem als Anwältin für prekäre, große und kleine Themen und Regionen von Heine über Minderheiten bis Israel einen Namen. Oft hat sie sich vertippt. Doch nie verschrieben.   Die Summe ihrer Verdienste (streichen wir mal den Singular „Verdienst“) addiert sich auf zahlreiche Ehrenringe. Nach wie vor segelt sie zwischen den vielen „H's“ herum, Heine, H. H. Schmitz (dem jetzt wenigstens eine Schule gewidmet wurde - also keine Sackgasse, wie auch schon geplant), Hetjens-Museum. Und zahlreichen Büchern, Vorworten, Film-Kommentaren.   Der Bildhauer Bert Gerresheim formulierte bei einer Lobrede 1998 Gerda Kaltwassers Erkenntnis, dass man Wort und Leben, Ästhetik und Moral niemals voneinander trennen könne.   Gerda, das mobile, überfliegende, flatternde, nie flatterhafte Journal-Gedächtnis ihrer Stadt (die deren Herzblut oft genug noch nicht einmal verdiente) - sie ist so eine, über die Jean Paul einmal schrieb: „Die alten Menschen. Wohl sind sie lange Schatten. Aber sie weisen alle gen Morgen.“   Sebastian Feldmann in: Rheinische Post, 15. November 2000.

Autobiografisches

  Gerda Kaltwasser: Fast eine Bilkerin (2001)   „Du bist nicht aus Bilk, du bist aus der Friedrichstadt“, sagte freundlich rügend der ältere Kollege, natürlich altverwurzelter Bilker, in den fünfziger Jahren zu mir. Er war so eine Art wandelndes Kataster der Stadt, nicht nur, was die Grenzziehung im ehemals zufriedenen Süden Düsseldorfs, also in und um Bilk, anging. Ich konnte damit nichts anfangen, für mich war die Friedrichstadt ein Stadtteil von Bilk, so wie Pempelfort ein Stadtteil von Derendorf war; pardon, denn Vater und Mutter waren Zugereiste, kurz vor und nach dem ersten Weltkrieg, typische Düsseldorfer eben.   Später lernte ich dann, dass Bilk ganz alt war, während die Friedrichstadt der Esel im Galopp verloren hatte, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwischen den Bahnhöfen der Bergisch-Märkischen und der Köln-Mindener Eisenbahn. Die Friedrichstadt war das Bindeglied zwischen dem soliden alten Bilk und dem jungen, ein bisschen angeberischen Stadtzentrum, zwischen der legendären Villa Billico, über die der Gründer der Bilker Heimatfreunde, Hermann Smeets, ein Buch geschrieben hat, und der Königsallee, die gerade Namenstag feiert, weil sie seit 150 Jahren so heißt, wie sie heißt.   Kindheitserinnerungen an den alten Floragarten, in dem ich in meiner Fantasie Ritterspiele spielte, und an die Ständehausanlagen, wo wir mit der Bande „Villa Jück“ ganz reale Kämpfe ausfochten, werden geschwärzt von den Rauchschwaden über den Trümmern nach den Bombenangriffen des Zweiten Weltkrieges. Sie werden überlagert von der Erinnerung an Straßenzüge, deren Fixpunkte Blindgänger waren, einer zum Beispiel hinter unserem Haus, ein anderer vor dem Dominikanerkloster an der Herzogstraße. Dann der Einzug amerikanischer Panzer von Bilk her. Dass nicht geschossen wurde, war Hermann Smeets mit zu verdanken, aber das wussten wir damals nicht. Wir schwenkten aus öden Fensterhöhlen ein etwas angeschimmeltes Bettuch als Friedenszeichen. Sechs Wochen hatten wir unter den Trümmern im feuchten Waschkeller gelebt, sechs Wochen Artilleriebeschuss und Tieffliegerangriffe. Vom Hauptbahnhof bis zur Lausward schien es nur Trümmerhalden zu geben.   Das Entdecken verschonter Häuser blieb lange ein tägliches Wunder. In den fünfziger Jahren gab es schon wieder Originale in Bilk zu bestaunen, die anderes taten als am Wirtschaftswunder zu basteln. Ein langer, dünner Herr mit flatterndem Regenmantel strebte allmorgendlich von seiner Wohnung, ich glaube an der Konkordiastraße, am Ständehaus vorbei in Richtung Kunstakademie, auch zum Opernhaus und zum neuen Schumann-Saal am Ehrenhof, um dort an seinen Fresken zu arbeiten. Es war der Maler Robert Pudlich. Ebenfalls vormittags, wenn die Ständehausanlagen menschenleer waren - die älteren Kinder saßen brav in der Schule, die Mütter mussten kochen, ehe sie mit den Kleinen und mit Strickzeug zum Spielplatz gingen - vormittags also lief ein jüngerer Mann, wild um sich blickend, eine Partitur in der Hand, durch die Anlagen und schmetterte „Nie sollst du mich befragen...!“ Der spätere Wagnersänger Imdahl lernte seine Rolle im „Lohengrin“.   Wer damals glaubte, aus den Trümmern würde eine heile Bilker Welt wieder erstehen, täuschte sich. Auch diese Welt änderte sich tiefgreifender als durch die Kriegsverwüstungen. Man denke nur den „Bilker Stadtteil“ Friedrichstadt. Und die Veränderungen gehen weiter, im traditionellen Bilk und an seinen ebenso traditionsreichen Rändern. Dazu gehört Stoffeln. Zeitgleich mit Bilk wurde der Flecken mit dem Namen „auff den Stoffen“ (auf den Stümpfen eines Sumpfwaldes) 1384 nach Düsseldorf eingemeindet. Drei Kilometer lang ist der 1573 entstandene Stoffeler Damm, der Stoffeler Friedhof einer der bekanntesten in Düsseldorf. Aber in amtlichen Schriftstücken taucht Stoffeln nicht mehr auf, sang- und klanglos scheint Stoffeln zwischen Bilk, Flehe und Wersten zu verschwinden. Aber da ist ja noch das den 14 Nothelfern gewidmete Stoffeler Kapellchen, das 1734 unter Kurfürst Karl Philipp geweiht wurde. Dahin pilgern auch die Bilker gern.   Gerda Kaltwasser in: Jubiläumsbuch zum 50-jährigen Bestehen des Heimatvereins Bilker Heimatfreunde e.V., 2001, S. 99.      

Elisabeth Büning-Laube zum 10. Todestag, Teil 2

Zum 4. Januar 2015: Freundinnen, Freunde, Weggefährten erinnern sich

Gepa Klingmüller: Gedanken zum 10. Todestag von Elisabeth Büning-Laube

Meine Erinnerung spiegelt unsere Begegnungen in lebhaften Farben – auch noch den Tag ihrer letzten Lesung eigener Gedichte in der Goethe Buchhandlung am Dreieck. Es war ihr bevorzugter Lebensraum, da war sie bekannt und kannte jeden – im Blumengeschäft oder in der Bäckerei, in der Kirche den Organisten oder den Obdachlosen mit den „Fifty-Fifty“-Zeitungen unten an der Straßenecke. Jeder teilte seine Freuden, Erfolge und Enttäuschungen mit ihr. An dem Abend ihrer letzten Lesung war Elisabeth fast elegant gekleidet – schwarz – ungewöhnlich für sie und ihre sonst so unbekümmerte Art, mit besonderen Gelegenheiten umzugehen. In ihrem langen Kleid wirkte sie blass und schmal – und – auch sehr ungewöhnlich – sie wirkte verhalten, in sich gekehrt. Die Lesung verlief fast andächtig: So, wie sie ihre Gedichte vortrug, schien jedes einzelne Wort im Raum stehen zu bleiben – nachzuklingen für immer.   Der Horizont kleidet sich blau Morgenrot durchfließt die stille Frühe Durchflug der Vögel setzt Zeichen Meine Augen halten das Bild eine Sekunde an Danach zerfließt alles in ein neues großes Geheimnis.   Bald konnte ich Elisabeth nur noch im Hospiz besuchen. Sie brauchte nun die nötige Pflege, fand dort Ruhe und ein Gefühl der Sicherheit. Von dort aus fuhr ich sie im Rollstuhl in den nahe gelegenen Park. Sie wollte in der Natur und unter Menschen sein und freute sich über jede herzlich-besorgte Begrüßung. Wir waren uns erstmals bei einer ihrer Lesungen im Schnabelewopski begegnet – unserem zweiten „literarischen Zuhause“. Hier trafen sich Lyriker, Prosaisten, aber auch Zuhörer, die ein Gespräch über Literatur suchten. Elisabeth Büning-Laube war nur eine unter vielen Poeten, aber sie wurde begrüßt als „beachtete Literatin“. Lebhaft, temperamentvoll, kämpferisch und charmant zugleich, wandte sie sich dem Einzelnen ganz zu, um besser zu verstehen, teil zu nehmen, aber auch um zu fördern oder zu beraten. Immer interessiert und – sehr belesen – war Elisabeth kritisch, direkt und schlagfertig zugleich. Im „Schnabel“ gestaltete sie auch selber Lesungen – ihre eigenen und die anderer – wie für mich oder für uns beide zusammen. So lernten wir uns kennen und schätzen. Ich war überrascht von ihrem freien und selbstbewusst-lockeren Umgang mit jedem, dabei war sie voller Neugier für alles, was Gedanken an Poesie anklingen ließ. Elisabeth hatte eine ganz eigene, einfühlsame Art, ihre Gedichte vorzutragen. Bei einer unserer Lesungen empfand ich solche Freude daran – wie ihre geschriebenen Worte wieder Klang wurden – dass ich hineinrief: „Das ist es – geschriebene Worte klingen lassen – wie aus Noten Musik – kommt alle in mein Atelier – da können wir lesen – so lange und so oft wir wollen!“ Und sie kamen – auch Elisabeth Büning-Laube kam – so entstand „Lesen im Atelier“. Nach ersten Treffen nahm sie uns mit in ihren Salon. Der „Literatur – Kultur – Salon Elisabeth Büning-Laube“ war etwas Besonderes. Sie lud Schreibende ein, ihre eigene Lyrik oder Prosa in einer Lesung vorzustellen – ernste bis heiter-humorvolle, aber auch eigenwillig-originelle. Alle hatten eine eigene Sprache in Inhalt, Form und Aussage – so wurde jede Lesung erfrischend ungewöhnlich. Elisabeth gelang es immer, eine Atmosphäre von gegenseitigem Verständnis zu schaffen. Jede/r Lesende fühlte sich angenommen und – auf der Suche nach dem eigenen Ziel – verstanden. Dabei war ihre kritische Offenheit verblüffend und herausfordernd. Meinungsverschiedenheiten gab es oft, sie wurden diskutiert und von ihr mit Scharfsinn hinterfragt. Auf diese Weise gingen wichtige Impulse von ihr aus.   Zu jeder Lesung gehörte auch eine Ausstellung von Bildern – auch ihrer eigenen, denn Elisabeth hat auch selber gemalt. Lieder wurden mit Klavierbegleitung vorgetragen. Bald mussten die Stühle enger gerückt und der Pausenkuchen kleiner geschnitten werden. Es gab auch immer etwas zu helfen: Stühle schleppen, servieren, was als Stärkung für die Pause bereit stand oder den Vortragsraum wieder in einen bewohnbaren Zustand versetzen. Danach saßen wir an einem großen runden Tisch, oft um das Aquarium mit vielfarbig schimmernden kleinen und großen Diskusfischen, um den Ablauf der letzten oder nächsten Lesung zu besprechen.   Elisabeth führte die Gäste auch gerne auf ihren Balkon. Er bot durch Blüten und Kletterpflanzen den Ausblick in die von hohen Häusern eng begrenzte „Weite“. Die Mauern wurden unsichtbar, denn die vielen Fensterscheiben reflektierten das Sonnenlicht in unzählige Blumentöpfe, Blüten und Ranken. Sie liebte es, aus der Hinterhofkargheit nicht nur eine Hinterhofidylle, sondern ein blühendes Wunder entstehen zu lassen – ihre „hängenden Gärten der Semiramis“. Trauer künden die grauen Steine der großen Stadt Der Frühling sprengt ihr hartes Echo und aus dem gebrochenen Fels der Häuser bricht mit Macht ins Graue die lichte Narzisse.   Die Begrüßung der Zuhörer verlieh den Lesungen einen festlichen Anklang: Für Elisabeth – als Moderatorin – war es „ihr Auftritt“ auf dieser kleinen eigenwilligen Literatur–Kultur–Bühne, für die Zuhörer eine Überraschung, denn sie trug dann einen großen Hut. Der letzte war aus rosaroter Organza-Seide mit ebenso zarten rosaroten Blüten besetzt. Dieser zauberhafte Seidenhut verlieh ihrem dunkelroten Haar und dem schmalen Gesicht zarte grün-farbige Schatten. Er ließ die kleine Gestalt viel größer erscheinen – so groß wie ihre Träume: Kunst, Musik – und vor allem der Dichtung – Raum zu geben zur freien Entfaltung und – zur eigenen Lebensfreude. Wie oft hat sie zu mir gesagt: „Wir sind alle auf dem Weg – Du musst ihn nur mit Freude gehen.“   Engel fallen selten sie fliegen – Fallen sie, fallen sie sehr leise wie frischer Schnee den wir erst spüren wenn er unsere Haut zerfließend berührt. Es scheint Engel zu geben die werden immer lichter in ihrer Liebe zum Menschen. Ständig wachsen in mir bewegte widerspenstige Gedanken die ihn erschüttern Mein Engel hat es sehr schwer ich bin so leicht dass mich der leiseste Wind entführen kann. Bald schenkt er mir Flügel.   Ihre Gedichte sind ihrem Leben abgelauscht – aus der Tiefe ihrer sicherlich oft schmerzlich erworbenen Erfahrung herausgehoben – Anklänge einer gesuchten und gefundenen inneren Harmonie. Sie öffnen den weiten Horizont einer intensiv durchlebten Gedankenwelt von zarter Poesie bis hin zu kraftvoller Dynamik. Sie öffnen ein Spektrum von fein empfundener Lyrik – geschrieben aus Freude und Schmerz. Und doch klingt immer ein Hauch von Humor in ihren Zeilen mit, als wollte sie sagen: „So ist es eben – das ist das Leben – oder hast Du gedacht, Du wirst ins Paradies geboren? – Das musst Du dir schon selber erst ‚er-leben‘ – aber dann ist es voller Wunder.“ Das etwa waren ihre Worte – so hat sie gelebt – sehr einfach und bescheiden. Unscheinbares hat sie als beachtenswert wahrgenommen, um dann das für sie einzig Richtige entschieden zu tun – es hervorzuheben. Dabei verfügte sie über ein feines Gefühl für Qualität und Werte besonderer Art. Auch wusste sie noch, was Krieg und Frieden bedeuten. Sie ließ keinen Zweifel an ihrer Haltung für ein friedliches, menschlich-positives Miteinander aufkommen.   Gemeinsam standen wir Tuch an Tuch gegen Kriege in eisiger Kälte die unsere Kleidung zerbiss Als eine Fürbitte um den Heiligen Geist für Saddam über das Pflaster am Rathaus rollte Wusste ich wie vergeblich unser Ruf nach Frieden nicht vergeblich unser Streben.   Elisabeth Büning-Laube hat uns ihre Idee vom freien Denken und selbstbewussten Leben vorgelebt. Sie war in mancher Hinsicht wegweisend. In der Erinnerung begegne ich ihr mit herzlicher Dankbarkeit: Sie hat mich – und wahrscheinlich auch andere – „auf den Weg gebracht“. Es war ihre Idee, dass ich meine Lyrik und Prosa im „Kultur-Haus-Berlin“ vorstellen durfte. Sie veranlasste auch, dass ich in der von ihr als Herausgeberin kreierten Buchreihe „KunstLive“, Edition XIM „Virgines“, vier Bild-Gedicht-Bände veröffentlichen konnte. Seither folgten zahlreiche eigene Lesungen. Und – „Lesen im Atelier“ ist heute noch sehr „lebendig“.   Seit dem Tod von Elisabeth Büning-Laube hat sich die literarische Szene in Düsseldorf weiter entwickelt. Sie gleicht heute einem dichten Netzwerk mit immer neuen Impulsen – auch der jüngeren Generation. Dazu hat Elisabeth Büning-Laube durch ihre Anregungen und Initiativen unvergessen beigetragen. [Die Gedichte von Elisabeth-Büning-Laube sind „KunstLive“ Band 13 „Farbbogen“ – Anthologie – entnommen. Herausgeberin Elisabeth Büning-Laube, Edition XIM „Virgines“, 1. Auflage 2003.]  

Konstanze Petersmann

  Wenn der Tag verweht und die Schatten wachsen der Vogel im rauschenden Lied ist verstummt, Sterne murmeln : außerhalb, ... in fernsten Nebelauen – ein schweigender Kreis; dort schwebt die Feder über das Wasser, versinkt die köstliche Perle darin, ... im Lichtkegel sehe ich drei finstere Fenster im Turm; dahinter spiegelt sich die Rose im Venezianischen Rot auf dem Fächer, ... auf den Wegen liegen Erinnerungen – im versiegelten Quell   Ich erinnere mich an Elisabeth Büning-Laube. Wir, Elisabeth Büning-Laube und ich, begegneten uns auf der Ebene des „Kleinen Prinzen“ – das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. Wiederum lebte sie und sprach durch ihre Fantasie. Ihre Kreativität gab ihr den sicheren Mut, meiner Lyrik eine gute Zukunft vorauszusagen. Sie war Herausgeberin meiner ersten Gedichte in der Edition XIM Virgines Düsseldorf. Den Salon-Gedanken der Salonnière Büning-Laube griff dann mein Ehemann ein Jahr nach ihrem Tod auf. Im Jahr 2006 setzte ich diese Anregung in die Tat um, zusätzlich inspiriert durch die Salonnière, Schriftstellerin und Hofrätin aus Danzig, Johanna Schopenhauer, die Mutter des großen Philosophen Arthur Schopenhauer, die mit ihrem bürgerlichen Salon die Anlehnung an den Musenhof der Anna Amalia zu Weimar suchte. In Dankbarkeit erinnere ich mich an Elisabeth Büning-Laube, deren Vorname ‚Elisabeth’ im Babylonischen heißt: Eli si beti: Unser Gott ist sieben (Vater, Mutter = Sonne, Mond und die fünf Planetenkinder). Der Kreis schließt sich, denn die Sieben war die Glückszahl von Elisabeth Büning-Laube, wie sie sich selbst zum siebenjährigen Bestehen ihres Salons im Jahr 2003 bei einem Interview gegenüber der WZ äußerte. Januar 2015  

Frank Schmitter: Zartheit und Zähigkeit. Meine Erinnerungen an Elisabeth Büning-Laube

Ich war bereits über 40 Jahre alt und als Schreibender ein Kind. Ein Kind, das die Haustür ganz vorsichtig öffnet und erste Gedichte an Internet-Zeitschriften schickt wie die „Federwelt“, ein immer noch existierendes Periodikum, das der an intellektueller Langeweile leidende Zivildienstleistende Titus Müller gegründet hatte. Er, der mittlerweile arrivierte Schriftsteller, druckte 1999 meine ersten Gedichte und erwähnte, dass eine Düsseldorfer Malerin, Autorin und Förderin junger Talente bald seinen ersten Gedichtband publizieren würde. Ob ich nicht … Und ob. Ich schickte ihr einen Stapel meiner Gedichte, und sie meldete sich und sagte, dass sie sich da etwas vorstellen könne in ihrer Verlagsreihe. Und schickte damit das Kind in den Himmel.

Monate danach lud sie mich in Düsseldorf – ich glaube, ins Theatermuseum – zu einer Lesung gemeinsam mit Elisabeth Hoheisel und Titus Müller, deren Bände in der Reihe "KunstLive" bereits erschienen waren. (Erst nach jener Lesung unterschrieb ich den Vertrag mit dem Verleger Georg Aehling und wäre, wenn das technisch überhaupt möglich wäre, noch vom Himmel weiter aufgestiegen.)

Bei dieser Gelegenheit sah ich sie zum ersten Mal, diese körperlich so zarte Person, mit einer Vorliebe für farbige Kleidung und extrovertierte Hüte. Ein Vogel, dem man instinktiv wünschte, nicht im nächsten Augenblick von der Katze Welt gerissen zu werden. Aber damit unterschätzte man sie. In dieser Person steckte eine Beharrlichkeit und Überzeugungskraft, die kaum einer von hundert besitzt. Sie hatte im Leben zu viel gesehen und zu viel durchlitten, um sich von ihrem Kurs abbringen zu lassen. Elisabeth Büning-Laube tat, was sie tun wollte und das war das, was sie einfach tun musste. Sie wusste sehr wohl, dass mancher im Kulturamt und in anderen Institutionen auf sie, die nie studiert, die nie künstlerisch-literarisch wirklich „reüssiert“ hatte, mit saturierter Überheblichkeit herabblickte. Sie vertraute ihrem gesunden Menschenverstand, sie vertraute sich selbst. Sie bildete sich ihre Meinung und äußerte sie. Nie vorsätzlich verletzend, niemals opportunistisch oder berechnend, aber klar und eindeutig. Sie war Widerstands-fähig.

Und sie besaß noch eine weitere, so seltene Charakterqualität: Sie förderte nicht andere, um im eigentlichen Sinne sich selbst zu promoten. Sie lud nicht andere Lyriker ein, um ihre eigene Lyrik zu lesen oder auf ihre Bilder zu zeugen. Ihr Salon, ihr Einsatz für andere AutorInnen war kein Deal. Sie gab, ohne gleichzeitig nehmen zu wollen.

Ich sah sie danach nur noch ein einziges Mal, bei einer Lesung in ihrem legendären Salon. Ich las meine Gedichte direkt nach einer Punkband, als die Fensterscheiben noch zitterten und den Zuhörern die Ohren klingelten. Egal. Ihre Wohnung platzte schier aus den Nähten, aber in dieser drangvollen Enge gediehen Kontakte und Gespräche.

Wir blieben in Kontakt, notgedrungen auf Distanz, weil ich in München lebte und lebe. Sie brachte noch zwei weitere Titel von mir in ihrer Reihe in der Edition XIM Virgines. Dann hörte ich über Georg Aehling von ihrer schweren Erkrankung und schrieb ihr einen langen Abschieds- und Dankesbrief. Aber noch einmal trug ihre ungewöhnliche Zähigkeit den Sieg davon, wenngleich es ein temporärer Sieg blieb. Sie kehrte aus dem Hospiz in ihre Wohnung zurück. Das passte zu ihr: Selbst der Tod hatte ihre Kraft unterschätzt, nicht für lange, aber doch für einige Monate.

 

Ellinor Wohlfeil: Erinnerungen an Elisabeth Büning-Laube

Elisabeth Büning-Laube – mit Dankbarkeit denke ich an die Zeit zurück, in der wir gemeinsam mein erstes Buch herausgegeben haben. Sie hat ihm den Titel gegeben „Verwässerte Zeugnisse“ und es in ihrer Reihe KunstLive veröffentlicht. Inzwischen heißt es „Kein menschlicher Makel – weder gestern noch heute“. Der Verlag 3.0 in Bedburg hat es neu aufgelegt. Es war schön, mit Elisabeth zu arbeiten. Sie ist mit mir den ganzen Text durchgegangen, sehr einfühlsam, zurückhaltend, fast ein bisschen schüchtern mit Respekt vor der Autorin. Sie wollte mir nicht irgendetwas aufzwingen. Wir haben alles gemeinsam besprochen und wir verstanden uns auf einer tieferen seelischen Ebene, waren wir doch beide Opfer des Nationalsozialismus. Ich habe viel von ihr gelernt und ihre Anregungen und gelegentliche Kritik waren für mich sehr wertvoll. Ich zehre noch heute davon. Ihre Persönlichkeit habe ich immer bewundert. So klein und zierlich sie war, verfügte sie doch über eine starke innere Kraft und Energie. Mit großer Intensität widmete sie sich ihrer Arbeit, sei es der Salon, ihre eigene schriftstellerische Tätigkeit oder der Umgang mit den Menschen, die sie fördern wollte, so wie mich. Ein Erlebnis, das so typisch für Elisabeth Büning-Laube war, ist mir besonders im Gedächtnis geblieben: Es war an einem heißen Sommertag. Da ich keine Termine hatte und auch nicht damit rechnete, dass jemand mich zu sprechen wünschte, ging ich zum Unterbacher See schwimmen. Ich kam gerade pudelnass aus dem Wasser, als mein Handy klingelte. Elisabeth Büning Laube war es. „Wo stecken Sie denn?“ hörte ich ihre Stimme sagen. „Am Unterbacher See schwimmen.“ „Wieso gehen Sie schwimmen, wenn Sie ein Buch herausbringen wollen? Nun kommen Sie mal ganz schnell hierher, aber vor 14 Uhr, danach bin ich nicht mehr da.“ So schnell bin ich noch nie zum Bus gerannt. Als ich um Viertel vor Zwei an ihrer Wohnungstür stand, empfing sie mich mit einem strahlenden Lächeln. Was damals so eilig sein musste, weiß ich gar nicht mehr genau. Aber so war sie, sie gab alles für die Dinge, die sie sich nun einmal vorgenommen hatte, und die ihr Leben ausfüllten. Und sie gab auch alles für ihre Überzeugungen. Als vor Jahren am Bahnhof Wehrhahn eine Gruppe von jüdischen Flüchtlingen aus Russland angegriffen wurde und eine Frau zu Tode kam, ging sie noch Tage später zu der Stelle und legte Blumen nieder. Trotz ihrer angegriffenen Gesundheit stellte sie sich bei schlechtem Wetter zu einer Demonstration gegen Rechts auf den Rathausplatz. Dinge, die ich auch hätte tun sollen und auch tun wollte, aber aus Bequemlichkeit dann doch unterlassen habe. Sie tat es. Elisabeth Büning-Laube – ich habe sie geliebt und verehrt und ich vermisse sie!  

Anneliese Ksiensik - eine Brückenbauerin

Welchen Respekt sich Anneliese Ksiensik in der vielgestaltigen Düsseldorfer Frauenszene, repräsentiert im Düsseldorfer Frauenforum, erworben hatte, zeigte sich am 8. März 2000, als dieses Frauenforum im Düsseldorfer Rathaus zum 1. Mal in seiner Geschichte das Engagement von Bürgerinnen ehrte. Die 79-jährige war die Erstgeehrte, die die Schmuckehrengabe in Empfang nehmen konnte.

Im Düsseldorfer Frauenforum vertrat sie den Katholischen Deutschen Frauenbundes viele Jahre lang in einer Weise, der ihr Anerkennung und Sympathie über alle ideologischen Grenzen hinweg eintrug. Sie vertrat dezidiert und fundiert ihre Positionen, ohne andere zu verletzen. Sie bemühte sich um Ausgleich zwischen kontroversen Standpunkten und war dabei geistig so unabhängig, dass sie einen Standpunkt begründet vertrat, wohl wissend, dass dieser nicht immer mit dem des KDFB im Einklang stand. Sie pflegte dann in den Sitzungen im Rathaus zu sagen: „ich sehe das jetzt so, aber mein Verein wird dies nicht so sehen“.

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Zu ihren bleibenden Verdiensten gehört es, das Problem der geringen Renten von älteren Frauen in den öffentlichen Diskurs der Stadt eingebracht und an der Brücke zwischen den katholischen und evangelischen Frauenverbänden gebaut zu haben, was in gemeinsame 8.-März-Aktionen der christlichen Frauenverbände einmündete. Sie war – für ihre Generation sehr progressiv – eine Netzwerkerin, die durch ihre offene, klare und humorvolle Art auch junge Frauen für sich und ihre Überzeugungen gewinnen konnte. Auf diese Weise baute sie nicht nur Brücken zwischen den christlichen Frauenverbänden sondern auch zwischen den Repräsentantinnen der traditionsorientierten Frauenbewegung und der neuen Frauenbewegung.

Dass sie im 3. Reich als junge Christin die aus ihrem Glauben erwachsende Verantwortung offensiv vertrat, das hat sie als Selbstverständlichkeit angesehen und nicht als besondere Leistung. Um so mehr freuen wir uns, dass sie zum Stadtjubiläum 1989 von ihrem Wirken in der NS-Zeit berichtet hat und wir diese Darstellung hier mitteilen können.

 Ariane Neuhaus-Koch, Frauen-Kultur-Archiv

Anna Elisabeth Ksiensik: Meine Aktivitäten im 3. Reich

Nach der Schulzeit wurde ich Mitglied im Jugendbund des Katholischen Frauenbundes. Inzwischen waren die meisten katholischen Jugendorganisationen durch die Nazis verboten worden. Wir durften uns nur rein religiös betätigen, das heißt es gab keine Reisen und Wanderungen, sondern nur Wallfahrten und Besinnungstage oder Exerzitien (...). Unter der Obhut des Katholischen Frauenbundes, besonderes durch Vermittlung von Frau Horion, konnten wir im Frauenbundhaus in Bendorf unsere Begegnungen abhalten. Wir feierten dort die Hochfeste; Ferienfreizeiten sowie Führerinnenschulungen wurden uns in diesem Haus ermöglicht. Wir wunderten uns oft, dass die Partei und die Gestapo uns in Ruhe ließen, waren aber auch bemüht, nicht aufzufallen.

Während meiner Berufstätigkeit bei der Firma Franzen hatte ich keinen Kontakt zu Parteigenossen und Nazis (...). Da ich in dieser Firma keine Aufstiegschancen hatte, wechselte ich meine Stelle und arbeitete in einem mittleren Industrieunternehmen in Neuss. Hier lernte ich erst den Einfluss der Nazis kennen, da es sich um einen sogenannten kriegswichtigen Betrieb handelte. Inzwischen waren unsere Brüder, Vettern und Freunde eingezogen worden und kämpften an allen Fronten. Es entstand eine lebhafte Korrespondenz mit ihnen, unter anderem über das Thema „Junger Tod“.

Es hatte nach dem Ersten Weltkrieg im Verlag Albert Langen/ Georg Müller ein Buch gegeben: „Kriegsbriefe gefallener Studenten“. Es interessierte uns sehr, und wir diskutierten und korrespondierten darüber, weil es zeigte, in welch elenden Tod die Kriegsbegeisterung führte. Zu unserer Korrespondenz gehörte auch die Euthanasie-Predigt des Bischofs von Galen in Münster. Das war am 3. August 1941. Ich hatte diese Predigt im Büro in Neuss im Zehnerblock (ein Original und neun Durchschlage) geschrieben.

Jemand muss mich bei der Gestapo angezeigt haben, denn eines Tages erschienen im Büro mit dem Betriebsobmann zwei Gestapobeamte und verhörten mich im Beisein meines Chefs, der kreidebleich war und heftig zitterte. Die Beamten waren bestens informiert und beanstandeten, dass ich nie im BDM und nicht in der Partei war. (...) Dann musste ich noch den Lieferanten der Predigt angeben, es war meine Schwester Maria. Sie wurde eine Woche später ins Polizeipräsidium Düsseldorf geholt und hatte es dort wesentlich schwerer, sich aus der Sache herauszureden. Da sie die Unterlagen von einer Lehrerin hatte, hatten wir schnell überlegen müssen, wen wir als Lieferanten angeben konnten, der nicht in einer Staatsstellung war.

Nach den Verhören durch die Gestapo überlegten wir, wie wir uns nun verhalten sollten, entschlossen uns aber, weiter die Soldaten im Feld mit unseren Briefen zu betreuen und sie zu informieren. Mein Bruder hatte inzwischen auch als Offizier Verbindung zum Widerstand aufgenommen. Er starb in Russland am 11. September 1942. Auch viele unserer Vettern und Freunde waren bereits gefallen. Wir hatten inzwischen eine Schreibmaschine organisiert und arbeiteten noch einige Zeit im Luftschutzkeller weiter. Meine Schwester studierte dann in Bonn und später in Tübingen. Nach meiner Heirat am 15. Mai 1944 zog ich aufs Land in die Nähe von Koblenz und war so der Polizei in Düsseldorf ausgewichten.

Nachdem die Geschwister Scholl im Februar 1943 ihren Widerstand mit dem Leben bezahlen mussten, kam uns die Gefährlichkeit unseres Einsatzes erst recht zum Bewußtsein. Wenn ich heute darüber nachdenke, stelle ich fest, dass wir viel riskiert, aber wenig bewegt und erreicht haben.“

Wiedergegeben im Aufsatz von Monika Bunte: „Emma Horion und der Katholische Deutsche Frauenbund“.
In: Der eigene Blick. Frauen-Geschichte und -Kultur in Düsseldorf. Hrsg. von Ariane Neuhaus-Koch. Neuss 1989, S. 116-117.

Anneliese Ksiensik zum Gedenken

Im Alter von 91 Jahren ist am 12. August des Jahres Frau Annelise Ksiensik, Jg. 1919, nach längerer Zeit in einem Pflegeheim in Düsseldorf verstorben. Sie war gläubig und wartete auf den Tod, der sie nun erlöst hat. Frau Ksiensik hat sich um die katholische Kirche und besonders auch um unseren Verband wirklich verdient gemacht. Schon mit 8 Jahren trat sie der franziskanischen Jugend bei; mit 10 Jahren wurde sie Mitglied der katholischen Jugend ihrer Pfarre und mit 13 Jahren Mitglied in der Jugendbewegung „Christi Reich“. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse allgemein musste sie dann mit 16 Jahren die katholische Marienschule verlassen. Von 1935 – 1944 war sie im Einzelhandel und in der Industrie tätig. Nach der Heirat 1944 arbeitete sie bis Kriegsende als Verwaltungsangestellte in Koblenz und 1946 bei der Militärregierung in Düsseldorf.

Mit 16 Jahren trat sie dem Jugendbund des Katholischen Deutschen Frauenbundes bei, dem sie bis 1944 angehörte. Während des Krieges wurde sie von der Gestapo verhört, weil sie Soldaten an der Front mit religiöser Literatur und kirchlichen Nachrichten versorgt hatte, zusammen mit ihrer Schwester. Nach der Geburt ihrer beiden Kinder in den Jahren 1946 und 1949 trat sie schon 1946 dem Zweigverein Düsseldorf bei und widmete sich ab 1962, bis zu ihrem 80. Lebensjahr, dem Pfarrbesuchsdienst. 1972 wurde sie geschieden. Schon ab 1949 war sie berufstätig geworden, zunächst im Einzelhandel, später in der Verwaltung der LVA und der Kreishandwerkerschaft.

Frau Ksiensik zeichnete sich durch ein kluges, ehrliches und ausgewogenes Urteil aus, das überall geschätzt wurde. So vertrat sie vor allem unserem Zweigverein im Frauenforum, einem Zusammenschluss der unterschiedlichsten Frauenverbände, Initiativen und Richtungen. Dort setzte sie sich für die Probleme der älteren Frauen mit kleinen Renten ein und konnte die Lage der alleinerziehenden Mütter verdeutlichen. Am Internationalen Frauentag 2000 zeichnete das Frauenforum sie mit einem erstmals verliehenen Schmuckorden für ihre mutigen Stellungsnahmen aus. 2004, anlässlich ihres 85. Geburtstages, verlieh ihr der Hl. Vater auf Antrag des Zweigvereins den kirchlichen Orden „Pro ecclesia et pontifice“. Darüber hatte sie sich sehr freut und in ihrem Dankesbrief geschrieben: „Die Arbeit im KDFB war mir immer sehr wichtig, und ich bin stolz, was dieser Verband in den 100 Jahren alles geleistet hat. Unsere Nachfolgegeneration genießt alle Erfolge, die wir erkämpft haben“. Heute folgt ihre Tochter als Frauenbeauftragte ihren Spuren. Gott schenke Frau Ksiensik die ewige Ruhe!

Für den Zweigverein Düsseldorf: Dr. Marina R. Küppers
In: Mitteilungsblatt des KDFB, Zweigverein Düsseldorf e.V., 8/9 2010

Georg Aehling: Erinnerungen an Elisabeth Büning-Laube

Das ‚Literaturschiff‘, gechartert von Michael Serrer, dem Leiter des Literaturbüros, hatte am späten Vormittag soeben vom Altstadtufer Düsseldorf abgelegt. Es war ein Samstag im Juni 2000, der Bücherbummel strebte seinem Höhepunkt entgegen: Literarische Vorträge und Lesungen an Bord des MS Goethe. Die Sonne schien grell, ich trug einen Sommerhut und setzte mich im Salon an einen Tisch am Fenster, wir fuhren los in Richtung Zons.

Eine keck behütete Dame im hellen Sommerkleid, begleitet von ihrem Dackel, den sie Monky nannte, näherte sich meinem Tisch und fragte, ob sie dort Platz nehmen könne, was ich gern bestätigte. Die kleine, rothaarige Frau und auch ihre schnarrende Stimme waren mir bekannt, denn ich hatte zuvor bereits einmal ihren Salon KunstLive besucht. Ich bestellte eine Flasche Rheinwein, wir tranken auf unser gemeinsames Wohl und kamen ins Gespräch. Sie berichtete von ihrem Salon und erwähnte, dass ihr zur Abrundung ihrer Bemühungen um die Förderung von Künstlerinnen und Künstlern bislang noch ein Element fehlte: ein Verlag, der die im Salon auftretenden Literaten publiziert. Sie berichtete mir von ihren Plänen, eventuell einen eigenen Verlag gründen zu wollen und bat mich um Hilfestellung, da ich im Jahr zuvor meinen eigenen Verlag gegründet hatte. Ich wusste daher aus eigener Erfahrung von den nicht unerheblichen Aufwendungen und den zahlreichen zu erwerbenden Kenntnissen und Qualifikationen für die Gründung eines Verlags und riet ihr ab, diese Mühen auf sich zu nehmen. Ich bot ihr dann umgehend an, die verlegerische Tätigkeit selbst zu übernehmen und entwarf auf der ausliegenden Getränkekarte kurzerhand ein Konzept. Wir gaben uns daraufhin eine Stunde Bedenkzeit. Ihre literarisch versierte Hündin Monky wedelte derweilen freudig mit dem Schwanz und gab uns damit das Zeichen, sich noch auf dem Wasser zu einigen.

Bei einer Flasche Goethe-Wein wurde dann die Zusammenarbeit besiegelt: Eine neue, als lose Abfolge von bebilderten Monografien konzipierte Publikationsreihe namens KunstLive, die meine Edition Virgines in Kooperation mit dem gleichnamigen Verein besorgt und die von Elisabeth Büning-Laube sowie z. T. von Holger Ehlert herausgegeben wird, soll dazu beitragen, bekannte und weniger bekannte Literaten, Künstlerinnen und Künstler einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Jeder Band sollte zunächst in einer kleinen Auflage von 50 bis 100 Exemplaren erscheinen. Ich entwarf in den darauf folgenden Tagen ein Logo (als das Parkett, auf dem man auftritt) und schlug ihr vor, jeden Band auf einer anderen Papierfarbe zu drucken, eine bunte Reihe, so bunt wie der Salon.

Wir arbeiteten intensiv zusammen, die Mails flogen täglich mehrfach vom Rechts- zum Linksrheinischen und vice versa hin und her, daneben tägliche Telefonate. Sie war extrem genau in ihren Vorstellungen, Vorgaben und Planungen, auch sehr fordernd, meinte es aber stets gut mit allen Beteiligten. Der Salon war immer aufs Genaueste vorbereitet, das Programm lief jeweils über mehr als 3 Stunden, mit geselligem Intermezzo bei Wein und Snacks. Den 5. Jahrestag des Salons feierten wir im Theatermuseum mit vierstündigem Programm: Literatur, Musik, Darbietungen, einer Kunstausstellung. In lediglich vier Jahren entstanden 16 Bände, für einige Autoren wie Titus Müller erwiesen sie sich als ein Sprungbrett.

Im Spätherbst 2004 besuchte ich sie zum letzten Mal, sie war inzwischen bettlägerig geworden, Aufenthalte in Krankenhäusern und in einem Hospiz waren unvermeidlich geworden. Als ich am 4. Januar 2005 von einer Weihnachtsurlaubsreise zurückkam, zählte sie nicht mehr zu den Lebenden.

Ich habe erst in den Tagen danach von ihrem Tod Nachricht erhalten. Der Salon starb mit ihr.

5. März 2015

Ina-Maria von Ettingshausen: Lebensmotiv

Gewidmet meiner lieben Freundin Elisabeth in Erinnerung an wunderschöne Spaziergänge und tiefe Gespräche über Menschen, Poesie und Natur, über Frauenbilder und unser Selbstverständnis als Dichterinnen.

Lebensmotiv

Im Traum schon die kleinen Stoffbeutel gepackt
weiß ich nicht was darin eingesackt
vielleicht die ängstlichen Abschiedsgefühle
beim Hinter-mir-Lassen der vielen
schon abgesessenen Lebensstühle

Ein seltsames Unbewusstsein bewegt sich in mir
spielt Wege höhlende Töne hinauf und hinab
wie auf einem klangoffenen Seelenklavier
von dem Himmel so hoch bis ganz tief hinein ins Grab

Kann ich noch nichts sagen
trag innen treibende Fragen
zu Körper empfindendem Gegenwartsnu
mich warten lassen die Handlungsschuh

Tausende prasselnde Regentropfen
lassen mein schlafgründig Lebensmotiv
Neubewusstsein frei schreibende Wörter klopfen

© Ina-Maria von Ettingshausen

Klaus Grabenhorst: Die kleine Frau mit großem Hut

Ich war neu in dieser Stadt, von der man sagt, sie hätte die längste Theke der Welt. Mit einem Koffer voll französischer Chansons, die ich zusammen mit französischen Freunden in mein Deutsch gebracht hatte, wollte ich mich in die hiesige Kunstszene stürzen.
Ich las den Veranstaltungskalender in den Kulturseiten. Sofort sprang mir ins Auge: „Kunst-Live am Freitag, 19:30 Uhr (nur mit telefonischer Anmeldung).“ Ich griff zum Hörer. „Ein letzter Platz wäre noch zu vergeben“, erklärte mir eine resolute Stimme am anderen Ende, „Sie müssten sich nur gleich entscheiden.“ Ich ließ mich auf die Besucherliste setzen.
Knapp fünfzig Personen saßen in diesem Wohnzimmer, das dicht gefüllt war. An der einen Wand hingen Aquarelle, an der anderen sah ich Plakate aus der Literaturszene. Und ich roch den Duft von frischen Blumen. In der Küche standen Käsebrote und Getränke bereit.
Eine kleine Frau mit einem großen Hut betrat den Raum. Sie begrüßte die Gäste, setzte sich in ihren Sessel und las eine Geschichte von einer Frau, die ihre Kräfte verlor, nachdem er ins Jenseits gegangen war. „Sie irrte durch einen Wald. Auf einmal bemerkte sie, wie ihr ein rot-gelbes Laubblatt in ihre ausgestreckten Hände fiel. Sie brachte es nach Hause und beim Betrachten des Blattes entdeckte sie die verschiedenen Farbtöne und Nuancen und begann zu erahnen, dass“ – und jetzt sprach die kleine Frau so leise, dass man die Worte kaum hören konnte – „auch der Herbst des Lebens manche Farbenpracht zu bieten hat“. Dann stand sie auf und kündigte die Künstler des Abends an.
In der Pause erzählte ich meinen beiden Nachbarn, dass ich zum ersten Mal hier sei und mich darüber freue, noch den letzten Platz bekommen zu haben. Sie erzählten, dass sie hier zu den Stammgästen gehören, und dass auch sie, wie jedesmal, „den letzten Platz“ bekommen hätten.
Beim Verabschieden sprach ich der kleinen Frau eine Einladung für mein nächstes Konzert aus.

Es war eine heitere Atmosphäre in dem Kellertheater in dem Stadtteil auf der anderen Seite des Flusses. Die kleine Frau, die mit dem großen Hut aussah, als sei sie einem impressionistischen Gemälde entstiegen, saß in der ersten Reihe, kicherte, gluckste und strahlte mich an.
„Bezahlen kann ich nichts“, sagte sie nach der Vorstellung zu mir, „aber ich möchte gerne, dass Sie einen Abend in meinem Salon singen. Fragen kostet ja nichts! Als Gegengeschäft haben Sie einen Wunsch bei mir frei!“
Ich erwähnte, dass ich gerne einmal im Geburtshaus von Heinrich Heine singen würde. „Sie meinen im Künstlercafé Schnabelewopski! Das machen wir! Ich kenne den Wirt! Und nicht nur das, junger Mann! Ich werde Sie überall einführen! Allerdings bitte ich Sie, dass jedes Mal vor Ihnen ein bis zwei Lyriker ihre Gedichte vorlesen können, und – das ist ein persönliches Anliegen von mir – bitte vergessen Sie nicht, das Lied von der Margerite zu singen!“

Seither fragte sie mich jedesmal, wenn ich ein Konzert gab, bei dem sie dabei war, nach dem Chanson von der Margerite. Es erzählt von einem Pastor, dem einmal bei seiner Predigt eine Margerite aus seinem Gebetsbuch gefallen ist. Wie wankte da der heilige Ort vor Erregung! Ein Skandal! Die Gemüter kamen in Wallung: „Woher kommt das Gänseblümchen? Kam es zu ihm? Kam er zu ihr? Doch“, so heißt es im Lied, „oben im Himmel unser Herr, kümmert sich wenig um das Getuschel im Parterre“. Und nachdem sich die Gemeinde allmählich wieder beruhigt hatte, heißt es zum Schluss: „Und dass niemand, das sei meine kleine Bitte, zeige auf den Pastor und die Margerite!“

Einmal, als ich die kleine Frau mit dem großen Hut an einem warmen Sommertag zufällig auf der Straße traf, erzählte sie, dass ihr Arzt ihr geraten habe, ab und zu mal ein Bier zu trinken, sie habe zu wenig Eisen im Blut. Ich lud sie für den Abend in einen Biergarten ein und flachste, sie könne mir ja dann nebenbei ihre Lebensgeschichte erzählen. „Das werde ich!“, stieß sie begeistert aus und tippelte von dannen.

„Mein Vater war Pianist, meine Mutter Sängerin“, begann sie ihre Geschichte. „Sie waren beide im Widerstand gegen Hitler. Sie kämpften unter Einsatz ihres Lebens. Ich war nicht gewollt, denn ich wurde nur gezeugt, weil die Nazis sonst meine Eltern ins KZ gesteckt hätten. Wir waren fünf Kinder. Wären meine Eltern ins KZ gekommen, hätten wir Kinder in ein Heim gemusst. Das war den Nazis zu teuer.
Wir haben damals nicht einmal Lebensmittelmarken bekommen. So musste ich schon als kleines Kind lernen, wie man sich etwas für ‚zwischen-die-Zähne‘ organisiert. Ich bin durch die Nachbarschaft gezogen und habe gesungen. Wenn ich Glück hatte, erbarmte sich jemand und gab mir ein Butterbrot. Noch heute habe ich den Geschmack von einem Butterbrot in meiner Nase.
Nach dem Krieg, im Adenauer-Staat, waren meine Eltern wieder auf der Verliererseite und mussten mit ansehen, wie die braune Pest Karriere machte.
Ich habe es zuhause nicht mehr ausgehalten. Eines Nachts bin ich aus dem Fenster gehüpft und dann immer den Bahngleisen entlang gegangen. Als es hell wurde, kam ich zu einer Fabrik mit vielen Schornsteinen. Ein Pförtner in einem Häuschen packte gerade sein Butterbrot aus. Ich setzte mich zu ihm und sagte: ‚Hm, so etwas hätte ich auch gerne!‘ Er brach mir die Hälfte ab. Ich sagte: ‚Bei dir möchte ich bleiben.‘ Der Pförtner nahm mich mit nach Hause und zusammen mit seiner Frau schaffte er es, dass ich bei ihm bleiben konnte.“

Die kleine Frau mit den roten Haaren hatte inzwischen ihr Glas ausgetrunken. Ich bestellte ihr ein zweites und fragte, warum sie so gerne das Lied von der Margerite höre.
„Also, junger Mann“, fuhr sie fort, „das war, als ich zu den Nonnen kam. Wegen meiner Herkunft hieß es, ich sei des Teufels. ‚Du hast böse Gedanken, ich sehe genau, was du denkst‘, zischte die Obernonne. Ich konnte mir das nicht vorstellen. Ich stellte mich heimlich vor einen Spiegel und schaute mich an. Dann dachte ich an etwas ganz Böses und schaute wieder in den Spiegel. Ich konnte keinen Unterschied feststellen.
Doch ich habe in all den qualvollen Jahren auch viel gelernt: Kochen, Kleider nähen, Hauswirtschaft, und: nicht zu lügen! Als die Obernonne mich auf die Prüfung vorbereitete, nahm sie mich zur Seite und sagte mit ernster Miene, dass man mich fragen werde, ob mir der Herr erschienen sei, und dann hätte ich mit ‚ja‘ zu antworten.
Vor dem Einschlafen dachte ich lange darüber nach. In der Bibel steht doch: du sollst nicht lügen! Und da mir der Herr wirklich nie erschienen war, sagte ich in der Prüfung die Wahrheit. Sie können sich vorstellen, junger Mann: meine Tage bei den Nonnen waren gezählt!“
Eine Geschichte nach der anderen sprudelte aus ihr heraus und da ich mein zweites Bier auch ausgetrunken hatte, fiel es mir immer schwerer, mir die vielen Details zu merken.
Später sei sie Krankenschwester geworden. An der Uni-Klinik. Und einmal habe sie zu dem berühmten Professor Doktor Hüsgen gesagt, er dürfe seine Mitarbeiter nicht so anschnauzen: „Das macht man nicht! Das haben die Menschen, die hier arbeiten, nicht verdient!“ Der perplexe Professor habe sie daraufhin mit nach Hause genommen und seiner Frau vorgestellt. So sei sie bei ihm Haushälterin geworden.
„Mein späterer Mann, der übrigens dreißig Jahre älter war als ich, wollte mich kurz nachdem wir uns im Schnabelewopski kennengelernt hatten, zu meinem sech­zigsten Geburtstag zum Essen einladen und anschließend mit mir eine Lesung besuchen. Aber es gab in der ganzen Stadt keine einzige Literaturveranstaltung. ‚Dann laden wir eben selber ein paar Dichter ein‘, schlug er vor. Der Abend wurde ein voller Erfolg. Und alle waren der Meinung, wir sollten doch öfters solche Abende veranstalten. Und so entstand der Salon.
Als mein Mann zwei Jahre später starb, sagte er auf dem Sterbebett zu mir: ‚Schätzgen, jetzt machst du den Salon alleine weiter!‘ Wir hatten doch gerade erst geheiratet! Wir waren glücklich. Und er freute sich immer, wenn die Gäste eintrafen. Er stand da, wie ein Leuchtturm, so stolz war er. Vorher hatten wir geputzt, die Künstler ausgesucht, die Presse informiert, Einladungen verschickt, frische Blumen geholt, Butterbrote und Getränke bereitgestellt. Und immer, wenn alles fertig war, sagte er: ‚Schätzgen, und jetzt setzt du deinen Hut auf!‘
Kurz vor unserer Hochzeit, junger Mann, war noch etwas passiert! Wir waren alle in einem Hotel auf dem Land. Da erzählte mir am späten Abend eine Verwandte von ihm, dass er bei der Waffen-SS war. Das muss man sich mal vorstellen! Ich wollte gerade schlafen gehen, und dann das! Ich, die Tochter aus einem Elternhaus aus dem Widerstand, heirate einen Nazi, der bei der Waffen-SS war!
Um Mitternacht stellte ich ihn zur Rede: ‚Warum hast du mir das nicht gesagt?‘ ‚Liebchen‘, antwortete er, ‚weil du mich dann nicht genommen hättest!‘
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Am nächsten Morgen sollte die Hochzeit sein. Um sechs Uhr in der Früh, nach einer langen Nacht, in der er mir alles erzählt hatte, sagte ich völlig erschöpft: ‚Ich kann darüber nicht richten!‘ Und dann habe ich ihn geheiratet.“

Manch schönes Konzert stellte die kleine Frau seitdem mit mir auf die Beine. Und als ihr Salon vom Kulturamt offiziell anerkannt war und die ersten Fördergelder flossen, frohlockte sie „jetzt kannst du bei mir singen“ und fügte voller Stolz hinzu „für Mucken!“

Einmal lud sie mich zu ihrem Geburtstag ein. Mein bester Freund war in diesen Tagen gestorben. Ich fühlte mich nicht in der Lage, auf eine Geburtstagsfeier zu gehen. Sie verstand, rief mich aber zwei Tage vorher noch einmal an und bat mich inständig, zu kommen.
Ihr Salon platzte an diesem trüben Novembernachmittag aus allen Nähten. So viele Menschen hatte ich dort noch nie gesehen! Mit ihrem großen Hut saß sie in ihrem Sessel. Die Füße hatte sie auf ein Bänkchen gelegt.
Sie las von einem kleinen Mädchen vor, das auf Befehl christliche Worte zu verinnerlichen hatte: „Wollte sie an ihnen nicht ersticken, musste sie gehorchen. Wer weiß, ob dieser Gott, von dem sie keiner befreien konnte, nicht noch viel grausamer war als der Führer, der sich umgebracht hatte, als der sinnlose, lange Krieg verloren ging. Ihr Schicksal war für sie ein vorprogrammiertes Verlorensein, ein Leben, das von Gott aus unweigerlich darin bestehen sollte, für die Ewigkeit zu leiden. Die Höllenschilderungen der Ordensfrauen quälten sie mehr als die Nazis es je gekonnt hatten.“ Sie trank mit zitternder Hand einen Schluck aus ihrem Glas. „Immer jedoch spürte das Mädchen in sich ein Sehnen. Wonach es sich allerdings sehnte, wurde ihm erst klar, als es Jahrzehnte später den Schlüssel zu seiner Innerlichkeitskammer fand, in der sich alte und neue Worte versteckt hielten und sich ihr nun, da sie die seelische Kraft der Erinnerung besaß, offenbarten.“
Sie beendete ihre Lesung mit einem Gedicht. Danach stand sie aus ihrem Sessel auf und kündigte die nächsten Vortragenden an. Nach drei Stunden bedankte sie sich und erklärte, dass dies die letzte Salon-Veranstaltung gewesen sei. Inzwischen war es dunkel geworden. Ein paar Kerzen brannten auf den Tischen. Sie bewegte sich langsam durch den Raum und schaute jedem einzelnen lange in die Augen, berührte ihn, ging zum Nächsten, vor dem sie wieder lange verweilte. Es fiel kein Wort.
Spät in der Nacht war ich einer der letzten, die das Haus verließen. Sie hatte von ihrer Krankheit erzählt und dass sie den Arzt gefragt habe, ob er sie, wenn sie seine Frau wäre, in Anbetracht der Befunde operieren würde. Der Arzt hatte verneint.

Nach ein paar Monaten bekam ich einen Anruf von einem Hospiz. Sie hätte gebeten, dass ich komme.
Abgemagert und zerbrechlich wie ein zerrupftes Vögelchen im Schnee lag sie in ihrem Bett. Ihr kleiner Kopf mit den roten Haaren guckte aus der weißen Bettdecke und ruhte auf dem großen weißen Kopfkissen. Der Tisch war voll prächtiger Blumengeschenke. Daneben lag ihr Hut.
Ich setzte mich auf die Bettkante. Sie konnte kaum sprechen und wir lächelten uns an. Sie sah, dass ich meine Gitarre mitgebracht hatte.
„Die Margerite?“ Sie strahlte.
„Man darf andere kritisieren, aber man darf ihnen nie ihre Würde nehmen!“, seufzte sie.
Sie wurde immer müder. Sie setzte ihre Brille mit den dicken Gläsern ab und legte die beiden Hörmuscheln mit der Verkabelung auf ihr Nachtschränkchen.
Ich hörte sie leise sagen: „Mit der Kunst ist es möglich, uns auf die Zehenspitzen zu stellen, um mit unserem dummen Kopf ein Stück vom Himmel zu berühren.“
Ich streichelte ihr Gesicht und küsste ihre Wangen. Dann schlief sie ein. Ich hielt noch lange ihr kleines Händchen.
Von da an rechnete ich jeden Tag damit, einen Anruf mit der Nachricht ihres Todes zu bekommen.
Nach drei Wochen aber war sie selbst am Telefon: „Ich bin wieder zuhause! Willst du kommen?“ Sie schimpfte: „Halsabschneider! Alle wollten nur mein Geld!“
Über mehrere Monate hatte sie viel Besuch. Es war ein Kommen und Gehen. Allerdings konnte sie kaum noch hören und magerte noch weiter ab.

Als ich sie das nächste Mal besuchen wollte, war die Wohnung ausgeräumt. Sie wurde gerade renoviert und ich konnte einen letzten Blick in die Räume des Salons werfen.
Später hörte ich, dass sie mit einem jungen Künstler in die Schweiz gefahren sei und eine Kapsel genommen habe. „Eine Beerdigung wollte sie nicht“, hieß es, sie wollte „in den Wolken begraben sein.“

Aus: Klaus Grabenhorst: Ein Stück vom Himmel, Geistkirch-Verlag, Saarbrücken 2011, S. 7-15. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Geistkirch-Verlags.

Clemens Hüsgen: Das Besondere

Von vielen Freunden von damals wird bedauert, dass keine Nachfolge des von Elisabeth initiierten Salongedankens erfolgte. Die atmosphärische Dichte wird weder in der „Blauen Stunde“ in der Destille noch im Literaturkreis von Prof. Gepa Klingmüller (bei anderer Zielsetzung) erreicht. Das aber war das Besondere: Konzentrative Stille bei größter körperlicher Nähe der dichtgedrängt sitzenden Zuhörer zum Vortragenden, aber auch locker-freundschaftlicher Umgang in der großen Pause bei Gebäck und Wein. Von der Gitarre bis zur Percussionsgruppe, vom Gesang bis zum Schauspieler waren Künstler und Künstlerinnen vertreten. Lesetexte mussten, vorher genehmigt, den Ansprüchen nach Form und Aussage genügen. Elisabeths leise, sensible Art bewirkte ein kultiviertes Miteinander ohne je förmlich-steif zu sein.

Ich erinnere mich noch lebhaft an meine erste Lesung bei ihr, mit Lampenfieber trotz Erfahrungen vor großem Publikum (Waldhotel Wesel, Schloss Beck, Schloss Ringenberg u. a.) – das hier war eine andere Welt: Kurz vor sich spürt man jeden Blick, ist wie ausgeliefert bei jeder Bewegung, die geringste Nervosität wird wahrgenommen. Doch Elisabeth führte mich ans Micro, stellte mich vor, sprach beruhigend zu mir, alles Befremdliche war verflogen. So mag es manchem ergangen sein, der die Intimität dieses Salons kennenlernte und sich dann später draußen weiterentwickelte. Hilfreich war sicher die Aufnahme in eine Buchreihe, aber entscheidender war wohl die Bewährung vor einem sachkundigen Publikum, die freundschaftlichen Verbindungen untereinander, die Anregungen durch vielfältige Darbietungen.

Elisabeth Büning-Laube hat sich mit der Förderung junger Talente verdient gemacht, doch ihr eigentliches Anliegen, die Wiederbelebung des historischen Vorbilds eines „Salons“ mit einem kultivierten Fluidum jenseits vom lautstarken, oft literarisch wenig Anspruchsvollen – diese Idee ist nach meiner Kenntnis in Düsseldorf nicht weitergeführt worden.

Eine große Wohnung, Engagement und künstlerisch vielfältige Verbindungen als Voraussetzung für dieses Vorhaben sind heute wohl nicht mehr zu bewerkstelligen. Schade, - umso größer ist ihr Verdienst, umso lebhafter und dankbarer unsere Erinnerungen an viele schöne Stunden.

Ihr weithin sichtbarer, großer Hut schmückte unsere Nordstraße, unser Viertel ist kulturell ärmer geworden.

Gedanken zum 10. Todestag von Elisabeth Büning-Laube

Meine Erinnerung spiegelt unsere Begegnungen in lebhaften Farben – auch noch den Tag ihrer letzten Lesung eigener Gedichte in der Goethe Buchhandlung am Dreieck. Es war ihr bevorzugter Lebensraum, da war sie bekannt und kannte jeden – im Blumengeschäft oder in der Bäckerei, in der Kirche den Organisten oder den Obdachlosen mit den „Fifty-Fifty“-Zeitungen unten an der Straßenecke. Jeder teilte seine Freuden, Erfolge und Enttäuschungen mit ihr.

An dem Abend ihrer letzten Lesung war Elisabeth fast elegant gekleidet – schwarz – ungewöhnlich für sie und ihre sonst so unbekümmerte Art, mit besonderen Gelegenheiten umzugehen. In ihrem langen Kleid wirkte sie blass und schmal – und – auch sehr ungewöhnlich – sie wirkte verhalten, in sich gekehrt. Die Lesung verlief fast andächtig: So, wie sie ihre Gedichte vortrug, schien jedes einzelne Wort im Raum stehen zu bleiben – nachzuklingen für immer.

Der Horizont kleidet sich blau
Morgenrot durchfließt die
stille Frühe
Durchflug der Vögel
setzt Zeichen
Meine Augen halten das Bild
eine Sekunde an
Danach zerfließt alles
in ein neues großes Geheimnis.

Bald konnte ich Elisabeth nur noch im Hospiz besuchen. Sie brauchte nun die nötige Pflege, fand dort Ruhe und ein Gefühl der Sicherheit. Von dort aus fuhr ich sie im Rollstuhl in den nahe gelegenen Park. Sie wollte in der Natur und unter Menschen sein und freute sich über jede herzlich-besorgte Begrüßung.

Wir waren uns erstmals bei einer ihrer Lesungen im Schnabelewopski begegnet – unserem zweiten „literarischen Zuhause“. Hier trafen sich Lyriker, Prosaisten, aber auch Zuhörer, die ein Gespräch über Literatur suchten. Elisabeth Büning-Laube war nur eine unter vielen Poeten, aber sie wurde begrüßt als „beachtete Literatin“. Lebhaft, temperamentvoll, kämpferisch und charmant zugleich, wandte sie sich dem Einzelnen ganz zu, um besser zu verstehen, teil zu nehmen, aber auch um zu fördern oder zu beraten. Immer interessiert und – sehr belesen – war Elisabeth kritisch, direkt und schlagfertig zugleich. Im „Schnabel“ gestaltete sie auch selber Lesungen – ihre eigenen und die anderer – wie für mich oder für uns beide zusammen. So lernten wir uns kennen und schätzen. Ich war überrascht von ihrem freien und selbstbewusst-lockeren Umgang mit jedem, dabei war sie voller Neugier für alles, was Gedanken an Poesie anklingen ließ.

Elisabeth hatte eine ganz eigene, einfühlsame Art, ihre Gedichte vorzutragen. Bei einer unserer Lesungen empfand ich solche Freude daran – wie ihre geschriebenen Worte wieder Klang wurden – dass ich hineinrief: „Das ist es – geschriebene Worte klingen lassen – wie aus Noten Musik – kommt alle in mein Atelier – da können wir lesen – so lange und so oft wir wollen!“ Und sie kamen – auch Elisabeth Büning-Laube kam – so entstand „Lesen im Atelier“. Nach ersten Treffen nahm sie uns mit in ihren Salon.

Der „Literatur – Kultur – Salon Elisabeth Büning-Laube“ war etwas Besonderes. Sie lud Schreibende ein, ihre eigene Lyrik oder Prosa in einer Lesung vorzustellen – ernste bis heiter-humorvolle, aber auch eigenwillig-originelle. Alle hatten eine eigene Sprache in Inhalt, Form und Aussage – so wurde jede Lesung erfrischend ungewöhnlich.

Elisabeth gelang es immer, eine Atmosphäre von gegenseitigem Verständnis zu schaffen. Jede/r Lesende fühlte sich angenommen und – auf der Suche nach dem eigenen Ziel – verstanden. Dabei war ihre kritische Offenheit verblüffend und herausfordernd. Meinungsverschiedenheiten gab es oft, sie wurden diskutiert und von ihr mit Scharfsinn hinterfragt. Auf diese Weise gingen wichtige Impulse von ihr aus.

Zu jeder Lesung gehörte auch eine Ausstellung von Bildern – auch ihrer eigenen, denn Elisabeth hat auch selber gemalt. Lieder wurden mit Klavierbegleitung vorgetragen. Bald mussten die Stühle enger gerückt und der Pausenkuchen kleiner geschnitten werden. Es gab auch immer etwas zu helfen: Stühle schleppen, servieren, was als Stärkung für die Pause bereit stand oder den Vortragsraum wieder in einen bewohnbaren Zustand versetzen. Danach saßen wir an einem großen runden Tisch, oft um das Aquarium mit vielfarbig schimmernden kleinen und großen Diskusfischen, um den Ablauf der letzten oder nächsten Lesung zu besprechen.

Elisabeth führte die Gäste auch gerne auf ihren Balkon. Er bot durch Blüten und Kletterpflanzen den Ausblick in die von hohen Häusern eng begrenzte „Weite“. Die Mauern wurden unsichtbar, denn die vielen Fensterscheiben reflektierten das Sonnenlicht in unzählige Blumentöpfe, Blüten und Ranken. Sie liebte es, aus der Hinterhofkargheit nicht nur eine Hinterhofidylle, sondern ein blühendes Wunder entstehen zu lassen – ihre „hängenden Gärten der Semiramis“.

Trauer künden
die grauen Steine
der großen Stadt
Der Frühling sprengt
ihr hartes Echo
und aus dem
gebrochenen
Fels der Häuser
bricht mit Macht
ins Graue
die lichte Narzisse.

Die Begrüßung der Zuhörer verlieh den Lesungen einen festlichen Anklang: Für Elisabeth – als Moderatorin – war es „ihr Auftritt“ auf dieser kleinen eigenwilligen Literatur–Kultur–Bühne, für die Zuhörer eine Überraschung, denn sie trug dann einen großen Hut. Der letzte war aus rosaroter Organza-Seide mit ebenso zarten rosaroten Blüten besetzt. Dieser zauberhafte Seidenhut verlieh ihrem dunkelroten Haar und dem schmalen Gesicht zarte grün-farbige Schatten. Er ließ die kleine Gestalt viel größer erscheinen – so groß wie ihre Träume: Kunst, Musik – und vor allem der Dichtung – Raum zu geben zur freien Entfaltung und – zur eigenen Lebensfreude. Wie oft hat sie zu mir gesagt: „Wir sind alle auf dem Weg – Du musst ihn nur mit Freude gehen.“

Engel fallen selten
sie fliegen –
Fallen sie, fallen sie sehr leise
wie frischer Schnee
den wir erst spüren
wenn er unsere Haut
zerfließend berührt.

Es scheint Engel zu geben
die werden immer lichter
in ihrer Liebe zum Menschen.

Ständig wachsen in mir bewegte
widerspenstige Gedanken
die ihn erschüttern
Mein Engel hat es sehr schwer
ich bin so leicht
dass mich der leiseste Wind
entführen kann.
Bald schenkt er mir Flügel.

Ihre Gedichte sind ihrem Leben abgelauscht – aus der Tiefe ihrer sicherlich oft schmerzlich erworbenen Erfahrung herausgehoben – Anklänge einer gesuchten und gefundenen inneren Harmonie. Sie öffnen den weiten Horizont einer intensiv durchlebten Gedankenwelt von zarter Poesie bis hin zu kraftvoller Dynamik. Sie öffnen ein Spektrum von fein empfundener Lyrik – geschrieben aus Freude und Schmerz. Und doch klingt immer ein Hauch von Humor in ihren Zeilen mit, als wollte sie sagen:

„So ist es eben – das ist das Leben – oder hast Du gedacht, Du wirst ins Paradies geboren? – Das musst Du dir schon selber erst ‚er-leben‘ – aber dann ist es voller Wunder.“

Das etwa waren ihre Worte – so hat sie gelebt – sehr einfach und bescheiden. Unscheinbares hat sie als beachtenswert wahrgenommen, um dann das für sie einzig Richtige entschieden zu tun – es hervorzuheben. Dabei verfügte sie über ein feines Gefühl für Qualität und Werte besonderer Art. Auch wusste sie noch, was Krieg und Frieden bedeuten. Sie ließ keinen Zweifel an ihrer Haltung für ein friedliches, menschlich-positives Miteinander aufkommen.

Gemeinsam standen wir Tuch an Tuch
gegen Kriege
in eisiger Kälte
die unsere Kleidung zerbiss
Als eine Fürbitte
um den Heiligen Geist
für Saddam
über das Pflaster am Rathaus rollte
Wusste ich wie vergeblich unser
Ruf nach Frieden
nicht vergeblich unser Streben.

Elisabeth Büning-Laube hat uns ihre Idee vom freien Denken und selbstbewussten Leben vorgelebt. Sie war in mancher Hinsicht wegweisend. In der Erinnerung begegne ich ihr mit herzlicher Dankbarkeit: Sie hat mich – und wahrscheinlich auch andere – „auf den Weg gebracht“. Es war ihre Idee, dass ich meine Lyrik und Prosa im „Kultur-Haus-Berlin“ vorstellen durfte. Sie veranlasste auch, dass ich in der von ihr als Herausgeberin kreierten Buchreihe „KunstLive“, Edition XIM „Virgines“, vier Bild-Gedicht-Bände veröffentlichen konnte. Seither folgten zahlreiche eigene Lesungen. Und – „Lesen im Atelier“ ist heute noch sehr „lebendig“.

Seit dem Tod von Elisabeth Büning-Laube hat sich die literarische Szene in Düsseldorf weiter entwickelt. Sie gleicht heute einem dichten Netzwerk mit immer neuen Impulsen – auch der jüngeren Generation. Dazu hat Elisabeth Büning-Laube durch ihre Anregungen und Initiativen unvergessen beigetragen.

Die Gedichte von Elisabeth-Büning-Laube sind „KunstLive“ Band 13 „Farbbogen“ – Anthologie – entnommen. Herausgeberin Elisabeth Büning-Laube, Edition XIM „Virgines“, 1. Auflage 2003.

Gepa Klingmüller

Konstanze Petersmann: Wenn der Tag verweht und die Schatten wachsen

Wenn der Tag verweht und die Schatten wachsen

der Vogel im rauschenden Lied
ist verstummt, Sterne murmeln
: außerhalb, ... in fernsten Nebelauen
– ein schweigender Kreis;

dort schwebt die Feder über das Wasser,
versinkt die köstliche Perle darin,
... im Lichtkegel sehe ich
drei finstere Fenster im Turm;

dahinter spiegelt sich die Rose im
Venezianischen Rot auf dem Fächer,
... auf den Wegen liegen Erinnerungen
– im versiegelten Quell

Ich erinnere mich an Elisabeth Büning-Laube.

Wir, Elisabeth Büning-Laube und ich, begegneten uns auf der Ebene des „Kleinen Prinzen“ – das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.

Wiederum lebte sie und sprach durch ihre Fantasie. Ihre Kreativität gab ihr den sicheren Mut, meiner Lyrik eine gute Zukunft vorauszusagen. Sie war Herausgeberin meiner ersten Gedichte in der Edition XIM Virgines Düsseldorf.

Den Salon-Gedanken der Salonnière Büning-Laube griff dann mein Ehemann ein Jahr nach ihrem Tod auf. Im Jahr 2006 setzte ich diese Anregung in die Tat um, zusätzlich inspiriert durch die Salonnière, Schriftstellerin und Hofrätin aus Danzig, Johanna Schopenhauer, die Mutter des großen Philosophen Arthur Schopenhauer, die mit ihrem bürgerlichen Salon die Anlehnung an den Musenhof der Anna Amalia zu Weimar suchte.

In Dankbarkeit erinnere ich mich an Elisabeth Büning-Laube, deren Vorname ‚Elisabeth’ im Babylonischen heißt: Eli si beti: Unser Gott ist sieben (Vater, Mutter = Sonne, Mond und die fünf Planetenkinder). Der Kreis schließt sich, denn die Sieben war die Glückszahl von Elisabeth Büning-Laube, wie sie sich selbst zum siebenjährigen Bestehen ihres Salons im Jahr 2003 bei einem Interview gegenüber der WZ äußerte.

Januar 2015

Frank Schmitter: Zartheit und Zähigkeit. Meine Erinnerungen an Elisabeth Büning-Laube

Ich war bereits über 40 Jahre alt und als Schreibender ein Kind. Ein Kind, das die Haustür ganz vorsichtig öffnet und erste Gedichte an Internet-Zeitschriften schickt wie die „Federwelt“, ein immer noch existierendes Periodikum, das der an intellektueller Langeweile leidende Zivildienstleistende Titus Müller gegründet hatte. Er, der mittlerweile arrivierte Schriftsteller, druckte 1999 meine ersten Gedichte und erwähnte, dass eine Düsseldorfer Malerin, Autorin und Förderin junger Talente bald seinen ersten Gedichtband publizieren würde. Ob ich nicht …
Und ob. Ich schickte ihr einen Stapel meiner Gedichte, und sie meldete sich und sagte, dass sie sich da etwas vorstellen könne in ihrer Verlagsreihe. Und schickte damit das Kind in den Himmel.

Monate danach lud sie mich in Düsseldorf – ich glaube, ins Theatermuseum – zu einer Lesung gemeinsam mit Elisabeth Hoheisel und Titus Müller, deren Bände in der Reihe "KunstLive" bereits erschienen waren. (Erst nach jener Lesung unterschrieb ich den Vertrag mit dem Verleger Georg Aehling und wäre, wenn das technisch überhaupt möglich wäre, noch vom Himmel weiter aufgestiegen.)

Bei dieser Gelegenheit sah ich sie zum ersten Mal, diese körperlich so zarte Person, mit einer Vorliebe für farbige Kleidung und extrovertierte Hüte. Ein Vogel, dem man instinktiv wünschte, nicht im nächsten Augenblick von der Katze Welt gerissen zu werden. Aber damit unterschätzte man sie. In dieser Person steckte eine Beharrlichkeit und Überzeugungskraft, die kaum einer von hundert besitzt. Sie hatte im Leben zu viel gesehen und zu viel durchlitten, um sich von ihrem Kurs abbringen zu lassen. Elisabeth Büning-Laube tat, was sie tun wollte und das war das, was sie einfach tun musste. Sie wusste sehr wohl, dass mancher im Kulturamt und in anderen Institutionen auf sie, die nie studiert, die nie künstlerisch-literarisch wirklich „reüssiert“ hatte, mit saturierter Überheblichkeit herabblickte. Sie vertraute ihrem gesunden Menschenverstand, sie vertraute sich selbst. Sie bildete sich ihre Meinung und äußerte sie. Nie vorsätzlich verletzend, niemals opportunistisch oder berechnend, aber klar und eindeutig. Sie war Widerstands-fähig.

Und sie besaß noch eine weitere, so seltene Charakterqualität: Sie förderte nicht andere, um im eigentlichen Sinne sich selbst zu promoten. Sie lud nicht andere Lyriker ein, um ihre eigene Lyrik zu lesen oder auf ihre Bilder zu zeugen. Ihr Salon, ihr Einsatz für andere AutorInnen war kein Deal. Sie gab, ohne gleichzeitig nehmen zu wollen.

Ich sah sie danach nur noch ein einziges Mal, bei einer Lesung in ihrem legendären Salon. Ich las meine Gedichte direkt nach einer Punkband, als die Fensterscheiben noch zitterten und den Zuhörern die Ohren klingelten. Egal. Ihre Wohnung platzte schier aus den Nähten, aber in dieser drangvollen Enge gediehen Kontakte und Gespräche.

Wir blieben in Kontakt, notgedrungen auf Distanz, weil ich in München lebte und lebe. Sie brachte noch zwei weitere Titel von mir in ihrer Reihe in der Edition XIM Virgines. Dann hörte ich über Georg Aehling von ihrer schweren Erkrankung und schrieb ihr einen langen Abschieds- und Dankesbrief. Aber noch einmal trug ihre ungewöhnliche Zähigkeit den Sieg davon, wenngleich es ein temporärer Sieg blieb. Sie kehrte aus dem Hospiz in ihre Wohnung zurück. Das passte zu ihr: Selbst der Tod hatte ihre Kraft unterschätzt, nicht für lange, aber doch für einige Monate.

Ellinor Wohlfeil: Erinnerungen an Elisabeth Büning-Laube

Elisabeth Büning-Laube – mit Dankbarkeit denke ich an die Zeit zurück, in der wir gemeinsam mein erstes Buch herausgegeben haben. Sie hat ihm den Titel gegeben „Verwässerte Zeugnisse“ und es in ihrer Reihe KunstLive veröffentlicht. Inzwischen heißt es „Kein menschlicher Makel – weder gestern noch heute“. Der Verlag 3.0 in Bedburg hat es neu aufgelegt. Es war schön, mit Elisabeth zu arbeiten. Sie ist mit mir den ganzen Text durchgegangen, sehr einfühlsam, zurückhaltend, fast ein bisschen schüchtern mit Respekt vor der Autorin. Sie wollte mir nicht irgendetwas aufzwingen. Wir haben alles gemeinsam besprochen und wir verstanden uns auf einer tieferen seelischen Ebene, waren wir doch beide Opfer des Nationalsozialismus. Ich habe viel von ihr gelernt und ihre Anregungen und gelegentliche Kritik waren für mich sehr wertvoll. Ich zehre noch heute davon.

Ihre Persönlichkeit habe ich immer bewundert. So klein und zierlich sie war, verfügte sie doch über eine starke innere Kraft und Energie. Mit großer Intensität widmete sie sich ihrer Arbeit, sei es der Salon, ihre eigene schriftstellerische Tätigkeit oder der Umgang mit den Menschen, die sie fördern wollte, so wie mich. Ein Erlebnis, das so typisch für Elisabeth Büning-Laube war, ist mir besonders im Gedächtnis geblieben: Es war an einem heißen Sommertag. Da ich keine Termine hatte und auch nicht damit rechnete, dass jemand mich zu sprechen wünschte, ging ich zum Unterbacher See schwimmen. Ich kam gerade pudelnass aus dem Wasser, als mein Handy klingelte. Elisabeth Büning Laube war es.
„Wo stecken Sie denn?“ hörte ich ihre Stimme sagen.
„Am Unterbacher See schwimmen.“
„Wieso gehen Sie schwimmen, wenn Sie ein Buch herausbringen wollen? Nun kommen Sie mal ganz schnell hierher, aber vor 14 Uhr, danach bin ich nicht mehr da.“
So schnell bin ich noch nie zum Bus gerannt. Als ich um Viertel vor Zwei an ihrer Wohnungstür stand, empfing sie mich mit einem strahlenden Lächeln. Was damals so eilig sein musste, weiß ich gar nicht mehr genau. Aber so war sie, sie gab alles für die Dinge, die sie sich nun einmal vorgenommen hatte, und die ihr Leben ausfüllten.

Und sie gab auch alles für ihre Überzeugungen. Als vor Jahren am Bahnhof Wehrhahn eine Gruppe von jüdischen Flüchtlingen aus Russland angegriffen wurde und eine Frau zu Tode kam, ging sie noch Tage später zu der Stelle und legte Blumen nieder.

Trotz ihrer angegriffenen Gesundheit stellte sie sich bei schlechtem Wetter zu einer Demonstration gegen Rechts auf den Rathausplatz. Dinge, die ich auch hätte tun sollen und auch tun wollte, aber aus Bequemlichkeit dann doch unterlassen habe. Sie tat es.

Elisabeth Büning-Laube – ich habe sie geliebt und verehrt und ich vermisse sie!

Website: ellinor-wohlfeil.de

Reisen in die Phantasie. Barbara Oertel-Burduli starb

Sie war ein Mensch, der in einem Raum wie auf einer Bühne auftrat. Voller Elan und gestenreich schilderte sie ihre Ideen, die es dann demnächst auf der Bühne zu sehen gab. Es schien, als habe sich immer schon eine Schar treuer Fans im Alter von sechs bis sechszehn Jahren um Barbara Oertel-Burduli mit ihren wachen Augen und der roten Lockenpracht versammelt. Welches Theater schafft es sonst, dass die Vorstellungen zu 90 Prozent ausverkauft sind? Das Düsseldorfer Kinder- und Jugendtheater ragt wie ein Leuchttum über viel pädagogisch Gutgemeintes hinaus und sendet sein Licht. Doch die Frau, die die Laterne angezündet hat, ist jetzt im Alter von nur 57 Jahren gestorben.

Den direkten, spontanen Kontakt mit Kindern hat sie immer schon gesucht - sie empfand ihn als Jungbrunnen. Barbara Oertel-Burduli nahm ihre Theaterbesucher mit auf phantastische Reisen und ließ sie mitmachen. Sie verstand sich selbst als Mutmacherin, Angstvertreiberin und Sehnsuchtmacherin, die ihr Theater der Bilder, Klänge, Gerüche und Farben bewusst gegen eine verkopfte High-Tech-Welt einsetzt. Dabei sollen keine Rezepte, sondern Impulse gegeben werden, die junge Menschen dazu ermutigen, Fragen zu stellen und nach Antworten zu suchen.

Barbara Oertel-Burduli wurde in Leipzig geboren, kam als 16-Jährige mit ihren Eltern aus der DDR in die Bundesrepublik und wollte Schauspielerin werden. Nach ersten Auftritten in Wiesbaden entschied sie sich, Psychologie, Philosophie, Germanistik, Theaterwissenschaft und Zeitungswissenschaft in München und Wien zu studieren. In ihrer Doktorarbeit entwickelte Oertel-Burduli eine Theaterstückanalyse nach theaterwissenschaftlichen Methoden und schlug dann die Dramaturgen-Laufbahn ein. Sie arbeitete beim Berliner Hansa-Theater, bevor sie Anfang der 70er Jahre mit dem festen Vorsatz, ein Kindertheater aufzubauen, nach Saarbrücken ging. Richtig umgesetzt hat sie diesen Plan sechs Jahre später in Düsseldorf.

Zunächst zog die couragierte Frau mit ihrer Truppe von Provisorium zu Provisorium bis sie eine ehemalige Maschinenhalle im Stadtteil Rath angeboten bekam. Im September 1993 eröffnete Barbara Oertel-Burduli dort nach jahrelangem Umbau ihre eigene feste Spielstätte, für die sie - unterstützt von ihrem Mann Alex, aus Georgien stammend, wie eine Löwin gekämpft hatte.

Musik, Tanz und Gesang haben einen festen Platz in ihren Mitspielstücken, den neuen Märchen nach alten Vorlagen und den Inszenierungen, die sich mit Intoleranz, Gewalt und Ausländerfeindlichkeit auseinandersetzen. Das Musical "West Side Story" gehört zu den Höhepunkten unter den vielen Inszenierungen; die Theaterleiterin selbst erinnerte sich am liebsten an "Hänsel und Gretel" in Zusammenarbeit mit der Deutschen Oper am Rhein.

"Ich würde sofort aufhören, wenn ich spürte, dass die Phantasie der Kinder in eine ganz andere Richtung geht als meine", hat Barbara Oertel-Burduli einmal über sich gesagt. Sie musste nun gehen. Kinder, Jugendliche und Erwachsene sind traurig.

Rheinische Post, 18. Juli 2002. Natascha Plankermann

Interview der RP-Mitarbeiterin Helga Bittner mit Barbara Oertel-Burduli vom 18. Oktober 2000

"Ich möchte jungen Menschen Impulse geben"

25 Jahre Kinder- und Jugendtheater Düsseldorf heißt auch 25 Jahre unter der Chefin Barbara Oertel-Burduli. Intendant Günter Beelitz brachte die junge Dramaturgin zu Beginn seiner Amtszeit mit ans Schauspielhaus. Sie begründete das Kinder- und Jugendtheater als eigenständige Abteilung des Düsseldorfer Theaters. Wie es in der Vergangenheit war und in der Zukunft noch werden soll, wollte RP-Mitarbeiterin Helga Bittner von ihr wissen.

Was hat Sie damals bewegt?

"Schon in meiner Zeit als Dramaturgin an Erwachsenentheater wusste ich: Wenn man Menschen ins Theater locken will, muss man bei ganz jungen Menschen anfangen, am besten schon im Kindergartenalter. Ich habe dann immer nur ein Ziel gehabt: ein eigenes Haus für das Kinder- und Jugendtheater. Das hat mich auch in den harten Anfangszeiten immer bei der Stange gehalten."

Was hält Sie jetzt bei der Stange?

"Vor allem das Mitspieltheater. Da hab ich einen so direkten, spontanen Kontakt mit den Kindern, das ist wirklich ein Jungbrunnen. Mich reizt als Herausforderung; Wie lange kann ich das? Bleibt meine Phantasie und die der Kinder verbunden? Ich würde sofort aufhören, wenn ich spürte, dass die Phantasie der Kinder in eine ganz andere Richtung geht als meine. Dann wäre es Zeit, dass andere es machen. Aber solange die Dinge noch stimmen für die Kinder, die Eltern und für mich, halte ich mich für kompetent, Kindertheater zu machen."

Haben Sie manchmal nicht ein bisschen Angst davor, was mit dem Theater geschieht, wenn Sie die Leitung mal abgeben?

"Es gibt viele gute Kindertheaterleiter, und das Düsseldorfer Haus ist mit Sicherheit sehr attraktiv. Aber es wäre schon wichtig, die Kontinuität zu wahren, in Richtung Schulen zum Beispiel. Natürlich wird es jeder anders machen, aber man sollte schon versuchen, jemanden sehr froh mit dieser Materie vertraut zu machen."

Sie haben bereits unter drei Intendanten gearbeitet. Sind die Unterschiede sehr groß?

"Günther Beelitz und ich - wir haben uns unglaublich aneinander gerieben. Aber dadurch habe ich die notwendige Härte entwickelt, für die ich ihm heute sehr dankbar bin. Ich wäre sonst sicher nicht so hart im Nehmen geworden. Und das war notwendig in der Geschichte des Theaters."

Mit Volker Canaris habe ich gelernt, wie fair man miteinander umgehen kann. Er hat immer sehr genau zugehört und mir die nötige Freiheit gegeben. Er hat das Kindertheater und mich als erwachsenen, künstlerischen Partner akzeptiert.

Frau Badora vertraut mir voll und ganz. Wir sitzen unter einem Dach, aber akzeptieren uns als eigenständig. Es ist eine sehr faire, partnerschaftliche Zusammenarbeit. Ich muss meinen Spielplan nicht mehr verteidigen."

Was möchten Sie mit ihren eigenen Stücken bewirken?

"Natürlich versuche ich von Ängsten, Sehnsüchten und Hoffnungen aller Menschen, großer und kleiner, zu erzählen, und bringe da auch sicher meine Erinnerungen an das Jungsein hinein. Aber ich will keine Rezepte geben - dass hasse ich -, sondern Wegweiser und Impulsgeber sein, junge Menschen dazu ermutigen, eigene Fragen zu stellen und vielleicht nach Antworten zu suchen."

Haben Sie eine Lieblingsinszenierung?

"Die schönste Arbeit war sicherlich "Hänsel und Gretel" mit der Oper unter Kurt Horres. Die Vorstellungen waren ständig ausverkauft. Ich hätte gerne noch einmal so etwas gemacht. Aber leider kam bei entsprechenden Vorstößen beim letzten Opernchef Tobias Richter nichts heraus."

Und die unangenehmste Erinnerung?

"1984, zum Nato-Nachrüstungsbeschluss, sollte es ein Stück von einer jungen Nachwuchsautorin geben. Aber darüber, wie es aussehen sollte, haben wir uns alle verkracht, die Autorin, das Ensemble und ich. Wir sind trotzdem mit dem Stück herausgekommen und wurden von allen verrissen. Dann hatte ich mit Beelitz einen so fürchterlichen Streit, in dem er mich schließlich gezwungen hat, ein eigenes, neues Märchen zu schreiben. Seitdem mache ich das regelmäßig."

Was muss ein Schauspieler für das Kindertheater mitbringen?

"Ich brauche dieselben Schauspieler wie das Schauspielhaus, aber sie müssen eines zusätzlich haben: starke Nerven. Denn es gibt immer wieder Vorstellungen, die gestört werden. Aber man muss sich auch darüber im Klaren sein, dass derartig heftige Emotionen oft Reaktionen auf das ungewohnte Live-Erlebnis sind."

Mussten Sie schon mal eine Vorstellung abbrechen?

"Nein, das haben wir bisher zu verhindern gewusst."

Haben Sie einen besonderen Wunsch für die Zukunft?

"Ich wünsche mir zehn Millionen Mark. Sofort. Ich habe doch noch so furchtbar viele Ideen. Ich wünsche mir, immer weniger ‚das geht nicht' zu hören. Und ich wünsche mir, dass die Probebühne als dritte Experimentierstätte genutzt werden darf. Da gibt es zur Zeit noch bautechnische Probleme."

Rheinische Post, 18. Juli 2000

Laudatio des Düsseldorfer Frauenforums auf Doris Burkhardt zur Verleihung der Ehrenbrosche des Frauenforums

Verfasst und gehalten von Barbara Herz, Frauen-Bücher-Zimmer
am 8. März 2001 im WBZ, Bertha von Suttner-Platz, Düsseldorf

Meine Damen und Herren, meine liebe Doris,

ich freue mich, Sie und Euch begrüßen zu dürfen zur Ehrung für Doris Burkhardt, die heute mit der Ehrenbrosche des Frauenforums ausgezeichnet wird.

Wir Frauen vom Frauenforum fanden, dass in unserer Heimatstadt - wie in vielen Städten - das Engagement und die ehrenamtliche Arbeit von Frauen nicht recht gewürdigt wird und starteten deshalb im letzten Jahr die Vergabe dieser Ehrenbrosche, die nun immer zum 8. März, dem Internationalen Frauentag, einer Frau aus dem Frauenforum für ihre hervorragende Arbeit verliehen wird.

Zur Erklärung, falls einige von Ihnen nicht recht wissen, was sich hinter dem Begriff „Frauenforum“ verbirgt: Das Frauenforum ist ein Zusammenschluss von Düsseldorfer Fraueninstitutionen, Frauenvereinen und -verbänden sowie Düsseldorfer Bürgerinnen. Wir tagen immer am 2. Mittwoch im Monat im Rathaus und beschäftigen uns mit frauenpolitischen Themen; wir unterstützen einander so gut wir können und versuchen, der Stadt politischen Dampf zu machen, wenn es um die Sache der Frauen geht.

In diesem „Frauenforum der Stadt Düsseldorf“ hat Doris Burkhardt - von einer kurzen Auszeit abgesehen - sehr engagiert mitgewirkt.

Nun zunächst allgemein wenige Einblicke in das Leben von Doris Burkhardt. Sie wurde 1938 geboren und verlebte Kindheit und Jugend in Herdecke und Hagen. Nach einer Ausbildung zur Kaufmannsgehilfin arbeitete sie einige Jahre als Lohnbuchhalterin. Der Wunsch, im Sozialbereich tätig zu werden, ließ sie nicht los. So schloss Doris 1966 mit Erfolg hier in Düsseldorf im Evangelischen Krankenhaus die Kinderkrankenpflege-Ausbildung ab und war einige Jahre als Kinderkrankenschwester in Krankenhäusern und Kinderheimen tätig.

In Frankfurt am Main arbeitete sie in einem städtischen Kinderheim - für ein Jahr sogar nur halbtags -, um mit 37 Jahren noch bei einer Fachschule für Sozialpädagogik die so genannte Fremdenprüfung zur „Staatlich anerkannten Erzieherin“ gut zu bestehen.

Doris erzählte mit Stolz, dass sie in den 70-er Jahren in Frankfurt an der „Wiege der neuen Frauenbewegung“ gelebt und gewirkt habe und dass diese Zeit der Frauen-Foren sie sehr beeinflusst hätte. Sie wohnte nach ihrer Frankfurter Zeit in Nordbaden für ein Jahr in Mosbach als Untermieterin in dem dortigen Frauenzentrum. Von dort aus nahm sie im Mai 1981 an dem ersten bundesweiten Kongress der „Fraueninitiative 6. Oktober“ in Bonn teil. - Das Markenzeichen von Doris war wohl auch schon damals das einer aktiven Frauen-Kämpferin. Wir „alten Häsinnen“ wissen ja, dass sich gerade auch in kleinen Orten die Frauen auf den Weg machten, um Erstaunliches zu leisten. Der Kampf um die Streichung des § 218 zum Beispiel mobilisierte viele Frauen und animierte sie immer wieder, ihren Forderungen auch auf anderen Gebieten kreativ nachzugehen.

Seit Herbst 1981 lebt Doris wieder in Düsseldorf und arbeitete noch viele Jahre im psycho-sozialen Bereich der Altenpflege (Gruppenarbeit/ Gedächtnis-Training). Heute gibt sie als Rentnerin ehrenamtlich in einer Senioren-Begegnungsstätte einmal wöchentlich einen Kurs „Gedächtnistraining“.

Bei einem Besuch in ihrer kleinen Wohnung mit Balkon in zentraler Lage empfand ich diese wie ein Archiv: Zu jedem Frauen-Thema hat sie die passenden Zeitungsausschnitte, Aufsätze und Bücher gesammelt und geordnet, dazu auch sehr, sehr viele Bilder. Ein beeindruckendes Zuhause einer Frau, die sich ganz den frauenpolitischen Zielen verschrieben hat.

Doris brachte sich mit ihrer Erfahrung und Kreativität dann erfolgreich in die Düsseldorfer Frauenbewegung ein. Das Gedankengut ihrer Frankfurter Zeit und besonders das der „Fraueninitiative 6. Oktober“, Bonn, deren Auffassung vom Feminismus ihrem eigenen Denken entsprach, gab sie als Impulse weiter – und den Bonner Frauen für deren „Ifpa“ (Initiative Frauenpresse-Agentur mit bundesweitem Verteiler) manche Information aus Düsseldorf, z. B: über die Forderung des Frauenforums nach öffentlichen Geldern für obdachlose Mädchen in Düsseldorf oder über das „Aus“ der Frauenmesse in Düsseldorf oder über den bundesweit ersten „Frauen-Armutsbericht“ des Frauenbüros der Stadt Düsseldorf von 1999.

Für September 1982 - vor der ersten großen „Rentenreform 1983/84“ der Bundesregierung - organisierte Doris für die „Fraueninitiative 6. Oktober“ eine bundesweite Arbeitstagung in Düsseldorf - in Zusammenarbeit mit dem „Frauen-Bücher-Zimmer“, das auch seine Räume zur Verfügung stellte. Es wurde die Reform kritisch beleuchtet etwa nach dem Motto „Frauen leben länger - aber wovon?“ unter Frau Eva Rühmkorf, der bundesweit ersten Leiterin einer „Frauen-Gleichstellungsstelle“ in Hamburg. Ich erinnere mich gut, wie viele Abende wir uns ernsthaft, verärgert und enttäuscht mit diesem Thema beschäftigten.

Doris wurde bereits im Frühjahr 1982 für viele Jahre ehrenamtliche Mitarbeiterin bei der ersten Düsseldorfer Frauenzeitschrift „Kom'ma“ auf der Luisenstraße 7, und schrieb zunächst Terminankündigungen, später auch noch verschiedene Artikel.

Außerdem nahm Doris seit 1984 über vier Jahre an dem Volkshochschul-Kurs „Frauen in die Kommunalpolitik“, bei der Kom'ma angesiedelt, teil, den sie schließlich auch selbst leitete.

Bei ihrer Mitarbeit im „Frauenforum“ - bereits vor den monatlichen Sitzungen im Rathaus - brachte sie manche Ideen und Pläne ein. Mit Recht stolz ist sie auf ihr „Kind“ - die Forderung an die Stadt Düsseldorf nach einer „Ehrenamtsstudie über Frauen in Düsseldorf“. Diese Idee brachte Doris November 1987 im Frauenforum ein und sie wurde über viele Monate diskutiert - leider ohne das politische Ziel im Sinne des Frauenforums zu erreichen. Das Frauenforum war seiner Zeit oft voraus, denken wir doch, dass erst jetzt - 2001 - das „Jahr des Ehrenamtes“ ist!

Als 1997 die Stadt Düsseldorf ein Jahr lang für UNICEF für die Straßenkinder der Welt Spenden sammelte, initiierte und organisierte Doris im Frauenforum eine Diskussion und eine Resolution (November 1997) mit der Forderung an die Stadt Düsseldorf, öffentliche Gelder für die Mädchen-Obdachlosen-Arbeit regelmäßig einzusetzen - mit Erfolg, zum Beispiel für das „Trebecafé“ und den „Knackpunkt“ (für Mädchen).

Mit großem Engagement setzte Doris sich auch für die „Lokale Agenda“ ein, bei der sie im Arbeitskreis „Arbeit und Soziales“ mitwirkte (1998/1999) und darüber im Frauenforum berichtete. Die Vorstellung der Frauen für eine „Notwohnung für Opfer von Frauenhandel“ wurde im Rat der Stadt allerdings so stark verändert, dass sie später als Frauenprojekt nicht mehr erkennbar war.

In der Zeit der verstärkten Friedensbewegung (z. B. die Frauen-Friedenskette in Düsseldorf am 17.10.1983) wollten Düsseldorfer Frauen einen zentralen Platz nach einer Frau benennen. Wir stießen bei der Stadtverwaltung nicht auf großes Entgegenkommen, galt es doch - wie immer - unter einer großen Anzahl von Männern auszuwählen. Der Wunsch der Frauen, den Platz vor dem Carsch-Haus „Bertha-von-Suttner-Platz“ zu nennen, schlug fehl.

Aber Doris gab nicht auf und brachte im August 1984 den Punkt dieser Platzbenennung in Verbindung mit dem neuen Platz Hauptbahnhof-Ost als Vorschlag im Frauenforum ein - mit bereits vorbereiteten Briefen an die Stadt und organisierten Unterschriften-Listen. Dieser wurde von den anwesenden Frauen mehrheitlich akzeptiert und war somit auch Sache des Frauenforums. Damals tagte das Frauenforum u. a. in den Räumen der Kom’ma, Luisenstraße 7.

Zum Thema Platzbenennung Hauptbahnhof-Ost wandte sich Doris auch mehrmals mit Erfolg an die Presse - mit unterschiedlichen Informationen und Argumenten, zum Beispiel mit „Mehr Straßen und Plätze nach Frauen benennen“. Diese Hartnäckigkeit bewirkte, dass mit Hilfe von Frauen im Rat der Stadt das Ziel endlich erreicht und der neue Platz hinter dem Hauptbahnhof nach Bertha von Suttner benannt wurde. Ein lebendiger Platz, über den wir heute alle gegangen sind, um den „Internationalen Frauentag“ zu feiern.

Doris kam bei ihrer Arbeit fast immer ihre Fähigkeit zugute, Gedanken, die in der Luft lagen, auszusprechen. Immer wieder lieferte sie Artikel und Redebeiträge zu den anstehenden Themen, Und es ist sicher eine Kunst, im rechten Augenblick loslassen zu können, um auch fachkompetente Frauen zu finden, die ihre Gedanken in die Tat umsetzen.

Es ist nicht ihre Sache, in vorderster Reihe zu stehen. So ist es bezeichnend, dass sie seit Oktober 1996 als „Stellvertretende des Frauenforums“ im Frauen-Ausschluss der Stadt mitarbeitete, wobei sie häufig für die eine oder andere „Vertreterin des FF“ einsprang. Schließlich wurde sie dann seit 1998 selbst „Vertreterin für das FF“. - Aber nach einem Jahr legte sie 1999 frustriert die ehrenamtliche Arbeit im Frauen-Ausschluss nieder und ist dort jetzt als kritische Besucherin anzutreffen.

Doris hat die Eigenschaft, ausdauernd und mit langem Atem ein Thema zu bearbeiten.

Und so danken wird Dir, Doris, dass durch Deine Hartnäckigkeit mancher Brief geschrieben wurde, manches nicht im Sande verlief, weil Du wieder mit einem Artikel kamst, über den Du verärgert warst oder den Du zur Nachahmung in Düsseldorf empfehlen wolltest. Den Dank aller Frauen des Frauenforums darf ich Dir jetzt materialisiert in dieser Brosche, die auch als Anhänger getragen werden kann, überreichen. Ich gratuliere Dir von ganzem Herzen.

[Es gilt das gesprochen Wort.]

Dankesrede von Doris Burkhardt nach der Ehrung durch das Düsseldorfer Frauenforum am 8. März 2001 im WBZ

Liebe Barbara Herz, vielen Dank für deine Worte und insgesamt den Frauen des Frauenforums Dank für die Anerkennung meiner Mitarbeit!
Ich bin stolz, diese Ehrenbrosche zu erhalten - und das als Rentnerin, im Jahr des Ehrenamtes, im ersten Jahr des neuen Jahrhunderts und im 20. Jahr als Bürgerin dieser Stadt.
Düsseldorf ist mir in den vergangenen Jahren zur Heimat geworden - besonders durch meine nebenberufliche, mir sehr wichtige frauenpolitische Arbeit im außerparlamentarischen Bereich, unabhängig von politischen Partei-Programmen.
Im Alleingang wäre manches kaum möglich gewesen. Die enge Zusammenarbeit mit den autonomen Fraueninitiativen und mit dem Frauenforum und mit dem Frauenforum verliehen den Vorhaben mehr Nachdruck und zeigten: "Frauen gemeinsam sind stark!".
Für solidarisches Miteinander und gegenseitige Ergänzungen danke ich ausdrücklich den früheren und heutigen Mitstreiterinnen des Frauenforums.
Dieser Dank gilt auch dem Team des Düsseldorfer Frauenbüros und allen frauenfreundlich gesonnenen Personen im Düsseldorfer Rathaus und in der Volkshochschule!

Ich möchte sie alle hier ermuntern, Räume für Frauen und Mädchen zu fordern, zu schaffen und auszubauen - auf allen Ebenen im privaten und öffentlichen Bereich!

In diesem Sinne sei mir erlaubt, drei Beispiele zu nennen:

  1. Schaffung eines sofortigen eigenen Aufenthaltsrechtes für verheiratete Migrantinnen
  2. Bereitstellung ausreichender und angemessener konstanter Schutzräume mit Therapieangebot für Opfer von Frauenhandel - gegebenenfalls wie beim VRR als Verbundsystem von Städten in der Region!
  3. Schaffung eines Rechtsraumes mit gleichem Strafmaß bei gleicher Straftat bei sexueller Nötigung oder bei Vergewaltigung von Frauen mit und ohne Behinderungen. - Dazu werden auf dieser Veranstaltung Unterschriften gesammelt!

Erinnern muss ich Sie an das Jahr 1999 - und an die seit dem 8. März im Rathaus vorliegenden "Wahlprüfsteine" mit Forderungen des Frauenforums und außerdem an die Handlungs-Empfehlungen im Frauenarmutsbericht des Düsseldorfer Frauenbüros!

Abschließend erinnere ich Sie gern an Schlagworte, die auch mich begleitet habe:

Erlauben Sie mir, noch etwas anzumerken zum Thema "Ehrenamt": Es ist bekannt, dass die Frauen des Frauenforums ehrenamtlich, außerdem ohne Fahrgeld-Erstattung und ohne Erhalt von Sitzungsgeldern in Eigen-Regie abends tagen, um Müttern und Erwerbstätigen die Teilnahme zu ermöglichen.

Zwei delegierte Frauen des Frauenforums stellen sich außerdem zur aktiven Teilnahme an den Frauen-Ausschuss-Sitzungen zur Verfügung!

Für diese delegierten Frauen sollte im "Jahr des Ehrenamtes" endlich eine "Frauenförderung im politischen Ehrenamt" verwirklicht werden, das heißt: Dienstbefreiung am Arbeitsplatz und Erhalt von Sitzungsgeldern für Verdienstausfall und Erstattung von Fahrgeld-Auslagen! — Danke!

Was bedeutet mir hier und heute Lebensqualität?

Aus dem Nachlass von Doris Burkhardt, aufbewahrt im Frauen-Kultur-Archiv der HHUD.

Meine Rede zum Internationalen Frauentag

für das Frauenforum – am 8. März 1988 auf der DGB-Veranstaltung, Schadowplatz um 17 Uhr

Ich bin Doris Burkhardt und arbeite in der autonomen Frauenbewegung in Düsseldorf, unter anderem bei KOM’MA, der Düsseldorfer Frauenzeitung mit Veranstaltungskalender. Außerdem gehöre ich zur Initiative „Frauen ins Düsseldorfer Rathaus“ und arbeite hierfür auch in dem VHS-Kurs „Frauen in der Kommunalpolitik“.

Solidarisch mit der Arbeit der DGB-Frauen spreche ich heute für Frauen der autonomen Frauenbewegung in Düsseldorf.

Heraus zum Frieden – gegen die unsozialen Sparmaßnahmen!

Unter einer ähnlichen Losung fanden die ersten Demonstrationen zum Internationalen Frauentag vor dem 1. Weltkrieg in Deutschland statt.

Heraus zum Frieden – gegen die unsozialen Sparmaßnahmen! – unter diesem Motto erschien am 6. März 1982 in einer Düsseldorfer Tageszeitung eine Anzeige. – Frauen aus unterschiedlichen Bereichen, Gruppen und Initiativen der Düsseldorfer Frauenbewegung riefen darin zur Demonstration auf für den 8.3.1982.

Wir gingen immer wieder zum 8. März auf die Straßen. Die alten Forderungen und Kämpfe sind so aktuell wie eh und je. Ich will sie hier knapp zusammengerafft nennen:

Frauen fordern Frieden ohne Waffen. Wir wehren uns gegen Krieg und Militarisierung, gegen die Einbeziehung von Frauen in die Bundeswehr, gegen die Dienst-Verpflichtung von Frauen - auch im zivilen Bereich, - gegen die Herstellung, Lagerung und den Export aller Waffen! Wir wehren uns gegen Ausländerfeindlichkeit und Rassismus!

Wir fordern das Recht auf Erwerbsarbeit für alle mit Lohngleichheit – bei schrittweiser Einführung des Sechs-Stunden-Tages und Arbeitszeit-Verkürzung bei vollem Lohnausgleich, - eine eigenständige, Existenz sichernde Rente mit Anerkennung von Erziehungszeiten, dazu ausreichende Versorgung mit Kindertages-Stätten und Ganztagsschulen!

Wir fordern Recht auf Selbstbestimmung – wir wehren uns gegen Diskriminierung und Berufsverbot von Lesben, gegen die Herabsetzung der Frau als Sexual-Objekt, gegen frauenfeindliche Werbung und Berichterstattung in Schrift, Bild und Ton!

Wir erheben auch 1988 diese Forderungen! – Die Verwirklichung steht noch aus!

Der so genannte Fortschritt in Wissenschaft, Technik und Gesellschaft ist nicht immer im Sinne von Frauen. Hier einige Beispiele:

Die Gen- und Reproduktionstechniken schaffen neue Probleme im sozialen, ökologischen und ethischen Bereich und eröffnen neue Möglichkeiten der Ausbeutung von Frauen. Bei den Techniken – Zeugung im Reagenzglas/Embryonen-Verpflanzung – wird die Frau sozusagen zu einem „Gegenstand mit verwertbarem Material“ degradiert.

Außerdem bestehen die Gefahr der Selektion und die Gefahr der Manipulation an überzähligen Eizellen oder Embryonen. –

Es wird die fragwürdige Idee der „Pflicht der Frau zur biologischen Mutterschaft“ gefördert und die Würde der Frau herabgesetzt. – Unsere Selbstbestimmung verkehrt sich in eine Abhängigkeit von der Kontrolle verschiedener Experten. –

Wir wehren uns gegen Frauen verachtende Techniken!! - und gegen Einschränkungen der Meinungsfreiheit!

Hier muss ich zum Beispiel an das Essener Gen-Archiv und andere Gruppen erinnern, die im Augenblick besonderen Repressionen ausgesetzt sind, weil sie sich kritisch mit den Gen- und Reproduktionstechniken auseinander setzen.

Besonders sei erinnert an die kritischen feministisch arbeitenden Ingrid Strobl und Ursula Penselin, deren Haftentlassung wir fordern!

Die Koalitions-Absprachen über die neuen Strafgesetz-Entwürfe zur Problematik „Sexuelle Nötigung / Vergewaltigung in der Ehe/Konstruktion der so genannten „minderschweren“ Fälle können eine angestrebte Verbesserung für Frauen ins Gegenteil verkehren! – So wird zum Beispiel bei Vergewaltigung eine Herabsetzung der Mindeststrafe von zwei Jahren auf ein Jahr angestrebt.

Hier muss ich die bundesweite Forderung von Frauen nach Antidiskriminierungs-Gesetzen wiederholen! – In Bonn liegen bereits seit 1978 dazu Gesetzesvorschläge vor. Also seit 10 Jahren!! In den USA gibt es z. B. seit 1964 Anti-Diskriminierungs-Gesetze. -

Die Themen „Rechts-Stellung der Frau bei Vergewaltigung“, „Frauen-Nacht-Taxi in Düsseldorf“ und anderes mehr werden in der „Frauen-Woche“ vom 19. bis 26. März in der „Werkstatt“, Börnestraße, behandelt.

Ich weise hier außerdem auf die schreckliche Situation der Frauen auf dem Universitäts-Gelände hin und auf die dort ungenügend geregelte Verkehrs-Anbindung in dieser Stadt!! – Eine Hilfe und Verbesserung ist dringend erforderlich!

Eine weitere Einschränkung des Selbstbestimmungs-Rechts der Frauen bedeutet das geplante Beratungsgesetz zur Schwangerschaftskonfliktberatung. Jahrzehntelang kämpfen Frauen für die Streichung des § 218 aus dem Strafgesetzbuch. Anstatt dieser Forderung nachzukommen, soll der § 218 durch das Hintertürchen noch verschärft werden!

Das neue Beratungs-, oder ehrlicher gesagt, das neue „Bevormundungs“-Gesetz wird knallharte Richtlinien enthalten, hier nur die schlimmsten:

Frauen sollen zum Fortsetzen der Schwangerschaft sozusagen überredet werden und Partner, Eltern, Arbeitgeber sollen in die „Beratung“ mit einbezogen werden.
Die Beraterinnen/Berater und Ärztinnen/Ärzte in den Beratungsstellen sollen zur Teilnahme an Fortbildungsmaßnahmen zum Thema „Schutz des ungeborenen Lebens“ verpflichtet werden. Insgesamt soll die Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs verzögert und erschwert werden – das heißt, Frauen sind in Ihrer Not weiteren Repressionen ausgesetzt. Das geplante Beratungs-Gesetz wird nicht die Anzahl der Abbrüche verringern, sondern Frauen in die Illegalität zurückstoßen! (sprich zum Beispiel Hollandfahrten! – und was machen Frauen ohne Geld??!

Deshalb fordern wir Beratungsangebote auf freiwilliger Basis, die Finanzierung von Beratungsstellen wie „Pro Familia“ und Frauen-Gesundheits-Zentren, die ersatzlose Streichung des § 218 aus dem Straf-Gesetz-Buch und die sofortige Zurücknahme des geplanten Beratungs-Gesetzes! – Frauen wehren sich gegen Zwangs-Mutterschaft! Weitere Informationen mit Unterschriften-Listen und „solchen Handzetteln“ finden Sie oder findet Ihr an dem Informations-Stand! –

Die Zahl der erwerbslosen Frauen steigt weiter! – trotz zunehmender Qualifikation! – und für die Einrichtung gesellschaftlich notwendiger Arbeitsplätze fehlt angeblich das Geld! Die in Statistiken nachgewiesene materielle Armut vieler Frauen im erwerbsfähigen Alter und in der Rentenphase wird offensichtlich vorprogrammiert. –

Ein besonders deutliches Beispiel von Repression von Frauen in Düsseldorf ist die Situation der Alleinerziehenden. Häufig besteht Wohnungsnot! Frauen, die einer Erwerbsarbeit nachgehen wollen, fehlt die bedingungslose Bereitstellung eines Kinderbetreuungsplatzes. Die Bereitstellung in den Einrichtungen hängt unter anderem von dem Nachweis ab, dass sie als so genannte „Arbeitssuchende“ beim Arbeitsamt gemeldet sind, - andererseits unterliegt diese Frau beim Arbeitsamt selbst dem Nachweis-Zwang, dass sie eine Kinderbetreuungsstelle hat, bevor sie überhaupt als Arbeitssuchende dort registriert werden kann. – Es ist eine Zwickmühle, die von der Stadt gelöst werden muss!

Wir fordern an dieser Stelle mit Nachdruck Erhalt und Schaffung neuer Arbeitsplätze – auch in den bereits bestehenden Düsseldorfer Frauenzentren! – und ein konsequentes Einsetzen von Frauenförderplänen auf allen Ebenen und in allen Bereichen – mit entsprechenden Kontroll-Instanzen nach der Kurzformel:

„50 aller Plätze für Frauen!“! Insgesamt werden Rat und Verwaltung der Stadt Düsseldorf mit ihrer Vorreiter-Funktion besonders angesprochen. Die finanzielle Sicherstellung von Personal – und Sachkosten für Arbeitslosen-Selbsthilfegruppen muss als Pflichtaufgabe ein Bestandteil des Sozialetats sein! –

Der Versuch, Feindbilder abzubauen, ist ein erster Schritt zum Frieden: Wir wollen eine abgerüstete Welt, in der die bisher für Waffen verschleuderten Gelder sinnvoll genutzt werden, zum Beispiel für den Umweltschutz und im sozialen Bereich. Damit wäre ein größeres Maß an Sicherheit erreicht als mit der Hochrüstungspolitik!

In diesem Sinne möchte ich mit Ihnen, beziehungsweise mit Euch Frauen hier – auch im Hinblick auf die Haushaltspolitik dieser Stadt! – zum Internationalen Frauentag 1988 ausrufen:

Heraus zum Frieden – gegen die unsozialen Sparmaßnahmen!

Dass ich als so genannte „Nichtorganisierte“ auf dieser DGB-Frauen-Veranstaltung spreche, soll ein Anfang sein, den eigentlich bestehenden Konsens zwischen den verschiedenen Frauengruppen deutlicher zu machen. Ich hoffe und wünsche darüber hinaus, dass im nächsten Jahr zu „partnerschaftlichen Bedingungen“ eine gemeinsame Veranstaltung von organisierten und autonomen Frauengruppen zum 8. März möglich wird!

Gesprochen habe ich für: Beratungsstelle Frauen in Not, Kölner Str.; Demokratische Fraueninitiative (DFI); Frauen-Archiv; Frauen-Bücher-Zimmer (F-B-Z) In der Becherstraße (am Münsterplatz); Frauencafé Benrath; Frauencafé Hexenkessel; Frauen-Initiative 6. Oktober; Frauen-kommunikation e.V.; Frauen-Ringvorlesung; Initiative Düsseldorfer Frauen gegen das geplante Beratungsgesetz – für die Streichung des § 218 StGB; Initiative Frauen ins Düsseldorfer Rathaus; Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF seit 1915) – Deutsche Sektion; KOM!MA; Lila Steinfresserinnen; Mütter für den Frieden; Terre des Femmes/Düsseldorfer Arbeitsgruppe

Düsseldorf, den 8. März 1988, Doris Burkhardt, V.i.S.D.P c/o. KOM!MA, Frauenkommunikation e.V., Luisenstr. 7, 4000 Düsseldorf 1

Aus dem Nachlass der Verfasserin, aufbewahrt im Frauen-Kultur-Archiv HHUD

Else Loelgen, geb. Bagel

21. März 1900 - 4. Januar 1997

Eltern: Fritz Bagel, Verleger, Papierhersteller, Druckereibesitzer in Düsseldorf, und Helene Bagel, geb Doerth aus Schwerte. Nach der Geburt von Else im Jahr 1900 folgten noch 3 Brüder.
1915 Tod der Mutter bis 1917 Besuch des Schuback-Schmidt-Lyzeums
1917 - 18 Besuch der Haushaltsschule Schloß Wasserburg am Bodensee
1918 - 24 Buchbindeausbildung in der Firma Bagel
1920 - 27 Sprechunterricht bei Frau E. Dalands am Schauspielhaus Düsseldorf
1922 - 24 Else Bagel verbringt die Wintersemester in München auf der Kunstgewerbeschule (ehemals Depschitz-Schule). Sie hat u. a. Unterricht bei der Schriftkünstlerin Anna Simons und besuchte Vorlesungen in Kunstgeschichte bei Heinrich Wölfflin, in Theatergeschichte bei Arthur Kutscher. Sprechunterricht erhielt sie bei Arnold Marlé.
1925 - 26 Als Buchbinderin in Düsseldorf tätig u. a. für die Galerie Flechtheim, Ausstellung ihrer Arbeiten im Kunstverein und tätig für die „GeSoLei“ im Jahr 1926. Nebenbei war sie als Rezitatorin auf verschiedenen Veranstaltungen tätig. Gerne wäre sie Schauspielerin geworden, was aber der Vater nicht billigte. So versuchte sie aus der sie nicht befriedigenden Tätigkeit der Buchbinderei zur Innenarchitektur zu wechseln.
1927 Volontariat im Architekturbüro von Emil Fahrenkamp
1927 - 28 Besuch der Klasse für Innenarchitektur in der Kunstgewerbeschule in Berlin.
1929 Heirat mit Carl August Loelgen, Sohn von August und Käthe Loelgen, Inhaber des renommierten Modehauses „Loelgen-Kriegel“ in Düsseldorf.
Kinder: Sohn Thomas im Dezember 1929 und Tochter Dorothea im Dezember 1933
1933 Zunahme der schweren Erkrankung ihres Mannes, der er 1937 erlag.
1938 Umzug nach Bayern, wo sie mit ihren Kinder den Krieg überlebt.
1947 - 48 Sprechlehrerin am „Theater der Jugend“ in München unter Martin Hellberg. Es schloss seine Pforten 1948, als Hellberg in die DDR ans Theater in Dresden wechselte.
1947 - 1956 Sprecherin (mit Unterbrechungen) der ersten Blinden-Hörbibliothek Deutschlands in Kiefersfelden. Die Gründerin und Leiterin der Blinden-Hörbibliothek war Frau Peters.
1951 Rückkehr nach Düsseldorf unter Beibehaltung des Hauses in Bayern. In den folgenden Jahren leistete sie Regiearbeit bei Schülertheatern an verschiedenen Schulen und wirkte weiter als Sprecherin der Hörbibliothek.
1955 Beginn der Tätigkeit im Verband „Frau und Kultur“, vor allem in der Sparte Literatur. Sie wurde auch Verbandsvorsitzende. Viele Lesungen führten sie als Rezitatorin mit eigenen Programmen durch Deutschland.
1982 Beendet sie 82jährig ihre aktive Tätigkeit bei „Frau und Kultur“, blieb jedoch dem Verband bis 1993 eng verbunden.
4. Januar 1997 Hoch betagt stirbt sie 60 Jahre nach ihrem Mann. Das Grab befindet sich auf dem Düsseldorfer Nordfriedhof.

Verfasst von Else Loelgens Tochter Dorothea Kubanek

Abschiedsrede als Sachgebietsleiterin für Literatur auf der Jahrestagung des Verbands Frau und Kultur 1982

Liebe Mitglieder,

ein sonderbarer Zufall oder sollte es keiner sein? Ich stellte nämlich beim Lesen alter Akten fest: 1960 habe ich das Sachgebiet Schrifttum übernommen und zwar auf der damaligen Tagung in Kiel.

Ich erinnere mich sehr genau an die Tagung. Sie fand in dem heute abgerissenen Hotel „Bellevue“ auf der Höhe statt, und als erstes war ich fasziniert von dem Blick über die Förde. Was die Literatur anlangt, so las der Lesekreis Düsseldorf – ich hatte damals schon seine Leitung – Texte von Barlach, Frau Kramer aus der gastgebenden Gruppe Kiel las aus seinen Briefen.

Und nun nochmals Zufall oder keiner, ich werde in der kommenden Woche in Düsseldorf zum zweiten Mal das Barlachprogramm lesen. Meine Zeit als Sachgebietsleiterin rundet sich also am Ende wieder in den Anfang. Soll ich dieses merkwürdige Zusammentreffen als ein Zeichen für meine Tätigkeit nehmen? Ich glaube, ich kann kein besseres finden. In sich geschlossen, harmonisch rund. Erfüllter kann ein langer Abschnitt des Lebens nicht sein.

So ist es mir eine Freude, vor Ihnen stehen zu können und allen lieben Menschen, mit denen ich in gemeinsamer Arbeit gestanden habe, ein Dankeschön zu sagen. Ein Dankeschön für die freundliche Hilfe, mit der Sie zur Rundung eines fast ¼ Jahrhunderts meines Lebens beigetragen haben.

Denn was wäre das Rund, wenn es nicht angefüllt wäre mit vielerlei Begegnung, sachlicher Unterrichtung, ehrlicher Widerrede, zuverlässiger Gemeinsamkeit und herzlicher Zuneigung.

Ganz besonders gedenke ich in diesem Augenblick derer, die auf dem Wege zur Rundung meiner Jahrzehnte nur noch in meiner Erinnerung lebendig sein können. Ich nenne als Vertretung für alle nur zwei Namen: Elisabeth Meyer-Spreckels, Leiterin des Sachgebietes Lebensgestaltung, heute staatsbürgerliche Verantwortung, und Dorothea Husserow, langjährige Vorsitzende der Düsseldorfer Gruppe.

Vielen von Ihnen sind diese Namen völlig fremd, doch sollten Sie in den Annalen unserer Geschichte immer wieder genannt werden. Beide waren Persönlichkeiten von außerordentlicher Aktivität und Einsatzbereitschaft. Und was brauchen wir heute dringender in unserer Gemeinschaft, um uns den Problemen, die Zeit und Umwelt mit sich bringen, nur in etwa stellen zu können?

Doch ich will dem Gespräch über die Zukunft des Verbandes nicht vorgreifen. Wie oft habe ich mich während meiner Amtszeit gefragt, wenn wenig Wiederhall aus den Gruppen kam: warum machst du das Ganze eigentlich? Und immer wieder erkannte ich, daß mit der Arbeit auch ein Reifeprozeß meines Lebens vor sich ging.

Die Verbindung mit den verschiedensten Menschen förderte meine Einsicht in ihre Verhaltensweisen. Ich wurde gezwungen, mich in meinem Verhalten auf sie einzustellen, ihnen entgegenzukommen, soweit es Wahrheit und Gerechtigkeit für mich zuließen. Einblicke in das Schicksal anderer Menschen ließen mich nachdenken über das Eigene, die Zusammenhänge Leben und Umwelt wurden vertieft, Unterscheidungen zwischen Wert und Unwert klärten sich für mich.

So lernte ich, um mit Peter Handke zu sprechen, über die „Außenwelt, die Innenwelt“ kennen. Nach diesen und ähnlichen Überlegungen wußte ich dann stets, warum ich das Ganze machte: Staunen und Neugier waren die Triebfedern meiner Arbeit.

Freudig wandte ich mich nach dieser Erkenntnis wieder meiner Tätigkeit zu: Der intensiven Beschäftigung mit der – wie so schön gesagt wird – gehobenen Literatur. Sie führte mich in konkrete und abstrakte Welten ein, in differenzierte seelische Probleme, in heiter, bedachtsame Nischen des Lebens, vor allem aber offenbarte sie mir immer wieder die Notwendigkeit des Bewußtwerdens über die Schönheiten und vielfältigen Möglichkeiten einer gestalteten Sprache.

Ich bin in die Düsseldorfer Gruppe 1955 eingetreten, schon mit der Bestätigung im Amt der Sachgebietsleiterin für Schrifttum. 1960 begann wie gesagt die erweiterte Arbeit für den Verband.

In dem kleinen Düsseldorfer Kreis gab es Rede und Gegenrede, aber nun ging meine Rede ins Weite, zu über 30 verschiedenen Gruppen, und die Gegenrede ließ auf sich warten. Die Lesekreise waren sehr locker organisiert, hatten kaum Konnex miteinander, und die Berichte, die einliefen, waren nicht nur spärlich, sondern auch komisch.

Zum Beweis dafür lese ich Ihnen aus zwei Berichten vor: Im ersten geht es um die Erzählung der Kaschnitz „Popp und Mingel“. --- „Mit der Erzählung, Thema Schlüsselkind, war es auch nicht ganz so aufregend, aber auch nicht befriedigend.“

Im zweiten Bericht wird über einen Theatervortrag gesprochen: --- „Ein letzter Hinweis des Redners galt dem Passionsspiel und dem religiösen Erlebnis, das dabei mit dem Bühnenerlebnis einhergeht und einem wirklichen Bedürfnis entspricht.“

Als ich nun aber noch folgenden Satz in einem Bericht lesen mußte, da konnte ich mich nicht mehr zurückhalten; es geht um einen Vortrag über die Sprache --- „Falsch ist auch die Möglichkeitsform zu meiden, es heißt: wenn ich das täte und nicht wenn ich das tun würde.“

Mit etwas erhobenem Zeigefinger ging ich daran, die sprachliche Form der Berichte anzugreifen und machte in meinem Appell den etwas pathetischen Schluß: So sei jedem Mitglied ein Studium nicht nur der großen Magier des Wortes empfohlen, sondern zugleich Kleinarbeit an der eigenen Ausdrucksweise im Umgang mit der Muttersprache.

Und dieses Schreiben, muß ich sagen, hatte eine hervorragende Wirkung. Es herrschte Schweigen, keine Gruppe war dafür, keine dagegen. Doch das Schweigen hat Frucht getragen für viele Jahre. Sie wissen alle, aus welcher Fülle gewandt geschriebener Berichte ich heute den Jahresbericht zusammenstellen kann.

Die Lektüre in den einzelnen Gruppen erschien mir ziemlich wahllos ohne Zusammenhang. Nach meinem grammatikalischen Angriff auf das Selbstbewußtsein der Lesekreise setzte ich mich nun für einen „roten Faden“ für die Wahl eines bestimmten Themas ein und machte einen Vorschlag, und hier fand ich bald Wiederhall. Mehrere Gruppen fühlten sich beeinträchtigt in ihrer „Pressefreiheit“ und wollten von solch einer Uniformierung der Arbeit nichts wissen. Doch ich wußte die Einwände zu zerstreuen mit der Bemerkung „roter Faden – kein Zwang“. Wer andere Themen besser findet für seinen Kreis, selbstverständlich, nur muß es ein bestimmtes Thema sein, dem nachgegangen wird.

So ist es geblieben bis heute. Der rote Faden hat manche Interessentin gefunden.

Meine Arbeit war angelaufen und lief nun in bestimmte Richtungen. Der jährlich herausgegebene rote Faden und der Jahresbericht machten den Lesekreisen Mitteilung über das, was gelesen werden konnte und über das, was gelesen worden war. Das später eingeführte Gruppengespräch über einen bestimmten, in der Zeitschrift veröffentlichten Artikel gab den Mitgliedern der Lesegemeinschaften Gelegenheit, sich im Gespräch zu üben.

Ein freundliches Echo brachten die Jahresberichte; das machte mir deshalb Spaß, weil es oft gar keine Mitglieder eines Lesekreises waren, die mir schrieben, sondern irgendwelche Leserinnen der Zeitschrift, die dem Bericht Anregungen entnommen hatten. So war der Jahresbericht nicht nur eine Bestätigung für mich, sondern vor allem für die Berichterstatterinnen der Gruppen.

Die größte Freude an meiner Arbeit brachten mir meine Reisen in die Gruppen mit den verschiedensten literarischen Lesungen. Nur durch sie habe ich eine direkte Verbindung vor allem zu den Vorständen der Gruppen bekommen und manche anregende Gespräche führen können.

Das letztere war mir besonders wichtig, als ich noch zweite Vorsitzende im Hauptvorstand war; ich konnte da manche vermittelnde und aufklärende Rolle übernehmen.

Meine Abschiedsrede will ich schließen mit nochmaligem Dank für alles Liebe und Gute, was ich erfahren durfte durch zahlreiche Mitglieder. Ich danke Ihnen für Ihre Herausforderung und Ihren Widerspruch; das gehört für mich zum geistigen Leben.

Meiner Nachfolgerin wünsche ich, daß ihr das Sachgebiet ebenso viel Befriedigung und Freude bringen wird, wie es mir gebracht hat.

Dem Verband wünsche ich, er möge noch manche Berg- und Talfahrt überstehen, wie er dies nun über 80 Jahre getan hat.

Quelle: Typoskript im Teilnachlass von Else Loelgen, deponiert im Frauen-Kultur-Archiv.

Selma Lagerlöf

Das 19. Jahrhundert hat die skandinavische Literatur weit über die Grenzen einer nationalen Kunst hinauswachsen lassen.

Die beiden großen Anreger und Former des modernen Theaters, Ibsen und Strindberg eroberten die Bühnen Europas. Björnson und Hamsun, die Norweger, beschritten neue Wege der Erzählkunst. Jens Peter Jakobsen und Hermann Bang, die Dänen, gehören heute zu den Klassikern der psychologischen Romans.

Eine Sonderstellung unter den nordischen Dichtern nimmt der Däne Hans Christian Andersen ein, der mit seinen Märchen die Welt eroberte und die Schwedin Selma Lagerlöf. Selma Lagerlöfs Erzählkunst wurzelt ganz im Heimatlichen. Ihre Werke lassen die Sagen, Märchen und Legendenwelt ihrer engeren Heimat Värmland immer wieder aufleuchten. Immer wieder tauchen dieselben Helden, dieselbe Landschaft, dieselben Höfe und Häuser auf, oftmals unter anderem Namen oder in anderen Bindungen. Aber diese Abenteuer, in die ihre Helden verstrickt werden, sind nicht bloß Nacherzählung mündlicher Überlieferung, sondern werden erst durch Selma Lagerlöfs Erzählkunst in die Sphäre des Dichterischen erhoben und nur so ist zu erklären, wie sie mit diesen heimatlich gebundenen Inhalten ihres Werkes weit über Schweden hinaus Berühmtheit erlangte.

Selma Lagerlöf ist am 20. Nov. 1858 auf dem Hofe Mårbacka in Värmland geboren. Mit 3 ½ Jahren wurde sie von einer Beinlähmung befallen, die aber nach einem Jahr so weit behoben war, dass die kleine Selma wieder laufen konnte, wenn sie auch für ihr ganzes Leben ein Beinleiden zurück behielt. So war sie von manchem Spiel anderer Kinder ausgeschlossen und ihre Anlage zu besinnlicher Beschäftigung in der Welt der Phantasie wurde früh gepflegt. Die stärkste und wichtigste Persönlichkeit der frühesten Kindheit war die Großmutter, die ihr jeden Tag Geschichten erzählte. Mit 23 Jahren, 1881 verließ Selma Lagerlöf ihr geliebtes Vatershaus zum ersten Mal für längere Zeit. Sie besuchte ein Lehrerinnenseminar und wurde 1885 Lehrerin an einer höheren Mädchenschule. Schon früh hatte Selma angefangen zu schreiben, aber nie Widerhall gefunden mit ihren kleinen Erzählungen und Gedichten. Ab 1885 begann sie an dem Roman Gösta Berling zu schreiben aus der Erkenntnis, in den mündlichen Überlieferungen der Heimat, den Geschichten der Värmland-Kavaliere einen ganz besonderen Stoff für eine Gestaltung gefunden zu haben.

1890 beteiligte sie sich mit einigen Kapiteln des Buches an einem Preisausschreiben für Novellen und errang den 1. Preis. Nun war der Bann gebrochen; man wurde auf sie aufmerksam und ihr Weg ging steil bergauf. Sie legte ihr Lehramt nieder. Sie machte große Reisen, die sich in ihren Büchern „Wunder des Antichrist“, „Jerusalem“ und den Christuslegenden widerspiegeln. Sie bereiste ganz Schweden, als sie im Auftrage der Regierung ein Lesebuch für die schwedischen Kinder schrieb, „Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden“, in dem sie nicht nur geographische Kenntnisse erschloss, sondern wiederum das Sagengut der Heimat verarbeitete.

1907 ging ein Traum ihres Lebens in Erfüllung: die Rückerwerbung ihres väterlichen Hofes Mårbacka, der drei Jahre nach dem Tode des Vaters 1888 hatte verkauft werden müssen und an den sie sich mit allen Fasern ihres Wesens gebunden fühlte. Der ihr 1909 zugesprochene Nobelpreis ermöglichte er ihr, auch die den zum Hof gehörenden Ländereien zurückzukaufen und von da an war sie bis an ihr Lebensende Gutsherrin auf dem Grund und Boden, mit dem sie auch in ihrer Kunst zutiefst verwurzelt war.

Als größte Ehrung wurde ihr 1914 die Mitgliedschaft in der schwedischen Akademie zuteil, der noch nie eine Frau angehört hatte. Am öffentlichen kulturellen Leben nahm Selma Lagerlöf lebhaften Anteil. In vielen Ausschüssen und Verbänden setzte sie sich für die verschiedensten Dinge ein, die ihr am Herzen lagen. Ohne Politikerin zu sein vertrat sie die Ansicht, dass der Frau das Stimmrecht gebühre, aus dem rein menschlichen Argument heraus, dass männliche und weibliche Denkungsart und Arbeit sich auch im staatlichen Leben ergänzen müssten.

1940, im Alter von 82 Jahren starb Selma Lagerlöf auf Mårbacka, als die Welt zum 2. Mal von einem Krieg erschüttert wurde und unter dem Dröhnen des Tumultes vergaß, dass es Inseln der Stille gibt, auf denen der Wind des Geistes weht, der immer und überall den Ausschlag geben wird.

Die Unterhaltungslektüre unserer Eltern und Großeltern

Referat für ein Podiumsgespräch der Ortsgruppe Düsseldorf des Verbands Deutsche Frauenkultur e.V. vom 27. Februar 1973 im Frauenbundhaus, Stresemannstr.21

Liebe Mitglieder, ich begrüße Sie sehr herzlich zu unserem Podiumsgespräch. Unsere Runde wird Ihnen – das hoffe ich sehr – mit der Auswahl der Zitate aus alten beliebten Unterhaltungsromanen oder mit deren Erläuterung, eine rechte Herausforderung sein, sich lebhaft an der anschließenden allgemeinen Diskussion zu beteiligen.

Als Motto über unsere heutige Veranstaltung setze ich das Wort von Heinrich von Treitschke, welches auch Gabriele Strecker für ihr Buch „Frauenträume – Frauentränen“ (1969) gewählt hat: „Alle Zeiten lassen sich die Wandlungen des sozialen Lebens aus den Werken jener kleinen Schriftsteller, welche nur die Meinung aller Welt wiedergeben, am sichersten erraten.“ (aus: „Deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts“)

So wollen wir Einblick nehmen in die Welt des Jedermanns, in „die Welt der Gartenlaube“, ein in den letzten Jahren zum Slogan gewordener Begriff, seit die Soziologie diese Zeitschrift als besonderen Blickpunkt ihrer Arbeit ansieht.

Nicht umsonst – das nur nebenbei – hat unsere Geschäftsstelle in Gütersloh ständig zunehmende Anfragen von Studenten und Institutionen, die Einsicht nehmen wollen, auch in unsere Zeitschrift. Sie besteht seit 1897, ist lückenlos im Archiv einzusehen und ist ebenfalls eine Fundgrube für die gesellschaftlichen Strömungen des jeweiligen Zeitabschnitts.

Doch zum Thema: Obwohl wir uns nur mit der Unterhaltungsliteratur der vergangenen Eltern- und Großeltern – ja schon Urgroßelternzeit beschäftigen wollen, so können wir nicht an der „Gartenlaube“ vorbeigehen; denn die damals bekannten Schriftsteller und vor allem die Schriftstellerinnen haben großenteils im Auftrag der „Gartenlaube“ geschrieben oder sie haben hier einen guten Platz für ihre der Zeitschrift angebotenen Werke gefunden.

Als zeitgemäße Besonderheit sei gesagt: Die Schriftstellerinnen hielten sich gerne mit der Angabe ihrer Weiblichkeit zurück, um nicht mit der damals üblichen Abwertung schöpferisch tätiger und geistig arbeitender Frauen beurteilt zu werden, sondern ihrer wirklichen Leistung gemäß. Gaben sich z. B. Mary Anne Evans (1819-1880) = George Eliot, Charlotte Brontë

(1816-1855) = Currer Bell und Aurore Dudevant (1804-1876) = George Sand nicht nur fremde Nachnamen, sondern auch männliche Vornamen, so machten es sich die Schriftstellerinnen, von denen wir heute hören, einfacher; der Vorname blieb offen. Man zeichnete mit E. Marlitt – Eugen oder Eugenie? W. Heimburg – Wilhelm oder Wilhelmine? E. Werner, F. Lehen.

So ereignete es sich, daß Ernst Keil, der Herausgeben der Gartenlaube, einen Brief an den Herrn E. Marlitt richtete, welcher ihm 1865 zwei Novellen eingereicht hatte. Es heißt da: „Wenn man genötigt ist, so viele verfehlte, triviale schülerhafte novellistische Arbeiten zu lesen, wie dies die Redaktion einer Zeitschrift wie meine Gartenlaube ist, nichts anders mit sich bringt, so tut es doppelt wohl, stößt man unter der Menge der Einsendungen einmal auf eine Schöpfung, die nach Stoff und Form unwiderleglich den Stempel des Talents an sich trägt […] ich wäre mit Vergnügen bereit, auch ferner novellistische Beiträge von Ihnen zu akzeptieren und sie zu den ständigen Mitarbeitern meiner Gartenlaube zu zählen, und würde Ihnen, sobald sich auch Ihre andern Erzählungen etc. zum Abdruck in meinem Blatt eigneten, liberale Honorare in Aussicht stellen.“

Ernst Keil wünschte nun selbstverständlich die persönliche Bekanntschaft mit dem Autor und kündete seinen Besuch an. Das Geheimnis mußte gelüftet werden und Ernst Keil schrieb: „Verehrtes Fräulein […] ich gestehe, daß mich diese Enthüllung des Geheimnisses zwar einigermaßen, aber doch nicht so völlig überrascht hat, da ich in der Schilderung der weiblichen Charaktere in der Tat eine weiblich warme und weiblich feine Feder zu erkennen glaubte.“

Doch nun zu Entstehung und Wirkung der Gartenlaube selber. Um das rechte Bild zu geben, will ich versuchen, trotz der Kürze des Berichtes einige Lichter auf den zeitgeschichtlichen Hintergrund zu werfen, denn der Herausgeber der Gartenlaube war eine politisch engagierte Persönlichkeit; und aus diesem Engagement heraus ist die Zeitschrift entstanden.

Die Gartenlaube war nicht das erste, aber wohl das später erfolgreichste „Familienblatt“. Diese Familienblätter waren inhaltlich weit gefächert. Sie kamen dem Informationsbedürfnis des Kleinbürgertums und der mittleren Bildungsschicht entgegen. Diese Bevölkerungsschicht verlangte nach einer einfachen verständlich geschriebenen Berichterstattung; anders konnte sie sich nicht mehr auf dem Laufenden halten über die Entwicklung der immer mehr das tägliche Leben beeinflussenden, technisch naturwissenschaftlichen Forschungen und Praktiken.

Der Gründer der Gartenlaube war, wie schon eben gesagt, der Journalist Ernst Keil (1816-1878). Er hatte sich schon vor 1853, dem Gründungsjahr der Gartenlaube, mit der Herausgabe verschiedener Zeitschriften befasst. 1845 war „Berlin Leuchtturm“ erschienen; Keil vertrat darin eine politisch liberale Gesinnung. Drei Jahre konnte das Blatt trotz der damals so eingeschränkten Pressefreiheit bestehen. Aber als sich die Redaktion 1848 – als es um die Erkämpfung um Bürgerrechte ging – für die liberal revolutionären Ideen einsetzte, da griff die Zensur zu: Die Zeitschrift wurde verboten und Ernst Keil kam ins Gefängnis.

Doch von seinen Vorstellungen einer liberalen Gestaltung der bürgerlichen Gesellschaft ging er nicht ab. Er gehörte zu jener gehobenen Bildungsschicht, die sich für eine demokratische Verfassung einsetzte, für eine Volksvertretung im Parlament und vor allem für die nationale Einheit. Keil grübelte im Gefängnis darüber nach, wie er mit seinen Gedankengängen Einfluss auf eine breite Bürgerschicht bekommen könne.

Der politischen Aktivität des Bürgertums war nach den Aufständen von 1848 und der gescheiterten Nationalversammlung eine tiefe Lethargie auf diesem Gebiet gefolgt. Hier nun mußte angesetzt werden. Ein Familienblatt sollte die liberalen und nationalen Ideen wieder zu neuem Leben wecken. So mußte man zunächst mit einer solchen Zeitschrift der Stimme des enttäuschten Publikums gerecht werden, um langsam wieder aufzubauen. Dieses Publikum war, nach allen gemachten enttäuschenden Erfahrungen, eher geneigt, sich unverbindlich unterhalten zu lassen. Deshalb mußte das Familiäre, der traulich umbaute Raum des privaten Lebens herausgestellt werden, um dem Wusch nach Geborgenheit vor der rauen politischen Wirklichkeit zu entsprechen.

Am 1. Jan. 1853 erschien das erste Heft mit einer Begrüßung Ernst Keils an seine Leser:

„Grüß Euch Gott. Liebe Leute im deutschen Lande.

Wenn Ihr im Kreis Eurer Lieben die langen Winterabende am traulichen Ofen sitzt oder im Frühling, wenn vom Apfelbaume die weißen und roten Blüten fallen, mit einigen Freunden in der schattigen Laube – dann lest unsere Schrift. Ein Blatt soll’s werden für’s Haus und die Familie, ein Buch für groß und klein, für jeden, dem ein warmes Herz an den Rippen pocht, der noch Lust hat, am Guten und Edlen! Fern von aller räsonierenden Politik und allem Meinungsstreit in Religions und anderen Sachen wollen wir Euch in wahrhaft gute Erzählungen einführen, in die Geschichte des Menschenherzens und der Völker, in die Kämpfe menschlicher Leidenschaften und vergangener Zeiten. So wollen wir unterhalten und unterhaltend belehren. Über das Ganze aber soll der Hauch der Poesie schweben wie der Duft auf der blühenden Blume und es soll Euch anheimeln in unserer Gartenlaube, in der Ihr gutdeutsche Gemütlichkeit findet, die zu Herzen spricht.“

Es war ein großes Programm, was da angedeutet wurde. Keil hat es erfüllt und außerdem seine politische Zielsetzung nicht vergessen. Wie stark dieses politische und soziale Engagement des Herausgebers war, das ist deutlich zu ersehen aus der Inhaltsführung der Romane und Novellen, die in der Gartenlaube erschienen sind. Die Auflageziffern stiegen mit der Beliebtheit der Romanschriftsteller. Die Zeitschrift erreichte 1874 – als das berühmte Buch „Die zweite Frau“ von der Marlitt erschien – einen Kreis von 325 000 Abonnenten.

1878 starb Ernst Keil; unter seinen Nachfolgern wurde die national-liberale Richtung langsam nationalistisch-konservativ, ja sogar militaristisch. Und so hat die Gartenlaube gewiß ideell manches zu den Konflikten beigetragen, die zum Ausbruch des ersten Weltkrieges 1914-18 geführt haben. 1924 erschien der letzte Jahrgang. Die Leser hatten sich gewandelt. Sie verlangten nach einer anderen Kost als es ein Familienblatt zu bieten hatte.

Nach diesem gedrängten Überblick wollen wir uns nun den Fragenkomplexen zuwenden, die Sie im Programm dieses Monats gelesen haben. Wir hier in der Reihe haben die verschiedensten unterhaltungsliterarischen Bücher gelesen, um Ihnen mit Zitaten aus diesen Romanen des kleinen Mannes oder der großen Masse das Wort Treitschkes zu beweisen, daß sie eine soziologische Fundgrube sind. Sie werden hinter blumenreichen und sentimentalen Wendungen viel damals aktuelle Probleme der Familie und der Gesellschaft kennen lernen. Sie werden überrascht sein, wie sehr sie uns zum Teil auch noch heute angehen. Die Umstrukturierung zur modernen Gesellschaft hat schon in der Gartenlaube einen Ausdruck gefunden.

Traueranzeige des Verbandes Frau und Kultur

Wir trauern um

Else Loelgen
* 21.3.1900
† 5.1.1997

Als 2. Vorsitzende des Bundesverbandes, als Vorsitzende der Gruppe Düsseldorf und als Sachgebietsleiterin für Literatur hat sie mit ihrer starken Persönlichkeit das Verbandsleben über Jahrzehnte entscheidend mitgeprägt.

Für die Mitglieder des Deutschen Verbandes Frau und Kultur in Dankbarkeit
Margret Werner (Bundesvorsitzende)

Nachruf für Else Loelgen

Else Loelgen hat uns kurz vor ihrem 97. Geburtstag für immer verlassen. Ein langes Leben ging zu Ende – doch in der Erinnerung der um sie Trauernden wird sie fortleben. Wir dürfen Else Loelgen zu den bedeutenden Frauen unseres Verbandes zählen, die immer auch in die Zukunft hineingewirkt haben.

Bereits 1955 bei einer Begegnung mit Eleonore Späing, der damaligen Vorsitzenden der Gruppe Düsseldorf, wurde ihr Interesse für die kulturellen Bestrebungen des Verbandes geweckt. Sie wurde Mitglied und übernahm sehr bald das Amt der Sachgebietsleiterin für Schrifttum in der Gruppe Düsseldorf.

Schon 1960, auf der damaligen Jahrestagung des Verbandes in Kiel, wurde sie zur Verbands-Sachgebietsleiterin gewählt. 1982 fand die Jahrestagung wieder in Kiel statt, diesmal verabschiedete sich Else Loelgen von ihrem Amt, sie sagte: „Meine Zeit als Sachgebietsleiterin rundet sich am Ende wieder in den Anfang. Ich kann kein besseres Zeichen finden, in sich geschlossen, harmonisch rund, erfüllter kann ein langer Abschnitt des Lebens nicht sein.“

Das Rund war angefüllt mit vielerlei Begegnungen und Gesprächen, sachlicher Unterrichtung, zuverlässiger Gemeinsamkeit und herzlicher Zuneigung. Wenn wenig Widerhall aus den Gruppen kam, fragte sie sich nach dem Sinn ihrer Arbeit und erkannte immer wieder, daß mit der Arbeit auch ein Reifeprozeß ihres Lebens vor sich ging. Die größte Freude an ihrem Sachgebiet brachten ihr die Reisen in die Gruppen mit literarischen Referaten und Lesungen.

In den Jahren von 1968 - 1975 war Else Loelgen gleichzeitig 2. Verbandsvorsitzende und konnte in dieser Zeit manche vermittelnde und aufklärende Rolle übernehmen. Vor allem die Änderung des Verbandsnamens von „Deutsche Frauenkultur“ in „Deutscher Verband Frau und Kultur“ brauchte Schlichterinnen wie Gerritje Meldau und Else Loelgen, um eine Übereinstimmung bei der erforderlichen Abstimmung herbeizuführen. Von beiden sind viele neue Ideen auf den Weg gebracht worden, für die wir den schöpferischen Frauen danken.

Bis zuletzt war Else Loelgen an der Entwicklung der Düsseldorfer Gruppe interessiert, wenn sie auch nicht mehr zu den Veranstaltungen kommen konnte. Wer ihr begegnet ist, wird sie in der Erinnerung behalten:

„Wenn durch einen Menschen
ein wenig mehr Liebe und Güte
ein wenig mehr Licht und Wahrheit
in der Welt war
hat sein Leben einen Sinn gehabt.“

Kathrin Pingel in: frau und kultur. Zeitschrift des Deutschen Verbandes Frau und Kultur e.V. 1/97, S. 25

Gerda Kaltwasser: Die Friedrichstraße

Kopfsteinpflaster, in der Mitte zwei Stränge Straßenbahnschienen, in jedem Haus im Parterre ein kleiner Laden - Metzgerei, Bäckerei, Obst und Gemüse, aber auch Bücher und sogar Schmuck - in den Obergeschossen Wohnungen ohne Bad, die Klos im Treppenhaus; auch mal ein Photoatelier, eine Uhrmacherwerkstatt, ein Herrenschneider, eine Näherin, die auf Wunsch zum Nähen und Flicken in die Wohnung kommt. In den Treppenhäusern riecht es nach Kohl, Pellkartoffeln, auch mal nach Reibekuchen, selten nach Braten oder Rouladen. Das ist meine Friedrichstraße in Düsseldorf zwischen 1930 und 1945, südlich vom Graf-Adolf-Platz, der damals Adolf-Hitler-Platz hieß, Bindeglied zwischen dem alten Bilk und dem jungen Stadtzentrum mit der Königsallee.

Kleine Leute wohnten hier bis zum Pfingstangriff im Juni 1943, auch arme Leute. Zum Beispiel in dem großen Haus mit der Nummer 23, das einen Innenhof hatte, der von drei Seiten mit Hinterhäusern umgeben war, mit grüngestrichenen hölzernen Falltüren im Hof, unter denen ausgetretene Steinstufen in Waschküchen und Abstellräume führten. Im Vorderhaus waren zwei Geschäfte, eines für Miederwaren, das andere für "Feinkost", darüber die etwas teureren Wohnungen. Hinten wohnten die armen Schlucker, die kinderreichen Arbeiter, bei denen manchmal nachts Möbel und Porzellan aus dem Fenster flogen, wenn der Vater den Wochenlohn versoffen hatte. Kommunisten sollten da auch wohnen. Das war in dieser Straße schlimmer als fliegende Untertassen.Die flogen auch bei uns hin und wieder aus dem Fenster im Hinterhaus von Nummer 43, wo mein Vater, der Metzgermeister Michael Kaltwasser, seit 1927 eine völlig heruntergewirtschaftete Metzgerei wieder zu Ansehen und Kundschaft bringen wollte. Sein Meister hatte ihm ein Darlehn gegeben. Irgendwann 1946 habe ich ihm die letzte Rate gebracht. Dort im Haus Nummer 43 ließ ein Barmusiker nach besonders großzügigen Gästen - Motto: "Geh'm se dem Mann am Klavier mal ein Bier" - das Porzellan sausen. 

Ein Barpianist in dieser Gegend? Nicht nur einer. Klamotten-Schauspieler wie Hilde und Fritz Servos wurden als Freunde begrüßt, Operettenstars wie Trude Adam oder Rudolf Rudolphi, die im Kleinen Haus, dem städtischen Operettentheater gegenüber dem Apollo, auftraten, wurden angehimmelt, Artisten, Conferenciers, Humoristen wie Karl Napp, die im Apollo oder auf Adlers Bunter Bühne auftraten, gehörten zur besser zahlenden Steak- und Schinken-Kundschaft.

Gegenüber an der Friedrichstraße war der Kristallpalast. Besuch des Kinderkarnevals vom fünften Lebensjahr an war Ehrensache; erst recht, als Besitzer Ederer Prinz Karneval geworden war. Zwischen Friedrichstraße und Hauptbahnhof war bis zum Kriegsende und noch etwas länger und trotz sich wie Meereswogen auftürmender Trümmerberge das Düsseldorfer Vergnügungsviertel, ein Paradies mit legendären Nachtlokalen wie dem Rauchfang im Apollo, dem Café Korso und der Grotte, mit Kinos wie Residenz und Asta Nielsen, mit Schwof und Rumtata im Oberbayern und dem sanften Übergang zum Rotlichtviertel an der Bandelstraße, das wir Nachtjackenviertel nannten.Das war östlich von der Friedrichstraße. Westlich war auch ein Paradies: das Ständehaus mit dem Vater-Rhein-Brunnen, mit Park, Kaiserteich und Schwanenspiegel, der Schwanenmarkt und der Spee'sche Graben oder, an der Bilker Allee, unter Aufsicht der Großeltern erreichbar, der Floragarten. Und überall Spielplätze mit Schaukeln, Sandkästen und Rutschen.

Aber das war nur für die Kleinen. Wir Größeren spielten in den Büschen, fochten blutige Bandenkriege mit den Jungens von der Villa Jück aus, eine alte Zigarrenkiste von Vati war mit Pflaster und Flickenresten gefüllt, Ersatz für Mullbinden, denn Rot-Kreuz-Einsatz war immer nötig.

Auch an jenem 10. November 1938, als die achtzigjährige Frau Cohn vom Haushaltswarengeschäft gegenüber aus einem Scherbenhaufen in unsere Metzgerei gewankt kam, Mutter ihr einen Stuhl und Wasser brachte, der Blockwart die Ladentür aufriß und brüllte: "Das werden Sie noch zu spüren kriegen!" Meine Mutter bekam es Jahre später zu spüren, als ihr, der schon schwer Behinderten, der Blockwart den Zutritt zum öffentlichen Luftschutzkeller in der Klebekiste, dem alten Bau der Landesversicherungsanstalt, verweigerte. "Korinthenkacker", sagte ich, versuchte, den Mann beiseite zu drücken. Wäre das Kriegsende nicht schon so nah gewesen, wir hätten das alle zu spüren bekommen.

So aber verkrochen wir uns in der Waschküche unter unserem Trümmerhaufen - mein Vater hatte am Tag, bevor deutsche Soldaten die Oberkasseler Brücke sprengten, noch von seinem linksrheinischen Einsatz als Volkssturmsoldat desertieren können - und warteten darauf, daß die Amis endlich kämen. Während sechs Wochen Artillerie - und Tieffliegerbeschuß lernten wir alle, mit dem Sterben und dem Tod umzugehen. Als die Amis schließlich auf ihren Panzern durch die Friedrichstraße rollten, war das eine Befreiung, aber ohne politisches Pathos.

Der Kampf ums Überleben ging weiter, nun ohne Artilleriefeuer, ohne Tieffliegerangriffe und Bombergedröhn. In der warmen Maisonne trockneten die im Waschkeller angeschimmelten Matratzen. Der Gelenkrheumatismus kam später.

Auch der Hunger. Aber da brachte uns die Tochter eines jüdischen Nachbarn, einzige KZ-Überlebende unserer ganzen jüdischen Nachbarschaft von vor 1938, Matzenbrot. Fritz und Hilde Servos hatten sich aus Berlin durchgeschlagen und standen in den Trümmern unserer Metzgerei. Von den Klos im Treppenhaus war nur das im Parterre übriggeblieben. Ein löchriger Teppich ersetzte die Tür. Es war das einzige funktionierende Klo für drei Trümmerhäuser. Durch die Schlagersängerin Evelyn Künnecke erhielt es seinen Charme, durch den Komponisten Michael Jary, der dort Amizigaretten rauchte, seinen exklusiven Duft. Jary und die Künnecke gastierten im behelfsmäßig bespielbar gemachten Apollo und wohnten in den Trümmern neben uns bei Freunden. Meine Friedrichstraße hatte überlebt. Ihr Sterben kam viel, viel später.

In: Straßenbilder. Düsseldorfer Schriftsteller über ihr Quartier, hrsg. von Alla Pfeffer. Düsseldorf 1998, S. 58ff.

Gerda Kaltwasser: Fast eine Bilkerin

"Du bist nicht aus Bilk, du bist aus der Friedrichstadt", sagte freundlich rügend der ältere Kollege, natürlich altverwurzelter Bilker, in den fünfziger Jahren zu mir. Er war so eine Art wandelndes Kataster der Stadt, nicht nur, was die Grenzziehung im ehemals zufriedenen Süden Düsseldorfs, also in und um Bilk, anging. Ich konnte damit nichts anfangen, für mich war die Friedrichstadt ein Stadtteil von Bilk, so wie Pempelfort ein Stadtteil von Derendorf war; pardon, denn Vater und Mutter waren Zugereiste, kurz vor und nach dem ersten Weltkrieg, typische Düsseldorfer eben.

Später lernte ich dann, dass Bilk ganz alt war, während die Friedrichstadt der Esel im Galopp verloren hatte, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwischen den Bahnhöfen der Bergisch-Märkischen und der Köln-Mindener Eisenbahn. Die Friedrichstadt war das Bindeglied zwischen dem soliden alten Bilk und dem jungen, ein bisschen angeberischen Stadtzentrum, zwischen der legendären Villa Billico, über die der Gründer der Bilker Heimatfreunde, Hermann Smeets, ein Buch geschrieben hat, und der Königsallee, die gerade Namenstag feiert, weil sie seit 150 Jahren so heißt, wie sie heißt.

Kindheitserinnerungen an den alten Floragarten, in dem ich in meiner Fantasie Ritterspiele spielte, und an die Ständehausanlagen, wo wir mit der Bande "Villa Jück" ganz reale Kämpfe ausfochten, werden geschwärzt von den Rauchschwaden über den Trümmern nach den Bombenangriffen des Zweiten Weltkrieges. Sie werden überlagert von der Erinnerung an Straßenzüge, deren Fixpunkte Blindgänger waren, einer zum Beispiel hinter unserem Haus, ein anderer vor dem Dominikanerkloster an der Herzogstraße. Dann der Einzug amerikanischer Panzer von Bilk her. Dass nicht geschossen wurde, war Hermann Smeets mit zu verdanken, aber das wussten wir damals nicht. Wir schwenkten aus öden Fensterhöhlen ein etwas angeschimmeltes Bettuch als Friedenszeichen. Sechs Wochen hatten wir unter den Trümmern im feuchten Waschkeller gelebt, sechs Wochen Artilleriebeschuss und Tieffliegerangriffe. Vom Hauptbahnhof bis zur Lausward schien es nur Trümmerhalden zu geben.

Das Entdecken verschonter Häuser blieb lange ein tägliches Wunder. In den fünfziger Jahren gab es schon wieder Originale in Bilk zu bestaunen, die anderes taten als am Wirtschaftswunder zu basteln. Ein langer, dünner Herr mit flatterndem Regenmantel strebte allmorgendlich von seiner Wohnung, ich glaube an der Konkordiastraße, am Ständehaus vorbei in Richtung Kunstakademie, auch zum Opernhaus und zum neuen Schumann-Saal am Ehrenhof, um dort an seinen Fresken zu arbeiten. Es war der Maler Robert Pudlich. Ebenfalls vormittags, wenn die Ständehausanlagen menschenleer waren - die älteren Kinder saßen brav in der Schule, die Mütter mussten kochen, ehe sie mit den Kleinen und mit Strickzeug zum Spielplatz gingen - vormittags also lief ein jüngerer Mann, wild um sich blickend, eine Partitur in der Hand, durch die Anlagen und schmetterte "Nie sollst du mich befragen...!" Der spätere Wagnersänger Imdahl lernte seine Rolle im "Lohengrin".

Wer damals glaubte, aus den Trümmern würde eine heile Bilker Welt wieder erstehen, täuschte sich. Auch diese Welt änderte sich tiefgreifender als durch die Kriegsverwüstungen. Man denke nur den "Bilker Stadtteil" Friedrichstadt. Und die Veränderungen gehen weiter, im traditionellen Bilk und an seinen ebenso traditionsreichen Rändern.

Dazu gehört Stoffeln. Zeitgleich mit Bilk wurde der Flecken mit dem Namen "auff den Stoffen" (auf den Stümpfen eines Sumpfwaldes) 1384 nach Düsseldorf eingemeindet. Drei Kilometer lang ist der 1573 entstandene Stoffeler Damm, der Stoffeler Friedhof einer der bekanntesten in Düsseldorf. Aber in amtlichen Schriftstücken taucht Stoffeln nicht mehr auf, sang- und klanglos scheint Stoffeln zwischen Bilk, Flehe und Wersten zu verschwinden. Aber da ist ja noch das den 14 Nothelfern gewidmete Stoffeler Kapellchen, das 1734 unter Kurfürst Karl Philipp geweiht wurde. Dahin pilgern auch die Bilker gern.

In: Jubiläumsbuch zum 50-jährigen Bestehen des Heimatvereins Bilker Heimatfreunde e.V., 2001, S. 99.

Ein Düsseldorfer Portrait: Interview mit Gerade Kaltwasser

Frau Kaltwasser, Sie arbeiten seit 40 Jahren in Düsseldorf als Journalistin, mögen Sie diese Stadt überhaupt noch?

Eigentlich mag ich die Stadt erst seit 20 Jahren wirklich. Die 50er Jahre waren mir doch zu provinziell. Erst in den 60er Jahren, als mit aufregenden Aktivitäten an der Akademie, mit Kneipen als begehbaren Kunstwerken, mit der wachsenden Zahl von Studenten Leben in die Stadt kam, fing ich an, sie zu mögen.

Was fasziniert Sie an Düsseldorf?

Es ist diese bemerkenswerte Mischung aus Betulichkeit, Weltoffenheit und Arroganz, die man anderswo nicht oft antrifft. Da kann man sich aber auch oft ärgern, wenn die Betulichkeit Übergewicht bekommt. Die Weltoffenheit ist ganz zufriedenstellend. Es herrscht ein Klima der Bereitschaft, den Anderen anzuerkennen.

Was waren die interessantesten Themen, an denen Sie gearbeitet haben?

Das ist nach Jahrzehnten schwer zu sagen. Aber es waren in erster Linie die Probleme in der Logistik der Stadtbauer. 1962, als in nur einer Nacht der komplette Jan-Wellem-Platz umgebaut wurde, da war ich die ganze Nacht dabei, das hat mich schon sehr fasziniert. Auch der Brückenbau war immer wieder eine faszinierende Sache. Besonders natürlich der Verschub der Oberkasseler Brücke.

Was ärgerte Sie am meisten in Düsseldorf?

Von langer Zeit die Heimatvereine, aber das ist inzwischen vorbei. Heute ärgere ich mich häufig über die Stadtverwaltung.

Ist Düsseldorf Ihrer Meinung nach auf einem angemessenen kulturellen Stand?

Es ist auf jeden Fall besser als dargestellt. Doch es sollte einfach mehr für die Stärkung privater Initiativen getan werden.

In: Düsseldorfer. 64 Portraits. Von Rüdiger Nehmzow und Christoph Elbern Verlag der Mayerschen Buchhandlung: Düsseldorf, 1991, S. 80

Stadtgewissen mit lächelnden Augen

Flüchtige Anmerkungen zu Gerda Kaltwassers 70. Geburtstag

Ach, Gerda, was sollten wir denn tun ohne dich? Ohne das leichte, unermüdete Stadt-Gedächtnis, das auf einer Karosse mit vier Gummirädern schnurrt, elektrisch angetrieben, deren Merkwürdigkeiten einem Satiriker wie Hermann Harry Schmitz gewiss ein paar hübsche Sottisen aus der Feder gespritzt hätten.

Eine Journalistin ist dies, die das Klischee scheut wie der Teufel den Weihrauch. Immer wieder wunderbar und vorbildlich, wie sie in flüssiger Schreibweise zwischen den Gemeinplätzen durchsegelt ohne Angst vor Skylla noch Charybdis.

Biografische Fakten? Zu skizzieren ist der Lebenslauf der Metzgerstochter aus der Friedrichstadt übers Schlittschuhlaufen am Schwanenspiegel zum Amerika-Stipendium nach dem Krieg zur Ochsentour über verschiedene Tageszeitungen bis hin zur Rheinischen Post (1962). Dort machte sie sich vor allem als Anwältin für prekäre, große und kleine Themen und Regionen von Heine über Minderheiten bis Israel einen Namen. Oft hat sie sich vertippt. Doch nie verschrieben.

Die Summe ihrer Verdienste (streichen wir mal den Singular "Verdienst") addiert sich auf zahlreiche Ehrenringe. Nach wie vor segelt sie zwischen den vielen "H's" herum, Heine, H. H. Schmitz (dem jetzt wenigstens eine Schule gewidmet wurde - also keine Sackgasse, wie auch schon geplant), Hetjens-Museum. Und zahlreichen Büchern, Vorworten, Film-Kommentaren.

Der Bildhauer Bert Gerresheim formulierte bei einer Lobrede 1998 Gerda Kaltwassers Erkenntnis, dass man Wort und Leben, Ästhetik und Moral niemals voneinander trennen könne.

Gerda, das mobile, überfliegende, flatternde, nie flatterhafte Journal-Gedächtnis ihrer Stadt (die deren Herzblut oft genug noch nicht einmal verdiente) - sie ist so eine, über die Jean Paul einmal schrieb: "Die alten Menschen. Wohl sind sie lange Schatten. Aber sie weisen alle gen Morgen."

Sebastian Feldmann. Rheinische Post, 15. November 2000

Nachruf

Am 24. Juli 2002 starb Gerda Kaltwasser nach langer, schwerer Krankheit im Alter von 71 Jahren. Noch wenige Wochen vor Ihrem Tod schrieb sie für die Rheinische Post, deren Lokalredakteurin sie 1962 wurde. Mit "spitzer Feder und einem großen Herzen" schrieb sie für ihre Stadt und die Menschen.

Wir möchten an dieser Stelle ein Bild von Gerda Kaltwasser und ihrem Wirken entwerfen. Wir sammeln Stimmen über "uns Gerda", wie sie in der Zeitungs-Redaktion und bei all jenen hieß, die sie und ihr Engagement liebten.

"Schlage die Trommel und fürchte Dich nicht" - diese Zeile von Heinrich Heine war das Motto einer unangepassten und mutigen Frau.

Nachruf der Rheinischen Post

"Uns Gerda" ist nicht mehr bei uns. Die frühere RP-Lokalredakteurin Gerda Kaltwasser starb gestern im Altern von 71 Jahren

Das erste Treffen bleibt unvergesslich: Ein Verlag stellte damals, es muss 1981 gewesen sein, einige Bücher über das Rheinland vor. Die Tür ging auf, eine kleine Dame - vom Hut über die Pelerine bis zum Kostüm komplett und keck in rotem Pepita gekleidet - kam herein, warf einen sehr skeptischen Blick auf die Machwerke, stellte zwei Fragen, fällte ein kurzes, aber vernichtendes Urteil. Und ging wieder. Erschienen ist über diese Bücher in der RP keine Zeile. Das war Gerda Kaltwasser, damals stellvertretende Lokal-Chefin der RP in Düsseldorf.

"Uns Gerda", wie wir sie in der Redaktion genannt haben, war wandelndes Düsseldorf-, Heine-, Harry-Schmitz und Hetjens-Museum-Lexikon. Sie kannte alle und alles, denn sie hatte diese Stadt ja seit ihrer Geburt buchstäblich er-lebt. Aufgewachsen als Tochter eines Metzgers in Bilk, kam sie nach dem Abitur auf dem Luisen-Gymnasium früh zum Schreiben, seit 1962 tat sie es bei der Rheinischen Post, noch vor wenigen Wochen stand ihr Name über einem Text in der RP.

Immer hat sie in, aber nicht ausschließlich für Düsseldorf gelebt. Sie liebte die Stadt, aber auch aus der Ferne - damit dem von ihr verehrten Heine durchaus ähnlich. Kaum ein Land der Welt, das "uns Gerda" nicht besucht hat. Sie war schon auf Tonga, als hier zu Lande keiner wusste, dass es dieses Inselreich überhaupt gibt. Gerdas "Schreibe" war von einer Qualität, die Nachwuchsjournalisten anspornt - einmal so fein, so packend, mit so wenigen Mitteln sprachlich ins Schwarze treffen. Sie konnte es meisterlich, bis zuletzt. Und wenn der Begriff "spitze Feder" jemals passte, dann bei ihr. Viele, vor allem die ihr suspekten Selbstdarsteller, haben das häufig erleiden müssen. Benachteiligte, egal aus welcher Ecke, konnten dagegen auf ihre Hilfe zählen. Ein Engagement, das die Stadt 2000 mit dem Jan-Wellem-Ring belohnte. Jahrelang war sie der Lambertus der RP - für diese Samstag-Glosse ging er (also sie) langsam durch die Stadt, und erzählte, was er (also sie) sah.

Als ihr Körper wegen einer tückischen neurologischen Krankheit (von der sie seit langem wusste!) den Dienst versagte, bremste dies ihre Energie und die Freude an der Arbeit nicht. Sie rollte im Elektrowagen zu Terminen - und schrieb am Computer so fit und flott wie eh und je.

Nun ist sie nicht mehr bei uns. Gestern Morgen starb Gerda Kaltwasser. Sie wurde 71 Jahre alt. [ho-]

Rheinische Post. 25. Juli 2002

Heidede Morgenbrod: Selbstdarstellung in der dhg-Rundschau 2/94

1933 bei Insterburg in Ostpreußen geboren, habe ich innerhalb von zwei Ehen vier Kinder betreut und erzogen, zeitweilig auch als Alleinerziehende. Seit 1979 bin ich bis auf den heutigen Tag halbtags erwerbstätig. Als gelernte Steuerfachgehilfin lebe ich im Dauerzorn über die bisher geschaffenen Strukturen und immer wieder dreisten Veränderungen zu Lasten von Frauen. Mein gesellschaftliches Engagement gilt seit 20 Jahren der Frauenpolitik mit dem Schwerpunkt: "Eigenständige soziale und finanzielle Sicherung der Frau". Ich bin felsenfest davon überzeugt, daß der Lohn für häusliche und soziale Pflegearbeit die einzige brauchbare und gerechte Lösung darstellt, finanzierbar durch Ungestaltung des Sozial- und Steuerrechts.

Glücklich bin ich, daß die dhg diese Zielsetzung mittlerweile in ihr Grundsatzprogramm aufgenommen hat. Glücklich bin ich auch, daß sich viele junge Frauen aktiv für diese Forderung einsetzen und damit Druck auf die Parteipolitik ausüben. Von 1979 bis 1989 war ich Mitbegründerin und aktive Mitarbeiterin im autonomen Frauenprojekt "Frauen-Bücher-Zimmer" in Düsseldorf (Frauenbuchladen, Kulturbetrieb und "ständige Informationsbörse" verbunden mit gesellschaftspolitischer Arbeit).

Seit 1979, also seit Gründung der dhg, bin ich Mitglied und seit drei Jahren im Vorstand und im Arbeitskreis Grundsatzfragen tätig.

Frauen–Bücher–Zimmer

Am Anfang stand die Idee einer „ständigen Informationsbörse“. „Informationsbörse“, ein Begriff geprägt durch Antje Huber, ist eine Selbstdarstellung der etablierten Frauenverbände ihrer Zielsetzung und Programmgestaltung. Räume hierfür wurden in der Bundesrepublik in den verschiedenen Städten von den Stadt-Sparkassen zur Verfügung gestellt. Diese Informationsbörsen in den verschiedenen Städten fanden bisher nur einmal statt und dazu begrenzt auf maximal 14 Tage zu unterschiedlichen Zeitpunkten.

Zu der Idee „ständige Informationsbörse“ kam die Frage nach der praktischen Durchführung und der Wunsch zur Einbeziehung aller Frauengruppierungen außerhalb der unter dem Dach des Deutschen Frauenrates zusammengefassten Verbände. Hier wurde an die Frauenbewegung, sowie an die Bürgerinitiativen von Frauen, wie Spielplatzforderungsgruppen oder ähnlich gedacht.

Das heißt, die „ständige Informationsbörse“ soll ein Dach sein für etablierte wie für autonome Frauengruppierungen.

Zur praktischen Durchführung der Idee „ständige Informationsbörse“ wurde ein Verein gegründet als Rechtsform, der dieser Idee wegen auch die vorläufige Gemeinnützigkeit seitens des Finanzamtes erhielt und zwar begrenzt bis zum 31.12.1980. Der Verein wird vom Finanzamt dann überprüft auf die Einhaltung seines Zweckes, um die Gemeinnützigkeit für die Zukunft zu bekommen.

Zur praktischen Durchführung der Idee „ständige Informationsbörse“, wurden Räume in zentraler Lage Düsseldorfs gemietet, wo die Informationsbörse Herberge finden konnte.

Wie die Informationsbörse arbeiten soll, ist in § 2 „Zweck“ der Satzung des Vereins Frauen-Bücher-Zimmer sehr ausführlich dargelegt, sogar noch mit Nachtrag zur Verdeutlichung besonders für das Finanzamt.

Der Frauenbuchladen erscheint unter § 2 „Zweck“, Punkt 4: Informationsbüro mit dem Angebot entsprechender Literatur. Unter Punkt 1 kommt die Vermittlungstätigkeit der Informationsbörse zum Ausdruck mit dem Satz: „Informationen aus allen Lebensbereichen zu sammeln und an interessierte Frauen weiterzugeben (z. B. Termine für Vorträge, Bekanntmachungen über Frauengruppen, -verbände, Seminare)“.

Unter Punkt 3 kommt die Eigeninitiative des Vereins Frauen-Bücher-Zimmer zum Ausdruck mit dem Satz: „Kommunikative Veranstaltungen, z. B. Referate, Diskussionen, Austausch von Meinungen und Erfahrungen“.

Diese Konzeption zeigt eindeutig auf, dass das Frauen-Bücher-Zimmer keinen 26. Frauenverband Düsseldorfs darstellt oder eine autonome Frauengruppe mit einer eindeutigen Meinung.

Bei den langen Vorverhandlungen mit der Leitung der Arbeitsgemeinschaft Düsseldorfer Frauenverbände sowie anderer Organisationen, die nicht einsahen, wieso nun noch wieder eine neue Frauengruppierung entstehen soll, wo es doch schon so viele Frauengruppierungen gibt, wurde von uns immer argumentiert, dass wir uns nicht als 26. Frauenverband oder eine neue autonome Frauengruppe ansehen, sonder ein Dach (Überbau) darstellen wollen, um allen bestehenden Frauengruppierungen eine ständige Selbstdarstellung und ein ständiges Programmangebot zu ermöglichen.

Dieser Zielsetzung, die in der Satzung des Vereins Frauen-Bücher-Zimmer festgelegt und mit dieser Zielsetzung auch im Vereinsregister des Amtsgerichts Düsseldorf angemeldet ist, steht nun vom Grundsatz her absolut entgegen, dass der Verein Frauen-Bücher-Zimmer sich einem Frauenverband oder einer autonomen Frauengruppe in der Öffentlichkeit stützend zur Seite stellt. Dieses heißt aktuell konkret, dass gar nicht zur Debatte stehen kann, dass wir Aufrufe zu Demonstrationen mitunterschreiben und Slogans, Parolen aufnehmen und unterstützen (z. B. „Stoppt Strauß“, „Wir pfeifen auf linke Vögel“, oder „Stoppt Kernenergie“, „Wozu brauchen wir Kernenergie, bei uns kommt der Strom aus der Steckdose“), da unsere Beschlussfassung im § 9 der Satzung nach demokratischem Verständnis festgelegt wurde und unter Ziffer 2 „Mehrheitsverhältnisse“ steht: „Sofern das Gesetz oder die Satzung nicht entgegenstehen, werden alle Beschlüsse mit einfacher Mehrheit der erschienenen stimmberechtigten Mitglieder wirksam.“

Um eine groteske Zukunftsvision zu verdeutlichen, hierzu zwei Beispiele:

  1. Das jetzt aktuelle Beispiel: Die demokratische Fraueninitiative, über die sich jede Frau von uns ein Bild aus dem Courage-Artikel vom April 1979 machen kann, ruft zur Demonstration auf und demonstriert u. a. für die Streichung des § 218 aus dem Strafgesetzbuch. Die von uns erschienenen Mitglieder stimmen mit einfacher Mehrheit zu, wir unterschreiben den Aufruf, erscheinen hiermit in allen Zeitungen Düsseldorfs und marschieren mit dem Transparent „Frauen-Bücher-Zimmer“ auf der Straße mit.
  2. Eine mögliche Situation in naher Zukunft, da der Wahlkampf vor der Tür steht und diese und ähnliche Anliegen besonders häufig jetzt auf uns zukommen werden.

Eine katholische Frauengemeinschaft ruft zur Demonstration auf, den § 218 im Strafgesetzbuch beizubehalten und die Konstellation unserer Mitglieder ist an dem Abstimmungstag so, dass mit einfacher Mehrheit der erschienenen Mitglieder dem zugestimmt wird, wir erscheinen wiederum als Mit-Aufrufer zur Demonstration in allen Zeitungen Düsseldorfs und marschieren auf der Straße mit dem Transparent „Frauen-Bücher-Zimmer.“

Wir verstoßen gegen die Satzung und gegen den Zweck des Vereins, wenn wir Parolen, Slogans, Aufrufe, Resolutionen jeglicher Art im Namen des Frauen-Bücher-Zimmers unterstützen. Persönliches Engagement und Beitritt zu entsprechenden Vereinen und Gruppierungen bleibt jeder Frau unbenommen.

Heidede Morgenbrod, Düsseldorf den 28.01.1980

Wir stellen zur Diskussion: „Düsseldorfer Tarifpapier“

Jede Arbeit, die im Haushalt mit Kindern anfällt, muß bezahlt werden, wenn sie an zuständige Dienstleistungsbetriebe in Auftrag gegeben wird. Übernimmt dieselbe Arbeit die Hausfrau oder der Hausmann, dann wird sie zu einer unbezahlten Arbeit.

Private Gegebenheiten, wie der Gang zum Standesamt mit vollzogener Hochzeitsnacht, sind Leistungen im Sinne des Steuerrechts und führen zum Ehegattensplitting.

Private Gegebenheiten, wie die Anzahl der Kinder, sind Leistungen im Sinne des Steuerrechts und führen unter anderem zu Kinderfreibeträgen, die wiederum über die Höhe des Erwerbseinkommens in ihrer Höhe unterschiedlich ausfallen.

So gibt es eine Reihe von steuerlichen Leistungen des Staates, die lediglich aufgrund privater Gegebenheiten erbracht werden, aber nichts mit der Erwerbsarbeit zu tun haben. Der Nettolohn der Erwerbstätigen wird hiermit erhöht: zum Beispiel:

  1. Ehegattensplitting
  2. Kinderfreibeträge
  3. Kinderbetreuungskosten
  4. Kinderanteile im Ortszuschlag bei Beschäftigten im Öffentlichen Dienst.

Es gibt eine Reihe von sozialen Leistungen des Staates für Familien oder Alleinstehende mit Kindern, wie zum Beispiel:

  1. Erziehungsgeld
  2. Kindergeld
  3. Wohngeld und Sozialhilfe (hauptsächlich Frauen erhalten sie)
  4. Familienstandsdarlehen in einigen Bundesländern
  5. Stiftung Mutter und Kind
  6. Mutterschaftsgeld nach dem Lohnfortzahlungsgesetz.

Zur Zeit gibt es in der Bundesrepublik Deutschland cirka neun Millionen Hausfrauen ohne eigenes Erwerbseinkommen, die unbezahlte Arbeit leisten, wo die steuerlichen und sozialen Hilfen aber gewährt werden. Aus diesen Hilfen leitet sich für die neun Millionen Hausfrauen keine eigenständige soziale Sicherung im Alter ab, es kommt zu der „verschämten Altersarmut“, wie es heute formuliert wird.

Die Aufhebung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung mit Hilfe eines Sechsstundentages für alle, wäre die ideale Lösung. Hierbei wären Mann und Frau gleichermaßen verantwortlich für Erwerbsarbeit und häusliche Pflege- und Erziehungsarbeit.

Als Voraussetzung zu dieser Ideallösung fordern wir statt der steuerlichen und sozialen Hilfen vom Staat einen Tarif: – den Lohn für häusliche Pflege- und Erziehungsarbeit. –

Dieser Lohn kann vorschlagsweise bei einem zu versorgenden Kind DM 2.100,- brutto monatlich betragen und erhöht sich bei jedem weiteren zu versorgenden Kind um DM 500,- brutto monatlich.

Nach Angaben des Katholikenrates im Bistum Trier betrug der durchschnittliche Aufwand für Familienleistungen im Jahr 1986 je Kind rund DM 2.100,- monatlich. Nach diesen Zahlen könnte der Lohn für häusliche Pflege- und Erziehungsarbeit noch höher angesetzt werden.

Hier bedarf es einer klaren Organisation! Zum Beispiel brauchen wir dann nur noch eine Steuerklasse für alle Erwerbstätigen. Die steuerlichen und sozialen Hilfen vom Staat für die Familie fließen dann in den Lohn für häusliche Pflege- und Erziehungsarbeit.

Mit diesem Tarif-Modell ist die optimale Wahlfreiheit gegeben: Beruf, Kindererziehung oder Arbeitsteilung (Halbe, halbe). Durch diese Umstrukturierung werden Arbeitsplätze für Männer und Frauen im Haushalt möglich, falls die Eltern der Kinder sich für weitere Erwerbstätigkeit entscheiden.

Mit diesem Tarif-Modell ist auch die eigenständige soziale Sicherung von männlichen und weiblichen Personen gesichert, die sich für Kindererziehung und Kinderbetreuung entscheiden. Gewährleistet sind dann: eigenständige Versicherung für das Altersruhegeld sowie für die Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente, eigenständige Krankenversicherung.

Gewährleistet ist dann die gesetzliche Unfallversicherung (möglicherweise der Gemeindeunfallversicherung einzugliedern). Häusliche Pflege- und Erziehungsarbeit begründet dann auch Ansprüche auf vermögenswirksame Leistungen, Urlaubsgeld, Weihnachtsgratifikation sowie Förderung, Fortbildung und Umschulung durch das Arbeitsamt. Tarifpartner ist der Bund.

Heidede Morgenbrod für die Düsseldorfer Arbeitsgruppe „Lohn für häusliche Pflege- und Erziehungsarbeit“ der dhg. In: dhg-Rundschau der Deutsche Hausfrauengewerkschaft e. V., H. 1, 1988, S. 5

Die Ehe - eher nicht? Eherecht auf dem Prüfstand

Was macht die Ehe attraktiv?

Für gläubige Menschen stellt die Ehe ein Sakrament dar. Erstaunlich nur, daß im südlichen Raum der Bundesrepublik das Wort "Sakrament" als Fluch benutzt wird, abgekürzt: "Sakra!" Sollte dieser Fluch sich entwickelt haben, weil die Ehe ein Sakrament und im Katholizismus unauflöslich ist?

Neben dem religiösen Aspekt möchten viele verliebte Menschen nach außen dokumentieren, zu wem sie gehören. Sie erhalten den Status "verheiratet". Nebenbei bemerkt, nennt Esther Vilar die Frage nach diesem Status eine pornographische Frage. Sie vermutet, daß sich dahinter Neugier verbirgt, ob diese Personen geregelten Sex mit einem ständigen Partner haben. So ganz von der Hand zu weisen ist dieser Gedanke nicht. Läßt sich deshalb der Staat heute alleine den Ehestand ca. 30 Mrd. jährlich kosten, obwohl 1957 die Steuerklasse III als Anerkennung für die Erziehungsarbeit der Frau eingeführt wurde? Damals verpflichtete das Gesetz die Frauen zur Kindererziehung. Bis 1977 galt, daß eine Frau nur erwerbstätig sein durfte, wenn der Haushalt und die Familie nicht darunter litten. Zu beurteilen hatte das der Mann. Im Laufe der Jahre, bedingt durch "die Pille", haben ein Drittel der Ehen heute keine Kinder, ein Drittel nur ein Kind und ein Drittel zwei und mehr Kinder.

In Hoffnung!"

Der wichtigste Aspekt für eine Ehe scheint mir der Kinderwunsch zu sein. Die zukünftigen Kinder sollen ehelich geboren werden. Gerade dieser Aspekt stellt ein Problem dar. Heute hat beinahe jede Frau einen Beruf erlernt, hat in diesem Beruf bereits gearbeitet und eigenes Geld verdient. Nun kommt das erste Kind. Spätestens dann stellt sich die Frage, wer leistet die Erziehungsarbeit? Es läßt sich nicht wegdiskutieren, überwiegend übernimmt traditionsgemäß die Frau die Kindererziehung auch ohne Gehalt für Familienarbeit. Sie wird Unterhalts- und Taschengeldempfängerin bis ins hohe Rentenalter. Die 60% Hinterbliebenenrente vom Ehemann haben Unterhaltsersatzfunktion. Eine eigenständige soziale und finanzielle Sicherung hat die Ehefrau mit der Entscheidung, ihr eigenes Kind und die noch folgenden Kinder selbst zu betreuen und zu erziehen, nach der heutigen Gesetzeslage aufgegeben. Sie empfängt Unterhalt wie ihre eigenen Kinder. Reicht der Unterhalt des Ehemannes nicht aus, dann greift die Sozialhilfe. Beide Formen bieten keine Altersrente.

Gesetzliches eheliches Güterrecht

Laut Bürgerlichem Gesetzbuch, BGB, gehört dem Mann sein Erwerbsgehalt ganz alleine. Ich zitiere BGB § 1363, Absatz 2:

"Das Vermögen des Mannes und das Vermögen der Frau werden nicht gemeinschaftliches Vermögen der Ehegatten; dies gilt auch für Vermögen, das ein Ehegatte nach der Eheschließung erwirbt."
So wird die Abhängigkeit der kindererziehenden Ehegatten von ihren erwerbstätigen Ehepartnern zementiert. Das Machtgefüge innerhalb einer Ehe wird vom Gesetzgeber vorgegeben. Der die "Brötchen verdient" bekommt auf sein Nettogehalt aus Steuergeldern über Steuerklasse III die eheliche Subvention als Bestandteil seines Gehalts. Hinzu kommen die steuerlichen Kinderfreibeträge bisher und ab 1.1.1996 das wesentlich erhöhte Kindergeld, wenn es vom Arbeitgeber ausgezahlt wird. Bei vier Kindern hat der Ehemann DM 1050,- monatlich zusätzlich, die sein Nettogehalt erhöhen. Über Rechtsprechung ist geregelt, daß die Ehefrau ein Taschengeld von 5% bis 10% der Nettoeinnahmen ihres Ehemannes beanspruchen kann, also auch vom erhöhten Kindergeld ab 1.1.1996, und daß am Ersten eines jeden Monats ein angemessenes Haushaltsgeld auf dem Tisch zu liegen hat, damit sie im Rahmen ihrer Schlüsselgewalt (ein Thema für sich) einen Monatsplan entwickeln kann. Über sein Einkommen kann sie jedoch nicht verfügen und eine Kontovollmacht steht ihr juristisch nicht zu.

BGB eine Lachnummer?

Nun komme ich zu dem Schlußsatz des Absatzes 2, BGB §1363, der einem die Schuh' auszieht. Das muß man langsam auf der Zunge zergehen lassen:

"Der Zugewinn, den die Ehegatten in der Ehe erzielen, wird jedoch ausgeglichen, wenn die Zugewinngemeinschaft endet."

Bitte, auf der Zunge zergehen lassen: "... wenn die Zugewinngemeinschaft endet." Wir haben oben über den ersten Satz des Absatzes 2 BGB §1363 ausführlich gesprochen. Ich zitiere nochmal:

"Das Vermögen des Mannes und der Frau werden nicht gemeinschaftliches Vermögen der Ehegatten"; in Ordnung, weiter: "dies gilt auch für das Vermögen, das ein Ehegatte nach der Eheschließung erwirbt".

So, und das nennt nun der Gesetzgeber "Zugewinngemeinschaft!" Mir scheint, daß Juristen, Professoren? (lernen etwa unsere Studentinnen und Studenten diesen Unsinn in der Uni?) ein Wortfindungsaufgabe haben. Das Gesetz macht eine Falschaussage. Während der Ehe liegt de facto eine Gütertrennung vor mit Unterhaltsverpflichtung. Erst bei Scheidung wird geteilt, und zwar das, was nach drei Jahren Streit noch übrigbleibt. BGB §1373 erläutert den Begriff "Zugewinn":

"Zugewinn ist der Betrag, um den das Endvermögen eines Ehegatten das Anfangsvermögen übersteigt."

§1374 ff BGB enthalten weitere Vorschriften der Handhabung, aber sie betreffen die Auflösung der Ehe und nicht die eheliche Gemeinschaft.

Scheidung

Das Scheidungsrecht sieht seit 1977 vor, daß, wenn ein Partner es so will, nach drei Jahren geschieden wird. Der Selbstbehalt schütz den verdienenden Mann vor der Sozialhilfe. Die Frau ist mit ihren Kindern auf Unterhalt oder Sozialhilfe angewiesen. Zum Thema Scheidung gibt es eine äußerst unattraktive Variante für eine häuslich erziehende Person. Das Scheidungsrecht kennt eine Anrechnungs- und eine Differenzmethode für die Unterhaltsberechnung. Würde es ein Gehalt für Familienarbeit geben, wäre die häuslich erziehende Frau der erwerbstätigen Frau gleichgestellt und die Differenzmethode käme zur Anwendung. Sie geht so vor, daß die beiden Nettoeinkommen der Eheleute verglichen werden; von der Differenz erhält die Frau eine Quote von 3/7. Heute trifft die häuslich erziehende Frau, die wegen der kleinen Kinder nicht erwerbstätig sein will, die Anrechnungsmethode. D.h., wenn die Frau mit kleinen Kindern nicht genügend Unterhalt vom geschiedenen Mann bekommt und sich mit z.B. Nachtarbeit Geld hinzuverdient, wird dieses Geld mit dem Unterhalt verrechnet. Sie arbeitet bei der Anrechnungsmethode (oder Abzugsmethode) für den Mann, aber nicht, um ihre mißliche finanzielle Situation zu verbessern.

Wenn ich dann noch an Minister Seehofer denke, Stichwort: "Arbeit statt Sozialhilfe", dann kommt noch mehr Unattraktives auf die häuslich Erziehenden zu, weil Blätter im Park harken seiner Meinung nach Arbeit ist, aber Kindererziehung keine Arbeit. Aus dem Grund werden die Alleinerziehenden im Referentenentwurf zur Sozialhilfe nicht ausdrücklich ausgenommen. Strafe droht, d.h. 25% Verlust, wer Arbeit ablehnt! Die Unzumutbarkeitsregelung kann zwar greifen, doch Willkür und Gnade begleitet sie vor Ort.

Die gerechte Lösung!

Gesetze sind Rahmenbedingungen für unsere Lebenssituation. Eine neue Regelung des gesetzlichen Güterstandes muß beiden Ehepartnern vom Zeitpunkt der Eheschließung an gleichberechtigte Verfügungsbefugnis über das während der Ehe erworbene Einkommen und Vermögen der Ehepartner geben.

Das ist die Forderung der deutschen Hausfrauengewerkschaft. Die höchste deutsche Richterin, Prof. Jutta Limbach, Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, hielt zum hundertsten Geburtstag des "Deutschen Frauenrates" eine Rede über den Feminismus. Sie stellte die konkrete Frage, Zitat: "Welche der gegenwärtigen Forderungen von Frauen verdient das Prädikat ‚feministisch'? Die der Hausfrauengewerkschaft, den Familienfrauen die direkte Verfügung über das Familien-, also das Manneseinkommen, einzuräumen? Oder aber der Appell: Den Männern die Hälfte der Familie - den Frauen die Hälfte der Welt?" Sie sagte dann weiterhin, Zitat: "Als am Ende des vorigen Jahrhunderts im Deutschen Reichstag über das die Frauen bevormundende Familienrecht des BGB "mit einer das übliche Maß übersteigenden Heiterkeit" verhandelt wurde, gab es nicht eine weibliche Abgeordnete, die den Ernst des Themas hätte anmahnen können." BGB eine Lachnummer?

Bündnis für Arbeit

Mein Fazit: Ehe lohnt sich für Mann und Frau ohne Kinder. Sie loht sich für Mann und Frau, wenn Personal die Erziehung und Betreuung der Kinder übernimmt, weil Geld da ist. Die Ehe lohnt sich nicht, wenn das Ehepaar die Kinder selbst betreuen und erziehen möchte. Vereinbarkeit von Beruf und Familie gibt es nicht. Die Wirtschaft denkt nicht im Traum daran, den häuslich Erziehenden entgegenzukommen. Sie führt nicht den notwendigen "Fünf-Stunden-Tag für alle" bei gleitender Arbeitszeit ein. Seit 1970 kenne ich diese Forderung. Wir haben ca. vier Mio. Arbeitslose. Wir haben aber auch ca. zwölf Mio. Frauen im erwerbsfähigen Alter, die nicht erwerbstätig sein können, weil sie Kinder erziehen oder Kinder erzogen haben. Diese Frauen müßten auch einen Erwerbsarbeitsplatz bekommen. Wo denn, bitte? "Bündnis für Arbeit" wunderbar, aber der Bereich Familienarbeit muß mit berücksichtigt werden bei den derzeitigen Überlegungen und Neuordnungen!

In: Rundschau der Deutschen Hausfrauengewerkschaft e.V., Ausgabe 1/1996, Januar-März

Eherecht und Steuerklasse V passen wie die Faust aufs Auge!

Die dhg fordert, daß eine gleichberechtigte Verfügungsbefugnis über das während der Ehe erworbene Einkommen Gesetz werden muß. Nachfolgende Ausführung begründet unter anderem diese Forderung.

Steuerklasse III/V

Das Existenzminimum, steuerlich Grundfreibetrag genannt, ist ab 1996 auf DM 12 095,- festgesetzt worden. Dafür wurde der Eingangssteuersatz auf 25,9% erhöht. Bedingt durch die Kinderziehung nehmen viele Frauen eine Teilzeittätigkeit auf und wählen die Steuerklasse V, damit ihr Ehemann die Steuerklasse III behalten kann. Diese Steuerklassenkombination III/V führt zu einem geringeren monatlichen Lohsteuerabzug für beide Ehepartner - gemeinsam gesehen. In der Steuerklasse V gibt es kein Existenzminimum. Das Existenzminimum der Frau hat der Mann innerhalb der Steuerklasse III. Für die Frau greift also sofort ohne Grundfreibetrag der Eingangssteuersatz von 25,9%. (Im vorigen Jahr noch 19%.) Die Frau trägt den monatlichen Steuerausgleich und hat damit ein wesentlich niedrigeres Nettoeinkommen. Somit schafft sie sich mit der Wahl der Steuerklasse V ein niedrigeres Erwerbsnettoeinkommen und verhilft dem Mann zu einem höheren Erwerbsnettoeinkommen. Laut Eherecht gehört den Ehepartnern das eigene Erwerbsgehalt jeweils alleine (siehe auch RS 1/96). Spöttisch gesagt, sorgt die Frau durch die Wahl der Steuerklasse V selbst dafür, daß sie einen höheren Anspruch auf Taschengeld vom Ehemann (laut Rechtsprechung 5% bis 10%) erhält, anstatt eines höheren eigenständigen Einkommens.

Steuerklasse IV

Die Wahl der Steuerklasse IV wäre die logische Folge, um dem gesetzlichen Güterstand der sogenannten Zugewinngemeinschaft im Eherecht zu entsprechen. In Wahrheit handelt es sich bei der Zugewinngemeinschaft um eine Gütertrennung während der Ehe. Sind die Verdienste aber sehr unterschiedlich hoch, dann könnten die erhöhten Steuerzahlungen als "Sparstrumpf" angesehen werden. Über die Einkommensteuerveranlagung oder den Lohnsteuerjahresausgleich werden die überhöhten Zahlungen vom Finanzamt zurückerstattet. Der einzige Haken hierbei ist, daß die Rückzahlung zinslos erfolgt. Eine Änderung muß hier angestrebt werden.

Wer sich für die Steuerklasse IV entscheidet, muß beide Steuerkarten dem Einwohnermeldeamt vorlegen. Die Einwilligung des Ehepartners ist Voraussetzung, sonst geht das nicht. Die Wahl der getrennten Veranlagung (Steuerklasse I) geht ohne Einwilligung des Ehepartner, aber ab dann hängt sicher der Haussegen schief.

Wie es die Bundesregierung sieht

Im Auftrag von Bundesministerin Nolte läßt Frau Dr. Thielenhaus der dhg laut Schreiben vom 14.12.1995 mitteilen:

"... Die klassische ‚Hausfrauenehe' scheint nicht länger den Lebensvorstellungen der meisten Paare zu entsprechen. Dem trägt auch das Bürgerliche Gesetzbuch Rechnung, indem es beiden Ehegatten (gnädigerweise seit 1977!, Anmerk. der Autorin) das Recht zuspricht, erwerbstätig zu sein (§ 1356 Abs 2 BGB). ... Von den verheirateten Frauen sind knapp 60% voll- oder teilzeiterwerbstätig. ... Wie bereits in einem Schreiben an Ihren Bundesverband vom 28.07.1995 dargelegt, sieht die Bundesregierung keine Notwendigkeit zur Änderung des gesetzlichen Güterstandes."

Frau Dr. Thielenhaus sagt uns nicht, wie viele von den 60% Frauen teilzeiterwerbstätig sind. Bedingt durch die Kindererziehung ist das sicher ein großer Teil der Frauen, die dann auch Steuerklasse V wählen. Sie sitzen damit in der Zwickmühle zwischen Eherecht und Steuerrecht.

In: Rundschau der Deutschen Hausfrauengewerkschaft e.V., Ausgabe 3/1996, Juli-September

Gibt es im Jahr 2000 eine neue Chance?

Eigenständige soziale Alterssicherung für Frauen

Die Rentenreform 1984 wurde im Parlament in skandalöser Weise entschieden. Trotz langer Vorbereitung, knapp 10 Jahre Vorlauf, fiel die Entscheidung überwiegend zu Lasten von Frauen aus.

Verfassungsbeschwerden

Die Ordnungsprinzipien des Rentenrechts sind "Beitragsgerechtigkeit" und "sozialer Ausgleich". Die Versichertenrenten, die auf Beiträgen beruhen, haben Lohnersatzfunktion.

Die Hinterbliebenenrenten, die aus Gründen des sozialen Ausgleichs bewilligt wurden, haben Unterhaltsersatzfunktion. Anlass für die Rentenreform 1984 waren verschiedene Verfassungsbeschwerden von Witwen und Witwern. Frauen wie auch Männer fühlten sich bei einzelnen Regelungen im Rentenrecht benachteiligt. Dabei beriefen sich alle auf das Verfassungsgebot der Gleichbehandlung von Mann und Frau.

Eine Witwe klagte, weil ihr nach dem Tod ihres Mannes, obwohl sie keine eigenen Rentenansprüche hatte, nur 60% seiner Rente zugebilligt wurde. Im Gegensatz dazu wurde einem Witwer nach dem Tod der Ehefrau seine eigene Rente zu 100% weitergewährt. Ein Witwer klagte, weil ihm normalerweise zusätzlich zu seiner eigenen Rente kein Anspruch auf einen Teil der Rente seiner erwerbstätig gewesenen Ehefrau nach ihrem Tod zustand, es sei denn, er wurde von seiner Ehefrau überwiegend unterhalten.

Aufgrund dieser Beschwerden hatte das Bundesverfassungsgericht im März 1975 der Bundesregierung aufgegeben, bis Ende 1984 die Gleichbehandlung von Mann und Frau in der Hinterbliebenenversorgung zu verwirklichen.

Die Arbeit der Kommission

Um Vorschläge für die Neuordnung der sozialen Sicherung der Frau und der Hinterbliebenen zu erarbeiten, wurde auf Beschluss der damaligen Bundesregierung eine Sachverständigenkommission vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung im Oktober 1977 berufen, die aus 17 Mitgliedern bestand, darunter sieben Frauen. Der Abbau von sozialen Ungerechtigkeiten gegenüber Frauen stand im Auftrag. Die Kommission gab ihr Gutachten im Mai 1979 ab. Sie diskutierte vier Modelle der Neuordnung. Schließlich konzentrierte sie sich auf das "Teilhabemodell 2 Variante 1".

"Teilhabemodell 2 Variante 1"

Es sieht so aus: Solange beide Ehegatten leben, behalten sie ihre durch Beiträge erworbene eigene Rente. Wenn einer von beiden stirbt, wird die Rente des Witwers oder der Witwe neu berechnet. Grundlage dafür sind zunächst die eigenen, außerhalb der Ehe erworbenen Rentenansprüche, die unverändert für die betroffene Person erhalten bleiben. Analog zum neuen Eherecht seit 1977 (Versorgungsausgleich) sollen dann die Rentenansprüche, die beide Partner während der Ehe erworben haben, zu einer "Gesamtversorgung" zusammengezählt werden. In diese sollen auch Ansprüche eingehen, die sich ein Partner durch die Erziehung der Kinder erwirbt. Erziehungszeiten bedeuten Rente dann aus eigenem Recht, wie der Versorgungsausgleich. Die Anrechnung von Erziehungszeiten sollte sich damals bis zum vollendeten 3. Lebensjahr des Kindes erstrecken, obwohl die Forderung bis zum vollendeten 6. Lebensjahr des Kindes bereits im Gespräch war. Diese Erziehungszeit sollte einheitlich mit einem Prozentsatz des Durchschnittsentgelts aller Versicherten von 100% bewertet werden. Aus dieser so errechneten Gesamtversorgung sollten die hinterbliebenen Ehegatten 75 (alternativ 70) Prozent der Rentenansprüche erhalten, die zu den eigenen außerhalb der Ehe erworbenen hinzugezählt werden.

Diese Regelung entspricht dem Gleichheitsgrundsatz, und durch die Anrechnung von Erziehungszeiten sollte der spezifische Beitrag aller Eltern zu Generationenvertrag endlich honoriert werden. Ansprüche werden danach nur gerechter verteilt. Abstriche gibt es dort, wo die Ansprüche ohne entsprechende Eigenleistung unangemessen günstig sind, vor allem bei sogenannten Versorgungsehen, den wirtschaftlich gut gestellten kinderlosen Einverdienerehen. Die Kommission war sich einig.

Männermodell "Garantierente"

Und nun meldeten sich drei Mitglieder der Kommission Ende Februar 1979, also nur knapp drei Monate vor Abgabe des Gutachtens, nachdem es nach eingehender Diskussion seit Oktober 1977 bis Februar 1979 zu einer Einigung gekommen war und präsentierten einen neuen Vorschlag, der die Frauen in der Kommission sehr erbitterte. Der Vorschlag der drei Männer stützte sich auf die Eigentumsgarantie von Artikel 14 Grundgesetz und sie forderten die "Garantierente".

Dieser Vorschlag sah so aus: Für die Versorgung des überlebenden Ehepartners sollen die gesamten Rentenanwartschaften beider Eheleute zusammengelegt werden, nicht nur die während der Ehe erworbenen. Die Hinterbliebenenrente soll 70 (65)% dieser gesamten Rentenanwartschaften betragen, mindestens aber soll die Rente aus den eigenen Anwartschaften garantiert werden. Kindererziehungszeiten waren nicht mehr Thema.

Die Kommission verzichtete auf eine Kampfabstimmung und überließ die Entscheidung der Politik. Seitdem, wenn vom Teilhabemodell geredet wird, meinen die Politiker und Politikerinnen das Männermodell "Garantierente", das eigentlich ja gar keine Teilhabe ist, sondern nur eine Hinterbliebenenrente unter Anrechnung eigener Ansprüche.

Kosten

Die damalige Kostenschätzung für das Männermodell, Teilhabemodell "Garantierente - 70% der Gesamtversorgung insgesamt und "Garantie" der selbsterworbenen Ansprüche - ergaben auf Dauer Mehraufwendungen zwischen rund einer bis drei Milliarden DM jährlich.

Das ursprüngliche Modell, "Teilhaberente Modell 2 Variante 1" - 75% der Gesamtversorgung aus der Ehezeit zuzüglich vollem Rentenanspruch aus Zeiten außerhalb der Ehe hätte vier bis sechs Milliarden Minderausgaben ergeben und damit Finanzierungsspielraum für die Anrechnung von Erziehungszeiten für alle Mütter, auch für die heute bereits Rente beziehenden Mütter.

Das ursprüngliche Modell sah eine Übergangsregelung von 25 Jahren vor. Heute hätten wir davon schon 14 Jahre überwunden.

Wie hatte das Parlament beschlossen?

Das Gutachten der Sachverständigen interessierte die Politiker und Politikerinnen nicht, sie fanden eine eigene Entscheidung, die zu Lasten der erwerbstätigen Frauen ging und zu Gunsten der erwerbstätigen Männer. Ein 80jähriger Mann kann seine Rentenansprüche einer 24jährigen Frau übertragen nach dem Motto: "Wie soll sonst noch ein alter Mann eine Frau bekommen?"

Die Anerkennung der Erziehungsleistung mit einem Jahr trug zur Bewusstseinsbildung bei, dass Familienarbeit auch Arbeit ist, wirkt sich aber finanziell als Rente lächerlich gering aus.

Geltendes Recht

Seit 1986 sieht das geltende Recht so aus, dass es eine Hinterbliebenenrente mit Freibetrag für Mann und Frau gibt. Dieser Freibetrag ist dynamisch. 1986 begann der Freibetrag mit DM 900, heute liegt er bei DM 1.274.

Ein Jahr Erziehungszeit gibt es seit 1986. Für Geburten ab 1992 gibt es Ansprüche auf drei Jahre Erziehungszeit je Kind, die aber erst etwa ab 2025 in Form von Rente wirksam werden.

Skandal

Die Politiker und Politikerinnen haben sich der Witwer angenommen. Diese bekommen seit 1986 weiter ihre eigenen Renten zu 100% und 60% der Rente ihrer verstorbenen Frauen dazu. Übersteigt ihre eigene Rente den jeweils gültigen Freibetrag, wird der übersteigende Betrag mit 40% ausgerechnet und von der Witwerrente abgezogen.

Das heißt also, die Verfassungsbeschwerde der Witwer hat sich gelohnt. Für sie wurde eine Verbesserung vorgenommen, obwohl sie überwiegend eine lückenlose Erwerbsrentenbiografie vorzuweisen haben. Männer machen auch heute noch keine durch Kindererziehung bedingte Erwerbsarbeits"pause" und auch keine Teilzeiterwerbsarbeit.

Die Politikerinnen und Politiker haben für die Witwen, die bis 1986 ihre eigene Rente aus eigener Erwerbstätigkeit erhielten und 60% der Rente ihres verstorbenen Mannes dazu, eine Verschlechterung vorgenommen, indem sie die 40%-Anrechnung auch für die Witwen eingeführt haben. Das heißt, diese Rentenreform ging zu Lasten der erwerbstätigen Frauen und der Frauen, die Kinder erziehen, zumal die durchschnittliche Höhe der Altersrente für Frauen, unter anderem bedingt durch die Kindererziehung, etwa die Hälfte der Rente der Männer ausmacht.

1986 wurde lediglich eine Rente für Kindererziehung eingeführt, die erst ab 1.7.2000 auf der Basis von 100% des Durchschnittseinkommens aller Rentenversicherten liegen wird. Ab 1.7.1999 beläuft sich der Wert der Rente für Kindererziehung für ein Kind auf DM 43,44 im Westen und DM 37,79 im Osten.

Die neue Chance im Jahr 2000

Die Teilhaberente "Modell 2 Variante 1", also das ursprüngliche Modell der damaligen Rentenkommission, auf das sich die Mehrheit der Kommission geeinigt hatte, ist die Chance 2000. Die heutige Regierungskoalition hat die Macht, dieses Modell Gesetz werden zu lassen. Aus heutiger Sicht ist klar, dass sechs Jahre Anerkennung von Erziehungsarbeit mit eingebaut werden müssen. Diese sechs Jahre sind dann für alle Mütter, auch für diejenigen, die heute bereits in Rente sind, finanzierbar.

Die neue Chance im Jahr 2000 ist auch ein Gehalt für Familienarbeit, wie es die dhg fordert, in Höhe des Durchschnittsverdienstes aller Rentenversicherten schon ab dem ersten Kind, aber mindestens, bis das jüngste Kind sechs Jahre alt ist. Die Familienarbeit darf delegiert, das Gehalt also weitergegeben werden. Mit diesem sozialversicherungspflichtigen Gehalt für Familienarbeit entsteht eine Rente für Kindererziehung, die den Versichertenrenten entspricht, die auf Beiträgen beruhen und Lohnersatzfunktion darstellen.

Das Gehalt für Familienarbeit beseitigt mehrere Ungerechtigkeiten. Es ermöglicht die eigenständige finanzielle und soziale Sicherung bei Familienarbeit und trägt unter anderem zur Steuergerechtigkeit bei.

Es muss darüber nachgedacht werden, wie Personen, die keine Kinder großziehen, an der Finanzierung beteiligt werden können.

In: Rundschau des Verbands der Familienfrauen und -männer e.V., Ausgabe 2/2000). Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag bei der Jahresmitgliederversammlung der dhg von NRW am 18.03.2000.

Nachruf auf Heidede Morgenbrod: Ein großer Verlust

Heidede Morgenbrod ist von uns gegangen. Sie starb im Alter von 68 Jahren. Ihre Erkrankung war so kurz und heftig, daß man wohl sagen kann: Mitten aus dem Leben gerissen. Auf der Rückfahrt von der Gesamtvorstandssitzung in Altleiningen im März diesen Jahres äußerte sie die Absicht, den Landesvorsitz in NRW, den sie seit 1990 innehatte, in jüngere Hände zu geben. Ich war verblüfft, weil wir nie zuvor davon gesprochen hatten. Mit großer Zielstrebigkeit (und Vorahnung?) führte sie Telefongespräche, und so konnten wir im Mai in Düsseldorf einen neuen Landesvorstand wählen. Am 9. Juni mußte sie ins Krankenhaus, das sie nicht mehr verlassen sollte.

Wie kann ich ihr Leben und ihre Leistung würdigen? Am besten gebe ich etwas von dem weiter, was sie mir erzählt hat. Nie hat sie die Flucht aus Ostpreußen vergessen können, vor allem nicht die nächtlichen Schreie von vergewaltigten Frauen im Sommer in dem Notquartier in Mecklenburg. Dieses Trauma war die eine Wurzel ihres frauenpolitischen Engagements.

Eine andere Wurzel liegt in ihrer Erfahrung, daß eine Frau ihre finanzielle Eigenständigkeit durch ein Kind verliert und dass Kinderbetreuung durch Freunde nicht so leicht zu haben ist und auch nicht unbedingt gewünscht wird. Als ihre erste Ehe Mitte der 60er Jahre scheiterte und sie in ihrem erlernten Beruf als Buchhalterin mit halber Stelle arbeiten wollte, erwies sich die Betreuung des jüngeren Sohnes als unüberwindliches Hindernis. Die Kindergärtnerin des älteren Sohnes räumte ihr - außerhalb der Legalität - die Möglichkeit ein, den Kleineren ohne Anmeldung im Kindergarten "mitlaufen" zu lassen. Daß sie als Preußin/Ostpreußin gezwungen war, etwas "Gesetzwidriges" zu tun und daß sie eine andere Frau, die Kindergärtnerin, veranlassen mußte, ebenfalls etwas "Gesetzwidriges" zu tun, hat sie zutiefst verstört und aufgebracht und nach anderen Lösungen suchen lassen. Sie dachte an etwas, das wir heute "Gehalt für Familienarbeit" nennen. Später heiratete sie wieder. Ihr Mann hatte zwei Kinder, und sie hatte zwei, und sie machte die ganze Familienarbeit für den großen Haushalt. Im Jahr 1979 kam eine Halbtagsstelle als Buchhalterin dazu.

Anfang der 70er Jahre gehörte sie zu den Frauen, die im Düsseldorfer actionsring frau und welt den "Gesellschaftspolitischen Arbeitskreis" gründeten. Nach dem Wahlsieg der SPD bei der Bundestagswahl am 5. Oktober 1972 (mit der darauf folgenden Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler) gehörte sie zu den Gründungsmitgliedern der Initiative 6. Oktober, die die Regierungspartei "am Tag nach der Wahl" mit den Forderungen der Frauenbewegung konfrontierte.

Von 1979 bis 1989 war sie Mitbegründerin und aktive Mitarbeiterin im autonomen Frauenprojekt "Frauen-Bücher-Zimmer" in Düsseldorf (Frauenbuchladen, Kulturbetrieb und "ständige Informationsbörse" verbunden mit gesellschaftspolitischer Arbeit). Für diesen eingetragenen Verein machte sie die Buchhaltung und sorgte dafür, dass er gemeinnützig war.

Im Rahmen ihrer gesellschaftspolitischen Arbeit hatte sie schon vor 1979 brieflichen Kontakt zu Dr. Gerhild Heuer, die später die dhg gründete. Für Heidede Morgenbrod war offensichtlich, daß bei der Frauenbewegung der 70er Jahre die "Familienarbeiterin" überhaupt nicht im Blickfeld lag. Daher galt ihre besondere Liebe seit 1979 der dhg. Daß es in Düsseldorf bald eine aktive Ortsgruppe gab, ist ihrem Impuls und ihrer Anregung zu verdanken. Auf jeder Messe, auf jeder Ausstellung, fast auf jedem Kirchentag übernahm sie "Schichten".

Im Jahr 1991 verunglückte sie schwer bei der Einrichtung des dhg-Standes bei der Messe "Aktiv leben". Sie stürzte und hatte wegen eines komplizierten Bruches einen langen Klinikaufenthalt. Im Jahr 1995 übernahm sie zu allen übrigen Verpflichtungen die Buchhaltung mit großer Umsicht und Gewissenhaftigkeit. Sie schaffte es mit ihren Vorschlägen zur Satzungsänderung, dass die dhg gemeinnützig wurde. Der Namensänderung von der geliebten dhg-Hausfrauengewerkschaft zu dhg-Verband der Familienfrauen und -männer stand sie reserviert gegenüber. Aber Heidede war zutiefst demokratisch, und sie trug die Mehrheitsentscheidung mit.

Was mich an ihr fasziniert hat: ihre Fähigkeit, "Atmosphäre" zu fühlen und atmosphärische Veränderungen zu registrieren und darauf zu reagieren. Irgendwann erfuhr ich, daß sie als junges Mädchen gern und viel Schach gespielt hat. Da wurde mir klar, daß ihre Art zu denken die einer Schachspielerin war; sie spielte strategisch einschließlich der Rösselsprünge, und ihre Intuition hatte sie wohl mit einer 360-Grad-Antenne begabt.

Der evangelische Pastor in Korbach, der sie nie gekannt hat und der sich auf die Angaben der Familie und der Freundinnen stützte, zitierte aus Heidedes Selbstdarstellung (dhg-Rundschau 2/94): "[...] ich lebte im Dauerzorn über die bisher geschaffenen Strukturen und immer wieder dreisten Veränderungen zu Lasten von Frauen." Er hatte als Vers für die Trauerrede bei der Beerdigung den Spruch gewählt:

Lebt als Kinder des Lichts.
Die Frucht des Lichts ist
Gerechtigkeit, Güte und Wahrheit.

Alle Flaggen standen am 13. August auf Halbmast. Es war zur Erinnerung an "40 Jahre Mauerbau", aber es paßte auch zur Beerdigung der (frauen-)politisch denkenden und handelnden Heidede Morgenbrod. Für sie war die Gerechtigkeit für Mütter Herzenssache.
Wir wollen unsere dhg-Arbeit in ihrem Sinne fortsetzen.

Monika Bunte (Düsseldorf)

Gedenkworte von Professor Dr. Joseph A. Kruse, Berlin

vorm. Direktor des Heine-Instituts Düsseldorf, im August 2014

Von großer Zuverlässigkeit in einer nicht eben mit allzu sicheren Versorgungsstellen ausgestatteten Editionsphilologie kündete die Lebensweise von Marianne Tilch im Rahmen ihrer Tätigkeit innerhalb der Heine-Ausgabe, als deren gewissermaßen dem noch so unleserlichen Buchstaben verpflichtete Sachwalterin ich sie kennenlernte. Mit ihrer besonderen Funktion wie Wertschätzung trieb sie freilich keinerlei kapriziösen Aufwand. So geradeaus ruhig und unkompliziert erschien sie mir damals, der ich ihr gewissermaßen „dienstlicher“ Nachbar im Heine-Institut war und ihr zunächst zwar regelmäßig, aber nicht andauernd begegnete.

Ihrem auf Zeit angelegtem editorischen Erscheinungsbild samt seiner überzeugenden Art und Weise war allerdings in der unaufgeregten Ruhe durchaus auch die Sicherheit einer pragmatischen Zukunft beigemischt. Sie hatte einerseits im Unterschied zu vielen anderen akademischen Kräften bereits ein Berufsleben als Buchhändlerin hinter sich und wusste darüber hinaus, dass ihr nach getanem erstem, perfekt ausgeführtem Streich in der Düsseldorfer Ausgabe eine Anbindung an das Heine-Institut offenstand. Das war ihr als Laufbahn mit zu ihr passenden Pflichten wie eine Hülle aus Begabung und Zufriedenheit mehr als ausreichend. Jegliche akademische Attitüde oder auf Publikationen sich kaprizierende Verhaltensweise lehnte sie ab.

Das heißt mit anderen Worten und in ihrem speziellen Fall: Man muss den Gegenstand, an dem man arbeitet, nicht nur irgendwie mögen und beherrschen, nein, man muss ihn ganz um seinetwillen geradezu lieben, dabei aber sein praktisches Augenmaß behalten. Sie bildete also für mich als anfänglichen Beobachter, der gleichzeitig ideell wie in den technischen Vorgaben an der Düsseldorfer Heine-Ausgabe beteiligt war, ein besonders verlässliches Exempel mit dem festen Bewusstsein, dass einfach Ordnung in das Ganze zu bringen sei, auch wenn es seine Zeit brauchen würde. Sie gab sich dieser Aufgabe, für die sie gewissermaßen den dienend notwendigsten Posten innehatte, aber gleichwohl eine ausgewogene Mitte bildete, mit Haut und Haaren hin. Besaß sie überhaupt ein Leben außerhalb ihrer ruhig-konsequenten Beschäftigung für den Apparat der Ausgabe? Durchaus. Aber all solche emotionale Anhänglichkeit war sozusagen integriert in die einmal übernommene Pflicht, für den Autor Heine das zu leisten, was in der Literaturwissenschaft für andere längst erledigt war.

Und integriert in das archivarische Leben des Heine-Instituts war sie von vornherein und allemal, also weit vor dem offiziellen Eintritt in ihr Amt als Nachfolgerin der Archivarin des Instituts. Ihr Austausch nämlich mit Inge Hermstrüwer, der ebenfalls unvergesslichen Mitarbeiterin, die dem Archiv des Heine-Instituts, zumal den Heine-Beständen, der Schumann-Sammlung und den Teilen vom Barock bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, einen so lebendigen Anteil in der historischen Landschaft der rheinisch-bergischen Region durch ihre Hilfsbereitschaft und beispielsweise museale Bemühungen bis in die weite Welt hinein zu verschaffen wusste, war gewissermaßen sprichwörtlich, will sagen: symbiotisch.

Mittags nahmen sie in regelmäßigen Abständen zusammen ihr Essen ein. Auch wenn es vielleicht länger dauern mochte, als die eigentliche Pause es erlaubt hätte: Beide Frauen waren sowieso über den Zeitrahmen hinaus für ihren Beruf unermüdlich im Einsatz. Und auch die gemeinsame Mittagspause gehörte zu ihren anregenden Pflichten. Auch Inge Hermstrüwer hatte anfangs, als ich sie, selber im Rahmen der Arbeitsstelle tätig, kennenlernte, für die Heine-Ausgabe gearbeitet, und zwar in der Gruppe der die zeitgenössische Zeitschriftenlandschaft durchackernden hilfreichen Geister. Sie kannte sich also im literarischen Betrieb des 19. Jahrhunderts aus. Danach hatte sie im Rahmen des Bestandes des neu sich konstituierenden Heine-Instituts zumal das Heine-Archiv und dessen direkte Umgebung übernommen und sich zur verantwortungsvollen Begleiterin der frühen Anfänge entwickelt. Sie gehörte zu meinen Stützen von Beginn an.

Als die Heine-Ausgabe an ihr Ende gelangte, kam Marianne Tilch für einige Zeit der Eingewöhnung zu ihrer treuen Gefährtin, die dann ihrerseits bald aus Altersgründen ausschied, in das Heine-Archiv selbst. Der Abschiedsschmerz vom gewohnten Umfeld war für die alte Archivarin nur schwer zu verkraften. Die neue Arbeitsnähe und der tägliche Austausch über die Personen wie Heine und Schumann an den nicht mehr als Benutzerin, sondern als Betreuerin zu bearbeitenden Handschriften und Objekten führte zwischen den beiden Freundinnen unmerklich zu kleinen Spannungen, die besonders dem völlig neutralen, wenn nicht distanzierten Standpunkt Marianne Tilchs, was die beiden Schumanns anging, entsprangen. In manchen Urteilen und Bemerkungen konnte Marianne Tilch nämlich besonders schroff erscheinen und somit ihre Vorgängerin und deren anteilnehmenden Mann brüskieren. Gerade in Archiven mag es manchmal zugehen wie im familiären Generationengefüge mit seinen sich wandelnden Ansichten.

Inge Hermstrüwer betreute zum Glück nach ihrem Abschied vom Institut noch eine Heine-Ausstellung in London, was angesichts ihrer geschwächten Gesundheit enorm viel Aufwand und Kraft bedeutete. Bei diesen Aufgaben stand Marianne Tilch ihr durchaus solidarisch und freundschaftlich zur Seite. Gerade ihre neue Archiv-Stellung mit zum Teil anderen Aufgaben, darunter die umsichtige Redaktion des „Heine-Jahrbuches“, verlieh dem Heine-Archiv nach und nach ein weniger emotionales, dafür gewissermaßen aufgeklärtes Gesicht. Was Inge Hermstrüwer vor allem mit dem Herzen gemacht hatte, leistete Marianne Tilch nunmehr vor allem mit dem Verstand oder sagen wir besser: vernünftig. Beide Annäherungen an das kulturelle Erbe haben, wenn sich nur die richtige Mitte zwischen den Kräften ergibt, ihre volle Berechtigung.

Auf Marianne Tilch konnte ich mich während unserer gesamten gemeinsamen dienstlichen Zeit verlassen wie auf einen ruhenden Pol oder Felsen in der Brandung. Sie begegnete mir als Leiter respektvoll, aber ohne jegliches rheinische Gedöns. Ich erfreute mich ihres Vertrauens und ihrer sachlichen Ratschläge. Nie verließ ein Manuskript von mir das Haus, bevor sie nicht einen Blick darauf geworfen und ihre Korrekturen angebracht hätte. Ihrem Urteil habe ich viel zu verdanken, ihre stille, aber bestimmte Art immer geschätzt. Wie sie ihre ganz spezielle tödliche Krankheit annahm, die übrigens vorher von ihrer Vorgängerin ebenfalls durchlitten worden war, ist bewundernswert. Ihre Kraft und Gelassenheit blieben ihr bis zuletzt.

Da wir uns nach dem Ende der Dienstzeit und durch meinen Wegzug nach Berlin trotz gemeinsamer Arbeitspläne nur noch selten sahen, warnte sie mich nach rechtzeitiger schriftlicher Aufkündigung ihrer Beschäftigung am gemeinsamen Projekt vor meinem möglichen Erschrecken beim nächsten Wiedersehen. Sie sei nur noch die Hälfte von früher. Sie nahm es hin und war tapfer, ja, sie stellte sich einfach mit Namen neu vor, damit ich mich an ihre körperliche Reduktion gewöhnen konnte. Wenige Tage vor ihrem Tod hatte ich noch einmal die Gelegenheit, mit ihr im Hospiz zu telefonieren. Ihre kräftige Stimme, ihre abgeklärte Bewusstheit klingen mir noch heute im Ohr. Wir nahmen voneinander Abschied ohne es so zu nennen: gefasst und fern jeglicher Sentimentalität. Die lag ihr tatsächlich immer fern.

Gedenkworte von Dr. Sabine Brenner-Wilczek

Direktorin des Heine-Instituts Düsseldorf, 23. Juni 2014

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Weggefährten, Freundinnen und Freunde von Frau Tilch,

es war uns – und damit spreche ich im Namen des gesamten Teams des Instituts – ein Anliegen, heute im Heinrich-Heine-Institut eine kleine Trauerfeier zu veranstalten. Und dass es auch Ihnen ein Anliegen war, sehe ich daran, wie zahlreich Sie der Einladung gefolgt sind.

Auch wenn dieser Nachmittag ganz der Erinnerung und dem gemeinsamen Austausch gewidmet ist, so möchte ich doch einige wenige Worte an Sie richten, bin mir aber auch sicher, dass die Kürze meiner Ansprache Frau Tilch sehr entsprochen hätte. Drei Eckpfeiler möchte ich in den Mittelpunkt der Rede stelle: Klugheit, Offenheit und Humor.

Klugheit

Frau Tilchs Fachwissen über „ihren Autor“ Heinrich Heine war – von der Düsseldorfer Heine-Ausgabe kommend und im Heine-Institut u.a. auch als Redakteurin des Heine-Jahrbuchs arbeitend – ein großer Anziehungspunkt, auch für die Kolleginnen und Kollegen. Für fachliche Gespräche und den Austausch stand ihre Tür stets offen und rasch war ein guter, starker Kaffee aufgesetzt.

Sie war nicht nur in Bezug auf die von ihr betreuten Bestände von Heine, Schumann oder der Düsseldorfer Malerschule eine Koryphäe, sondern trug ein nahezu enzyklopädisches Wissen in sich. So wurde oftmals und bei vielen Gelegenheiten aus dem Kolleginnen- und Kollegenkreis zuerst Frau Tilch befragt, so dass kein Nachschlagewerk mehr konsultiert werden musste. Diese faszinierenden Fertigkeiten rührten vielleicht auch von ihrer Vorliebe für Sachbücher, die sie neben Krimis besonders schätzte, wohingegen sie ausufernde und verstiegene Romane mit deutlicher Missbilligung strafte.

Offenheit

Danken möchte ich Frau Tilch für ihre Offenheit, Geradlinigkeit und Verschwiegenheit. Sie besaß die Fähigkeit des vertrauensvollen Zuhören-Könnens, wovon viele Gespräche innerhalb und außerhalb des Hauses zeugten.

Humor

Unvergesslich ist ihr treffsicherer Humor, der stets geistreich, niemals persönlich oder verletzend war, und der sich – ganz im Sinne Heinrich Heines – auf höchstem sprachlichem Niveau befand. Schließlich schätzte Frau Tilch Heines Humor und Sprachwitz.

Augenfällig und folgerichtig wäre es, jetzt meine kleine Ansprache mit einem Heine-Zitat zu beenden. Dies werde ich aber nicht tun, sondern mit einer persönlichen Erinnerung schließen. Frau Tilch hat mir – vor nunmehr über zehn Jahren – einen kleinen blauen Holzelefant kurz vor meiner Promotion geschenkt. Ihre Vorliebe, diese Tiere als kleine Figuren zu sammeln, wird vielen von Ihnen bekannt sein. Und so steht noch heute auf meiner Fensterbank ein kleiner blauer Elefant mit hocherhobenem Rüssel als Glückssymbol und wenn ich ihn sehe, denke ich sofort an Frau Tilch mit ihrer Klugheit, inneren Weisheit und ihrer Stärke.

Rede von Professor Manfred Windfuhr

Gehalten am 23. Juni 2014 im Heine-Institut Düsseldorf

Der Tod reißt schmerzliche Lücken, die man provisorisch mit Erinnerungen füllt, um damit fertig zu werden. Heine kannte sich gut aus mit der Erinnerung und widmete ihr viele Gedichte und Prosatexte. In den „Elementargeistern“ nannte er die Vergangenheit die „eigentliche Heimath“ der Seele (DHA IX, 52) und verstand sich auf die Merkmale der Mnemonik, der Lehre von der Erinnerung. Man ersieht es aus dem 10. Kapitel des „Schnabelewopski“ im Zusammenhang mit dem kleinen Simson (DHA V, 181). Mnemonik leitet sich ab von Mnemosyne, bei den Griechen die Muse der Erinnerung. Auch in diesem Punkt kann man von Heine lernen.

Marianne Tilch starb am 24. Mai 2014 im Alter von 71 Jahren. Als ich sie kennenlernte, war sie gerade 30 und begann als Späteinsteigerin ihr Studium hier am Düsseldorfer Seminar. Sie hatte schon Berufserfahrung, u. a. als Buchhändlerin, also praktischen Umgang mit Drucken. Bei mir lernte sie den Umgang mit Handschriften. Sie wurde Mitglied der textkritischen Arbeitsgruppe, die ich zur Vorbereitung der Düsseldorfer Heine-Ausgabe eingerichtet hatte, um auf der Grundlage von Heine-Handschriften und mit Hilfe des Heine-Index Heines Schreibweise näher zu bestimmen, die Eigenheiten seiner Orthographie, Interpunktion und seines Wortgebrauchs. Wir kamen zu dem Ergebnis, daß Heine entgegen der damaligen Annahme nicht willkürlich, sondern nach bestimmbaren Regeln verfuhr, Grundlage für das Prinzip der Restitutionen in der Ausgabe.

Marianne Tilchs eindeutige Qualifikation für dieses hochspezialisierte Arbeitsfeld war Anlaß, sie als Mitarbeiterin bei der DHA einzustellen. Wir haben 25 Jahre aufs engste im Bereich der Handschriftenanalyse, Lesartendarstellung und Textkritik zusammengearbeitet, neben der Kommentararbeit das philologische Zentrum einer historisch-kritischen Ausgabe. Ab 1986 betreute Marianne Tilch als Redakteurin die deutschsprachigen Teile von neun Einzelbänden, nämlich der Bände II – V, VII, IX, X, XIII und XIV. Beim letzten Band XVI, der 1997 erschien, fungierte sie als Bandbearbeiterin für die Nachträge und Korrekturen. Nach Abschluß der Ausgabe wechselte sie zum Heine-Institut in verwandten Funktionen als Archivarin, noch einmal gut zehn Jahre lang bis 2008.

Ich erinnere mich aus der Anfangszeit, daß ihr das Staatsexamen wie ein Pflasterstein auf der Seele lag. Mit Anfang 30 noch in eine Prüfung zu gehen, das paßte ihr gar nicht, das hielt sie für überflüssig, wo wir doch schon so eng zusammenarbeiteten. Was sollte da noch ein förmlicher Akt? Aber sie stellte sich der Nervenprobe und ich half ihr mit bei der Überwindung der Klippe.

Noch genauer erinnere ich mich natürlich an ihre fachlichen Qualitäten: Unbestechlichkeit, Nüchternheit und Scharfsinn. Ein Scharfsinn, aus winzigen Indizien produktive Schlüsse zu ziehen, eine ausgesprochen kriminalistische Begabung. Verbunden mit einem ständig wachsenden Detailwissen entwickelte sich hier eine Kollegin, der im Heinebereich nur ganz wenige das Wasser reichen konnten.

Aber ich hebe nicht allein ab auf die Quantität des Wissens, über Detailkenntnisse verfügen manche, sondern mehr noch auf Mariannes messerscharfes Urteilsvermögen. Um fachlich erstklassige Ergebnisse zu erzielen, braucht man auch ein hohes Maß an Vorurteilsfreiheit, gesundem Menschenverstand, kritischem Tiefenblick. Vorgefaßte Meinungen, theoretische Konstrukte sind eher hinderlich, den konkreten Einzelfall zu erfassen und zu lösen. Man braucht auch Selbstkritik, um sich zu korrigieren. Wir haben oft zusammen gesessen und Fehleranalysen vorgenommen, um Fehler nicht zum zweiten Mal zu machen.

Neben ihrer herausragenden Kompetenz als Heine-Expertin verfügte Marianne Tilch über persönliche Eigenschaften, von denen wir alle profitiert haben. Ich nenne ihre Arbeitskraft und ihre ungewöhnliche Hilfsbereitschaft, mit der sie ihr Wissen bereitwillig weitergab: beim Einarbeiten nachrückender Kolleginnen und Kollegen ins Handschriftenlesen, bei der Lösung kniffliger Detailfragen, bei Auskünften über die entlegensten Heine-Bezüge usw. Und es gab als besondere Eigenschaft ihren von vielen gepriesenen Humor. Eine Trauerarbeit sollte sich nicht auf die fachlichen Seiten einer Verstorbenen beschränken, sondern die Persönlichkeit insgesamt im Blick behalten. Vielleicht begegnen wir ihr noch direkter als bei den vorher umrissenen Eigenschaften bei den folgenden Kostproben ihres Humors.

Als erstes zitiere ich den ganz ungewöhnlichen Schluß ihres Nachworts zu Band XVI, wo sie nach dem Dank an viele Helfer noch an andere Helfer erinnert. Auf S. 833 schreibt sie:

„so möchte ich zum Schluß nur noch einen Dank besonderer Art abstatten. Er gilt einigen schnurrenden Geschöpfen, die uns über lange Jahre der Arbeit an der DHA begleiteten und durch ihre liebenswürdige Anwesenheit erfreuten: Luxus, Grappa, Lili, Lou und Larry.“

Der Dank an die fünf Katzen im Hof des Instituts ist gewiß eine nicht alltägliche Huldigung in einer anspruchsvollen, von vielen ehrwürdigen Institutionen geförderten Ausgabe. Die Katzen traten übrigens nicht alle gleichzeitig auf, sondern nacheinander, höchstens zu zweit.

Bei der zweiten Kostprobe handelt es sich um Nachbildungen im Heine-Stil, die von dem Heine-Freund und Heine-Fälscher Friedrich Steinmann stammen. Steinmann hatte bekanntlich nach Heines Tod in mehreren Publikationen unautorisierte Nachträge zu den Werken unseres Autors herausgegeben, in denen er dreist Originaltexte mit eigenen und fremden Nachbildungen vermischte. Nach heftiger öffentlicher Kritik blieb ein ursprünglich für den Verlag Binger in Amsterdam vorgesehener Teil ungedruckt und befindet sich heute in der Koninklijken Bibliotheek in Den Haag. Marianne Tilch schrieb über diesen spektakulären Vorgang 2004 einen instruktiven Aufsatz1 und schenkte mir zu meinem 70. Geburtstag einen hübschen Auszug aus diesen Steinmann-Falsifikationen. Ihr ironischer Titel lautete: „Lyrische Kostbarkeiten von Heinrich Heine“. Zur Illustration lese ich einige Beispiele daraus; das erste paßt gut zu den Katzen im Hof.

See-Katzenjammerlied
Kennt Ihr den Katzenjammer zu Land
Und den Katzenjammer zur See?
Vom Spiritus rührt der Eine her,
Der Zweite vom Wasser – o weh!
O weh, o weh, o weh!
Wer Einen genommen über’n Durst,
Und nimmer gegangen in See,
Der kennt wohl den Einen, den Andren nicht,
Den Katzenjammer zur See. O weh! usw
Erzvater Noah viel lieber trank
Ein Schöppchen als eine Tass’ Thee.
Bei der Sündfluth in seinem Kasten er schwamm
Hoch auf der stürmischen See. Juchheh!
Da litt der arme Erzvater gar sehr
Am Katzenjammer zur See,
Verwünschte das Wasser und sehnte sich
Nach dem Lande zurück – o weh!
Und als er vor Anker am Ararat lag,
Da war ihm nicht mehr so weh;
Da griff er durstig zum Gläschen und sprach:
Ich gehe nicht wieder zur See. Juchheh!
Erzvater Noah, du bist mein Mann!
Du trankst dir ’nen tüchtigen Zopf.
Ich mach’ es wie du, und faßt mich auch
Der Katzenjammer beim Schopf.
Der Katzenjammer zu Lande ist
Ein Jammer des Jammers – o weh!
Allein der Schrecken der Schrecken ist
Der Katzenjammer zur See.
O weh, o weh, o weh!

Ich
Lachen darf der Großmogul nicht,
Küssen nicht der Pabst,
Wein der Sultan trinken nicht:
Alles du, Himmel, mir gabst!
Pabst, Großmogul, Sultan ich
Mögte drum nicht sein:
Mich erfreu’n, so oft ich will,
Scherz und Kuß und Wein.

Noble Passion in Lappmarken
In Lappland’s eisigen Marken
Ist’s nasenkalt und graus.
Dort lebt allein der Lappe,
Das Rennthier und die Laus,
Der Lapp’ in schlechter Hütte,
Das Rennthier auf der Haid’,
Die Laus auf Lappenkopfe,
Behaglicher als Beid’.
Der Lappe lebt vom Renne,
Das Renn vom Moose gut,
Doch besser noch als Beide
Die Laus von Lappenblut.
Der Sonntag ist ein schlimmer
Tag für die arme Laus;
Dann zieht der Lapp’ zur noblen
Passion der Lausjagd aus.
Nicht hat der Lappen-Junker
Das Recht der Jagd und Hetz;
Ein Jeder frei darf knicken,
Ist gleich vor dem Gesetz.
Ihr uckermärkischen Granden,
Ihr Herren an Elb’ und Rhein,
Lappland’s Aristokraten
Laßt euch ein Beispiel sein!

Man könnte manches sagen zu dieser Mischung von Angelesenem und Holprigkeiten, eine gewisse burschikose Komik ist diesen Versuchen im Heine-Stil aber nicht abzusprechen.

Die letzten Proben stammen aus Tilchs und Kruses im Insel-Verlag erschienenen Bändchen „Heine für Boshafte“ (2008). Darin wird der geistreiche und oft ätzende Ton unseres verehrten Meisters nicht nur nachgebildet, sondern original in einer Blütenlese vorgestellt. Marianne war von Prüderie weit entfernt und hätte es gewiß nicht als Taktlosigkeit empfunden, wenn bei diesem Anlaß auch einige Krassheiten zur Sprache kommen. Ich zitiere nur Briefstellen und Prosanotizen.

Brief an Mutter Betty vom 4. Dezember 1847:

Meine Frau hat mir bereits mein Weihnachtsgeschenk gekauft (für ihr erspartes Geld) nemlich einen prächtigen Nachtstuhl, der wirklich so prächtig, daß sich die Göttinn Hammonia desselben nicht zu schämen brauchte. Ich vertausche ihn nicht gegen den Thron des Königs von Preußen. Ich sitze darauf ruhig und sicher und scheiße allen meinen Feinden was!(HSA XXII, 267)

An Gustav Kolb, 17. April 1849:

"Hier ist Alles still, denn wir haben, was wir wollen und sogar ein alter Bonapartist wie ich bin, mag allenfalls zufrieden gestellt seyn, wenn er vive Napoléon rufen hört! Dem Kommunismus geht es auch gut, obgleich er über schlechte Zeiten jammert. Wir haben alle kein Geld mehr und somit existirt de facto die communistische Gleichheit. Auch haben wir Weibergemeinschaft; nur die Ehemänner wissen es noch nicht." (HSA XXII, 309)

An Schwester Charlotte, 8. Mai 1824:

"Wann gedenkst Du niederzukommen? Siehst Du jetzt, wie gut es ist wenn man rechnen gelernt hat? Schone Dich nur, laufe nicht zuviel, nasche nichts während Deiner Schwangerschaft sonst wird Dein Kind ein Näscher, auch lese jetzt keine Verse, sonst wird das Kind das Du bekommst, ein Poet, – welches wohl ein großes Unglück genannt werden kann." (HSA XX, 158)

Zum Alexander Weill-Vorwort, 1847:

"Als ich Heine frug ob der Wihl ihn wirklich 200 Fr koste(te), antwortete er: Ja, aber es war nöthig zu seiner Abreise, und ich ward ihn los. Mit köstlicher Laune erzählte Heine die Mystifikazionen die er an dem armen Wihl ausgelassen, von dessen Narrenstreichen man hier noch viel erzählt und die alle aus der fixen Idee hervorgingen, daß er ein großer Dichter sey. Heine charakterisirte ihn sehr richtig mit den Worten: Wihl ist wahnsinnig, hat aber lichte Momente wo er bloß dumm ist. (DHA X, 309)

Aus den Prosanotizen:

Wenn das Laster so großartig, wird es minder empörend. Die Engländerinn beim Anblick eines ungeheuren Herkules, sie die sonst eine Scheu vor nackten Statuen, war hier weniger chockiert: „bei solchen Dimensionen scheint mir die Sache nicht mehr so unanständig. (DHA X, 325)

An Franz Liszt vom 12. Oktober 1836 über den Pianisten und Komponisten Kalkbrenner:

Kalkbrenner nemlich befindet sich wohl und gesund. Wir reisten jüngst mit einander auf einem Dampfboote die Seine hinauf, von Paris nach Corbeil; diese Reise dauert gewöhnlich fünf Stunden, wenn man aber mit Kalkbrenner fährt, fährt man von Paris nach Corbeil in zehn Stunden. Gegen diese Windstille des Geistes hilft keine Dampfmaschine. Wir sprachen von der Kunst im Allgemeinen und von der Musik ins Besondere. (HSA XXI, 164)

An den ominösen Friedrich Steinmann vom 4. Februar 1821:

Indessen ich kenne zu gut das Gemüth des Dichters, um nicht zu wissen, daß ein Poet sich weit eher die Nase abschneidet, als daß er seine Gedichte verbrennt. Letzteres ist nur ein stehender Ausdruck für Beiseitelegen. Nur eine Medea kann ihre Kinder umbringen. Und müssen nicht Geisteskinder uns viel theuerer sein als Leibeskinder, da letztere oft ohne sonderliche Mühe in einer einzigen Nacht gemacht werden, zu erstern aber ungeheure Anstrengung und viel Zeit angewendet wurde? (HSA XX, 37)

An August Lewald vom 15. Januar 1837:

Ihrem Style muß ich die höchsten Lobsprüche zollen. Ich bin kompetent in der Beurtheilung des Styls. Nur bei Leibe vernachläßigen Sie sich nicht und studiren Sie immer fort die Sprachwendungen und Wortbildungen von Lessing, Luther, Göthe, Varnhagen und H. Heine; Gott erhalte diesen letzten Classiker! – (HSA XXI, 177 f.)

Manchmal weiß man nicht, welchen Gefühlen eine Träne geschuldet ist: der Trauer oder der Freude, hier dem Vergnügen an der witzigen Überraschung und perfekten Pointe. Auch durch diese ausgewählten Proben dringt etwas von der unverwechselbaren Eigenart der Anthologistin hindurch.2

Diese Züge zu einem Marianne-Tilch-Porträt mögen genügen, damit wir sie im Gedächtnis behalten. Wir sind es ihr schuldig; wir werden sie nicht vergessen.

Anmerkungen

  1. Vgl. Marianne Tilch: „Impertinenz und Unverschämtheit“, „Zudringlichkeit und freche Stirn“. Friedrich Steinmanns Heine-Fälschungen – In: „… und die Welt ist so lieblich verworren“. Heinrich Heines dialektisches Denken. Festschrift für Joseph A. Kruse. Hrsg. Von Bernd Kortländer und Sikander Singh. Bielefeld 2004, S. 477-490.
  2. Ein schöner Beleg für Belesenheit und Texterschließung ist auch der stattliche Düsseldorf-Band, den Marianne Tilch zusammen mit Beatrix Müller herausgegeben hat. Darin wird die Stadt am Niederrhein durch Berichte von Bewohnern und Besuchern vom Barock bis zur Gegenwart farbig aufgeschlossen, meist von Künstlern aller Sparten. Das Vorspiel bildet ein fiktives Interview von Italo Calvino mit einem Neandertaler, bei dem im Kommentar nur Angaben darüber vermißt werden, „wann, wo und vor allem in welcher Sprache es geführt wurde“ (Düsseldorf. Texte und Bilder aus vier Jahrhunderten. Stuttgart 1991, S. 13).