Rheinischer Kulturjournalismus
Yvonne Friedrichs Textforum
Yvonne Friedrichs Selbstverständnis
Verstehen statt Aburteilen. Yvonne Friedrichs sprach über „Kunstkritik heute“
Zum 50. Teenachmittag der Gesellschaft für christliche Kultur konnte der Erste Vorsitzende J. H. Sommer zahlreiche Gäste im Zweibrücker Hof begrüßen. Das besondere Interesse der Versammelten galt nicht so sehr der Feier der goldenen Fünfzig, als dem Vortrag der Journalistin und Kunstkritikerin Yvonne Friedrichs über das Thema „Kunstkritik heute“. Die Anteilnahme, die diesem Thema entgegengebracht wurde, läßt darauf schließen, daß viele Menschen, die der Kunst der Gegenwart sehr aufgeschlossen sind, doch vor der Schwierigkeit stehen, sie zu beurteilen, abzuwägen und Qualitätsunterschiede festzustellen.
Yvonne Friedrichs ging aus von der Überlegung, daß das echte Kunstwerk sich jeder rationalen Erklärung entzieht, daß folglich die Kritik sich auf Theorien weder stützen kann noch darf. Kunsttheorien wirken nach ihrer Meinung hemmend auf die Kunstkritik, legen ihr ein Korsett an und hindern ihre Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit. Damit wollte sie jedoch nicht sagen, daß der Kritiker nicht unbedingt über die ganze Kunstgeschichte unterrichtet sein müsse. Die umfassende Kenntnis der Kunst der Vergangenheit ist zwar die notwendige Basis für den Kritiker, aber entscheidender ist das Einfühlungsvermögen in das Werk des jeweiligen Künstlers, der Instinkt für das Originale, die Bereitschaft auf alles Neue zu reagieren, sich existentiell, mit der ganzen Person dem Kunstwerk hinzugeben. Yvonne Friedrichs verglich die erforderliche Vielseitigkeit des Kunstkritikers mit der des Schauspielers. Sie bestätigte auch, daß Kunstkritik immer subjektive Züge trug und trägt, lehnte aber jeden hemmungslosen Subjektivismus ab: „Dafür ist kein Platz mehr!“
Da die Kunstkritik von Anfang an soziale Funktionen gehabt hat, untersuchte die Referentin auch deren Aufgabe gegenüber dem heutigen Publikum. Sie kam zu dem Schluß, daß die Kunstkritik das Geistige in der Kunst aufzuspüren und zu vermitteln habe. Sie müsse die den meisten Menschen unverständlich gewordene Sprache der Kunst in eine dem Kunstwerk adäquate, aber dem Publikum wiederum verständliche Sprache übersetzen. Das sei nicht immer einfach, die bloße Information und Beschreibung, verbunden mit einer Schwarz-Weiß-Wertung, sei hier völlig verkehrt. „Die wortreiche Beschreibung trifft nicht das Wesen der Sache.“ Um die Erlebnisfähigkeit des Publikums zu erweitern und zu bereichern, bedürfe es der Interpretation, der individuellen Reaktion und der Reflexion des Kunstwerkes. Nur das nachschaffende Erleben könne dem Publikum das Kunstwerk näherbringen und – bei der Bewältigung dieser Aufgabe könne der Kritiker selbst zum Künstler werden. Das unterscheidet ihn auch vom gefürchteten Kritiker der Vergangenheit. „Aber“, sagte sie, „verstehen ist auch schwerer als aburteilen“, deshalb müsse der Kritiker heute mit unschuldigen Augen dem Kunstwerk begegnen, es in seiner Eigengesetzlichkeit erfahren und aufnehmen.
D. H. in: Rheinische Post, 15. März 1966.
Respekt aber keine Bewunderung
Ein Gespräch unserer Kunstkritikerin Yvonne Friedrichs mit Heinz Mack über Albrecht Dürer
„Zero“ und Dürer – lässt sich dafür ein gemeinsamer Nenner finden? Was bedeutet Dürer für einen „progressiven“ Künstler unserer Zeit? Völlig ungewiß über den Verlauf unseres Gespräches sitze ich Heinz Mack in der geräumigen Wohndiele seines jahrhundertealten Bauernhauses in Mönchengladbach gegenüber. Die Synthese von denkmalgeschütztem, mittelalterlichem Fachwerk und gleißenden Aluminiumrastern, Plexiglasstelen und Lichtrotoren scheint verheißungsvoll.
„Herr Mack, haben Sie ein Verhältnis zu Dürer?“
„Mit dieser Fragen werde ich zum erstenmal konfrontiert. Ich habe drei bis vier Schulaufsätze geschrieben. Als sehr kleiner Junge über die Dürerzeichnungen mit der Drahtziehermühle, als Abiturient über die Eisenätzung „Die große Kanone“, natürlich auch über „Ritter, Tod und Teufel“ – womit des Deutschen liebste Bildungsgüter genannt wären. Nach dem Beethovenjahr haben wir nun ein Dürerjahr. Ich halte das Werk Dürers nicht für geeignet, ein ganzes Jahr gefeiert zu werden.“
„Warum? Aus thematischen, formalen oder technischen Gründen?“
„Von der Sache her. Ich glaube kaum, daß es gelingt, Dürer so zu aktualisieren, daß sein Werk ein ganzes Jahr lang fasziniert. Hat man übrigens in Nürnberg, wo man jetzt so bemüht ist, die jüngste Vergangenheit der Parteitage mit Dürer zu übermalen, nicht daran gedacht, daß gerade Dürer wie kaum ein anderer von den Nationalsozialisten gefeiert wurde.“
„Das dürfte doch wohl eher ein typisches Beispiel dafür gewesen sein, wie Kunst in Richtung von Parteipolitik verzerrt wurde.“
„Dürer ist ein nationaler Genius. Er ist der Prototyp des deutschen Künstlers. Das hat seine guten und bösen Seiten. Übrigens: Die Stadt Nürnberg erteilte Dürer nie einen Auftrag. Ja, sie schuldete ihm sogar lange Zeit Geld, da sie sich weigerte, die von Kaiser Maximilian für Dürer ausgesetzte Leibrente auszuzahlen. Daß man jetzt den Großen Dürer-Preis der Stadt an HAP Grieshaber vergibt, ist bezeichnend für die provinzielle Mentalität, die die Aufmerksamkeit der Welt auf sich lenken will. Max Ernst wäre ein würdigerer Preisträger gewesen. Dürers Kupferstich der ‚Bekehrung Pauli’, die ‚Melancholie’ und ganz besonders die Holzschnittfolge ‚Die Unterweisung der Messung’ sind gar nicht so weit von Max Ernst entfernt.“
„Ist Dürer also doch für den modernen Künstler aktuell?“
„Nein. In allen Büchern ist zu lesen, daß Dürer immer bewundert wurde. Ich selbst erweise ihm Respekt als großem Künstler. Meine Generation ist jedoch weit davon entfernt, in ihm unseren größten Meister zu sehen.“
„Wie begründen Sie das?“
„Dürer hat unbestreitbar viel Einfluß auf die deutsche Kunst gehabt, auch durch seine theoretischen Neigungen. Ich persönlich würde Grünewald weit höher einschätzen als Dürer, weil das Werk Grünewalds irrationaler ist. Darunter verstehe ich keinen romantischen Aspekt. Dürer war ein freier, bewundernswerter Forschergeist, doch nicht mit Leonardo zu vergleichen. Er lebte aus dem Geist der Renaissance und formulierte ihn. Aber auf mich heute wirkt er sehr akademisch und trocken – zuviel Grammatik, wenig Sprache. Seine moralische Integrität, seine eindeutige ethische Haltung bleiben unangetastet. Aber dieses Moment der Moral setze ich bei einem großen Künstler als selbstverständlich voraus. Es ist kein eigentlich künstlerisches Kriterium.“
Spezifisch dem „Maler“ Dürer spricht Mack – und damit steht er nicht allein – die höchsten Qualitäten ab. „Die Farbe hält die von Dürer erstrebte Monumentalität nicht aus. Ich schätze ihn als Graphiker und Aquarellisten viel höher ein. In den Aquarellen ist er naiv, spontan, unbefangen, frischer, lebendiger. Es fehlt jeder falsche Ehrgeiz. Hier hat die Farbe sinnliche Präsenz und ist wirklich malerisch empfunden. Typisch dafür erscheint mir das Blatt ‚Arco’. Es erinnert mich sogar an Cézanne. In Dürers eigentlicher Malerei hat dagegen die Farbe keine Primärbedeutung und wird überlegt in Kontrastflächen nebeneinander gesetzt. Es fehlt das, was Dürer selbst in Venedig nicht gesehen hat und was bei Giorgione so großartig ist: daß sich über das ganze Bild eine Farbtemperatur allen Farben gleichermaßen mitteilt.“
„Nun, das kann man ihm, objektive gesehen, als primär linear empfindendem Renaissance-Künstler – nach Wölfflins Definition – nicht übel nehmen. Auch Leonardo verdammt die Maler, die ‚die Reize der Farben gleich schönen Buhlerinnen für ihre Bilder werben ließen’“.
„Ich bewundere, daß Dürer sich in Italien nicht überfahren ließ, daß er Selbstbewusstsein hatte. Er konnte Venedig als freier Mann wieder verlassen. Doch wenn es darum geht, zu werten und Dürer als universalen und größten deutschen Künstler auf den Olymp zu heben, sehe ich diese Universalität im malerischen Werk nicht. Die fast graphische Pinselführung verrät – wie die Liebe zum Kleinen auch in der Graphik – die typisch deutsche Akribie.“
„Dürer lebte in einer Zeit und einem Milieu des Übergangs von mittelalterlicher Befangenheit zur Weltoffenheit der Renaissance. Man spürt in seinem Werk die Entdeckerfreude, mit der er sich dem Diesseitigen, der Natur zuwendet, ohne dabei seine unerschütterliche religiöse Bindung preiszugeben.“
„Auch darin war er einer der deutschesten Künstler, in dessen Brust zwei Seelen wohnten: die Freizügigkeit, der Forschergeist des Erkenntnismalers mit dem offenen Blick für die Natur, andererseits die Aussage des Bekenntnismalers. Diese beiden Elemente in ihrer Spannungsrelation sind typisch für einen großen Teil der deutschen Malerei. Bekenntnismalerei wie Dürers Selbstporträt als Christus – das ist noch Joseph Beuys. Typisch für die gegenwärtige Kunst erscheint mir aber die Objektivation des Irrationalen; die Befangenheit im Subjektiven ist immer eine Schwäche.“
„Diese Objektivität findet sich in hohem Maße doch gerade bei Dürer. Denken Sie nur an die realistischen Porträts und ihre scharfe Charakterisierung.“
„Das ist ein humanistisch-literarisch Aspekt, kein spezifisch malerischer. Trotz der Charakterisierung ist übrigens ihre Variationsbreite verhältnismäßig gering. Dürers Werk ist für mich – mit wenigen Ausnahmen – ohne Faszination, ist keine Quelle der Imagination, weil in ihm keine Imagination realisiert wurde.“
„Sie reagieren sensuell?“
„Ja. Ein Dürer-Bild muß man lange anschauen, weil es reich an Details ist. Dabei erkennt man, daß Natur unmittelbar in die Kunst übertragen wurde. Betrachte ich das Werk eines irrationalen Künstlers, vollziehe ich nicht eine Naturbeobachtung nach, sondern es öffnet meiner Imagination einen weiten Raum.“
„Dürer ist Ihnen also zu real vordergründig?“
„Vieles finde ich ausgesprochen banal.“
„Das ist aus der Zeit heraus zu verstehen. Das Reale war das Neue, ein großes Feld der Entdeckung.“
„Das respektiere ich. Unsere moderne Welt wäre ohne die Renaissance nicht denkbar. Wir befinden uns aber nach wie vor in einem Prozeß der Emanzipation gegenüber der Natur.“
„Sind Sie auch nicht beeindruckt von den großen Holzschnittfolgen, der Passion, der Apokalypse?“
„Ich habe kein Verhältnis zum Holzschnitt. Ich halte ihn für eines der unglücklichsten Medien in der Kunst. Ein Holzschnitt erscheint mir wie das Gerippe eines vertrockneten Blattes, verholzt, hart. Als Linearstruktur mag das bei Dürer sehr schön sein, aber doch manieriert.“
„Gerade die Apokalypse zeigt aber – im Vergleich mit der Kölner Bibel, die Dürer als Vorbild diente -, mit welcher Leidenschaft, mit welcher Dramatik er diese in Holz geschnittenen Bilder aufzuladen vermochte.“
„Es ist ein leidenschaftliches Pathos, das jedoch wieder in der Struktur erstickt und in unauflöslichem Widerspruch zur ‚Grammatik’ der Technik steht. Genial finde ich dagegen fast alle Zeichnungen. Sie sind expressiver, wie das Bild der Mutter Dürers, das die ganze Käthe Kollwitz vorwegnimmt. Oder auch das Selbstporträt mit 14 Jahren. Am meisten schätze ich persönlich die Landschaftsaquarelle und die spontanen Federzeichnungen, die für Dürer nur Skizzen waren. Auch die Kupferstiche – ‚Hieronymus’, ‚Melancholie’, ‚Eustachius’ – beeindrucken mich sehr, wo am meisten das Eingang findet, was ich das Irrationale oder die Imagination nenne.“
„Hier liegt wohl auch der Ansatzpunkt für den starken Einfluß Dürers auf die heutige Wiener Schule des Phantastischen Realismus.“
„Sie ist für mich der Inbegriff einer modischen, anachronistischen, dekadenten Haltung. Im Vergleich dazu war Dürer ein hochgesunder Künstler. Sein moralisch und formal gefestigtes Werk verrät nichts von existentieller Selbstzerstörung.“
„Dennoch lebt auch er in einer Zeit des Umsturzes. Denken Sie an den Prozeß seiner Schüler Jörg Pencz und der Brüder Beham, die 1524 wegen Verbreitung extrem anarchistischer, materialistisch-atheistischer und kommunistischer Ansichten angeklagt und aus der Stadt Nürnberg ausgewiesen wurden. Gerade Nürnberg war ein Sammelbecken solch radikaler Strömungen, die dann zu den Bauernkriegen führten. Dürer hat in seinem Bild der Vier Apostel – der Johannes trägt die Züge des Melanchtons – ein Bekenntnis seiner gegenteiligen Ansicht abgelegt, die den Wirrnissen Ordnung und Harmonie entgegenstellen.“
„Ja, Dürer ist durch diese Zeit – ähnlich wie später Goethe – mit großer Gelassenheit gegangen.“
„Gerade im Augenblick dominiert wieder die Strömung eines Neuen Realismus in der Kunst der Gegenwart.“
„Die Gruppe Zéro hatte einen Neuen Idealismus auf ihr Programm geschrieben. Das war ein Missverständnis. Heute fühle ich mich völlig frei, und ich wünsche mir, daß mein Werk den Menschen daran erinnern könnte, daß es neben dieser von einem Extrem und einem Elend ins andere fallenden Welt eine Welt rein ideeller Natur gibt, die aber sinnlich erfahrbar, beglückend und problemfrei ist. Dieser Wunsch ist menschlich und künstlerisch begründet.“
„Auch Dürer strebte nach der vollkommenen Schönheit und musste schließlich einsehen, daß sie sich durch keine Regel fassen und rational begründen ließ.“
„Ja, das Wort Dürers, er wisse nicht, was das Schöne sei, bestätigt ihn zuletzt als einen Künstler, der die Grenze der Rationalität und damit alle Endlichkeit des Diesseitigen erkannte. Da er der Künstler der deutschen Renaissance war, ist seine Erkenntnis besonders schicksalhaft.“
„Sie plädieren für eine weitgehend abstrahierte, sensibilisierte Schönheit?“
„Nun, ich gehe der Natur aus dem Wege, weil Ihre Schönheit etwas anderes ist als das Schöne in der Kunst. Insofern war die Renaissance-Schönheit, so schön sie auch war, ein Irrtum.“
In: Rheinische Post. Geist und Leben, 15. Mai 1971
Strukturen im weißen Papier
Ausstellung Oskar Holweck
Der Saarländer Oskar Holweck (48) gehörte zu den Künstlern, die seit 1958 in Kontakt mit der Düsseldorfer Zéro-Gruppe standen, mit ihr ausstellten und auch in der Zeitschrift „Zéro“ hervortraten. Zugleich war er damals Mitglied der Neuen Gruppe Saar in Saarbrücken und der Nouvelle Ecole Européenne in Lausanne. 1960 trat er dem Deutschen Werkbund bei. Holweck, der an der Staatlichen Schule für Kunst und Handwerk in Saarbrücken und an der Ecole des Arts Appliqués à l’industrie und der Académie de la Grande Chaumière in Paris studierte, ist seit 1956 Leiter der Klasse Grundlehre an der Werkkunstschule Saarbrücken.
Er war in den letzten 25 Jahren auf vielen internationalen Ausstellungen vertreten, von Amsterdam bis Formosa, Paris, Ljubljana, Venedig, Mailand, Moskau, Washington. Jetzt zeigt die Galerie Wendtorf-Swetec eine Ausstellung seiner Reliefbilder, Zeichnungen und Objekte aus den letzten 15 Jahren.
Holweck gehört nicht zu denen, die sich auf den lauten Märkten in den Vordergrund spielen. Seine mit schlichtesten Medien und einem Minimum an äußerem Aufwand geschaffenen Arbeiten wenden sich an die Sensibilität des Betrachters. Fontana, Manzoni, auch Bernhard Schultze gehören zweifellos zu seinen Anregern. Sein ästhetisches Konzept, das er mit unkonventionellen Methoden und Materialien realisiert, verbindet ihn mit der Gruppe Zéro.
Der Künstler reißt seine sparsamen, fein ausgewogenen Strukturen in weißes Papier – wie zarte, geknitterte und gefältelte Stalaktitenzungen, wellig gebogene Streifen springen sie reliefartig aus der Fläche vor. Diese die Fläche verletzenden und in vibrierende Spannung versetzenden Spuren werden oft mittels Nägeln gezogen, über die Holweck das Blatt spannt und zieht. Sie zeichnen Rhythmen von Licht und Schatten in das reine Weiß wie die in das Papier geknitterten blumigen und strahligen Strukturen oder die positiven und negativen Karo-Faltenreihen.
Daneben gibt es Objekte aus im Zentrum zusammengeklebten weißen Papieren, die sich wie große bauschige Blüten aufblättern. In all dem, auch in den Reihungen sich verwischender und auflösender Linien der Zeichnungen, halten sich formale Freiheit und Disziplin in der Balance. Die zarten optischen Impulse, die hier ausgespielt werden, weisen in den Bereich des Unausgesprochenen, der Stille.
Yvonne Friedrichs In: Rheinische Post. Feuilleton, 3. Mai 1972
Riesige Hände tasten
Plastiken von Michael Schwarze in der Galerie Niepel
Plastiken von vollendeter klassischer Schönheit, die in bruchloser, folgerichtiger Konsequenz in die Phantastik des Surrealen umschlägt, beeindrucken in einer Ausstellung der Galerie Niepel in der Grabenstraße. Der jetzt 33jährige, aus Krefeld stammende Michael Schwarze erweist sich den Plastiken als einer der bedeutenden jungen Bildhauer der Gegenwart, der in den zehn Jahren seines stetigen Aufstiegs unbeirrt einen eigenen Weg verfolgte. Sein Werdegang ist imponierend und zeugt von der Intensität, mit der hier in einer langen Lehr- und Studienzeit auch formal ein hohes Können erworben wurde.
Er begann 1953 mit einer vierjährigen Tischlerlehre, gefolgt von einem zweijährigen Architekturstudium an der Werkkunstschule Krefeld. Anschließend besuchte Michael Schwarze fünf Jahre lang die Berliner Hochschule für Bildende Künste und war Meisterschüler von Professor Karl Hartung. Seit 1964 lebte er als freier Bildhauer in Berlin und wurde 1967 mit dem Villa Romana-Preis, 1969 mit dem Kritikerpreis des Verbandes der deutschen Kritiker Berlin und dem Kunstpreis der Stadt Krefeld ausgezeichnet.
Eine große, ausdrucksvoll bewegte Hand ersetzt oft den Kopf von Schwarzes menschlichen Akten in Bronze oder weißem und bräunlich übermaltem Gips, deren Körper manchmal nur aus einem Bein besteht. Eine Hand, die sich schwermütig zum Boden neigt („Gebückter“) oder wie eine organische Schale die Äpfel des Paradieses umschließt („Eva“), die aus einer aufplatzenden Kugel bricht oder zur Stütze einer Kugel wird.
In flexibler Gestik und phantastischem Bewegungsspiel öffnet sich die Hand dem Raum, ist Trauma, Symbol, Ausdrucksmedium von Emotionen. Auch in einer Reihe von Zeichnungen und Radierungen, in denen riesige Hände und Handfiguren durch Räume tasten, kriechen und Berührung suchen. Zu den schönsten plastischen Darstellungen gehören daneben ein unkonventioneller „Ikarus“ – eine am Boden liegende Figuration aus Kopf, Bein und Flügel – sowie ein sich aus einer aufbrechenden Säule lösendes Mädchen.
Verhaltene Tragik und Melancholie sprechen aus diesen verschlüsselten Bildwerken – menschlichen Situationen im Spannungsraum zwischen Verstricktsein, Beklemmung, Angst und Aufbruch in die Freiheit.
In: Rheinische Post. Geist und Leben, 3. Mai 1972
Wirklichkeit hinter der Oberfläche
Die zweite Generation der Wiener Phantastischen Realisten
Die zweite Generation der Wiener Phantastischen Realisten wird in der in Düsseldorf bisher umfangreichsten Ausstellung bei Norbert Blaeser, Königsallee 92a (Stadtsparkassen-Passage), vorgestellt: über 100 Bilder, Gouachen, Aquarelle, Zeichnungen und Radierungen von Helmut Heuberger, Peter Klitsch, Reny Lohner, Peter Proksch, Kurt Regschek und Werner W. Schulz. Die Preise liegen zwischen 1200 und 30 000 Mark – außer bei der Graphik.
Die vielschichtige, altmeisterliche Technik, das präzise bis ins minuziöse malerische Detail erfaßte, ins gegenständlich-figürliche gebannte Phantastische und Wunderbare, das sich als Gedanke, Emotion, Imagination hinter der Oberfläche des „Wirklichen“ verbirgt, haben diese in den zwanziger und dreißiger Jahren geborenen Künstler von ihren Vorgängern übernommen. Dabei hat man den Eindruck, daß manches unverkrampfter und in der Thematik weniger klischeehaft geworden ist, dafür intelligenter und dem Mystischen zuneigend.
Spitzenwerke kommen von Peter Proksch: das geheimnisvolle, das Dualitätsprinzip allen Lebens symbolisierende Gemälde „Die magischen Zwei“, in dem Mann und Frau, Land und Meer, Himmel und Erde, Sonne und Mond spannungsvoll aufeinander bezogen sind. Eine beeindruckende Leistung sind die in dreijähriger Arbeit entstandenen meisterhaften zwölf Radierungen zu dem satirisch-phantastischen Roman „El Criticon“ des spanischen Jesuitenpaters Baltasar Gracian (1584-1659), in denen Lebensweisheit und -einsicht geistvoll reflektiert und anschaulich werden.
Reny Lohners feinfiedrig und faserig in fast tänzerische Rhythmen aufgelösten Märchenlandschaften, über denen große Traumvögel schweben, sind am preziösesten im kleinen Format, wie etwa die in feinsten Farbnuancen irisierende Silberstiftzeichnung einer „Sphinx“ oder das Öl-Tempera-Bild „Vor einem Zelt“.
Kurt Regscheks von einem Tuch überschattete, von durchsichtigen Schleiern und flutendem Ornamentgrund umspielte „Eurydike“ erinnert an Klinger und den Jugendstil. Helmut Heuberger, Doktor der Philosophie und malender Autodidakt, der sich zum „Protest der Stille“ bekennt, baut seine poetischen Traumlandschaften wie Kartenhäuser oder Theaterkulissen auf: Schloßruinen, Muschelhäuser oder blaue Türme auf Klippen.
Mit einem ostasiatischen, von rauschhaften exotischen Farben umlohten Mädchen ist Peter Klitsch vertreten. In märchenfarbige Wellenstrukturen zerlegt Werner Schulz seine verwunschenen Landschaften, die offensichtlich an Hundertwasser orientiert sind.
In: Rheinische Post. Feuilleton, 23. Mai 1974
Hrdlicka und das Dämonische
„Ich habe keine Visionen, ich lese Zeitung“, soll Alfred Hrdlicka einmal gesagt haben. Er bezieht Stellung zu dem, was um ihn herum passiert. Im Gegensatz zu manchen Zeitungslesern, die nach der Lektüre auch katastrophaler Nachrichten zur Tagesordnung übergehen, fühlt sich Hrdlicka im Innersten aufgewühlt.
In geradezu selbstquälerischer Leidenschaft nehmen die dunkelsten Triebe des Menschen in seinen Arbeiten Gestalt an, verdichten sich in spannungsgeladenen Menschengruppen, in erregten Schraffuren, flackerndem Helldunkel der Radierungen, in übersteigertem, brutalem Realismus der Plastiken Angst, Bedrohung, Grausamkeit, psychische Abnormität, sexueller Exzeß. Der Mensch wird einseitig als Ungeheuer gesehen, als Vollzugsorgan oder Opfer verbrecherischer Mächte und chaotischer Leidenschaften.
Nachdem 1971 der Graphiksalon Söhn eine große Auswahl der bis dahin erschienenen Graphiken Hrdlickas gezeigt hatte, sind jetzt in der Junior Galerie (Orangeriestr. 6) einige der neuesten Radierfolgen und Zeichnungen neben mehreren Bronzen ausgestellt.
Im Mittelpunkt steht der komplette Zyklus „The rake’s progress“ (Das Leben eines Wüstlings), der an das berühmte sittengeschichtliche Werk von Hogarth aus dem 18. Jh. anknüpft, und die 1973/74 entstandenen 52 Radierungen „Wie ein Totentanz“, ein Kommentar zum 20. Juli 1944.
Hrdlicka (geb. 1928 in Wien), der Schüler von Gütersloh, Dobrowsky und des Bildhauers Wotruba, der als Radierer an die Technik Rembrandts anknüpft, erweist sich hier aufs neue als ein Nachfahre Goyas in der schonungslosen Entlarvung des Diabolischen. Um das so konzentriert zu offenbaren - meisterlich im Technisch-Formalen -, bedarf es wohl einer so temperament- und wesensbedingten Einseitigkeit der Weltsicht.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 11. März 1975
Vom optischen Chaos zum Organismus
Photoskulpturen und Zeichnungen von Klaus Kammerichs im Kunstverein
Wenn sich im 19. Jahrhundert renommierte Maler – wie Lenbach etwa, oder Zille – der Photographie als Vorlage und Hilfsmittel für ihre Bilder und Zeichnungen bedienten, so taten sie dies verschämt und hinter verschlossener Tür. Im Mittelalter, ja noch bis in die Barockzeit hinein, war es durchaus nicht ehrenrührig, sondern gang und gäbe, daß auch die berühmtesten Künstler Motive aus den in allen Werkstätten aufliegenden Kupferstichen, Modellzeichnungen oder Musterbüchern kopierten. Der Brauch, mit Mustern, Modellen und technischen Hilfskonstruktionen zu arbeiten, geht bis ins früheste Altertum zurück.
Die Photographie, die zunächst als gefährliche Konkurrenz der Malerei gefürchtet wurde und später die abstrahierenden und das äußere Bild der Wirklichkeit verfremdenden Kunstrichtungen mit auslöste, ist inzwischen durch Collage und Assemblage, durch Pop-, Land-Art und Photorealismus sogar nominell in das Kunstwerk integriert.
Der Düsseldorfer Künstler Klaus Kammerichs kann für sich in Anspruch nehmen, eine ganz spezielle Verwertung und Manipulation des Photos erfunden zu haben. Als seine ersten „Photoskulpturen“ 1971 in einer Ausstellung der Galerie Niepel auftauchten, war das eine kleine Sensation. Man bestaunte ihre eigenwillige Technik – eine wahre Sisyphos-Arbeit. Wichtig sind die Arbeiten Kammerichs’ aber auch historisch als vermittelndes Bindeglied zwischen informeller Struktur und realistischer Figuration, denn beide Elemente sind in reinster Form gleichzeitig in jeder seiner Skulpturen enthalten.
Dies beruht auf einem seltsamen, verblüffenden Effekt, den der Betrachter selbst steuern kann: geht er dicht an die Reliefs und Plastiken heran, zerfallen sie in zerklüftete Strukturlandschaften mit spitzigen Klippen und dunklen Schluchten, in denen das Auge umherirrt und vergeblich Sinn und Halt sucht. Bei zunehmender Entfernung verdichtet sich das optische Chaos zum geschlossenen Organismus und schließlich zum problemlosen Abbild profaner Wirklichkeit.
Die Distanz schafft Klarheit. Punktuellen Strukturen eines numinosen plastischen Rasters fügen sich in einer „Briefmarkenserie“ zusammen zum Porträt von John Kennedy oder Friedrich dem Großen, Heinemann oder Hitler, Ulbricht, Franco, Elisabeth II. von England, auch zum Selbstbildnis oder zu einem Tigerkopf. Banale Gegenstände des täglichen Lebens – Wasserhahn, Telefon, Taschenlampen – werden zum „Aha-Erlebnis“. Am erstaunlichsten sind ganze Reliefwände in Abmessungen von 2x5 Metern mit kompletten Rugby- und Eishockey-Mannschaften oder einer Radrennfahrergruppe der „Tour de France“. In ihnen wird die ganze Dynamik, die sich in Kammerichs’ Technik verbirgt, herausgeholt.
Ihr Geheimnis liegt in einer räumlich-plastischen Abstufung der Grau- und Helldunkelwerte einer zugrundeliegenden Photographie, wobei die hellsten Töne als plastischste Erhöhungen in den Vordergrund rücken, die dunkleren sich in die Tiefe stufen. Kammerichs setzt also nicht die Photographie unmittelbar in Skulpturen um, sondern die Reliefschichtung ergibt sich aus den Tonwerten. Alle Arbeiten sind mit Draht in mühsamster Präzisions- und Geduldarbeit aus Hartschaumplatten ausgesägt und in Graunuancen, seltener farbig, bemalt.
In den jüngsten Arbeiten ist der optische Verwandlungsprozeß noch komplizierter geworden. Kammerichs nimmt Abstand vom banalen Wirklichkeitsabklatsch als Endresultat einer kinetischen Sehschule. Die Silhouette von Realitätsausschnitten, die er von zwei Standpunkten aufgenommen hat, überschneidet und durchdringt sich in der Plastik. So entstehen würfelartige komplexe Skulpturen: ein „Silberwald“, eine „Hobelbank“, ein „Frühstück im Freien“, in denen sich für diese verblüffende Technik neue Perspektiven eröffnen.
Klaus Kammerichs, 1933 in Iserlohn geboren, ist gelernter Photograph, war als Bildjournalist tätig, bevor er an der Düsseldorfer Werkkunstschule und Kunstakademie studierte. Der spätere Werbeleiter erhielt 1962 einen Lehrauftrag für Photographie an der heutigen Düsseldorfer Fachhochschule, an der er seit 1973 Professor im Fachbereich Design ist.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 12. März 1975
Ein Zwiegespräch auf zwei Ebenen
Rolf-Gunter Dienst stellt in Schloß Morsbroich aus
In der Stille des von Schneegestöber-Vorhängen umwehten Schloß Morsbroich scheinen die Bilder und Zeichnungen von Rolf-Gunter Dienst gut aufgehoben. Der in Baden-Baden lebende Maler, Zeichner, Kunstkritiker, Schriftsteller, Redakteur zeigt dort im Städtischen Museum Leverkusen eine Ausstellung mit über 90 Bildern und Zeichnungen aus den letzten vier Jahren. Die tanzenden Flocken draußen im Park, hinter denen sich Gezweig und Farben alter Bäume und der Rasenflächen verwischten, hatten so manchen Bezug zu Diensts Arbeiten: Ihrer Verführung zur Meditation kann man nicht widerstehen.
Auch in den Bildern werden Gewebe gewirkt, die den vollen Blick auf das Dahinterliegende nicht zulassen – eine zarte Barriere, die Behutsamkeit empfiehlt und alles Deutliche verwischt. Doch durch die leicht verzogenen, „handgestrickten“ Maschen erhascht man einen Blick von Welt, der gefiltert ist und der sich bricht in der Irritation beweglicher Strukturen. Ein Zwiegespräch auf zwei Ebenen setzt ein.
Rolf-Gunter Diensts skripturale Pinselstrukturen gehorchen dem Zufall der Eingebung und neigen doch zugleich dem Gesetz der Serie zu. Sie sind als Elemente individuell verschieden, aber zugleich anonym. Sie ordnen sich zu Zeilen gleich handgeschriebenen Buchstaben, doch man kann sie nicht entziffern oder lesen. Sie ergeben keinen literarischen Sinn. Es sei denn, daß die Titel der Bilder oder Zeichnungen Gedachtes anzeigen, etwa in den Serien „Epitaph für Ad Reinhardt“ mit 72 Acrylbildern, oder „Wenn Claude Monet statt Alice Hoschedé Gertrude Stein geheiratet hätte, oder eine Seerose ist eine Seerose ist eine Seerose“, die zwölf Bilder umfaßt. Diese aufgereihten Phantasiebuchstaben-Elemente lehnen sich offenbar ein wenig an chinesische Schriftzeichen an. Und schon das weist in die Richtung, wie sie wohl „gelesen“ werden sollen.
Der Schreiber Rolf-Gunter Dienst vollzieht in ihnen die Synthese mit dem Maler. Seine geschriebenen Bilder sind nur sehend, tastend, empfindend zu begreifen. Oder sind sie überhaupt nur Medien, die Zonen verfeinerten Sinnenerlebnisses vor uns öffnen, die in der Selbsterkundung zarteste Erlebnisschwingungen ins ästhetisch Wahrnehmbare transponieren, gemischt aus Graphismen und höchst empfindlichen lyrischen Farbvibrationen?
Die „Schrift“ als solche scheint nur wichtig in bezug auf die Farben. In ihnen erhascht der Maler seltene, verwunschene Stimmungen, geheimnisvoll Schönes; er visualisiert Reize sehr subtiler Art. Bezauberndes gelingt ihm auf der Skala der Gelbtöne in der oben genannten Reihe „Wenn Claude Monet ...“ Blaßgelbes, grünlich Gelbes bis Orange der skripturalen Maschen läßt Tupfen variablen Violetts, von Lavendelblau, Karminrot oder verlöschendem Pinkrosa durchschimmern - seerosenhaft, oder wie immer man es deuten will.
Die dunklen kleinformatigen „Epitaphe für Ad Reinhardt“ versinken in Schwarz-Blau, Braun, zwischen denen manchmal auch Hellrot durchblitzt oder ein fremd und wunderbar aufscheinendes Yves-Klein-Blau. Das erinnert an gewirkte Teppiche, hat manchmal einen seidigen Glanz, scheint sich zu verändern, wenn man daran vorbeigeht. Gliedernde lineare Elemente zwischen den malend geschriebenen Zeilen erinnern zuweilen an eine Treppe, an ein Kreuz.
Der autobiographische Zug in diesen Bildern - als Auffangen und Reflektieren von Stimmungen gemeint - wird auch in den Bleistift- und Federzeichnungen deutlich. Auch sie entstanden zyklisch unter dem Motto „Aus einem Tagebuch - immer an einem anderen Ort“. Was in den Bildern in Zeilen geordnet ist, bewegt sich hier frei in Verdichtungen und Lockerungen über die ganze Fläche - zellenhaft, oder auch wie verwehte kleine Blätter, die ständig sich Veränderndes suggerieren. Mark Tobey gehört hier wohl sicher zu den Anregern.
Rolf-Gunter Dienst, der gebürtige Kieler (1942), lebte mehrere Jahre in den Vereinigten Staaten, wo er auch verschiedene Gastdozenturen hatte, ebenso wie in Australien und Kanada und an den Kunsthochschulen in Braunschweig und Frankfurt/Main. Der Autor mehrerer Künstlermonographien und Kunstbücher hat in seinen Bildern das niedergeschrieben, was man in Texten nur zwischen den Zeilen lesen kann.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 16. Februar 1978
Wenn nicht Wort, dann Form
Barlach-Ausstellung bei Ludorff
Im 40. Todesjahr von Ernst Barlach (1870 bis 1938) zeigt die Galerie Ludorff (Königsallee 22) eine umfangreiche Ausstellung mit 120 Arbeiten des Künstlers – Plastiken, Zeichnungen und Druckgraphik. Daß hier allein zehn seiner berühmtesten Bronzen neben einer Porzellanplastik (Russische Bettlerin mit Schale, 1906) versammelt sind, ist eine Seltenheit. Sie kommen alle aus einer norddeutschen, jetzt aufgelösten Privatsammlung.
Im Zentrum der „Singende Mann“ von 1928, der dem ganzen Raum seine Gelöstheit und Freiheit mitteilt. Schon 1912 machte Barlach die erste Entwurfszeichnung für die Plastik. Hier besonders wird deutlich, was der Künstler in einem Brief äußerte: „Es ist mein Glaube, daß dasjenige, was nicht durch das Wort auszudrücken ist, durch die Form in den Besitz eines anderen übergehen kann.“
Barlach hat Bronzen in größerer Zahl erst nach dem mit dem Galeristen Flechtheim geschlossenen Vertrag seit 1930 gießen lassen. Bei Ludorff finden wir unter anderem die expressive kleine „Kußgruppe III“ von 1921: die in ihrer schlichten Hingabe an den Augenblick der Begegnung so ergreifende Gruppe „Christus und Thomas“ (1926); den strengen, stelenhaften „Singenden Klosterschüler“ (1931) oder den vom Hauch des Geistigen angerührten „Buchleser“ (Lesender Mann im Wind) von 1936.
Die Ausdruckskraft der Linie, ihr rhythmisches Umgreifen figürlicher Volumen erlebt man besonders in einigen signierten frühen Kohlezeichnungen von 1912, den „Vier Knienden“, der „Strickenden Bäuerin“ und dem „Schlafenden Paar mit Hund“, expressiv noch gesteigert in dem „Liegenden Hirten unter einem Tuch“ von 1918.
Einer der Schwerpunkte des umfangreichen Graphikangebotes sind unter den 70 signierten Blättern die vollständige Serie der sieben Holzschnitte „Die Wandlungen Gottes“, die in einer Auflage von 100 auf der Berliner Pan-Presse gedruckten Exemplaren 1922 bei Cassirer erschienen. Die Zeichnungen dazu entstanden zwischen 1913 und 1920. Komplett wird auch die Folge von 35 Lithographien Barlachs zu ausgewählten Gedichten Goethes angeboten. Der Lithographienzyklus, an dem neben Barlach (der 31 Steinzeichnungen lieferte) auch Liebermann, Hans Meid und Karl Walser mitarbeiteten, erschien 1924 in 100 numerierten Exemplaren ebenfalls bei Cassirer. Die Beiträge von Slevogt und Kokoschka wurden nicht mehr veröffentlicht, Cassirer war inzwischen gestorben.
Unter den signierten Einzelblättern, beginnend mit der herben „Stehenden Frau auf halber Kellertreppe“ von 1912, sind es vor allem auch einige Lithographien zum „Armen Vetter“ (1919), die durch ihre beschwörende Unmittelbarkeit und spannungsvolle Verdichtung von Empfindungen faszinieren.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 22. Februar 1978.
Naive Reize
Dubuffet-Ausstellung in der Kölner Kunsthalle
Aus dem Jahre 1935 stammen jene in Öl gemalten „Stadt- und Landmarionetten“ und die Folge der „Métro“-Gouachen, mit denen die große jetzt in der Kölner Kunsthalle gezeigte Retrospektive-Ausstellung Jean Dubuffets einsetzt, des nunmehr achtzigjährigen Erfinders der „Art brut“: der rohen, ursprünglichen Kunst, die sich an den unreflektierten künstlerischen Äußerungen von Kindern und Geisteskranken, von Naiven und Primitiven eher orientiert als an den gewohnten Wertvorstellungen.
Die von der Berliner Akademie der Künste zusammengestellte Ausstellung mit 360 Werken Dubuffets, aus über 70 öffentlichen und privaten Sammlungen, in ununterbrochener Folge von 1943 bis 1980, ist nach einer Retrospektive dieses Künstlers vor zwanzig Jahren in Hannover die erste dieser Größenordnung im deutschsprachigen Raum. Damals wurden nur 90 Arbeiten gezeigt.
Geht man vorbei an den chronologisch sich folgenden Werkgruppen, hat man von Anfang bis Ende den Eindruck, daß hier einer das Theater oder vielleicht noch eher den Zirkus dieser Welt in seinen komischen, beängstigenden und poetischen Aspekten zugleich ironisch-karikierend und mit liebevollem Einverständnis registrierte und dabei zeit seines Lebens das große Staunen nicht verlernte. Immer ist bei ihm das Eigenartige zugleich Ausdruck von etwas untergründig Gemeinsamen. Dubuffet war 43 Jahre alt, als er in fröhlichen Farben perspektivelos seine Métro-Gouachen malte: Menschen, eng zusammengedrängt, frontal, irgendwie verbunden durch eine allen gemeinsame Abwesenheit und Anonymität. Er ritzt, kratzt nach Art der Sgraffiti in Pasten aus Asphalt, Teer und Bleiweiß, Zement, Gips, Lack, Leim, Kalk, Sand, Kohlenstaub, Kieselsteinen etc. die Menschen von Paris mit ausgesprochenem Blick für die Komik und Tragikkomik deformierter Silhouetten. Man spürt: er mag sie alle, diese schlichten Zeitgenossen. Mit dem Röntgenblick eines verstehend Liebenden bringt er gleich einem Magier in den hintergründigen Porträts seiner Freunde – Jean Paulhan, Michel Tapié „als Sonne“, Antonin Artaud, seines Galeristen René Drouin – hinter dem Individuellen jenen inneren Kontakt zu einer surrealen Welt ins Bild.
Und dann, nach den Sahara-Aufenthalten Dubuffets, diese wie legendäre Erscheinungen aus den Bildgründen auftauchenden „Clowns der Wüste“. Sie haben alle teil an mysteriösen archaischen Seinsräumen, die den meisten von uns längst verschlossen sind. Oder die in ihrer Poesie unwiderstehlichen „Grotesken Landschaften“, deren eigentlich ganz in die Erde eingebetteten Strichmännchen stillvergnügt, ja selig die Freuden des Landlebens wie ein ungewohntes und ganz vergessenes Wunder erleben. Zu erdigen Landschaften scheinen auch breit und unförmig hingelagerte Frauenkörper zu werden. Gezeichnete Porträtköpfe wirken wie geologische Exkursionen der Zeichenfeder. In verzückten Strukturen, inspiriert von der Landschaft um St. Paul de Vence, wo er sich ein Atelier baut, verherrlicht der Künstler Himmel und Erde, collagiert Männchen aus Schmetterlingsflügeln, huldigt dem „Wald“, dem „Gartenboden“, der „blühenden Erde“ mit berückenden Collagen aus gesammelten Pflanzenteilen. Eine irreale Ausstrahlung haben auch die in einer Serie zusammengefaßten „Kühe auf der Weide“. Nach den Assemblagen entstehen die freistehenden „Statuen“, die doch so fragil und unbeständig sind wie jener so tief betroffen machende „Blinde“ aus Silberpapier.
„Ich vertraue den wilden und ungekünstelten Reizen gegenüber jeder Schminke und allen Friseuren“, sagte Dubuffet. Neben den Strukturen der Natur hat er immer wieder diejenigen der menschlichen Psyche und der Gesellschaft in dynamischen Rhythmen von Linien als phantastisches abstraktes Phänomen aus dem Gegenständlichen herausgelöst – in „Paris Circus“ etwa oder den seit 1962 entstehenden Bildern, Skulpturen, Zeichnungen, Räume des „L’Hourloupe“-Zyklus. Nach dem langen Gebrauch von erdigen Farben kehrt Dubuffet hier wieder zur Buntheit, wenn auch auf wenige Grundtöne beschränkt, zurück. In ein Puzzlespiel unendlicher Linien eingebettet, das auch die Plastiken verwirrend überzieht und sicher von den Comic strips beeinflußt ist, erscheint hier das menschliche Tun und Treiben in seiner Unbeständigkeit fragwürdig und illusionistisch.
Als Groteske stellt der Künstler es auf eine imaginäre Bühne in seinem berühmten „Coucou-Bazar“ – aus bemalten Plastikelementen zusammengesetzten menschlichen Figuren, Tieren, Wagen, Mischwesen teils auf Rädern, teils von Menschen getragen, die sich als phantastisches Ensemble zu einer von Dubuffet selbst komponierten Musik bewegten – erstmals 1973 im Guggenheim-Museum New York. Auch diese „Praticables“, die in der von Dubuffet gestifteten Fondation in Périgny-sur-Verres aufbewahrt werden, sind in Köln, wenn auch unbewegt, zu sehen. Dazu Großphotos seiner skulpturalen Architekturen, wie der einzigartigen „Closerie und Villa Falbala“ in Périgny: einem reich gegliederten, strukturell bemalten, eher einem Felsgebirge oder einer Eishöhle gleichenden, nach außen völlig geschlossenen Refugium als Gegenentwurf zur rationalen Wohnmaschine unserer Zeit: ein Ort zum Träumen und zur Besinnung.
In: Rheinische Post. Feuilleton, 19. März 1981.
Maler-Dialog mit dem Kreuze
Arnulf Rainers „Kruzifikationen“ im Suermondt-Ludwig-Museum Aachen
In der Karnevalszeit schwarze Gegenzeichen: Arnulf Rainers „Kruzifikationen“ im Suermondt-Ludwig-Museum Aachen. Die 55 Arbeiten, entstanden zwischen 1951 und 1980, stehen hier in der Nachbarschaft – wenn auch wohlweislich nicht in unmittelbarer Konfrontation – mit den dort bewahrten mittelalterlichen Kruzifixen und Kreuzigungsdarstellungen, als Ausdruck dafür, daß da auch ein Zeitgenosse von heute über die Jahrzehnte hinweg um die Auseinandersetzung mit dem Kreuz nicht herumkam.
„All diese Bildwerke erheben nicht den Anspruch, eine spezifische Bildnerei für sakrale Räume zu sein. Sie stammen aus sehr persönlichen Wurzeln. Anlaß war eine subjektive Betroffenheit“, schreibt Rainer im Katalogvorwort. „Kreuz und Nacht“ hat er es betitelt. So heißt auch seine 1961 erschienene Publikation, nachdem er sich in den fünfziger Jahren mit der Mystik, der Theologie und Kunstgeschichte des Kreuzes beschäftigt hatte. „Ich war mir über vieles im Unklaren, stehe selbst in Nacht, Finsternis und Nebel“, bekennt Rainer.
Er ist ein Abkömmling jener Tachisten und abstrakten Expressionisten der fünfziger Jahre, die in ihre „automatischen“, vom Verstand unkontrollierten Pinselgesten ihr Unbewußtes projizierten, immer in bohrender Suche nach dem eigenen Ich, die doch keinen Grund im einmal aufgerissenen Bodenlosen findet. Bei Rainer führt dies oft zu wahren Exzessen der Monomanie.
Alle Varianten seiner „Übermalungen“, seiner „Bodyworks“ und „Face Farces“, seiner „Fuß- und Fingermalereien“ oder „Untergrundarchitekturen“ beschreiben solche dialogischen Prozesse zwischen Selbstverlust und Selbstfindung. Sie sind Versuche, den permanenten Zerfall aufzuhalten, sind verwegene Drahtseilakte über dem Abgrund. Neben geradezu mönchischer Verinnerlichung ist dabei aber auch das Moment gestikulierender Zurschaustellung im Spiel.
Zwischen diesen beiden Polen sind auch die „Kruzifikationen“ angesiedelt, diese Identifikationen Rainers mit dem Kreuz wie auch mit dem Gekreuzigten.
Sofort am beeindruckendsten, weil jeder Theatralik fern, sind die in den fünfziger und sechziger Jahren entstandenen schlichten, stillen, auf alles Figürliche verzichtenden Holzkreuze. Rainer hat sie in unterschidlichen Formen und Proportionen aus einfachen Brettern verschiedener Breite und Länge in horizontalen oder vertikalen Rhythmen stufenartig zusammengesetzt, hat sie mit schwarzer oder nachtblauer Farbe befleckt, diese wie einen Strom finsterer Trauer darüber rinnen lassen oder sie ganz wie unter düsteren Schleiern des Unsagbaren versinken lassen.
Nur ein wenig rohes Holz, ein wenig blutrote Lebensfarbe oder lichtes Himmelblau bleiben zuweilen sichtbar, eine Ahnung auch manchmal von körperlicher Schattenhaftigkeit, wie bei einem „Zugedeckten Christus“ von 1968. Manche sind ganz urig primitiv und dörflich-volkstümlich, etwa ein „Kreuz aus Transportkistenholz“ (1967/68), manche von getragenem, ernstem Pathos, wie das „Große Vertikalkreuz“ von 1968.
Mit Stoff- und Ölfarbe auf Baumwolle und Leinwand ist ein großes „Weinkruzifix“ (1957/78) gemalt, in dem eine angedeutete schwarze Figur vor rot vertropfenden Rinnsalen und Gittern mit dem Kreuz verschmilzt. Solche Konzentration auf das Wesentliche, solches Ergriffensein des Malers strahlen auch einige kleinformatige Zeichnungen in schwarzer Tusche oder Mischtechnik und Radierungen aus, etwa die „Kreuzübermalung“ von 1955, ein „Verdecktes Kreuztabernakel“ (Mischtechnik / Radierung) von 1961 oder ein „Verhüllter Christus (1972), bei dem Strichgeflechte gleich einem angedeuteten Dornenkranz ein von Schwarz ganz ausgelöschtes Gesicht umrahmen. Auf mehreren Zeichnungen der siebziger Jahre erscheinen hinter dem Kreuzzeichen – das sich einmal, umgekehrt, in ein Schwert verwandelt oder auch zum zuckenden, schmerzhaften Blitz wird – der photographierte Kopf oder die Figur Reiners selbst.
Am Anfang seiner später sehr dramatisch und wild ausfahrenden, auch großformatigen und farbig expressiven „Kruzifikationen“ stehen einige schwarze Ölkreidezeichnungen über wenig Farbe von 1951, in denen das Kreuzerlebnis seinen abstrakten Ausdruck findet in schmerzhaft von einem zentralen Punkt in den Raum ausstrahlenden Strichgesten. Nur wenige der späteren, oft eher zur Groteske ausartenden und auf Effekt zielenden Übermalungen von photographierten und reproduzierten Christusköpfen oder Kreuzigungen von 1979 (zum Teil auf Aluplatten) erreichen die Glaubwürdigkeit und Betroffenheit der frühen Arbeiten. Sie gleichen oft mehr Dali-Haften Spiegelfechtereien. Im Katalog (20 Mark) sind alle Exponate abgebildet.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 25. Januar 1982.
Dämon im Reisfeld
Japanische Photographie in der CCD-Galerie
„Japanische Photographie“ von sechs zeitgenössischen Künstlern – diese Ausstellung wird gewiß auch manchen nicht professionell Interessierten in die CCD-Galerie (Hüttenstraße 47) locken. Daß Japan, der rasante Aufsteiger im Weltmarkt der Photoindustrie, auch künstlerisch manch Eigenes zu bieten hat, wird selbst in einer so begrenzten Ausstellung deutlich. Gegenüber den auch hier erkennbaren Übernahmen aus dem Westen ist es gerade das Bodenständige, der alten Tradition Entwachsene, was besonders beeindruckt.
Am reinsten bewahrt wird es – bei gleichzeitiger Angleichung an moderne, konstruktiv-abstrakte Strukturen und puristische Vereinfachung – von Takeji Iwaniya (geb. 1920), einem der Klassiker der japanischen Photographie, von dem es auch zahlreiche Buchveröffentlichungen gibt. Im Ausschnitt eines Tempel-Innenhofs mit Holzsäule und auf den Boden geworfene Gitterschatten, in der Strenge, strukturellen Feinheit und Präzision eines geschnitzten Dachrandes, eines verfugten Wanddetails ist typisch Japanisches bildhaft erfaßt.
Dinge werden zum abstrakten Zeichen, zum Symbol einer von Disziplin und Sensibilität bestimmten Geisteshaltung in Aufnahmen von Mattengefechten, einem Reisstrohbesen, von Kimono, Fächer und Eßstäbchen.
Auch in den Beauty-Photos-Farbaufnahmen japanischer Cover Girls des auch bei uns bekannten, durch viele Preise ausgezeichneten Mode- und Werbephotographen Hideki Fujii ist bei allem „Styling“ doch ganz konzentriert japanisches Wesen eingefangen. Die zarten Mädchen, oft im Kimono, mit den weißgepuderten, wie unter Masken des Geheimnisses verborgenen, fernöstlichen Mona-Lisa-Gesichtern, strahlen jene kultivierte Beseeltheit, gemischt mit einem Hauch von Melancholie, aus, die man in der kalten Sachlichkeit europäischer Mode- und Werbephotos vergeblich sucht.
In gefährliche Nähe des Süßlichen gerät allerdings Fernöstliches zuweilen in Shinya Fujiwaras farbig und stimmungsmäßig mit dem Morbiden spielenden „Traumkleidern, Traumakrobaten“: Aufnahmen zu seinem 1978 bei Parco erschienenen Buch „Yumet suzure“ zeigen photographische Poesien über selbstentworfene Kimonos, die sich zuweilen über halb entblößten Mädchenkörpern in Fäden auflösen und zerfasern.
Eikoh Hosoe, der sich seit über 20 Jahren mit der künstlerischen Photographie beschäftigt, interpretiert in seiner 1970 als Buch erschienenen Photo-Serie „Kamaitachi – eine extravagante Tragikomödie“ eine alte japanische Geschichte und verbindet sie mit Erinnerungen an seine eigene Kindheit, „als er die Geheimnisse des Lebens auf dem Lande entdeckte“. Auch heute spuken dort noch abergläubische Vorstellungen. Hier ist es der Dämon Kamaitachi, der einen vereinsamten Menschen zum Wahnsinn treibt. Manches von diesem Hintersinn, den der westliche Betrachter nur ahnen kann, wird da zwischen Realität – Reisfeldern, Bauern, Händlern, Tempel – und verborgenen Spannungen eingefangen.
Um die psychische Problematik von Homosexuellen geht es in der 1971 erschienenen Folge „Ordeal by Roses“, in der Hosue europäische Bildsymbole aus der Renaissance, etwa Botticellis „Geburt der Venus“, und des Barock effektvoll aufnimmt und im Labor übereinander kopiert. Die Photos sind dem Dichter Yukio Meshima gewidmet, der 1970 Selbstmord beging.
Die schon Anfang der sechziger Jahre entstandene, doch erst 1970 als Buch edierte Photoserie „Embrace“, raffinierte, einem perfekten ästhetischen Formalismus huldigende Kompositionen von Körperdetails, sind Beiträge zum Thema Sex, die in Japan einen Sturm der Entrüstung auslösten.
Ganz anders Shoji Ueda (geb. 1913), der älteste hier vertretene Photokünstler. Er ist zugleich Maler. Vor allem in seiner schon zwischen 1930 und 1940 geschaffenen Schwarz-Weiß-Serie „Sanddünen“ vermeint man jene Bezüge zwischen Figur und Raum wiederzuerkennen, wie sie für die Malerei des Magischen Realismus der zwanziger Jahre in Europa charakteristisch sind. Vereinzelt hat Ueda die Personen in diesen stillen Bildern inmitten von Sanddünen arrangiert – den Maler, Geiger, Spaziergänger, das spielende Kind, das kleine Mädchen neben der Blume: eine besinnliche Szenerie.
In den erst unlängst entstandenen Farbphotos „Brillant Scenes“, die mit Weichzeichnner nach ähnlichen Prinzipien komponiert sind, ist dieser überzeugende Eindruck eher verwässert.
In: Rheinische Post. Feuilleton, 18. März 1982
Deutsche Symbole
Jörg Immendorff in der Düsseldorfer Kunsthalle
Noch nie ist die Düsseldorfer Kunsthalle so total zum Bild-Raum-Panorama geworden wie jetzt in Jörg Immendorffs bisher größter deutscher Ausstellung, die ausschließlich seiner letzten, seit 1977 erarbeiteten Werkfolge „Café Deutschland/Adlerhälfte“ gewidmet ist. 19 großformatige Bilder im Format 282 x 400 cm, von denen die letzten fünf 1982 geschaffen wurden. Begleitet wird die Serie von Zeichnungen und Ölstudien sowie bemalten Plastiken in Lindenholz, darunter einige, in denen der in Düsseldorf lebende Künstler seine große Skulptur für die Kasseler „documenta“ – eine bronzene Version des Brandenburger Tors – vorbereitete. Sie ist letztlich der Kulminationspunkt von „Café Deutschland“, einem erregenden Zeitkommentar in Bildern über das deutsch-deutsche Verhältnis.
Diese Ausstellung ist ein Paukenschlag. Die lebhafte Resonanz, die sie im vollen Haus bei einem sichtlich überraschten, teils begeisterten, teils kritisch betroffenen Publikum fand, zeigte, daß da etwas angerührt wurde, auf das man wohl lange gewartet hatte. Nun, da sie da sind, fragt man sich angesichts der Bilder: Wie war es möglich, daß dieses gravierende, uns alle betreffende Zeitthema erst jetzt in der deutschen Kunst aufgegriffen wurde? Natürlich ist es in Einzelarbeiten immer wieder einmal behandelt worden. Doch erst jetzt scheint die Zeit wirklich dafür gekommen zu sein.
Was an den Bildern schon auf den ersten Blick fasziniert, ist die emotionale Kraft, die sie trägt und erfüllt, die auf den Beobachter überspringt und ihn fesselt, noch bevor er begreift, was hier im einzelnen dargestellt wird. Es ist diese Intensität der Hingabe, die mühelos riesige Bildformate und komplizierte, verschlüsselte Kompositionen mit dem Schwung der Empfindung und des spontanen Pinselstrichs zu Organismen und Räumen zusammenschmilzt.
Alles bleibt da überschaubar in den Details, ist greifbar real, zugleich malerisch und plastisch. Und doch ist es reine Vision, in der tatsächlich Erlebtes – persönlich und zeitgeschichtlich-politisch Relevantes – sich mischt mit Fiktiven oder sich wandelt in Bildsymbole und Gleichnisse. Das aber macht diese Bilder – und auch die Plastiken – so spannend, daß man sich von ihnen einfange lässt, begierig ist, sie zu lesen und zu entschlüsseln, um ihnen auf den Grund zu kommen.
Keine platte politische Agitation also, wie man sie von früheren Arbeiten Immendorffs (etwa in der Münsteraner Ausstellung von 1973) kannte, und von der man sich überfahren fühlte. Hier ist es gelungen, sehr komplexen, auch politisch wesentlich offenerer gewordenen Aussagen eine künstlerische Dimension zu geben. Und man sollte auch nicht von „schlechter Malerei“ sprechen (auch wenn einige kleinformatige Ölstudien zum Teil unterschiedlich in der Qualität sind): Ähnliches hat man schon den Expressionisten vorgeworfen. Der Anstoß zu dieser Folge und zugleich zu einem Wandel in der Konzeption seines Werks gab der italienische Maler Renato Guttuso, der 1976 auf der Bienale in Venedig Immendorffs Ausstellungsnachbar war, insbesondere Guttusos kurz danach kennengelerntes „Café Greco“. Darin wird dieser legendäre römische Künstlertreffpunkt zum Schauplatz imaginärer Situationen, die Künstler und Kunst betreffen.
Entscheidend für die Konzeption des „Café Deutschland“ war dann ein Treffen mit dem Maler A. R. Penck in Ost-Berlin. Die Freundschaft mit dem DDR-Künstler, der später in die Bundesrepublik übersiedelte, wurde ihm zum Symbol für die Probleme des deutsch-deutschen Verhältnisses, für die Teilung Deutschlands und ihre ersehnte Überwindung.
Immendorff, 1945 in Bleckede an der Elbe geboren, war mit dieser Spaltung von frühester Kindheit konfrontiert. An der Düsseldorfer Kunstakademie, wo er zuerst in der Bühnenbildklasse von Teo Otto, dann bei Beuys studierte, wuchs er in die Studenten-Protestbewegung der sechziger Jahre hinein. „Café Deutschland“ brachte dem bisherigen Hauptschullehrer, dem im Kunstmuseum Basel (1979), in der Kunsthalle Bern (1980) und zuletzt im Steldelijk Van Abbemuseum Eindhoven (1981) Einzelausstellungen gewidmet wurden, nun den entscheidenden Durchbruch.
„Café Deutschland“ ist der symbolische Aktionsraum, der zum Spannungsfeld der konfrontierten „Systeme“ diesseits und jenseits der Mauer und der in ihnen lebenden Menschen wird. Es ist eine fortlaufende Geschichte in Bildern, in die auch einzelne, politische Tagesereignisse chronologisch verflochten sind, die aber wiederum nur das Typische lebendig machen. Andererseits aber entrückt eine sehr persönliche Symbolsprache das Geschehen dem trivialen Wirklichkeitsabklatsch. Der Charakter dieser Bilder ist nicht illustrativ, sondern vehement erlebnishaft, schließt immer auch Wunsch und Hoffnung der Überwindung des Gespaltenen ein, vor allem durch die häufige Anwesenheit des durch Mauer und System getrennten Freundespaares Immendorff und Penck im Bild.
Das beginnt schon in der 1977 entstandenen ersten Szene „Grenze“, in der die beiden Freunde neben der Passkontrolle an einem durch die Mauer halbierten Ping-Pong-Tisch stehen (er existierte wirklich). Im Hintergrund vor der Fahne Leibesvisitation durch einen Vopo. Überdimensional neben dem als Hoffnungsvision winzigen Brandenburger Tor ein Mensch, der die Spitzhacke gegen die Mauer schwingt. In einer andere Komposition steckt Immendorff Penck, der visionär vor dem Tor erscheint, die Hand durch die Mauer entgegen. Zwei Totempfähle – mit eingeschnürten Menschen über der symbolischen „Systemzwinge“ (einem Schlagzeugbecken) auf der einen, einem Wachturm auf der anderen Seite – markieren die Grenzen der beiden deutschen Staaten.
Während uns in einem Bild von 1978 George Brecht von seinem Geburtstagstisch im „Café“ die brennende Kerze zur „Erleuchtung“ der Menschen in beiden Teilen Deutschlands zuwirft, tritt in den späteren Café-Szenen eine zunehmende Vereisung des Klimas, der Bilder ein. Der weiße Schneestern, auf den Blutstropfen fallen, auf dem die Säule der „Quadriga“ mit stürzenden schwarz-rot-goldenen Pferden wankt neben im Schnee steckenden Schlagstöcken und der kanonenbestückten „Systemzwinge“, wandelt sich in den „Schwarzen Stern“, auf dem alles zusammenstürzt. Übrig bleibt die von einem „Sammler“-Fuchs weggetragene Eisscholle, auf der nur noch Reflexe der „Café-Deutschland“-Vision erscheinen, bewacht von einem Grenzpfahl-Adler. Tabula rasa. „Was stellen wir rein?“, fragt Immendorff in der Skizze zu diesem End-Bild.
In: Rheinische Post. Feuilleton/ Wissenschaft und Bildung, 1. April 1982
Dramen des Innern
Ölbilder von Cesar Klein in der Galerie Bläser
Wieder einmal stellt die Galerie Norbert Blaeser (Bilker Straße 5) einen Künstler vor, dessen überwiegend in der Zeit zwischen den Weltkriegen entstandenes Werk in der Abgeschiedenheit seines Ateliers nahezu dem Vergessen anheimgefallen ist: den 1876 in Hamburg geborenen, 1954 in Pansdorf bei Lübeck gestorbenen Maler Cesar Klein. Anregung zu dieser Retrospektive mit 20 Ölgemälden gab das im expressionistischen Stil gemalte Bild „Ruhe auf der Flucht“ (1918), das der Galerie-Inhaber im schleswig-holsteinischen Landesmuseum Schloß Gottorf entdeckte und das als Leihgabe auch in der jetzigen Verkaufsausstellung zu sehen ist.
Es entstand unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg in Berlin, als Cesar Klein dort zu den Mitbegründern der November-Gruppe gehörte. Der Künstler, der im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts an der Hamburger Kunstgewerbeschule, dann an den Kunstakademien in Düsseldorf und Berlin studiert hatte, war als freischaffender Maler 1903 aus Leipzig nach Berlin zurückgekehrt. Dort stellte er in der Sezession aus, war auch 1912 an der Kölner Sonderbund-Ausstellung beteiligt und gehörte 1914 zum Vorstand der Kölner Werkbund-Ausstellung.
1919 wurde Cesar Klein als Lehrer an die Berliner Akademie berufen und hatte in den folgenden Jahren unter anderem Einzelausstellungen in der Kestnergesellschaft Hannover und bei Gurlitt in Berlin. 1933 gehörte Klein zu den ersten, die die NSDAP vom Lehramt beurlaubte. Später zog er sich nach Pansdorf bei Lübeck zurück. Trotz seiner Nachkriegsausstellungen in den Kunsthallen von Hamburg, Kiel und anderen Großstädten sind Name und Werk von Cesar Klein noch wenig im Bewußtsein der Kunstfreunde präsent – unterlagen deshalb aber auch nicht kaum dem Verschleiß im Kunstbetrieb.
Die großformatige „Ruhe auf der Flucht“ in einer romantischen Gebirgs- und Flußlandschaft, deren Farben im letzten Tagesschein der Sonne rot und orange aufleuchten, während die Mondsichel über einem schon bläulich verschatteten Bergmassiv, über dem Zelt, dem davor sitzenden Josef, dem grasenden Esel, der im Zentrum des Bildes auf einem Hügel sitzenden zarten Madonna mit Kind aufgeht, ist bei aller Farbexpressivität eher still und verinnerlicht.
Solche introvertierte Empfindungsintensität, dabei nun eher subtil und klangvoll nuancierte, Seelisches reflektierende Farben, kennzeichnen auch die Bilder der zwanziger Jahre, mit ihren klar gegliederten und gegeneinander abgegrenzten, oft collagenhaft geschichteten Farbflächen mit kubistischem Einschlag. Die typisierend wiedergegebenen Figuren orientieren sich – im Stil der zwanziger Jahre – am klassischen Schönheitsideal.
Wir werden in diesen Gemälden Zeugen von Szenen, die mit innerer Dramatik aufgeladen sind. Sie scheinen aus dem Leben gegriffen und wirken doch inszeniert, als handele es sich um Theatergeschehen mit tragischem Hintergrund. Darauf deuten auch der in der Hand gehaltene Fächer, der unheimliche schwarze Schatten hinter einer „Frau mit Hündchen“ (1929) oder die volkstümlich-bäuerliche, wohl balkanesische Tracht der „Zwei Frauen mit Brief“ (1928): Weich fließende Linien, der Ausdruck von verhaltenem Schmerz und stillem Mitgefühl scheinen sie zu verbinden.
In den dreißiger Jahren hat sich der in Ungnade gefallene Künstler auf mythisch-symbolische Figurendarstellungen und Szenen zurückgezogen, die oft wie große beschwörende Zeichen reglos im Raum stehen, nicht selten vor kulissenartigen Prospekten oder Rahmen. Wieder wird man an Bühnenauftritte erinnert, die nun in eine fast kosmische Weite projiziert sind, auch an silhouettenhafte oder in Holz geschnitzte, farbig ornamentierte und strukturierte Figurinen.
Bezüge zum Kubismus, zur Pittura Metafisica, zu Henry Moore, auch zu den Zeichnungen von Archipenko und zu Picasso sind erkennbar in Bildern wie „Versuchung“ (1933), „Maternità“ (1945), „Botschaft der Taube“ (1947), „Eros“ (1947), „Lemuren“ (1949) oder „Sibylle“ (1953). Üppig barocke tänzerische Theatralik, Gestalten der Commedia dell’arte begegnen uns in dem schwungvollen „Tanz“ von 1951.
Man kann in diesen Gemälden die vielfältige künstlerische Tätigkeit Cesar Kleins auch auf den Gebieten von Bühnenbild, Wandmalerei, Glasfenster, Mosaik, Intarsien ahnen. Er schmückte viele öffentliche und private, profane und sakrale Gebäude und Räume aus. In diesen mit einer Ausnahme figürlichen Bildern verdichtet sich sehr stark der Geist des ersten Nachkriegs-Jahrzehnts mit seinem Erkunden unbekannter Seelengründe, seinem Hang zum Mythischen. Aber auch die Rückbindung an die frühen zwanziger Jahre wird in eigenwilliger Weise deutlich.
In: Rheinische Post. Stadtpost / Düsseldorfer Feuilleton, 19. März 1983.
Räume und Farben
Graubner-Schau im Düsseldorfer Kunstpalast
Man erlebt die Verwandlung einer nüchternen Halle in einen beseelten Raum. Gotthard Graubner setzte sich mit diesem Raum, seinen kalkweißen Wänden, seiner erdrückenden und zugleich alles verflüchtigenden Höhe und Weite auseinander, rang mit ihm „wie mit einer starken Persönlichkeit“, denn er sollte sich durch die Bilder „artikulieren“. Graubner hat seinen Widerstand bezwungen, seine Weite herabgestimmt, geradezu zusammengezogen um die Bilder. Sehr tief gehängt, im rhythmischen Wechsel von Gruppierungen, Formatgrößen, Zwischenräumen, Farbkontrasten vermitteln sie den Eindruck von Farbverwandlungen, Nähe zum Menschen, vom Glück der Begegnung. Es gelang, die Bilder in den Raum, den Raum in die Bilder zu integrieren. Umraum verliert sich im Farbraum, wird Wesensraum.
Wird beredte Stille, wortloser Dialog mit dem, der gekommen ist, sich auf Gotthard Graubners Meditationen in Farben einzustimmen, die der großen Halle, dem Kunstpalast im Düsseldorfer Ehrenhof, eine neue Seele einhauchen. Sie atmet in Farben die zugleich Raum, Stoff und Geist sind – oder Spur, die von einem zum anderen den Weg weist. „Nicht der Gongschlag ist das Entscheidende, sondern der Nachhall.“
Immer ist es das Dazwischen, das in diesen Farbflüssen, Farbräumen, imaginären Farbkörpern und –schichtungen, den sich tief ins schrundig Stoffliche eingrabenden, abstrakten Farblandschaften, artikuliert wird: die Spannung, das Vibrato, die Schwingungen, die den Ton, den Klang, die Bewegung und Modulation, die Intensität und Dichte, die Helligkeit und Dunkelheit, das leichte und Schwere, Warme und Kalte des Farbwesens bestimmen. Es ist schon erregend – visuell und imaginär den organischen Verschmelzungsprozeß der lasierenden Farben in den Bildern nachzuvollziehen, die sich an den Fließrändern oft schichtweise einzeln ausweisen, um dann zu einem Farbraumorganismus von wunderbarer Transparenz in immer neuen überraschenden Mischungen zueinander zu fließen, sich zu verdichten und wieder voneinander zu lösen.
Abgehoben von abbildhafter Bedeutung oder literarischen Inhalten, sind Graubners Farborganismen Gleichnisse von Schöpfungsvorgängen: ein Spiel sich harmonisierender Energien. Sie sind so auch Spiegel der Kräfte und ausstrahlenden Impulse der Natur und deren Entsprechung im menschlichen Wesen – nicht als rationale Analyse, sondern wie ein Atmen mit der Natur. Schon in frühen Zeichnungen aus den fünfziger Jahren hat Graubner an dem Motiv von Bäumen vor allem interessiert: Was bringt den Baum zum Wachsen?
Nicht als Stadt-, sondern als Landkind bezeichnet sich der 1930 in Erlbach (Vogtland) geborene Künstler, den Erlebnisse mit der Landschaft, mit Wolkenhimmel und Kornfeld früh geprägt haben. Später, an den Kunstakademien von Dresden und Düsseldorf, suchte und fand er seine „Ahnen“ in Turner, C. D. Friedrich, Rembrandt, Tizian, Velazquez, Goya, Rothko, Newman.
„Bei Tizian ergab sich eine Zusammengehörigkeit aller Farben, von denen jede einzelne nuancenreich belebt wird“, erwähnt Graubner. Durch die geschichteten Lasurfarben dringe „die Anschauung von Welt ... bis in den Kern des Wesens der Malerei“. Dabei zeige die Farbe, „was sie – nuancenreich und formbewegt dargestellt – über die Körperlichkeitsbezeichnung hinaus als Energie und geistige Macht“ vermöge. Farbe sei ihm Thema genug, sagt Graubner.
Nach seiner ersten Düsseldorfer Einzelausstellung in der Galerie Schmela 1960, den Ausstellungen im Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen (1969) und in der Kunsthalle (1977) bringt jetzt die Schau im Kunstpalast „Arbeiten auf Papier“ von Graubner. Mit 73 Exponaten umfaßt sie den Zeitraum von 1952 bis 1982, doch mit Schwerpunkt der Arbeiten aus dem letzten Jahrzehnt, darunter die seit 1972 entstandenen großformatigen „Fließblätter“. Einige davon sind in Verbindung mit seinen Ausstellungen in Venedig und New Delhi entstanden und erinnern in ihrer Arbatmosphäre an diese Orte: Tintoretto oder die Farbklänge Indiens, gemischt aus leuchtendem Rot, Orange, fahlem Violett und sandig-soinnigem fruchtigem Gelb, Ocker.
In den Fließblättern wird besonders deutlich, daß es in Graubners Werk keine Rangunterschiede zwischen Bildern und „Arbeiten auf Papier“ gibt, in denen der Künstler neben Bleistift, Aquarell, Gouache auch häufig Öl- und in jüngster Zeit auch Acrylfarbe verwendet. Nicht selten sind sie auf Keilrahmen aufgezogen. Auch im Format erreichen sie große Diemensionen. In dem von Coco Ronkholz in Verbindung mit Graubner gestalteten Katalog werden diese Arbeiten auf Papier überdies lückenlos vorgestellt; von den frühen Baum- und Aktzeichnungen, den aquarellierten „Zeichen“, den „Schwammgouachen“ über die Farbkörper, Kissenbilder, „Trampoline“ bis zu den Frottagen und Fließblättern. Auch die differenzierte Materialauswahl, seine Tonigkeit und Struktur scheinen immer von der Farbe inspiriert zu sein. Welche ein Weg von den frühen kleinen, im lichten Farbraum schwebenden Aquarell-Zeichen, einem flaumig-duftigen, rosigen „Nabel“-Bild bis zu den späten Diptychen und Triptychen mit ihren von Bild zu Bild überspringenden Farbmodulationen, -bewegungen, -metamorphosen, -kontrasten. „Fließblätter“ sind dramatische, von tiefen Furchen verletzte Seelenlandschaften, Furchen des Materials, die ins Fleisch gehen bis aufs Mark, schwer von ausblutenden, von Schwarz verletzten, leuchtenden Farbflüssen. Es ist Graubners heftige, sich in Farbenergie verdichtende Reaktion auf die Gegenwart. „ich mußte ein Leben lang auskommen mit diesen Kräften“, sagte Graubner.
In: Rheinische Post. Feuilleton / Wissenschaft und Bildung, 22. März 1983.
Bedrückende Phantastik
Kunst von Geisteskranken in der Galerie Heike Curtze
In seinem 1938 erschienenen Buch „Kunst und Rasse“ verglich der Maler, Architekt, Schriftsteller und Direktor der Weimarer Kunsthochschule Paul Schultze-Naumburg Bilder von Nolde, Modigliani, Picasso, Kirchner mit Photographien kranker, mißgestalteter Menschen und argumentierte, daß diese Künstler ihre Vorbilder „in Idiotengestalten, psychiatrischen Kliniken, Krüppelheimen“ gefunden hätten. Sie gehörten zu denen, deren als „entartete Kunst“ verfemte Werke im gleichen Jahr zu Tausenden aus den deutschen Museen entfernt oder zerstört wurden.
Der ehemalige Anstreicher Adolf Hitler hatte den Künstlern „grauenhafte Sehstörungen“ bescheinigt oder ihnen bewußten Betrug unterstellt, der mit Bestrafung oder Sterilisation geahndet werden müsse. Dies bekräftigte 1939 der Ordinarius an der Heidelberger Psychiatrischen Universitätsklinik Carl Schneider, indem er feststellte, daß die „entartete Kunst“ der Irrenkunst außerordentlich nahe stehe.
Diese Einstellung markiert den total gegensätzlichen Standpunkt zu dem in die Zukunft weisenden, 1922 erschienenen Buch von Hans Prinzhorn „Bildnerei der Geisteskranken“, in dem der Verfasser – damals Assistent am gleichen Heidelberger Institut – seine dort angelegte Sammlung künstlerischer Arbeiten von Geisteskranken therapeutisch auswertete. Fast gleichzeitig hatte der Schweizer Arzt Walter Morgenthaler das künstlerische und schriftstellerische Werk des schizophrenen Bauernknechtes Adolf Wölfli in der Anstalt Waldau bei Bern bekannt gemacht („Ein Geisteskranker als Künstler“, 1921).
An diese positive, therapeutisch hilfreiche Beurteilung der Kunst von Geisteskranken, deren künstlerisch-schöpferische Qualitäten vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg immer differenzierter erforscht, gefördert und herausgestellt wurden, knüpft auch Leo Navratil an. In der von ihm geleiteten psychiatrischen Abteilung des Niederösterreichischen Landeskrankenhauses für Psychiatrie und Neurologie Klosterneuburg hat er geduldig die Kranken zu der für sie so lebenswichtigen schöpferischen Arbeit ermuntert, die ihnen hilft, ihr Ich freizulegen. Zahlreiche Publikationen reflektieren sein Wirken, darunter „Schizophrenie und Kunst“ (schon 1965). Seit 1970 veranstaltet er vielbeachtete Ausstellungen künstlerischer Arbeiten der Patienten aus der Klinik in Galerien, Museen, auch im Krankenhaus selbst, übrigens mit großem Verkaufserfolg.
Zeichnungen von zwölf dieser psychiatrischen Patienten aus Gugging sind jetzt in einer Ausstellung „Zustandsgebundene Kunst“ in der Düsseldorfer Galerie Heike Curtze zu sehen. „Zustandsgebunden“ sind sie eben, weil man sie trotz ihrer immer wieder frappierenden künstlerischen Expressivität und erstaunlichen individuellen Eigenart nicht mit Arbeiten gesunder, unter „normalen“ Verhältnissen lebender Künstler vergleichen kann.
Am bekanntesten ist inzwischen Johann Hauser (geb. 1926 im slowakischen Bratislava), der seit 1949 in der Anstalt lebt und um 1960 zu zeichnen begann. Die meisten seiner in Erinnerung an Wirklichkeitseindrücke sehr sicher und eigenwillig vereinfachend umgeformten Zeichnungen entstehen in den manischen Phasen seiner Krankheit. Dann sind sie bunt, raumausgreifend, impulsiv, wie etwa ein Porträtkopf, der sich spiralig-wirbelig über den Rand ausdehnt. In den depressiven Phasen zeichnet er dann so einprägsame, sparsame, ernste, streng komponierte Blätter wie einen langen schwarzen abstrahierten Fisch, der vertikal über der Signatur mit pilzartiger Umrandung schwebt. Hauser erreicht nicht selten eine geradezu monumentale Surrealität, so auch in einem traurigen gelben Engel mit blauem Stern auf dem Kopf.
So verschlossen, introvertiert und kontaktlos zur Außenwelt wie der seit 1955 hospitalisierte Bauernsohn Frank Kernbeis sind auch seine sensiblen Blei- und Buntstiftzeichnungen: ein geflügeltes Tier ohne Augen und Gesicht oder eine kaktusartige Pflanze und sehr lyrisch-zarte, rhythmisch empfundene, abstrahierte Blumen. Eigenartige fragile Gitterarchitekturen, eine abstrahierte Katze, einen Menschenkopf in Rot und Violett, der zu einem als rote Gitterkonstruktion gebildeten Körper gehört, zeichnete Fritz Koller (geb. 1929), Sohn eines Landwirts, der seit seinem 22. Lebensjahr in der Klinik lebt: Menschliches, verstrickt in zwanghafte Geometrie.
Bei Oswald Tschirtner, der das Abitur mit Auszeichnung bestand und gern Priester geworden wäre, brach die Krankheit offenbar während des Kriegsdienstes und der Gefangenschaft aus. Er fühlt sich als Todgeweihter, der um Christi willen Leid tragen muß. Langgezogen, zart, fast zärtlich sind seine Tuschfederzeichnungen von Menschen, die in streifige Räume eingespannt sind. Ohne Körper stehen zwei schmale, lange Kamelhälse oder eine menschliche Kopfgestalt auf ihren Beinen. Eine Frauenhalbfigur hält ein Lämmchen oder eine Katze liebevoll im Arm, eine „Flucht nach Äypten“ entstand in abstrahierender, sensibler Deformierung nach einer Vorlage.
Die neueste Entdeckung ist J. F. (Johann Fischer), dessen höchst merkwürdige silhouettenhafte Tiere – Hühner und Hahn, ein Elefant ohne Kopf – sich dem Gedächtnis einprägen. Ganz präzise, fein gezeichnete Hausfassaden im Blumengarten mit einem jungen Liebespaar auf der Bank davor und einem Vogelschwarm zeichnete Otto Prinz, der in den letzten Jahren nur von drei Päckchen Zigaretten und einer Flasche Cola am Tag lebte und kürzlich starb. Auch er war als Soldat während des Ersten Weltkriegs erkrankt.
Johann Korbec verbindet seine illustrativen Aquarellzeichnungen dekorativ mit integrierten handgeschriebenen Texten. Anton Dobay reflektiert sein Ich in einer dunklen, schwarz-grün-violett gestrichelten abstrakten Raumvibration. Auch Johann Garber füllt die ganze Bildfläche mit seinen gezeichneten Erzählungen: phantastischen Tieren, Drachen, Hasenköpfen, fliegenden Erzengeln, Zwiebelturm-Kirchen, Frauen am Fenster.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 7. April 1983.
Ein flammender Tanz
Barbara Heinisch in der Galerie Zimmer
Barbara Heinisch, 1944 in Rathenow/Mark Brandenburg geboren, gehört zu den Künstlerinnen, die durch die Intensität und Ernsthaftigkeit des Erlebens die Neue expressive Malerei zu immer verdichteterer Bild- und Aussagekraft steigerten. Die ehemalige Schülerin von Beuys und Hödicke, die Auszeichnungen wie den Deutschen Kritikerpreis, Berlin, das PS-1-New-York-Stipendium, Berlin, und das Kunstfonds-Stipendium, Bonn, vorweisen kann, zog 1986 von Berlin nach Düsseldorf, wo sie von der Galerie Elke und Werner Zimmer (Oberbilker Allee 27) vertreten wird.
Ihre jetzt dort gezeigte Ausstellung mit Bildern aus zehn Jahren (1979-1989) läßt erkennen, welche Reife und Souveränität sie inzwischen erreicht hat. Auch ihr selbst erfundener und entwickelter aktionistischer, dialogischer Malprozeß ist in ein neues Stadium eingetreten. Barbara Heinisch malte früher ihre großen Tempera-Bilder (auf Nessel) in direkter gestischer Berührung mit ihrem Modell, das hinter der Leinwand agierte, tanzte, sein Wesen, seine Emotionen, seine Gegenwart und ihre Ausstrahlung in Bewegungen einbrachte und darstellte: Sie drückten sich ab und wurden von der Künstlerin malend aufgefangen. Doch keineswegs nur als reine motorische, dynamische Geste, sondern als energetisches Phänomen, als direkte Übertragung spiritueller und sinnlicher Energien an der Nahtstelle zwischen dem lebenden Körper und dem gemalten Bild.
Farbspuren im leeren Raum
Aus dieser Zeit solcher direkter Induktion stammt noch „Sprungkraft“ von 1979, ein Schlüsselbild jener Periode der blitzschnell nach Körperabdrücken gemalten Bewegungsabläufe. Sie stehen als Farbspuren im leeren Raum mit viel freigelassenem Nesselgrund und beziehen noch nicht das Umfeld als total visualisierten malerischen Organismus ein wie in den späteren Bildern. Kam hier die Inspiration durch ein männliches Modell, so ist das ebenfalls frühe dreiteilige „Totem und Tabu“ mit seinem roten, sich verströmenden Zentrum eine Beschwörung des Weiblichen. Es weist auf Ursprünge, Geburtsvorgänge hin.
Die seit 1987 entstandenen Bilder sind zwar weiterhin Dialogmalerei im Zusammenspiel mit Modellen, doch nicht mehr direkt auf den Körper gemalt. Der oft ekstatische Impuls teilt sich dem ganzen Bild mit, das sich in der Bewegtheit von Gestik und expressiven Farben verselbständigt.
In einer Kirche gemalt
In dem großen Tempera-Bild „Genesis“ von 1988 scheinen sich die farbdurchglühten violetten, goldgelben, erdfarbenen Figuren in einem rituellen, sakralen Tanz flammend und zugleich meditativ in einem gemeinsamen Imaginationsraum zu begegnen. Als durchsichtiger Farbraum schimmert er auch durch ihre Körper. Figuren, Bewegung und Bildgrund verschmelzen, Licht umfängt alles. Barbara Heinisch hat dieses Bild nach Musik von Ligeti in einer Kirche gemalt mit Robert Solomon vom Tanztheater Düsseldorf als Modell, während der ekstatische „Tanz“ (1987) nach Saxophonmusik, gespielt von Sibylle Pomorin, und mit der Kölner Tänzerin Mane Lu Leisch entstand.
In „Lichtsturz“ (1987) mit seinem von sakralem Licht getroffenen, unter der Kraft dieses Strahls zusammenstürzenden oder nach ihm greifenden Figuren verarbeitete die Künstlerin einen eigenen Traum. Immer wieder fordern sie Engel, Geistwesen und Lichtfiguren zur malerischen Auseinandersetzung heraus. Sie ist so intensiv, daß man in den Bildern geradezu eine Identifikation mit den Modellen zu verspüren meint.
Der „Sonnentanz“ von 1987 entstand als kraftvoll-vitales, farb- und lichtdurchglühtes Gegenbild - mit demselben Modell - zu „Tanz der Dämonen“: einer Ballung von Schrecken, Grauen und Leiden in morbiden, ausgelaugten Farben als Darstellung eines psychodramatischen Prozesses mit maskierten Figuren und als Reflex eines von ihrem Modell erlebten Motorrad-Unfalls. Gemalt wurde das Bild am Rosenmontag angesichts des närrischen Treibens auf den Düsseldorfer Straßen.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 27. September 1989
Von Manet zu Johns und den Jungen
Jubiläumsausstellung zum 15jährigen Bestehen in der Galerie Wittrock
Mit einer kostbaren Ausstellung von 15 Gemälden und Zeichnungen sowie 15 Graphiken feiert die Galerie Wolfgang Wittrock (Sternstraße 42) ihr fünfzehnjähriges Bestehen. Sie schlägt die Brücke vom französischen Impressionismus, Symbolismus und Fin-de-Siècle über die deutschen Expressionisten, über Beckmann, Picasso, Dali, Klee zu junger und jüngster Kunst der Gegenwart.
Zur Ausstellung, die auch einige Leihgaben aus Privatbesitz enthält, vor allem frühe Gemälde der Expressionisten, erschien ein Katalogbuch mit 30 Farbabbildungen aller ausgestellten Werke. Wittrock hat selbst darin den Werdegang seiner Galerie beschrieben. 1974 machte er sich in Düsseldorf selbständig und begann mit einer Photoausstellung von Brassai. Eine Reihe erfolgreicher, von Wittrock organisierter Ausstellungen für Museen in Stuttgart, Bern und München wurde 1985 gekrönt durch die Toulouse-Lautrec-Ausstellung für das Museum of Modern Art, New York.
Entscheidend bereichert wurde das bis dahin vor allem graphisch orientierte Galerieprogramm 1983 durch den Eintritt von Margret Heuser, der langjährigen Mitarbeiterin des verstorbenen Kunsthändlers Wilhelm Grosshennig. Ihren Erfahrungen sind die wichtigen Ausstellungen mit Bildern der Expressionisten des Blauen Reiter und der „Brücke“ zu verdanken.
Nicht wenige der jetzigen Exponate in der Galerie erinnern an Ausstellungen der Galerie in ihrem ehemaligen Domizil in der Sternstraße 16. Zum Beispiel eine Kreide-Lithographie „Les Courses“ von Manet, ein Probedruck der Auflage von 1884 im ersten Zustand: in samtig-schwarzem Strich werden hier das Pferderennen und seine Zuschauer zu einer lebhaft bewegten Struktur zusammengefaßt. Redons ätherische Lithographie „Beatrice“ (1897) entstand nach einem Pastell und wurde von A. Clot in Paris in ganz wenigen Exemplaren gedruckt.
Munchs berühmtes Motiv „Das kranke Kind“, das er bis 1927 immer wieder in Ölbildern und Graphiken variierte, erlebt man hier in der ungemein sprechenden, sinnlich-subtilen gestischen Strichführung der Zeichnung in farbigen Kreiden und Pastell auf Karton von 1896. Berechnende Verruchtheit, umschmeichelt von duftigem Charme verhüllender Gewänder, hat Toulouse-Lautrec in seiner signierten Vier-Farben-Lithographie auf Chinapapier von 1897 „Elsa, dite la Viennoise“ erfaßt.
Zu diesem Graphikangebot höchsten Ranges gehören auch Noldes extrem seltene Lithographie „Junge Dänin“ (1913): ein Frauenporträt, zerschmelzend fast im sinnlichen Reiz der Verführung, Dämonie und Melancholie, oder berühmteste Blätter von Picasso („Le Repas frugal“, 1904, „La Minotauromachie“, 1935), Kirchner („Akt mit schwarzem Hut“, 1912), Heckel („Männerbildnis/Selbstporträt“, 1919), Beckmann („Der Nachhauseweg“, 1919) bis hin zu Jasper Johns’ („Decoy I“, 1971), Felix Droeses in ihrem Symbolgehalt ergreifenden „Vogelpredigt (Hesekiel): Sammelt Euch“ von 1983 und Matthias Mansens „Situation, Straße, Hinterhaus“ (Paris, 1988),
Otto Muellers „Halbakt Zigeunermädchen“ (um 1925) in seinem unwiderstehlichen, in weichen farbigen Kreiden eingefangenen Charme mag überleiten zu so großartigen Bildern wie Jawlenskys „Dunkelblauem Turban“ (1910), Heckels flammenden frühen, noch von van Gogh und den Fauves beeindruckenden „Blühenden Apfelbäumen“ von 1907, Schmidt-Rottluffs „Weißem Haus in Dangast“, 1910, Franz Marcs „Fabeltier II (Pferd)“, 1913, August Mackes heiter-bestechender kleiner „Kolonnade mit Segelboot I“ (1913), Paul Klees spätem, den schwarzen Zeichen des Schicksals verfallenem Bild „Dieser Stern lehrt beugen“ von 1940 oder Emil Noldes farbglühendem, doch schon dem Vergehen anheimgegebenen „Herbstblumen“ (1931).
Gegenüber solcher künstlerischer Herausforderung enttäuschen aber auch die ausgewählten Bilder von Baselitz („Flügel“, 1972/73), Klapheck („Ballade“, 1984) und eine große Gouache von Helfried Hagenberg („ohne Titel“, 1989) keineswegs. Sie behaupten sich.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 28. September 1989
Wie eine seelische Folterkammer
Jannis-Kounellis-Ausstellungen in Amsterdam und Den Haag
„Via del Mare“, der Weg des Meeres – man stelle sich den einmal vor: Schon wird man getragen von unendlicher Bewegung. Jannis Kounellis, der 1936 in Piräus geborene, seit 1956 in Rom lebende Grieche, hat seine jetzige große Ausstellung in acht Räumen des Amsterdamer Stedelijk Museums „Via del Mare“ genannt. Man geht durch das Szenarium der Schau wie durch eine seelische Folterkammer. Die Sprache der Dinge und Objekte selbst, der Materialien in ihrem Verweis-Charakter, ihren Reihungen und Schichtungen, ihrem Zwiegespräch mit dem Raum ist überwältigend.
Eingerollt in Stahl: gezeichnete Menschenköpfe, Totenköpfe; 16 an einer langen Wand aufgereihte große Stahlplatten, darauf gepreßt, zwischen vertikale Eisenschienen und Steine, mit Eisen gefüllte Jutesäcke (1988). Um einen Pfeiler kreist auf einer Eisenspirale eine Eisenbahn. Das Fenster dahinter ist zum Teil mit Stahlplatten verschlossen. Einritzungen in der Wand sind mit Teer gefüllt. „Hommage an Piranesi“ nennt Kounellis diese Rauminstallation, die er 1977 für das Studio Tucci Russo in Turin machte. Natürlich fehlt auch die berühmte „Carboniera“ nicht, der mit Steinkohlen gefüllte Stahlträger für die Galleria L’Attico in Rom (1971). Für das Museum Zeitgenössischer Kunst in Bordeaux entstanden 1990 mächtige mit Kohle gefüllte Stahl-Container.
Arte povera, Kunst mit „armen“ Materialien, die doch hier mit Weltgeschichte, historischen, kulturellen, sozialen und autobiographischen Erinnerungen und der Ausdruckskraft ihrer Materialität aufgeladen sind – Kounellis ist einer ihrer hervorragendsten Repräsentanten. Burri, Fontana, Manzoni, die ihm nahestanden, hat er längst überflügelt.
Über einer Bodeninstallation von 1988 mit rund 12 000 aufgereihten Likörgläsern liegen organische Bleiformen, die Wachsen, Werden, Vergehen, Transformation signalisieren; mit den Gläsern spielt das Licht. Für das Museum von Capodimonte in Neapel fertigte Kounellis 1990 die großartige Installation mit über 50 alten Terrakotta-Krügen, großen und kleineren, einst Vorratsgefäße für Wein oder Öl. Mit Seewasser und Blut gefüllt, als lebensvolle, erdgebundene Formen stehen sie auf dem Boden, kontrastierend zu an den Wänden darüber an Eisenplatten hängenden, mit Kohle gefüllten Jutesäcken.
Wie Kounellis einst in seiner berühmten römischen Installation von 1969 lebendige Pferde in den Ausstellungsraum brachte, so begegnet man jetzt seinem lebenden bunten Papagei auf eiserner Stange oder seinem Ei auf Stahlplatte im stählernen Raum. Auf einer riesigen, über Eck gestellten Metallwand scheinen kleine Knospen aus Gips zu sprießen. Auf dem Fragment eines romanischen Holzkreuzes stehen goldverbrämte Kinderschühchen.
Ein Kreuz aus Eisenträgern ist mit einem Mantel bekleidet. Ein Kleiderständer steht vor einer mit Blattgold belegten Wand. Aus einem Objekt aus vier Stahlplatten quillt flockige weiße Wolle hervor. „Die Werke, in denen ich Wolle benutze, sind ein Echo des verlorenen Arkadiens außerhalb der Zeit“, schrieb Kounellis.
Parallel zu dieser Retrospektive in Amsterdam zeigt das Gemeentemuseum in Den Haag eine von Rudi Fuchs eingerichtete weitläufige Ausstellung mit Zeichnungen von Jannis Kounellis aus den Jahren 1970 – 1990 unter dem Titel „La stanza vede“ (Der Raum sieht). Als erste ihrer Art überhaupt erschließt sie ein bisher noch weitgehend unentdecktes Gebiet seines Schaffens.
Die Zeichnungen sind eine Offenbarung, denn in ihnen zeigt sich der unbändige Drang des Künstlers in die Freiheit des Raums. Variationen über Vögel und Flug etwa, in farbigen Fasern auslaufend in Kreide- oder Federzeichnung. Von einem dunklen Zentrum ausgehende blaue Strahlen ins Unendliche. Ein Raum mit schwarzer Tür und schwarzen Fenstern „sieht“, blickt uns an in Gesichtern auf den Wänden. In einem anderen, dunklen, fensterlosen qualmen Schlote. Ein melancholisches weibliches Gesicht mit einer Binde vor den Augen und wie im Flug verwehendem Hut schwebt im Freiraum. Rauch wandelt sich in schwarzes Haar eines weiblichen Aktes, der aus einem Schornstein herausgeschleudert wird. Farbfeuer glimmt in der Erde. Feuer, Rauch in Innenräumen, eine Industrielandschaft mit dampfender Lokomotive, eine archaische Architektur. Menschen tragen einander auf dem Rücken vor einer modernen Hausfassade.
In: Rheinische Post. Feuilleton, 2. Januar 1991
Hölzerne Ladies
Wie aus dem Schnittmusterbogen wirken sie, hart und eckig in den Kanten, die Modemädchen des Bildhauers Wolfgang Thiel. Gratig falten sich die Stoffbahnen gestylter Gewänder, die die gelängten Figuren hölzern umspielen. Knochig, faltig, präsentieren sie sich, die Ausgemagerten, Langbeinigen mit den spitzen Knien, spitzen Brüsten, spitzen Fingernägeln – fast Giacometti-Körper, doch verfremdet ins Groteske, zeitkritisch Frisierte, mondän Drapierte, in Holz erstarrte Mannequins zwischen Schlemmer, Picasso und Pop.
Gefroren auch die zur Schau gestellte erotische Stimulanz, die zur Maske geronnenen, ins Scheinwerferlicht getragenen Make-Up-Gesichter, aus denen jede Regung gewichen ist. Scheinbar lässig die einstudierten Haltungen: Marionetten, die sich selbst am Faden führen. Man kann sie jetzt in der Galerie am Stadtmuseum von Marlies Fischer-Zöller (Citadellstraße 25) kennenlernen, sich über sie amüsieren oder Anstoß nehmen an diesen tragikomischen Figuren der Jet-Set- und Schicki-Micki-Welt.
Das Material Holz ist wichtig. Hat es doch dieses Rauhe, Sperrige, das zur Groteske taugt und das die modische Eleganz parodiert. Die scharfen Grate und Einkerbungen, die oft naturbelassene Oberfläche in Verbindung mit den überzogenen Längenproportionen, dem Geltungsdruck der breiten Schultern, der überhohen Stöckelschuhe, des penetrant dargebotenen „Oben-Ohne“ schaffen nicht nur Spannung, sondern mischen dem Humor auch ein bißchen brutalen Horror bei, einen Schuß Aggressivität.
Hinzu kommt ein formaler Kunstgriff. Wolfgang Thiel arbeitet nämlich auf verschiedenen Ebenen. Seine Skulpturen entwickeln sich oft aus der Fläche zum Relief oder sogar bis zum Vollplastischen hin und zurück. Das intensiviert ihre Stoßkraft: eine Methode der versetzten und übermalten Flächen und Volumina, die schon Oskar Schlemmer angewandt hat. Thiel benutzt überdies außer dem skulptierten Holz ganz prosaische Kistenbretter, Paletten, Balken, die als flächig-lapidare Kleidung, als Sitzgelegenheit, Podest, Liege dienen: Kleidungs- und Möbelstücke, die auch ein wenig an Panzer oder Marterinstrumente erinnern. Manche Figuren verschmelzen mit Objekten, vor allem thronartigen Stühlen. Die Verbindung zwischen Körper, Gewand und Objekt stellt die farbfröhliche Bemalung her. Im Wandobjekt „La Piscine“ schwappen sogar munter gemalte Wellen des Swimmingpools über die auf einer Luftmatratze sich aalende Dame.
Ja, es ist eine amüsante Ausstellung von Wolfgang Thiel (geboren 1951 in Zweibrücken), der in Stuttgart studierte. Seit 1986 hat er einen Lehrauftrag an der dortigen Akademie. Daß er ursprünglich Bühnenbildnerei studierte, ist aufschlußreich. Dennoch hat er bis 1982 eher strenge, introvertierte, sogar sakrale Plastiken gemacht. Erst seit 1983 entstanden seine großen, nun bemalten Holzplastiken.
„Silvia“ (in Anlehnung an Otto Dix’ Porträt der Journalistin Silvia von Harden aus den zwanziger Jahren) im roten, himmelblau gepunkteten Kleid mit grünem Haar sitzt streitbar und leicht morbide auf ihrem hohen Holzlattensitz. „Madame Recamier“ ruht unbequem unter ornamentierter Bretterdecke. Das mit einem Möbelstück verwachsene Terzett mit streng einseitig ausgerichteter Kopfhaltung besingt die „Magie des Schönen“.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 18. Januar 1991
Von der Tombola zum Millionending
Werke von Schlemmer, Loos und anderen bei Bröhan
Die „Geteilte Halbfigur nach rechts“ in Gouache und Bleistift auf Papier von Oskar Schlemmer (Bauhaus 1923), ein Millionenobjekt, und eine Kommoden-Uhr in Messing und Glas mit intaktem Originalwerk von Adolf Loos (um 1898, 160 000 Mark) sind Spitzenwerke einer hochrangigen Ausstellung mit Neuerwerbungen des Jahres 1990 in der Galerie Torsten Bröhan, Gartenstraße 41. Gezeigt werden Kunsthandwerk und Industriedesign aus dem Zeitraum 1890 bis 1990, insgesamt 133 Arbeiten aus Glas, Keramik, Metall, dazu Möbel sowie Bilder und Graphiken von Künstlern des Bauhauses.
Es handelt sich dabei, dem Anspruch dieser Galerie entsprechend, um Dinge, die sich durch Originalität, Schönheit und Reinheit der Form auszeichnen. Nicht wenige dieser Einzelstücke, die im Lauf des vergangenen Jahres Preissteigerungen von 50 bis 100 Prozent erreichten, sind beispielhaft für die historische Entwicklung formkünstlerischer Gestaltung.
Vertreten sind nicht nur führende Entwerfer der Wiener Werkstätten wie Josef Hoffmann, Koloman Moser, Michael Powolny, Otto Prutscher, sondern auch Meister des Bauhauses, darunter Marcel Breuer und Kandinsky, der Dresdner Werkstätten (Richard Riemerschmid), des holländischen und belgischen Jugendstils (Jan Eisenloeffel, Henry van de Velde), bis hin zu jungen Designern von heute.
Die wunderschöne Gouache von Schlemmer, die eine gewisse Nähe zu Paul Klee verrät und jetzt einen kostbaren Renaissance-Rahmen aus der Sammlung Conzen bekam, trägt auf der Rückseite die Widmung „Für die Tombola des Metallischen Festes im Bauhaus Dessau gestiftet von Oskar Schlemmer“. Der flächige, in Farbsegmente geteilte Profilkopf erscheint in verschiedenen Ebenen versetzt wie Schlemmers gleichzeitige Reliefs und korrespondiert in seinem feingestuften Farbspiel mit dem konstruktiven, ebenfalls vor- und zurücktretenden Flächenmuster seines Hintergrunds. Der melodische Umriß des Profilkopfs antwortet einer Vasenform: Fugato und lyrische Kantilene.
Strenge Noblesse
Die trapezförmige Messinguhr des Wiener Architekten Adolf Loos mit ihrem freischwebenden Achttagewerk nimmt in der strengen Noblesse ihrer avantgardistischen Formgebung um die Jahrhundertwende schon den Bauhausstil vorweg. Kandinskys 1922 am Bauhaus gedruckte Farblithographie „Kleine Welten IV“ verbindet Malevitchs Drang ins Universum mit den „kleinen Welten“ des Diesseits – Wasser und Boot sind zu erkennen – zu einem zauberhaft leichten, poetischen Spiel. Eine kleine Rarität ist auch eine lithographierte Postkarte Kandinskys zur Bauhaus-Ausstellung 1923.
Zwei Stühle, die Geschichte machten: Henry van de Veldes „Bloemenwerf-Stuhl“ von 1894/95, den er für sein eigenes Haus in Uccle entwarf. Damals gab er die Malerei auf, wandte sich ganz dem Design zu. Und Marcel Breuers Lounge-Chair aus verchromtem Stahlrohr mit originalem Eisengarnbezug (um 1930), zusammen mit einem Tisch (verchromtes Stahlrohr, Glas, um 1928) und einem Regal (verchromtes Stahlrohr, schwarzgebeiztes Holz, um 1928). Sehr elegant in seinen schwingenden Stahlrohrelementen ist ein Stuhl mit Korbgeflecht, den Mies van der Rohe 1927 für die Stuttgarter Weißenhofsiedlung machte.
Begeisternd in der Kultur der Formgebung und Ausführung sind auch viele kleinere Gebrauchsobjekte. Den Wiener Werkstätten steht eine in ihrer Kelchform sehr schlichte Loetz-Vase mit stilisiertem Seerosendekor nahe (um 1900). Ein Unikat ist Jan Eisenloeffels kupfernes Tintenfaß (Holland, um 1900). Josef Hoffmanns sich üppig wie eine Frucht entfaltende Teekanne in Silber und Elfenbein (1918) wurde in den Wiener Werkstätten ausgeführt. Apart eine schlanke Tischlampe des Dänen Poul Henningsen (1925). Und wer möchte nicht gern mal einen Apfel zum Nachtisch mit Henry van de Veldes schnittigem Obstbesteck schälen?
Aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wären etwa eine schlanke Silbercasserole von Henning Koppel, dem Chefdesigner bei Georg Jensen (Dänemark) zu nennen oder zwei Ariel-Gläser, die Edvin Öhrström (Schweden) um 1950 für Orrefors machte, und eine charmante kleine „Taschentuchvase“ aus gekräuseltem dünnen Glas von Venini/Fulvio Bianconi, Murano um 1960.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 19. Januar 1991
Noten in Bildern, verständlich für Kinder
Der in Düsseldorf lebende Buch-Illustrator Johannes Grüger wird 85 Jahre / Herkunft aus Breslau
Kinderbuch-Illustratoren sind andere Menschen, oft stille, feinfühlige, versponnene. Wie könnte es auch anders sein, wenn man täglich mit Engeln und Heiligen, mit Königen und Helden, mit Blumen und Schmetterlingen, mit Tieren zu Wasser und zu Lande oder mit Sonne, Mond und Sternen verkehrt, sie nach ihrem Wesen, ihrer Gestalt fragt; wenn einem die Bilder zuwachsen aus vielen, vielen Geschichten?
Johannes Grüger, der gestern sein 85. Lebensjahr vollendete, hat unzählige Kinder in aller Welt erfreut, hat ihnen in früher Jugend eine Welt der Bilder, der Phantasie aufgeschlossen, die sie innen reich machte fürs Leben. Weit über 120 von ihm illustrierte Kinderbücher erreichten rund um den Globus eine Gesamtauflage von mehr als zehn Millionen Exemplaren.
Bunte Kreidevögelchen
Aus Musik sind sie erwachsen. Ganz am Anfang waren sie Ansporn zum Singen der Kleinsten in der Schule. Als die nämlich Notenköpfe auf der Wandtafel nicht begriffen, verwandelte sie ihr Musiklehrer Heribert Grüger, der ältere Bruder von Johannes Grüger, flugs in farbig gezeichnete Kreidevögelchen, die auf den Notenlinien munter zwitscherten und die Höhen und Tiefen der Töne, ihren Auf- und Abstieg markierten. Die Idee der „Liederfibel“ war geboren und wurde umgehend von seinem Bruder, dem Zeichner, verwirklicht.
1926 erschien die erste „Liederfibel“ in der Ostdeutschen Verlagsanstalt von Viktor Kubczak in Breslau, wo Johannes Grüger 1906 als Sohn des Kalligraphen Max Grüger geboren wurde. Der 21jährige besuchte damals die Theaterklasse von Professor Hans Wildermann an der Breslauer Kunstschule (1926-1929) und war anschließend zwei Jahre als Bühnenbildner tätig.
Die schon bald außerordentlich erfolgreiche „Bilderfibel“ von Johannes und Heribert Grüger, der zwei weitere unterschiedliche Ausgaben folgten und die auch im amerikanischen Verlag Lippicott & Co. in Philadelphia verlegt wurde, brachte Johannes Grüger auf den Weg des Buch-Illustrators. In den dreißiger Jahren war er außerdem Gemälderestaurator in den Städtischen Kunstsammlungen Breslau. Während des Kriegs gingen alle seine frühen Arbeiten dort zugrunde, auch die Druckstöcke und Lithos der „Bilderfibel“. 1945 kehrte Johannes Grüger mit einem einzigen geretteten Pinsel zu seiner in das Dorf Aiterhofen bei Straubing geflohenen Familie – er war mit der Schauspielerin Erika Fricke verheiratet – heim. Dort fand sich bald auch der Verleger Viktor Kubczak ein.
Nach einem erhalten gebliebenen Exemplar malte Grüger die Illustrationen zur „Liederfibel“ neu, und Kubczak gab sie 1949 – auch neu gestaltet – in dem von ihm gegründeten Brentano Verlag Stuttgart heraus: wieder mit durchschlagendem Erfolg. Die Auflage stieg in den nächsten Jahrzehnten in die Hunderttausende, später auf 1,5 Millionen.
Im Spiele lernen
Denn auch nach dem Tod Kubczaks, als der Düsseldorfer Schwann-Verlag die Rechte übernahm und die Werke mit neuen Bildern in acht verschiedenen Auflagen edierte, hatte die Zauberformel, Noten wie im Spiel durch Bilder zu lernen, nichts von ihrer Kraft verloren. Es erschien auch eine Sonderauflage mit acht Liedern und einer Schallplatte, auf der ein Kinderchor, begleitet von Orffscher Musik, singt.
Drei Generationen von Kindern sind nicht nur mit der „Liederfibel“ aufgewachsen, sondern auch mit den vielen anderen von Johannes Grüger illustrierten Kinderbüchern. Genannt seien besonders die in ihren Bildern – einer inspirierten Mischung aus mittelalterlicher Miniatur und unschuldsvoll-naiver Kunst – auf so wundersame Weise kindhaften religiösen, im Patmos-Verlag erschienenen Bücher, darunter die „Kleine Eckersche Schulbibel“: ein Welterfolg.
Sie wurde in 27 Sprachen übersetzt, zum Beispiel ins Russische, Ukrainische, ins Arabische, in die Sinti-Sprache, in verschiedene afrikanische Dialekte und in Indianersprachen. Die für noch kleinere Kinder gedachte „Bilderbibel“ erreichte in Deutschland und acht weiteren Ländern, von der Tschechoslowakei bis Borneo, eine Gesamtauflage von über 350 000 Exemplaren.
Neben seinen Illustrationen hat Johannes Grüger, der seit 1951 in Düsseldorf lebt, unter dem Eindruck der Schrecken und Ängste der Kriegs- und Nachkriegszeit expressiv-surreale, phantastische, Kubin, Brueghel, Bosch nahestehende Federzeichnungen geschaffen. In dieser Zeit malte er auch zwei kleine niederbayerische Kirchen aus.
In: Rheinische Post. Feuilleton, 13. Februar 1991
Ein Herzensanliegen
Seit 30 Jahren ist Yvonne Friedrichs in Düsseldorf als Kunstkritikerin unterwegs
Wenn Yvonne Friedrichs unterwegs ist, hat sie es meistens eilig. Doch sobald sie ihr Ziel erreicht hat, nimmt sie sich die Zeit, die ihr eigentlich fehlt. Ob sie Ausstellungen besucht, über die sie schreiben will, oder der Redaktion einen Besuch abstattet, für die sie eigentlich längst geschrieben haben sollte – stets dehnt sich ihr alles nahezu schicksalhaft in die Lange.
Das kommt nicht von ungefähr. denn Yvonne Friedrichs, seit 30 Jahren Verfasserin von Kunstkritiken für die „Rheinische Post“ in Düsseldorf und darüber hinaus, zählt nicht zu den kalten Routiniers, die sich beim Schreiben lediglich einer Pflicht entledigen. Kunst ist ihr ein Herzensanliegen, der Künstler eine Autorität. Für seine Arbeit um Verständnis zu werben, darin erblickt sie ihre vornehmste Aufgabe.
Künstler, Galeristen, Museumsleute und am meisten selbstverständlich ungezählte Leser wissen es zu schätzen. Wendet sich Yvonnen Friedrichs doch an ein Publikum, das in Kunst weniger einen Spiegel der Zeit als einen Hort höherer Werte erkennt. Nicht ohne Grund benutzt sie oft und gern Begriffe wie „mythisch“ und „Mystisch“ – eine Romantikerin in einer Epoche, in der das Wahre, Gute, Schöne immer mehr wie ein Relikt aus dem vorigen Jahrhundert erscheint.
Dabei zählt Yvonne Friedrichs keineswegs zu denen, die einer vermeintlich besseren, künstlerisch ertragreicheren Vergangenheit nachtrauern. Im Gegenteil, über 30 Jahre hinweg hat sie sich ihre Neugier auf die Kunst der unmittelbaren Gegenwart erhalten. Ihr besonderes Interesse gerade an meditativen, im Metaphysischen wurzelnden Werken erklärt sich aus den Erkenntnissen, die sie auf ihren Reisen in den Orient, den Fernen Osten und in Länder der Dritten Welt erworben hat. In Persien war sie ebenso unterwegs wie in Pakistan, in Indien wie in Peru und Bolivien.
Zuweilen hat Yvonne Friedrichs die Seite gewechselt, hat selbst Ding in Gang gesetzt, die sie sonst nur schreibend begleitete. So gab sie zusammen mit anderen den Anstoß zur Errichtung des (inzwischen geschlossenen) Skulpturenparks der Firma Horten am Seestern, arrangierte für fünf Stationen eine Kunstschau mit dem Titel „Blickpunkt Niederrhein“, brachte Kunst sogar in die Schaufenster der Königsallee. Nach wie vor allerdings bildet den Mittelpunkt ihres Lebens das Schreiben; nicht nur in der „Rheinischen Post“, sondern auch zum Beispiel in den Fachzeitschriften „das kunstwerk“ und „Weltkunst“.
Düsseldorfs dienstälteste Kunstkritikerin, die ihr Geburtsdatum zur Geheimsache erklärt hat, ist durch ihre sie immer wieder herausfordernde Arbeit jung geblieben. Kompliment!
Bertram Müller In: Rheinische Post. 26. November 1991
Stets voller Selbstvertrauen
Yvonne Friedrichs geehrt
Mehr als hundert Gratulanten – Künstler, Museumsleute, Galeristen – waren der Einladung ins Stadtmuseum gefolgt, um der seit 30 Jahren in Düsseldorf tätigen RP-Kunstkritiker Yvonne Friedrichs ihre Reverenzen zu erweisen. Hausherr Wieland König rühmte ihr nach, sie habe ihre Berichte „niemals mit der heißen Nadel gestrickt“ – und schon gar nicht gestochen“; vielmehr arbeite sie stets gründlich und dabei nie verletzend. Kulturdezernent Bernd Diekmann bestätigte dies mit seiner Beobachtung, daß Yvonne Friedrichs nach Ausstellungs-Pressekonferenzen immer zu den letzten zähle, die das Haus verließen.
RP-Feuilletonchef Reinhard Kill schließlich zeichnete in seiner launigen Laudatio eine Persönlichkeitsskizze von Yvonne Friedrichs, die von Detailkenntnis zeugte: das Leben einer von schier grenzenlosem Selbstvertrauen erfüllten Frau, über der auf ungezählten abenteuerlichen Erkundungen der Erde offenbar stets ein Schutzengel schwebte. Gerührt bedankte sich die solchermaßen Durchschaute mit improvisiert vorgetragenen An- und Einsichten über Kunst und die Welt für die Zuwendung, die ihr an diesem Abend von allen Seiten entgegenschlug. Applaus und ein Glas Alt aufs weitere Wohlergehen.
Rheinische Post, 27. November 1991.
Drei Generationen - unter einem Dach vereint
Ausstellung des Westdeutschen Künstlerbunds im Landesmuseum Volk und Wirtschaft
„1945 – da werden Erinnerungen wach an das Ende der apokalyptischen Bombennächte, an die Rückkehr der Überlebenden in Trümmerstädte, demoralisierte Heimkehrer mit nichts in den Händen. Es blieb wenig Zeit, um über Ursache und Schuld nachzudenken, weil die elementarsten Bedürfnisse, ein Dach über dem Kopf zu haben, das Stillen des hungrigen Magens, die letzten Kräfte des gelähmten Lebenswillens forderten . . . Und doch werden diese ersten, wirtschaftlich von Unmoral, Sorgen und Resignation gezeichneten Jahre für den, der sie mitgemacht hat, unvergeßlich bleiben als eine später nie wieder erlebte Zeit beherzter kultureller Aktionen, leidenschaftlicher Diskussionen und nicht lahmzulegender Aktivitäten – allerorten . . . Was war das damals für eine aufregende Sache, einen Quadratmeter Leinwand oder Karton ergattert zu haben . . .“ Dies schreibt Thomas Grochowiak in seinem Katalogtext „Im Blick zurück“ auf die Gründerjahre des Westdeutschen Künstlerbundes.
Vor solchem Hintergrund die 25. Hauptausstellung des 1946 in Hagen gegründeten Westdeutschen Künstlerbundes zu sehen, ist vielleicht gerade im Augenblick naheliegend. Sie wird erstmals außerhalb ihres Stammsitzes, des Hagener Karl Ernst Osthaus Museums, im Düsseldorfer Landesmuseum Volk und Wirtschaft am Ehrenhof gezeigt. Der neue Vorsitzende des Westdeutschen Künstlerbundes, Utz Brocksieper, will auch die nächsten, weiterhin im zweijährigen Turnus veranstalteten Hauptausstellungen in verschiedenen rheinisch-westfälischen Städten präsentieren. Die damit traditionell verbundene Verleihung des Karl Ernst Osthaus-Preises in Höhe von 10 000 Mark wird dann jeweils im Zusammenhang mit einer alternierenden Themenausstellung in Hagen vergeben.
Im Westdeutschen Künstlerbund haben sich im damals neugegründeten Nordrhein-Westfalen Künstler zusammengeschlossen, die in dieser Region geboren sind oder dort leben und arbeiten. Auch Vorstand und Juroren setzen sich aus gewählten Künstlermitgliedern zusammen. Geschäftsführer ist der Direktor des Karl Ernst Osthaus-Museums, Michael Fehr.
Knapp ein Drittel der 100 in dieser Jubiläumsschau vertretenen Künstlerinnen und Künstler, darunter 35 Gäste, wohnen im Rheinland, die anderen überwiegend in Westfalen. Die Schau wurde geschickt, locker gegliedert und in den nicht eben leicht „bespielbaren“ Räumen auf drei Etagen aufgebaut. Man kann sich auf jedes einzelne Werk ungestört einlassen. Ein gutes Niveau integriert Arbeiten von drei Generationen aus den letzten drei Jahren, und besonders die Jugend sorgt für manche Überraschung.
Gleich eingangs im Vestibül begegnet man einer großen Landschaft in Acryl und Pastell von Ludmilla von Arseniew, in der sich systematisierende Strenge und informelle Spontaneität zur prickelnden Farbstruktur verweben. Rolf Noldens „Glasbogen“-Objekt aus gespaltenen Glasscheiben fasziniert durch seine grünschimmernde Lichttransparenz. In Wulf Noltes große abstrakt-expressive Landschaft „Rückblick auf Texel“ taucht der Blick ein in großflächig strömendes und doch in sich ruhendes atmosphärisches Grau, Blau, Schwarz und Weiß nordischer Melancholie.
Gleich daneben suggeriert Margot Kerchners Wandinstallation „Orgelpfeifen“ aus Fließbandgummi, die sich gleichsam wie durch Luftgebläse ausdehnen, öffnen und schließen, visuelle Musik mit vollen und zurückgenommenen Tönen. „Inzucht“ nennt Victor Ronato seinen amüsanten Kreis aus igelartigen Stachelwesen, bestehend aus Roßhaarbürsten und einem Spiegel. Christina Hoppes kassettenartige Bodenplastik mit Deckel im Holz ist wie eine konstruktive Blume mit Holunderblüten gefüllt. In wilder, gestischer Vitalität stürmen die Farben durch Thomas Grochowiaks großartiges Tusche-Bild „Nach Mozart: Dies irae aus dem Requiem“. Oder sie fangen einen „Lichteinbruch“ auf in Sigrid Kopfermanns sprühendem Gemälde.
Wie in Luft aufgelöst, schaukelnd im Wind, ein Medium der Phantasie, ist Günter Zins’ ganz immaterieller „Fliegender Teppich“ der Phantasie aus zarten Edelstahlstangen. Graphisch-linear, raumdurchlässig sind auch Utz Brocksiepers „2 Keile in Aktion“ aus roten Vierkantrohren. Unverkennbar die sich ganz dem Raum anvertrauenden feinen Blätter in Aquarell und Feder von Gabriele Grosse und der „Molekularkörper“ in eloxiertem Aluminium und Acrylglas von Karl-Ludwig Schmaltz.
Mancherlei witzige illusionistische Täuschungen baute Silke Rehbert in ihr Mixed-Media-Objekt „Amphitrite trifft Flipper“ im Untergeschoß ein, wo auch Jens Christian Brand sein verspieltes, durch kleine Ventilatoren bewegtes „Triptychon für Carlos Gardel“ platziert.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 11. September 1992
Schauer und Schönheit
„Zauber des Rheins“, zu sehen in Bonn und Koblenz
Wenn Ernst Moritz Arndt einst in napoleonischer Zeit den Rhein als „Deutschlands Fluß, nicht Deutschlands Grenze“ proklamierte, so kann das im Europajahr 1992 eine ganz neue Dimension einschließen. Dieser ins Übernationale verweisende Aspekt findet seine zunächst überraschende Bestätigung in einer nicht absichtslos gerade jetzt in zwei Museen der Region, dem Mittelrhein-Museum Koblenz und dem Rheinischen Landesmuseum Bonn, arrangierten Ausstellung.
Ihr Titel „Vom Zauber des Rheins ergriffen ... Zur Entdeckung der Rheinlandschaft vom 17. bis 19. Jahrhundert“ entspricht ganz der Faszination, in die sie den Betrachter und auch den Leser der Katalogtexte verstrickt: sei es in Koblenz, wo niederländische Malerei, Zeichnungen, Graphik des 17./18. Jahrhunderts den Reigen des Rhein-Zaubers eröffnen, oder in Bonn, wo Klaus Honnef in sichtlicher Sammelfreude ein pittoreskes Ensemble von Gemälden, Aquarellen, Zeichnungen, Aquatinta-Arbeiten, Stichen, alten Photographien sowie Karikaturen vornehmlich britischer Künstler des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts zusammenstellte.
Aber auch Reisekoffer und –kamera, Reiseapotheke und –farbkasten, eine Lampe zur Beleuchtung der Kutsche, ein Modell der belgischen Postkutsche von 1830 oder des Dampfschiffs „Friede“ von 1886 fehlen als greifbare Zeitzeugen nicht. Gleich eingangs wird der Besucher mit der vergrößerten Zeichnung des „karierten“ reisenden Engländers „Mister Pief“ mit Fernglas von Wilhelm Busch (1882) konfrontiert und mit Richard Doyles ironisierender Rheinzeichnung „The Scenery becomes mysterious“ (Die Szenerie wird mysteriös). Romantik ist angezeigt.
Die Entdeckung der Rheinlandschaft für die Kunst ging keineswegs von den Deutschen, sondern von den Niederländern Ende des 16., Anfang des 17. Jahrhunderts aus. Auf den Bildungsreisen nach Italien wurde man auf die Schönheit und Phantastik des Rheins zwischen Köln und Bingen aufmerksam. Von Anfang an ging dieses Imaginäre, Märchenhafte und Sagenumwobene, das Stimmungsbetonte in Bilder mit Rheinmotiven ein, etwa von Roelant Savery, dem einstigen Hofmaler Rudolfs II. in Prag, der von 1617 an in Amsterdam und Utrecht wirkte, und dem von ihm beeinflußten Herman Saftleven.
Selbst der andere Zweig niederländischer Landschaftskunst, die durch den Aufstieg Hollands zur Welt- und Handelsmacht hoch favorisierte und in berühmten Sammelwerken verlegte realistische Vedute, blieb vom Zauber des Rheins nicht unberührt. In Koblenz kann man sich in die atmosphärischen, ins traumhaft Zeitferne entrückten Blauräume der dennoch glasklaren und präzise dokumentierenden aquarellierten Federzeichnungen von Wenzel Hollar entführen lassen: von Boppard etwa, Ehrenbreitstein, dem Mäuseturm bei Bingen.
Der Prager Künstler begleitete damals, 1636, den englischen Gesandten Arundel von Köln aus als Zeichner auf seiner Reise nach Wien. Selbst Böllerschüsse vom Festungsturm Engers zur Begrüßung des Schiffs-Konvois scheinen in verklärter Stille am menschenleeren Rheinufer zu verpuffen.
Noch sanfter schmiegen sich Berge und Burgen in den braun-, grau- und blautonig lavierten Federzeichnungen von Lambert Droomer (1662) mit ihren rhythmisierten Schattenpartien in den Lichtraum seiner schon nicht mehr topographisch genauen kleinen Ideallandschaften mit reglosen Staffagefigürchen.
Dem bürgerlichen Kunstgeschmack des 17. Jahrhunderts in den Niederlanden kamen dann besonders Herman Saftlevens phantastische, seit 1640/50 entstandene Ideal-Landschaften entgegen.
Wie außerordentlich beliebt und populär der auch von dem Barockdichter Joost van den Vondel besungene Rhein als Kunstmotiv schon damals war, beweisen in Koblenz zwei sehr kleine Rheinlandschaften von Saftleven. Sie hingen in der „Kunstkammer“ eines holländischen Puppenhauses (um 1674/79), das sich heute im Centraal Museum Utrecht befindet.
Daß selbst die Wirklichkeit phantastische Züge annehmen kann, verrät ein Kupferstich von Hendrik de Leth aus dem topographischen Werk „Gezichten längs den Rhijn ... von F.W. Grebe, Amsterdam, 1767“. Wie ein riesiger Lindwurm schlängelt sich auf dem Blatt ein Floß durch den Fluß. In einem Rheinreisebericht von 1789 wird es als „schwimmende Holz Insel“ von 1000 Fuß Länge, 90 Fuß Breite, mit zehn bis 13 geräumigen Hütten darauf beschrieben, die von 400 bis 500 Ruderknechten und Arbeitern bewohnt wurden.
Wie extrem ist aber der Gegensatz zwischen den sublimen Zeichnungen von Vincent Laurensz van der Vinne und seinem haarsträubenden Bericht über die Beschwerlichkeit und Gefährlichkeit der auch ständig von Raubrittern und plündernden Soldaten bedrohten Rheinreise in damaliger Zeit! Das wurde im 19. Jahrhundert anders durch die Entwicklung der Dampfschiffahrt, später der Eisenbahn. Als 1816 der erste Dampfer „Prinz von Oranien“ von London nach Köln fuhr, dauerte die Reise von Rotterdam nach Köln nur noch knapp vier Tage. Und als 1827 die Preußisch-Rheinische Dampfschiffahrts-Gesellschaft den ersten regelmäßigen Personenverkehr zwischen Köln und Mainz startete, wurden schon im ersten Jahr über 18 000 Passagiere befördert. Ihre Zahl hatte sich zwei Jahre später verdoppelt. Fast die Hälfte davon – 16 000 Touristen – kam aus England. Die Reiselust der Bürger drängte die einstige Grand Tour der Gebildeten in den Hintergrund. Der Massentourismus hatte begonnen.
Schauer, Schönheit, Erhabenheit von Natur, Historie, Sage, Traum, fast mystischer Übersteigerung. Ruinenromantik werden von den nach dem Ende der napoleonischen Kriege den Rhein bereisenden englischen Künstlern in wahren Bildwundern reflektiert: als Meister über allen William Turner.
In: Rheinische Post. Feuilleton, 19. September 1992
Über Europas Grenzen schwingende Bögen
Zu den Ausstellungen Henry van de Velde in Hagen und „1910 – Halbzeit der Moderne“ in Münster
Es gibt Ausstellungen, die Einsichten in Zeitläufe vermitteln, Vergangenheit aufwirbeln, Zusammenhänge aufdecken. Das ist besonders eindringlich der Fall in der Schau „Henry van de Velde – Ein europäischer Künstler in seiner Zeit“ im Karl-Ernst-Osthaus-Museum Hagen.
Mit der seit Jahren von Klaus-Jürgen Sembach und Birgit Schulte vorbereiteten Ausstellung wurde das Osthaus-Museum nach längerer Pause wiedereröffnet: nun mit seiner, soweit es möglich war, rekonstruierten, 1902 von Henry van de Velde geschaffenen Jugendstil-Innenausstattung. Vieles davon war zerstört worden, als nach Osthaus’ Tod (1921) dieses von ihm gestiftete private Hagener Museum Folkwang, das damals weltweit erste Museum für zeitgenössische Kunst, mit seiner berühmten Sammlung von den Erben 1922 nach Essen verkauft wurde. Das Hagener Gebäude war danach zu einem Bürohaus für das Kommunale Elektrizitätswerk umgebaut worden, bis man es von 1930 an wieder museal nutzte.
Im Anschluß an Hagen, wo auch der von van de Velde zwischen 1906 und 1908 gebaute und eingerichtete „Hohenhof“, das Wohnhaus Karl Ernst Osthaus’, besichtigt werden kann, wandert die bedeutende Ausstellung in weitere mit dem Wirken van de Veldes verbundene Städte: nach Weimar, Berlin, Gent, Zürich und Nürnberg. In Hagen wird das immense vielgleisige Lebenswerk des Malers, Zeichners, Typographen, Architekten und Gestalters ganzer Inneneinrichtungen, des Entwerfers von Möbeln, Tafelsilber, Schmuck, Keramik, Porzellan und Textilien gezeigt – den frei über die europäischen Grenzen schwingenden Bögen und Stationen seines bewegten Lebenslaufs folgend.
Parallel präsentiert das Westfälische Landesmuseum Münster die Schau „1910 – Halbzeit der Moderne. Van de Velde, Behrens, Hoffmann und die anderen“, mit vielen Architekturzeichnungen, -photos und –modellen, einer Flut von Plakaten, Werbegraphik, Design und kunstgewerblichen Objekten.
Die beiden Katalogbücher tragen dazu bei, die Faszination und die Einsicht in diese folgenreiche Übergangszeit zu vertiefen. Der Hagener Katalog erschien im Wienand-Verlag (466 Seiten, zahlreiche, meist farbige Abbildungen, Preis im Buchhandel gebunden 98 Mark), die Münsteraner Publikation (240 Seiten, über 300 teilweise farbige Abbildungen, 38 Mark) bei Hatje.
Frisiersalon und Textilmuster
Die etwa 1000 Werke aus allen Schaffensbereichen des 1863 in Antwerpen als zweitjüngstes von acht Kindern eines Apothekers und Chemikers geborenen, 1957 in Zürich gestorbenen belgischen Künstlers Henry van de Velde sind in Hagen, ganz im Sinn auch von Osthaus, locker zueinander geordnet. Das aufregendste ist die Vitalität, die leidenschaftliche Expressivität, ja Dämonie, die unglaubliche Schönheit und Reinheit der Linie, die in van de Veldes Schöpfungen immer wieder begeisteren, sei es in einem Eßzimmerstuhl aus Haus Bloemenwerf (1895/96), seinem ersten selbstentworfenen eigenen Wohnhaus in Uccle bei Brüssel, in dem fast magischen, von inneren Energien getriebenen Schwung eines silbernen Kandelabers von 1898/99 aus dem Bröhan-Museum Berlin oder in der Ornamentik seines berühmten „Tropon“-Plakats aus „Pan“ von 1891.
Schon in seinen frühen, in Antwerpen, Paris und Brüssel zwischen 1880 und 1893 entstandenen, von Seurat, Gauguin und van Gogh beeinflußten Bildern und Zeichnungen wird die Bedeutung der Linie offenbar. Van de Veldes Leidenschaft für die Linie wirkt fort, als er 1893, nach dem symbolistischen Bild „Engelwache“, die Malerei aufgibt und sich, tief beeindruckt durch die Schriften von John Ruskin und William Morris und ihre Arts- and Crafts-Bewegung, ganz der angewandten Kunst und der Architektur zuwendet, um stärker und direkter durch Kunst in die Gesellschaft zu wirken.
In Weimar gründete und errichtete van de Velde 1907 das Institut für Kunstgewerbe und Kunstindustrie als Vorläufer des Weimarer Bauhauses und baute das jüngst restaurierte Nietzsche-Archiv. Man sieht aus diesen Jahren zum Beispiel ein Kompartiment aus dem luxuriösen Frisiersalon Hardy in Berlin (1901), Textilmuster-Entwürfe für Krefeld, die Weimarer Wohnungseinrichtung Graf Kesslers (1902), Photographien seiner Weimarer Bauten, auch die in ihrer Sparsamkeit bezaubernden, nicht ausgeführten Entwürfe für den Umbau des Weimarer Museums. Dazu hinreißend profilierte Silberschalen, -tabletts, -terrinen, weich fließende Reformkleider.
In der Weimarer Zeit (1902 – 1917) entstanden auch seine ersten Theaterentwürfe (1903) für die Schauspielerin Louise Dumont, die, bevor sie nach Düsseldorf ging, in Weimar ein „Mustertheater“, ein Festspielhaus wie in Bayreuth, errichten wollte. Sie fielen, wie auch seine Pläne für das Pariser Théâtre des Champs Elysées (1911), Intrigen zum Opfer. Allein sein in der horizontalen Gliederung fein rhythmisierter Theaterbau der Werkbundausstellung von 1914 in Köln wurde realisiert.
In zweckmäßiger Strenge
Auch die Jahre nach van de Veldes kriegsbedingter Emigration in die Schweiz (1917) sind vor allem durch architektonische Projekte ausgefüllt. Zunächst seine Planungen für das Museum Kröller-Müller in Holland, das infolge der Inflation erst 1936 in sehr reduzierter Form gebaut werden konnte. In der Zeit seiner Berufung als Professor für Architektur nach Gent und Leiter der Hochschule für Angewandte Kunst in Brüssel (1925/26) fallen unter anderem der Bau der Universitätsbibliothek Gent sowie die belgischen Pavillons auf der Weltausstellung in Paris (1937) und New York (1939), die nun allerdings in zweckmäßiger Strenge der Zeit ihren Tribut zollen.
Sein letztes Lebensjahrzehnt hat van de Velde, längst weltberühmt und bis zuletzt an seinen Memoiren schreibend, „in einer weniger verpesteten Atmosphäre“ auf dem Land in der Schweiz verbracht.
In: Rheinische Post. Feuilleton, 24. September 1992
Die geometrischen Strukturen wachsen wie Organismen
Frantisek Kyncl stellt für das Kunstmuseum eine große plastisch-malerische Rauminstallation im Kunstpalast am Ehrenhof aus
Wie Kunst einen Raum verwandeln kann, wenn sie für ihn gemacht oder auf ihn bezogen ist, kann man jetzt in Halle 5 des Kunstpalasts am Ehrenhof wahrnehmen. Dort zeigt Frantisek Kyncl (geboren 1934 in Pardubice, Tschechoslowakei), der schon nach dem „Prager Frühling“ 1968 nach Düsseldorf kam, seine bisher schönste Ausstellung in dieser Stadt. Sie wird vom Kunstmuseum veranstaltet, betreut von Stephan von Wiese, und geht anschließend – in einer ersten Museumskooperation – ins Haus der Kunst der Stadt Brünn. Auch der von Winfried J. Jokisch gestaltete Katalog ist zweisprachig.
Die ganze Schau ist eine einzige, vielteilige und erstaunlicherweise erste große Rauminstallation Kyncls, der in Düsseldorf nach Ausstellungen auf der IKI (1972), in Galerien, in der Kunsthalle (1977) und im Kunstverein (1982) kein Unbekannter ist. Kyncl, zugleich Plastiker und Maler, behauptet allerdings, daß er keins von beiden sei. Technik, Material sind für ihn nicht ausschlaggebend. Wesentlich ist für ihn eine Struktur von Dreieck und Tetraeder, von der er geradezu besessen ist und die schon seit 1966 die alleinige Substanz seines Schaffens darstellt.
Sie wurde zur Keimzelle, aus der jedes seiner Werke wächst. Wohlgemerkt: nicht als rationale, serielle Konstruktion nach Plan, sondern – und das ist das Besondere an Kyncl – sie entsteht in geduldiger, geradezu liebevoller Handarbeit wie Organismen. Deshalb sind Kyncls Arbeiten, seien sie nun zwei- oder dreidimensional, niemals starr. Sie dehnen sich aus in der Fläche, wenn nötig weiter und weiter, sie wachsen in den Raum und lassen den Raum in sich hinein. „Ich weiß nicht, was herauskommt, ich fange einfach an“, sagt Kyncl. „Das wächst weiter wie in einem Kindertraum, ins Unendliche.“
Sind das wirklich Konzepte oder nicht eher Prozesse, die sich in diesen Arbeiten manifestieren? Geht man um die transparenten Objekte herum, so bewegt und verändert sich auch das Liniendickicht in ihrem Innern. „Das ist wie Gras“, meint Kyncl. Von effektvoller Kinetik hält er nichts.
In der Mitte des großen, nüchternen Raumes sind die aus filigranen Strukturen entwickelten plastischen Objekte teils an vom Boden zur Decke gespannten, sich fast unmerklich bewegenden Gummiseilen aufgehängt, teils stehen und liegen sie auf dem Boden: Kuben, rechteckige Elemente, Stelen, unregelmäßige Gebilde. Alle sind sie eigenhändig aus Bambusstäbchen gebaut. An den Treffpunkten der ineinandergreifenden Module wurden die Stäbchen mit Pattex oder Zwei-Komponentenkleber fixiert und diese Knotenpunkte dann leicht mit Ölfarbe übermalt. Das ergibt ein lyrisches punktuelles Farbspiel in den grazilen linearen Verzweigungen der entweder naturbelassenen oder schwarz, zuweilen weiß gestrichenen Stäbchen.
Manche dieser plastischen Elemente werden öfters wieder verändert, wie ein schwarzer Würfel, den Kyncl 1972 begann und bei dem er nun das Innere herausgerissen hat. Das Ganze wirkt schwebend leicht, verleiht dem kahlen Raum einen Anflug von Charme.
Die gleichen leichten Unregelmäßigkeiten handwerklicher Arbeit wie in den Objekten nehmen auch den malerischen Arbeiten die Trockenheit von Rastern. Es sind Prägedrucke, bei denen Stäbchen in das feuchte, dicke Papier gedrückt wurden. Über einem mit der Rolle eingefärbtem Grund sind die gereihten Linienstege der ineinandergreifenden Tetraeder wieder von anders getönten Pinselzügen begleitet. Das Wechselspiel der Farben mit den Linienstrukturen ist reizvoll, hat vielerlei Nuancen. Und die Kreuzungspunkte der Linien werden auch malerisch betont.
Wie gewachsen schaut das aus, und es macht Freude, mit den Augen darin spazieren zu gehen. Bestimmend sind aber auch Monochromien von Bildergruppen, die wechselweise den Ton angeben und somit Akzente im Raum setzen: ultramarinblaue oder rote, schwarze (mit rosa Grund), purpurne, grüne. Besonders vielseitig ist das Gespräch der Farbtöne untereinander und mit den Strukturen in den reinen Zeichnungen.
Rhythmus und Klang steuert als Hintergrund auch eine von Kyncl selbst zusammengestellte Musik bei. Er hat darin Radiomusik auf Band aufgenommen, die er in Intervallen immer wieder abschaltete und so ebenfalls strukturierte. Die schöne Ausstellung, die mit Fremdmitteln finanziert wurde (darunter vom Institut für Auslandsbeziehungen), ist die erste, die das Kunstmuseum in diesem Jahr im Kunstpalast veranstaltet, da dafür kein Etat zur Verfügung stand. Eine gelungene Sache.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 7. Oktober 1992
Worte, die im Raume schweben
Ausstellung der Arbeiten von Robert Barry in der Galerie Bugdahn und Kaimer
Der 1936 in New York geborene, in Teaneck/New Jersey lebende Amerikaner Robert Barry gehört zu den ersten Konzeptkünstlern und zur gleichen Generation wie Sol Lewitt oder Kossuth. Das Verzeichnis seiner internationalen Einzelausstellungen seit 1964 ist beachtlich. Die renommiertesten Galerien und Museen haben sich für ihn interessiert. Viermal war Robert Barry auf der Kasseler „documenta“ vertreten.
Jetzt hat er in der Düsseldorfer Galerie Bugdahn und Kaimer (Mühlenstraße 3) ein eigens auf diese Räume abgestimmtes neues „Wallpiece“ gemacht: ein Wandstück also. Doch diese Übersetzung kommt der Sache nur ungefähr nahe, denn was Barry dort in gelber Latexfarbe mittels Schablonen auf die Wand und die Decke gemalt hat, ist ebenso raum- wie flächenbezogen.
Es sind einzelne Worte, die da im Raum zu schweben scheinen. Nicht etwa brav in Zeilen oder Kolumnen, sondern horizontal, vertikal und schräg in allen Himmelsrichtungen locker über die Wände verteilt, die sie übergreifend zu verbinden scheinen. Ja selbst der obere und der untere Raum, die Treppe werden sozusagen zusammengeschlossen. Man hat den Eindruck von ins Räumliche ausgeweiteter „visueller Poesie“: jener Anordnung von Worten und Sätzen in Büchern, die das Zeilenschema durchbricht.
Robert Barry wehrt ab: „Ich bin Visualist, nicht Poet.“ Dennoch gibt er zu, daß die Bedeutung der Worte wichtig ist. Nicht im anekdotischen Sinn, sondern als „reine Worte, reine Konzepte“. Jedes Wort habe seine eigene Geschichte und solle nicht in Relation zu den anderen stehen. Und wirklich: jedes suggeriert ein Gefühl, eine innere Bewegung, einen Gedanken, einen Bewußtseins- oder Gemütszustand. Jedes läßt aber auch etwas offen, das der Betrachter vervollständigen muß.
Fixiert und freigesetzt
Nur einige seien genannt: Somehow / Remember / Could be / Try / Each one / Look / Listen / Changing / Almost / Please / Beyond / Given / Ourselves / Another / Wait / Together / Doubt / Chance / Alone / Coming / Later / Only one / Loved / Please / could be … (irgendwie, erinnere, es könnte sein, versuche, jeder, sieh, lausche, wechselnd, nahezu, bitte, jenseits, gegeben, wir selbst, ein anderer, warte, zusammen, Zweifel, Chance, allein, Kommend, später, nur einer, geliebt, bitte, kann sein ...
Mit den Worten scheinen alle diese Gefühle und Bedeutungen im Raum zu stehen. Sie werden durch das geschriebene Wort gleichzeitig angeregt, fixiert und freigesetzt in der Phantasie des Betrachters. Wie viele Gedanken und Empfindungen bewegen und durchdringen einander doch in einem Raum, in dem sich ein Mensch aufhält.
Robert Barry setzt in seinen „Wallpieces“, die er schon seit dem Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre macht, einen Kontrapunkt zur Architektur, zum rein Konstruktiven. Er öffnet darin einen spirituellen, immer anders gestimmten Raum, auch in der Farbe, und dabei läßt er sich immer von der gegebenen Situation anregen. Hier wollte er, auch in dem lichten Gelb, etwas Freudiges, Helles machen.
Freilich sind seine „Wallpieces“, sofern sie nicht von Museen oder privaten Sammlern angekauft werden, temporäre Erscheinungen, ähnlich wie Performances. Auch das Raumkonzept in der Galerie Bugdahn wird nach Ende der Ausstellung zerstört. „Für mich sind die Wände wie verschiedene Seiten eines Buches. Jede ist anders“, meint der Künstler.
Barry macht auch Projektionen von Worten, Lichtworten, im dunklen Raum, die kommen und gehen wie das Licht in der Zeit. Oder er projiziert Dias, etwa einen einzelnen blauen Kreis oder einen roten Punkt, auch einzelne Porträts. Für Rudi Fuchs in Eindhoven und für die „documenta“ 1982 erfand er „Soundpieces“ (Klangstücke). Begonnen hat er als Maler, gab aber Mitte der Sechziger die Malerei 20 Jahre lang auf. Robert Barry ist auch Photograph. Am liebsten porträtiert er seine Freunde und Galeristen.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 21. Oktober 1992
Sonnenblumen flattern
Maler Adolf de Haer, ausgestellt in Kaiserswerth
Heute vor 100 Jahren wurde der Düsseldorfer Maler Adolf de Haer (1892 –1944), einer der bedeutendsten Vertreter des rheinischen Kubo-Expressionismus, geboren. Mit einer verdienstvollen Ausstellung ehrt das 1991 eröffnete „Museum Kaiserswerth“ im Schulgebäude Fliednerstraße 32 den Künstler, der seit 1936 in Kaiserswerth wohnte und arbeitete.
Dort wird auch der Nachlaß von seiner Nichte, Melitta Ficher, betreut, den die Galerie Remmert und Barth erst vor knapp einem Jahrzehnt der Verborgenheit entriß. Ihre 1985 gezeigte Ausstellung mit frühen Arbeiten de Haers war eine kleine Sensation. Die jetzige Schau wird auf Initiative des Heimat- und Bürgervereins veranstaltet. Dessen Vorsitzender Wilhelm Mayer ist zugleich Leiter des privaten Museums Kaiserswerth, das er mit großem Engagement begründete. Er wurde unlängst dafür von der Hans-Maes-Stiftung ausgezeichnet.
Der gebürtige Düsseldorfer Adolf de Haer war schon in jungen Jahren fest entschlossen, Maler zu werden. Sein Rüstzeug erwarb er als Stipendiat an der hiesigen Kunstgewerbeschule (bis 1914), bevor er zum Kriegsdienst eingezogen wurde. Im Sommer 1917 konnte er einige Monate bei Adolf Hölzel in Stuttgart studieren, um sich bei ihm mit Grundgesetzen von Farbe und Form vertraut zu machen.
1919 gehörte de Haer in Düsseldorf zu den Gründungsmitgliedern des „Jungen Rheinland“ und zum Kreis der Johanna Ey. Er engagierte sich auch im „Aktivistenbund“. Schon 1919 stellte er im „Graphischen Kabinett“ von Dr. Hans Koch aus. Die Städtischen Sammlungen kauften im gleichen Jahr sein Bild „Menschen“ an, einige Jahre später unter anderem auch sein „Damenbildnis“ und ein Porträt seines Malerfreundes Werner Gilles. Gleichzeitig mit seiner Ausstellung im „Ey“ 1921 war er mit Abbildungen im ersten Heft der Zeitschrift „Das junge Rheinland“.
Obwohl de Haer schon Mitte der zwanziger Jahre die kubistisch-expressionistische Abstraktion aufgegeben hatte, gehörte er in der Nazizeit zu den Verfemten. Auch aus dem Düsseldorfer Kunstmuseum wurden Bilder von ihm entfernt. Seine große Zeit – und das wird besonders in dieser Kaiserswerther Ausstellung deutlich, in der auch Arbeiten der dreißiger und vierziger Jahre zu sehen sind – war eindeutig die zwischen 1919 und 1921.
Das Ensemble der drei großen Bilder „Maler und Mädchen“ (1919), „Mädchen mit Blume“ (1919) und „Zwei Sonnenblumen“ (1924) zeigt ihn auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Die straffe kubistische Komposition der beiden figürlichen Gemälde ist doch voller emotionaler Spannkraft. Fast dramatische innere Erregung deutet die grün-gelbe, von Licht durchflutete Hautfarbe des Manns und der beiden Mädchen an. Traumhafte Versunkenheit spricht aus den Farben – blauem Haar, gelbem Kleid, gelber Blüte – des „Mädchens mit der Blume“ vor abstraktem Farbengrund. Von kubistischen Zwängen befreit, flattern dagegen die drei Jahre später entstandenen Sonnenblumenblätter im Bild.
Eine Übergangssituation zwischen Expressionismus und Impressionismus markiert das große Porträt „Cellist Flieger“ (1925). Das „Stilleben mit Tisch und Stuhl“ von 1929 bewahrt die spontane Frische des impulsiven Pinselstrichs und der Farben, ebenso manche impressionistisch wirkenden Blumenstilleben von 1928/29. Charaktervoll, realistisch auch ein Bildnis wie „Frau Heinen (mit Vogelbauer)“ (1928). Schlicht und gesammelt selbst noch das „Selbstbildnis mit Buch“ von 1935 und das Porträt des Bildhauers Fritz Peretti. Doch was dann später kommt an Blumenstilleben und weiblichen Akten, macht verständlich, warum Adolf de Haer in der Versenkung verschwand. Der Schock der Verfemung von 1937 war offenbar zu stark.
Großartig sind aber auch die frühen kubistisch-expressiven Holzschnitte wie etwa das farbig aquarellierte „Mädchen“ von 1919 in seinem herben Lyrismus, das der „Brücke“-Kunst nahe steht, oder „Im Atelier“ von 1920 und „Erhebung“ (1921). Nicht zu vergessen Radierungen und Lithographien, wie „Porträt am Fenster“ (1923) und „Gasse“ (1920) aus dem „Buch Eins des Aktivistenbundes 1919“. Im ganzen sind 70 Arbeiten zu sehen.
Adolf de Haer ist 1944, nachdem er zum Volkssturm eingezogen worden war, in einem Lazarett in Osnabrück an Lungenentzündung gestorben.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 29. Okotber 1992
Als Anatol den Beuys heimfahren wollte
„Mit Haut und Haaren“ aus der Düsseldorfer Szene 1967 – 75 in der Kunsthalle
Ein Auftrieb, ein Menschengewimmel; fast wie einst war das. Viele waren gekommen und freuten sich ganz offensichtlich über ein Wiedersehen mit vielen bei der Eröffnung der Ausstellungen zum 25jährigen Jubiläum der Kunsthalle: der kleinen, aber inhaltsreichen, von Helga Meister engagiert als Rückblick auf die Szene der „Gründerjahre“ 1967 –1975 zusammengestellten Schau „Mit Haut und Haaren“ und der großen Präsentation „Avantgarde & Kampagne“, in der Arbeiten von 40 Künstlern mit Werbung konfrontiert werden.
Trotz der Fülle war aber doch unterschwellig ein wenig Resignation und Enttäuschung zu spüren. Alles ist in diesen beiden ja eigentlich städtischen Ausstellungen Sponsoren zu verdanken. Schon in der Pressekonferenz hatte Jürgen Harten – real und auch im übertragenen Sinn – von der Brüchigkeit und dem dringend notwendigen Umbau des „Kunstbunkers“ gesprochen. Die 25jährige Kontinuität der Vielfalt – sei jetzt einer Verunsicherung gewichen. „Der international stärker gewordenen Kunst sind wir mit dem kleinen Haus, den geringen Mitteln nicht mehr gewachsen.“
„Glücklich verheiratet“
Karl Ruhrberg, der erste Direktor der Kunsthalle, mit der er „sieben glückliche Jahre (einschließlich der Verlobungszeit) verheiratet“ war, hält sie noch immer „für einen unentbehrlichen Fixpunkt auch international“. Was waren das doch noch für Zeiten in den Endsechzigern, als es vielfach keine Kunst war, Kunst zu machen, weil man eigentlich die Anti-Kunst wollte, und als im Beuys’schen Sinne „jeder ein Künstler war“.
Ideen aber gab’s zuhauf. Die Kunstwerke selbst waren arm, bescheiden: arte povera. Sie verbargen dahinter doch oft ihre politische Brisanz im Wirtschaftswunderland. „Mit Haut und Haaren“ brachte man sich selbst ein. Alles wurde zum Happening. Vielleicht gibt gerade die dichte Enge des Ausstellungsraums den vielen Relikten jener Zeit wieder mehr Präsenz. Vieles haben damals ja immer nur wenige miterlebt. Selbst Insider werden nun so manches entdecken, das sie noch nie sahen.
Katharina Sieverdings 1969 mit dem Photomaton gemachte riesige frontale Selbstporträts reißen suggestiv Zonen zwischen Bewusstem und Unbewusstem auf. In den beiden bemalten Gipsbüsten im Kasten von ihr selbst und Imi Knoebel erscheinen Beziehungen: zugleich maskenhaft erstarrt zu sein und sich doch in der Suche nach Identität zu finden.
Sich selbst mit der Photographin Monika Baumgartl stellte auch Klaus Rinke in der Aktion „masculin-feminin“ auf der Tokio-Biennale 1970 aus als Personifikation eines Grundprinzips allen Lebens. Ausgeburten von Angstträumen gleichen oft Günter Weselers Atemobjekte aus Fell, wenn sie in Käfige eingesperrt sind, die ihren Lebens- und Atemraum beengen oder sie vielleicht auch schützen.
Sind es festgenagelte Ängste, die Günther Uecker zeigt, wenn er sich unter eine mit Nägeln gespickte Schreibmaschine stellt? Der einst aus der DDR übergewechselte Künstler stellt auch seine „Kleine Revolution 1948 – 1948“ vor: einen Käfig, in dem Hammer, Sichel und roter Stern maschinell angetrieben rotieren.
An einem mit Illustrierten bedeckten weißen Stuhl Ferdinand Kriwets „Walk-Talk“-Läufer und „Sehtexte“ verwirren als neuartige Seh-Schule, und Marcel Broodthaers, der in seinen fiktiven „Museen“ Kunst und Kultur in Frage stellt, schnitt aus einem Hundertmarkschein den Adler aus, um ihn als Symbol des Geistes über den Mammon triumphieren zu lassen.
Handfester, greifbarer sind Anatols „Arbeitszeiten“, in denen er beispielsweise den Einbaum machte, mit dem er 1972 seinen von der Akademie vertriebenen Lehrer Joseph Beuys über den Rhein wieder dorthin zurückbringen wollte.
Die rote Rose im Wasserglas war das Wahrzeichen von Beuys, als er 1972 auf der „documenta“ in Kassel über „direkte Demokratie“ debattierte und die „1 a gebratene Fischgräte“, das „Freitagsobjekt“, das der „Magier“ jener Zeit 1970 in der legendären Eat-Art-Galerie von Daniel Spoerri am Burgplatz ablieferte, mögen hier knapp den Radius seiner Arbeit vor und nach der Gründung seiner „Deutschen Studentenpartei“ abstecken.
Der „Lidl-Klotz“, mit dem sein Schüler Jörg Immendorff im Januar 1968 vor dem Bundestagsgebäude demonstrierte als Inbegriff für die Proteste und Feste vor und in der Kunstakademie; Klaus Staecks bissige aggressive Plakat-„Anschläge“, Hans Peter Alvermanns süffisante Polit-„Schweinchen“ gehören zu den Scharfmachern der Schau.
Scheren in den Wolken
Doch welch magrittescher Witz in Robin Pages „Skyssors“: einer Schere, die in Vogelfedern endet und die Wölkchen im blauen Himmel eher streichelt als zerschneidet. Welch kindlich-raffinierter, erotischer Charme in den Bildern von Dorothy Iannone, die in „siebenjähriger Umarmung“ mit dem Schokolade-Künstler Dieter Roth verbunden war.
Eine Rarität Fritz Schweglers „Ratat“-Koffer. Herrlich dieser „Pinselstrich“ aus Kuchenteig und Zuckerguß, ein Eat-Art-Objekt, in dem sich Roy Lichtenstein selbst über sein weltberühmtes Bild lustig macht. Und nicht zu vergessen Robert Filliou, der früh Gestorbene „Entertainer von Gedanken, der Fluxus-Künstler, Träumer und weiser Spieler und unerschöpfliche Poet“!
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 22. September 1992
Als dänische Künstler in Düsseldorf studierten
„Malerei auf Bornholm“ im Stadtmuseum
Unter dem Patronat von Prinzessin Benedikte von Dänemark, einer Schwester der dänischen Königin, steht die Ausstellung im Stadtmuseum „Malerei auf Bornholm“. In ihr wird erstmals die vom besonderen Licht, von der reizvollen Landschaft und ihren Menschen angeregte moderne Malerei dieser Insel außerhalb von Dänemark gezeigt. Anlaß ist der 100. Geburtstag des Bornholmer Stadtmuseums, das aus diesem Grund einen Neubau bekommt und deshalb zur Zeit geschlossen ist. So konnten 40 Bilder aus der Zeit zwischen 1840 und 1950 nach Düsseldorf reisen.
Welche Überraschung! Es sind auch Werke von zwei dänischen Malern darunter - A.E. Kieldrup (1827-1869) und Viggo Feuerholdt (1832-1883) -, die im 19. Jahrhundert an der Düsseldorfer Kunstakademie studierten.
Museumsdirektor Wieland König nahm dies zum Anlaß, ein Forschungsprojekt über den Einfluß der Düsseldorfer Malerschule des 19. Jahrhunderts in Dänemark in Gang zu setzen. Ebenso will man versuchen, die Sammlung moderner und „entarteter“ Kunst des vor den Nazis nach Bornholm mit seinen Bildern emigrierten Hannoveraner Kunsthändlers Herbert von Carvens wieder in einer Ausstellung zusammenzubringen.
Es ist zu hoffen, daß im Gegenzug auch Düsseldorf in dem Bornholmer Museumsneubau eine Ausstellung mit in dieser Stadt entstandenen Bildern zeigen kann. Das Inselmuseum hat nicht nur eine beachtliche Sammlung unter anderem von prähistorisch-geologischen, naturhistorischen, keramischen, ethnographischen Objekten aufgebaut, sondern auch eine große Kollektion von Gemälden, Skulpturen, Graphiken, Kunsthandwerk, die alle auf Bornholm entstanden oder mit der Insel eng verbunden sind. Obwohl immer vom europäischen Kontinent, seinen Schulen und Stilen beeinflußt, bewahrten sie, besonders in der Moderne, viel Individuelles.
Die Bornholmer Inspiration
Schon im 19. Jahrhundert suchten immer wieder Künstler die abgeschiedene Insel Bornholm auf. Hat doch ihre Ostküste, ähnlich wie Skagen, das intensivste Licht in ganz Dänemark. Immer wieder bildeten sich Künstler-Kolonien. Die dänische Kunstgeschichte verzeichnet sogar seit 1911 eine „Bornholmer Schule“ oder „Bornholmer Inspiration“. Die frühen in der Ausstellung vertretenen Gemälde stehen freilich noch ganz unter dem Einfluß des europäischen Klassizismus und der deutschen Romantik. Amüsant ist das 1843 entstandene Gemälde „Die Malerschule in Göteborg“ des in Bornholm geborenen Lars Hansen. Ausschließlich junge Mädchen (!) zeichnen hier nach Gipsmodellen, darunter Thorvaldsens „Leier spielendem Amor“, auf den sich die ganze Aufmerksamkeit der jungen Kunststudentinnen konzentriert.
Der Bornholmer Landschaft wendet sich A.E. Kieldrup in seiner 1849 gemalten romantisch-idealistischen Ansicht von „Hammershus“, einer der größten mittelalterlichen Burgruinen Dänemarks auf Bornholm, zu. Vor dem Motiv hat er nur die Skizze gemacht und dann, getreu den Richtlinien der Düsseldorfer Malerschule im Atelier das Bild aus Einzelbeobachtungen in der Phantasie komponiert: Schon in erstaunlich lichten Plein-air-Farben. Auch Viggo Fauerholdt fängt das besondere Licht Bornholms in seiner Klippenlandschaft bei Gudjem an der Bornholmer Ostküste ein (1857).
Bahnbrecher der Moderne
Winzig ist die Rückenfigur des Hirten in Georg Emil Liebens grandiosen, dramatischen „Randkloven“ (Randklippen) einer gewaltigen Felsschlucht auf Bornholm. Der gebürtige Bornholmer Kristian Zahrtmann (1843-1917) wurde dann, zusammen mit anderen Kollegen in Kopenhagen, zum an Paris orientierten Bahnbrecher der Moderne und Überwinder des Akademismus. In seiner Nachfolge hielt auch auf Bornholm, wo 1911 bis weit in die 20er Jahre hinein auf Christansö eine Künstlergruppe bestand, die Moderne Einzug. Cézanne und der Kubismus formten nun auf eigenwillige Weise den Stil ihrer Landschafts- und Figurenbilder, ihrer Porträts. Sie sind die eigentliche Überraschung dieser Ausstellung.
Gestisch und formstreng zugleich ist das Porträt von Bertha Brandstrup (1914) des mit Dänemark eng verbundenen Schweden Karl Isakson, während er in einem Stilleben (1916-1918) oder einer „Ansicht von Gudhjen“ (1921) und dem „Friedhof von Christansö“ (1921) mit der zarten, schwebend leichten Lichttransparenz von Farbflächen mit kubistischem Einschlag spielt. Ein temperamentvoller, oft ekstatischer Pinselstrich zeichnet Edvard Weies „Selbstporträt“ (1910/15), seinen „Waldweg Christansö, Morgen“ aus oder seinen „Entwurf für eine romantische Phantasie“ (um 1921). Zahrtmannschüler wie Weie war auch Olaf Rude, der ständige Sommergast auf Bornholm. Streng in farbige kubistische Flächen geschichtet ist seine „Schwarze und weiße Frau“ von 1918. Farbflächen schaffen Farbräume in seinen späteren abstrahierten, doch stimmungsreichen Landschaften („Frühlingsmorgen, Allinge“. 1941).
Weitere in großen vereinfachenden Farbflächen und Schichten aufgebaute Gemälde sind auch Niels Lergaards herbe Porträts und Landschaften, die schlichten Bilder von Claus Johansen und die fast informellen, das Gegenständliche nur als Vorwand für Farb- und Lichtschimmer nehmenden Malereien von Oluf Möst.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 3. März 1993
Wie Wölkchen im Wind
Doppelausstellung Poncar/ Minnich im Kunstverein
Für seine erste Ausstellung als neuer Direktor des Kunstvereins für die Rheinlande und Westfalen hat Raimund Stecker das Oberlicht seiner Räume in der Kunsthalle mit weißer Gaze abgeschirmt. In solch gefilterter, wie schwebender Atmosphäre kann die gelungene Doppelschau mit Bildern von Bernd Minnich und Photographien von Jaroslav Poncar ihre Reize ganz entfalten.
Bei beiden Künstlern geht es gleichermaßen um Weite, um Raum, um das Abgehobene, um eine Dimension, in der das Reale, Faßbare zu entgleisen scheint, fast aufgesogen wird eben von diesem Raum, gegen den es sich gerade noch behauptet.
Die Einsamkeit des Menschen zwischen Erde und Himmel empfindet man besonders in den Panorama-Photographien des 1945 in Prag geborenen Jaroslav Poncar aus West- und Ost-Tibet, dem Karakorum, den Himalaya-Gebieten – Ladakh, Nepal – sowie Burma und Südjemen. Bernd Minnichs großformatige Gouachen auf Holz, Papier oder Schaumstoff (1990 – 1992) sind gegenüber solch erhabenem, schweidendem, fast reglos in sich ruhendem Ernst ein heiterer, bewegter Aufschwung, ein Sich-Lösen von irdischen Bindungen und materiellen Zwängen.
Es sind Bilder in lichten, zarten Farben – Rosa-, Gelb-, Orange-, Hellgrün-, Zartblau- und Grautönen, in die sich wie eine Ahnung Gold- und Silberabglanz mischt.
Minnichs wie in Sphärenräumen schwebende lyrische Klangfarben wirken als abstrakte, flüchtige Farb-Erscheinungen und -Bewegungen im weißen Raum, wie Ahnungen oder Erinnerungen. Frühlingshaft wirken sie wie Wölkchen oder Schleier im Wind, wie schöne Träume und Spuren von Glück.
Der gebürtige Hamburger Bernd Minnich (1941) ist nach seinem Studium der Kunstgeschichte, Archäologie und Geologie in Hamburg und dem Kunststudium an den Akademien in Braunschweig und Düsseldorf seit 1990 Professor für Freie Malerei an der Kunsthochschule Braunschweig. Er lebt in Düsseldorf.
Jaroslav Poncar ist seit 20 Jahren Professor für Photoingenieurwesen an der Kölner Fachhochschule. Bekannt wurde er nach zahlreichen Expeditionen durch seine Dokumentationen buddhistischer Wandmalereien im Tempel von Alchi (Ladakh), zusammen mit Professor Goeppner, dem ehemaligen Direktor des Museums für Ostasiatische Kunst in Köln. Auf Anregung von Josef Sudek hat er sich seit 1976 der Panorama-Photographie zugewandt und ist seitdem, allen Tücken seiner russischen Panorama-Kamera zum Trotz, immer tiefer in die Feinheiten dieses schwierigen Metiers eingedrungen. Mit seiner hinten mit einem Schlitz sowie mit einer Wasserwaage versehenen Panorama-Kamera kann man ohne Verzerrungen einen optischen Blickwinkel von 120° erfassen. Trotzdem müssen die von links bis rechts scharfen Aufnahmen noch im Labor den letzten Schliff bekommen.
Für die grandiosen, weiten Landschaften Tibets, des Himalaya oder etwa des Jemen ist die Panorama-Photographie das ideale Medium, Poncars Schwarzweiß- und Farbphotographien mit ihren einerseits subtilsten Binnenstrukturen, andererseits dem großartigen Pathos der Landschaft, ihrer matten, weichen Tonigkeit und gleichzeitig dramatischen Helldunkel-Kontrasten sind ein Erlebnis. So lassen die Aufnahmen des Lake Manasarovar, des dunklen, heiligen Sees in West-Tibet, erschauern, die Klarheit auch, die ungeheure Einsamkeit zwischen Himmel und Erde in der Bergwelt im Quellgebiet des Indus in West-Tibet oder der märchenhaft-illusionistische, zwischen Wasser und Land verspiegelt schwebende „Goldene Tempel von Amritsar“. Dann wieder das zwischen wandernden Wolken in dünner Luft über wogende Berggipfel huschende Licht einer Landschaft wie auf einem fernen Planeten einer Landschaft in Tibet oder die Majestät einer Lehmhochhäuserstadt im Südjemen.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 18. März 1993
Kraft aus heimischen Bräuchen
Lateinamerikanische Kunst im 20. Jahrhundert / Ausstellung in Köln
„Lateinamerikanische Kunst im 20. Jahrhundert“ – diese chronologisch nach Stileinflüssen, nicht nach Ländern gegliederte, klar die wesentlichen Aspekte herausstellende Schau ist zur Zeit in zwei Etagen der Kölner Kunsthalle zu sehen. Für Europäer ist das Obergeschoß der eigentliche Ort der Begegnung. Dort schreitet man von geradezu atemberaubend packenden Sektionen der Pioniere der Moderne – unter dem Einfluß von Kubismus, Futurismus, Expressionismus, Surrealismus – aus Mexiko, Uruguay, Argentinien und Brasilien zu einer eigenen, gewachsenen, selbst in den 20 lateinamerikanischen Staaten nicht homogenen Kunst. Über die bekannten sozial engagierten „Mexikanischen Muralisten“ Orozco, Rivera und Siqueiros führt der Weg zu konstruktivistischen, neo-konkreten und op-artistisch-kinetischen Tendenzen. Im Untergeschoß sind dann Neu-Figuratives, Pop-art und unmittelbar zeitgenössische Installationen untergebracht.
Gleich zu Anfang wird man konfrontiert mit der Vielfalt individueller künstlerischer Reaktionen junger, aus der akademischen Tradition lateinamerikanischer Länder ausbrechender, seit etwa 1910 nach Europa strömender Künstler. In den von Temperament und Farben sprühenden, naiv-spontanen Bildern des Argentiniers Alejandro Xul Solar, der in München Klee und Kandinsky kennenlernte, vermischen sich konstruktive und mythische altindianische Traditionen mit kubistischen und expressionistischen zu vielschichtigen Aussagen („Heiliger Tanz“, „Welt“, „Nana Watzin“, 1923 – 1925). Zeigt schon Diego Riveras kubistisches „Porträt Martin Luis Gazmán“ von 1915 einige folkloristisch-brasilianische Elemente, so ist sein „Tag der Blumen“ von 1925 geradezu eine Beschwörung heimischer Bräuche.
Allenthalben besinnt man sich in den zwanziger Jahren auf die eigene Herkunft. In Brasilien ruft der Dichter Oswald de Andrade in seinem „Anthropophagischen Manifest“ dazu auf, die europäischen avantgardistischen Strömungen dem eigenen afroindianischen Kulturgut „menschenfresserisch“ einzuverleiben. Einzigartig und im Ausdruck überwältigend gelingt das der Brasilianerin Taarsila do Amaral in ihren monumental deformierenden und vereinfachenden tropisch-vegetativen Bildern; darunter „Abaporu“, „Die Negerin“ und „Anthropophagia“.
Renaissance der Wandmalerei
Auch die engagierte, in der Mexikanischen Revolution von 1910 wurzelnde „Renaissance der Wandmalerei“ seit den zwanziger Jahren ist in diesen alten Kraftquellen begründet, die den Menschen durch die Kunst wieder bewußt werden sollen; besonders bei Diego Rivera in seinen schlichten Darstellungen des bäuerlichen Lebens, während David Alfaro Siqueiros in düsteren Menschenbildern Leiden und Unterdrückung der Armen von einst und jetzt ins Unheimliche steigert und José Clemente Orozco die Grausamkeit und den Terror schildert, denen sie ausgeliefert sind.
Die intimen Kabinette für Maria Izquierdo und Frida Kahlo, die in ihrer traumhaften Melancholie, ihrem zum Bild geronnenen Schmerz zum Bewegendsten der Ausstellung gehören, leiten über zu den eigenartigen Versionen eines lateinamerikanischen Surrealismus, wie er vor allem durch die von André Breton mit initiierte große Internationale Surrealistenausstellung in Mexiko-City 1940 Impulse erhielt. Die erotisierten, durch schweifende Linien in Schwingung versetzten Räume des Chilenen Matta und die von Picasso nicht unberührten, aus geheimnisvollen Vorstellungen und Ritualen afro-kubanischer Glaubensvorstellungen erwachsenen Visionen von Wifredo Lam, dem Sohn chinesischer und afro-kubanischer Eltern, sind in großartigen Bildbeispielen vertreten.
Unter den mancherlei Varianten eines teils spielerischen (Arte Madi), teils streng-konkreten Konstruktivismus bezaubern vor allem die Bilder und reizvollen Holzkonstruktionen des in Uruguay geborenen Pioniers des lateinamerikanischen Konstruktivismus Joaquin Torres-Garcias, in denen sich die geometrische Grundstruktur der präkolumbischen Kunst erzählerisch und nicht ohne Humor mit stilisierten Figuren, Zeichen und Zahlen verbindet.
Die vorgeführte Op-Art und Kinetik, darunter von Soto, Cruz-Diez und Le Parc, durch die sich Lateinamerika seit den sechziger Jahren international profilierte, ist uns geläufig; auch der Kolumbianer Fernando Botero mit seinen prallen, die aufgeblasene Gesellschaft ironisierenden Figurenbildern oder Marisol aus Venezuela mit ihren in bemalte Holzklötze gebannten Figuren. Für die lebhafte Gegenwartskunst, die sich freilich von der europäischen kaum unterscheidet, hätte man sich lieber eine eigene Ausstellung gewünscht.
In: Rheinische Post. Feuilletonn, 19. März 1993
Neben dem Licht wartet das Dunkel, und das Blühen ist auch Tod
K. H. Hödickes Ausstellung „Berliner Ring / Gemälde und Skulpturen 1975 – 1992“ des Kunstmuseums im Kunstpalast am Ehrenhof
Karl Horst Hödicke ist einer der wesentlichen Künstler unserer Zeit. Mit Herzblut getränkt sind Hödickes in der ganz banalen Umweltwirklichkeit aufgelesenen Bilderlebnisse und doch immer zugleich Symptom, Vision. Ein seherischer Blick hat sie gleichsam durchleuchtet, hat in ihnen das Zeichenhafte aufgespürt. Aufgescheuchte, geheime Bewegkräfte der Zeit scheinen in ihnen sichtbar zu werden. Und das grenzt sich keineswegs auf der Ebene des Sozialkritischen oder Politischen ein.
Auch der Titel seiner jetzigen, aus Berlin kommenden Ausstellung „Berliner Ring – Gemälde und Skulpturen 1975-1992“, die das Kunstmuseum im Kunstpalast am Ehrenhof zeigt, stellt dies wieder unter Beweis nach der vor sieben Jahren in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen ausgerichteten Hödicke-Retrospektive. Gegenüber Berlin hat sich zwar die Zahl der großformatigen Bilder auf 30, die der Skulpturen auf eine einzige reduziert. Doch die großräumig placierte Schau hebt die geniale, im Impuls ungemein sichere, sparsame, selbst in der Expressivität jedes Zuviel vermeidende Pinselführung um so eindringlicher hervor. K. H. Hödicke (geboren 1938 in Nürnberg), „Vater“ der aus der 1964 gegründeten Galerie Großgörschen 35 hervorgegangenen Berliner Malergruppe der „Neuen Expressiven“ (vertreten unter anderem durch Koberling, Middendorf, Salome bis hin zu Hella Santarossa und Elvira Bach), lebt seit seinem Studium bei Fred Thieler in Berlin, ist dort Professor an der Hochschule der Künste und Mitglied der Akademie der Künste.
Die geteilte Stadt, dieser Brennpunkt des Zeitgeschehens, wo Hödicke immer noch sein Atelier in der Dessauer Straße hat - ganz nahe der ehemaligen Zonengrenze in einer verödeten Niemandslandschaft -, erscheint wirklich wie ein „Ring“, der auch sein eigenes Denken ein- und umschließt. Das Aufregende und Bestürzende an seinen Bildern ist ja diese Gleichzeitigkeit des Gegensätzlichen, das sie vermitteln. Das Schöne, Leben, Lust, Begeisterung und Freiheit sind zugleich Schmerz, Trauer, Melancholie, Sterben. Neben dem Licht wartet das Dunkel, Blühen ist auch Tod. Offenheit und beklemmende Enge schließen einander fast aus.
Man vergißt sie nicht, diese traumatischen Stadtlandschaften von 1973/75 („Der Himmel über Schöneberg“), deren Häuserschluchten den („versilberten“) Himmel wie einen Gefängnishof einmauern. Welche Perversion: Dieses „Feuerwerk über dem Alexanderplatz“ (1982) hinter den gespenstisch vom Dunkel ausgehöhlten Silhouetten des Brandenburger Tors neben tristen Plattenbauten. Menschen sind nicht zu sehen. „Fluchtfuß“ (1985), riesig über dem Grünstreifen fliegend-fliehend in schwarzer Nacht, mit leuchtenden Blutspuren auf der Sohle. Oder die angstvoll-lustvolle „Vertreibung“ von 1981, der Sprung an das rettende andere Ufer.
Das Brandenburger Tor immer im Visier auch des inneren Auges über die „Wüste Gobi“: unpathetisch, fragil, Relikt der Erinnerung, ins Dunkel getaucht. Die verfremdend grellen Farben der „Quadriga“ und die vergänglichen, sich versprühenden Feuerwerksblumen erscheinen über dem „Flammenden Tor“ als Bühne der Leidenschaften, der Schmerzen, Trauer und Hoffnungen.
Das Bild der „Mütter“ dann im Golfkriegsjahr 1991, die den toten Sohn auf ihrem Schoß tragen, die Pietà aller Zeiten in einer unendlichen Reihe: Leiden, das sich in Linien ausdrückt, in fahlem Rosa, entschwindendem Blau. Durchscheinend ist das Bild wie der in den Körpern eingefangene leere weiße Raum. Aufgereiht auch die Frauen im „Polenmarkt“ (1990) wie Puppen, durch deren weiße, gleichförmige Maskengesichter schmerzhaft zurückgestaute menschliche Not bricht. Wie Lampions, vielleicht aber auch wie vertropfendes Blut sind sie aufgehängt vor schwarzem Grund, die rotleuchtenden Fuchsienblüten und –knospen, angeregt durch Fuchsienhecken in Irland. Kaum intensiver als vor diesem vierteiligen Bild könnte man erleben, wie schmerzhaft das Schöne, wie tödlich das Blühen sein kann. „Hecke (wo sind die Heckenschützen?) Rot wird so leicht glutrot so blutrot so feuerrot durch Schwarz“ hat es K. H. Hödicke genannt.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 6. April 1993
Ringen gegen Hemmnisse – ein Künstlerleben lang
Malerin Julie von Egloffstein im Goethe-Museum
Für die außergewöhnliche Schönheit und die große künstlerische Begabung ihrer Tochter Julie, die am 12. September 1792 in Erlangen geboren wurde, hatte die Mutter, Henriette Gräfin von Egloffstein, eine plausible Erklärung. Während sie dieses - ihr drittes - Kind unter dem Herzen getragen habe, sei sie durch Italien gereist und habe dort von der Natur und der Kunst überwältigende Eindrücke empfangen. Das Leben der Julie von Egloffstein (1792-1869), „Goethes Zeichnerin“, ist Thema einer bezaubernden Ausstellung im Goethe-Museum, die aus dem Hildesheimer Roemer-Museum kommt als Ehrung zu ihrem 200. Geburtstag.
Bewegliches Temperament
Die Zeit der Klassik, der Romantik und des Biedermeier gewinnt in dieser Schau mit Gemälden, Aquarellen, Zeichnungen, Lithographien, Handschriftlichem und in ihrem schönen Katalog greifbar menschliche, ja persönliche Konturen. Im Milieu, in den wechselnden Schauplätzen, in den Porträts, Landschaften, Genrebildern, in Person und Lebensweg der Künstlerin selbst reflektiert sie immer zugleich Weite, Größe, Zielstrebigkeit, Tatendrang, schwärmerische Entdeckungsfreude und ein bewegliches Temperament, die doch alle den Rahmen des Angepaßten nicht sprengen. Dieser bleibt durch Erziehung und Standesbewußtsein gewahrt und hemmte die künstlerische Entfaltung Julie von Egloffsteins lebenslang.
Und dies, obwohl sie von Jugend an eine professionelle Künstlerlaufbahn anstrebte, immer unvermählt blieb, um sich in damals ungewöhnlicher Hingabe für eine Dame von Rang dieser Aufgabe zu widmen und jede Gelegenheit ergriff, sich malerisch-zeichnerisch und auch in der neu aufkommenden Lithographie weiterzubilden. Weimarer Künstler wie Haller von Hallerstein und Heinrich Meyer, Georg Kersting in Dresden, Heinrich Christoph Kolbe, Karl Stieler oder Overbeck in Rom, Peter Cornelius, Dillis in München, an der Düsseldorfer Akademie (1837) Louis Ammy Blanc, Schadow, Hübner, Lessing gehörten zu ihren Lehrern und Vorbildern. Nicht zuletzt auch die alten Niederländer und Raffael, Guido Reni, Correggio, Rubens.
Goethe, ihr großer Förderer und Verehrer am Weimarer Musenhof, war es, der sie „seine glückliche Zeichnerin“ nannte. War sie es wirklich? Nach den Jahren in Weimar (1816-1828), wo sie unter dem Scherznamen „Julemuse“ zusammen mit Ottilie von Pogwisch („Tillemuse“), Adele Schopenhauer („Adelmuse“) und der Schwester Caroline („Museline“) zum Freundeskreis des „Musenvereins“ gehörte, brach sie fast fluchtartig zu einem zweijährigen Rom- und Italienaufenthalt auf, weil sie ihr Amt als Großherzogliche Hofdame zuletzt als „wahre Höllenpein“ empfand und Behinderung ihres Schaffens.
Die Bilder der Ausstellung spiegeln ihre zahlreichen Reisen, die Schauplätze ihres Wirkens, ihrer Erfolge und Anerkennungen auch in Ausstellungen: Reisen nicht nur in die deutschen und italienischen Kunstmetropolen, sondern auch nach England, in die Schweiz und die Niederlande, ebenso die Zeiten idyllischer Zurückgezogenheit im Forsthaus Misburg bei Hannover, im fränkischen Stammsitz Schloß Egloffstein und zuletzt im Klostergut Marienrode bei Hildesheim.
Besonders anmutig in der subtilen Schwerelosigkeit sind die lichtdurchwobenen, meist lavierten, teils auch aquarellierten Graphit- und Bleistiftzeichnungen ihrer Rheinromantik-Reise von Mainz bis Köln 1816. Voller Charme und Frische, auch souverän in der Zusammenschau und dem Detailreichtum die gezeichneten Ansichten von Schloß Egloffstein (1814) oder aus der Umgebung von Weimar, während die Architekturzeichnungen aus dem antiken Rom zum Teil etwas angestrengt, die eigenhändig lithographierten Genreszenen aus Italien indes grazil und technisch perfekt wirken. Meisterhaft in der zupackenden Erfassung von Wesen und Charakter sind Porträtzeichnungen wie die von August von Goethe (Kreide, Bleistift, aquarelliert, um 1830) oder von der gealterten Charlotte von Stein (um 1825, hier als Kreidelitho).
Unter den großen, repräsentativen Ölporträts gefällt besonders das romantisch-empfindsame Selbstbildnis von 1822 vor dem Hintergrund der fränkischen Landschaft mit Burg Egloffstein oder das prachtvolle, in seiner Ausstrahlung von hoheitsvollem Glanz und Faszination der Farben, kostbarer Stofflichkeit und weiblicher Schönheit unübertreffliche Bildnis der Therese, Königin von Bayern (1836). Gestellt und unlebendig wirkt dagegen die „Sitzende Dame auf der Terrasse“ (um 1833), und auch die Goethe-Porträts können nicht überzeugen. Daß sich aber die kinderlose Königin Adelheid von England so sehr in das reizende kleine Kinderbild der dreijährigen schlafenden Elise Rautert (hier in einem Schabkunstblatt vertreten) verliebte, es für 1000 Pfund Sterling kaufte und immer um sich haben wollte, kann man wohl verstehen.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 21. April 1993
Mythen und Monströses
Zyklus Frauen in Sagenwelt und Kunst bei Zimmer
Im Rückblick auf den jeweils mit einem Vortragsabend verbundenen Ausstellungszyklus der Galerie Zimmer (Oberbilker Allee 27) „Frauengestalten aus Mythologie und Kunst in der Malerei der Gegenwart“ darf eine positive Bilanz gezogen werden. Der gute Besuch, der Brückenschlag zwischen Historie und Gegenwart, die künstlerische Anregung durch zeitübergreifende Themen und die Vertiefung der Ansicht durch Einsicht in bemerkenswerten Vorträgen eröffneten fruchtbare Perspektiven. Künstler unserer Zeit haben mythische oder biblische Themen neu erlebt.
Nach den beiden ersten Ausstellungen, die der griechischen Leda und der fernöstlichen Göttin Ushas/ Ratri gewidmet waren, muß nun auch der Bogen zur derzeitigen Schau geschlagen werden: Sigrid Redhardts monumentale Malereicollagen von 1992/93 zum Thema „Die Töchter des Pelias“. Den Vortrag zu diesem Medea-Thema hielt der Direktor des Kunstmuseums, Hans Albert Peters. Es ist die Geschichte von der Zauberin Medea, die ihre Töchter gegen deren Willen anstiftet, ihren Vater Pelias zu ermorden und zu zerstückeln, angeblich, um ihm auf diese Weise unaufhörliche Jugend zu schenken, in Wahrheit aber, um ihn aus Rache zu töten. Die Töchter folgen aus Liebe zum Vater vertrauensvoll dem Rat der Mutter. Gerade dieser Aspekt reizte die Düsseldorfer Künstlerin zur Darstellung.
Zerrissenheit wirkt schon im Herstellungsprozeß des monumentalen Schlüsselbildes, das zunächst für die durch acht Fenster geteilte Wand des „Ballhauses“ konzipiert und entsprechend in acht Teile aufgespalten wurde. Gerissen und geschnitten, auch wieder zusammengeklebt die figurativen Teile der Malereicollage. Die Zerstückelung in Fragmente führt im Bild zu einem neuen Ganzen.
Gewaltig, wie in Stein gehauen, wirken Redhardts malerisch-rhythmisierte Figuren. Ohne Schatten sind sie, auf das Wesentliche reduziert und zeitlos. 15 Zeichnungen führen zu dem 260 x 320 cm großen Gemälde und anderen Bildern des Zyklus hin, in denen zärtlichere, traurig-empfindsame Aspekte der mörderischen Tragödie zum Vorschein kommen.
Vorangegangen waren die der Lilith gewidmete Ausstellung von Tina Juretzek mit einem Vortrag von Gisela Götte vom Clemens-Sels-Museum Neuss und Antonius Höckelmanns Trilogie „Judith und Holofernes“, eingeführt von Siegfried Gohr, ehemaligem Chef des Museums Ludwig.
Die böse Schlange Lilith
Die vor Eva erschaffene Dämonin Lilith, böse Schlange und schwarzgeflügeltes Gegenstück des Teufels – diese vielschichtige Gestalt hat Tina Juretzek in einer ganzen Folge expressiver, zum Teil collagierter Zeichnungen in Tusche und Graphit in flackerndem Helldunkel 1986 dargestellt in einer von Zweifeln gequälten Phase ihres Schaffens: spannungsvoll, zerrissen, abgründig. Flügelwesen sind das voll düsterer Unberechenbarkeit, bedrohlich, auch in tierhafter Körperlichkeit. Selbstquälerisches, Selbstzerstörerisches drückt sich darin aus.
Und die alttestamentarische Judith, die den Assyrerfürsten Holofernes erschlug, um ihr jüdisches Volk zu retten? Höckelmann hat in seinen großen Bleistift- und Tuschzeichnungen, farbigen Wachskreiden und bemalten Reliefs das wild lachende und zugleich todbringende Gesicht der Judith, in dem Schönheit und Monströses, Wildes und Grausames verschmelzen, mit flackerndem Helldunkel gleichsam aus einer Maske entwickelt: Abgründe des Menschen, wie sie sich zu allen Zeiten in ihm verbergen oder ausbrechen können.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 28. April 1993
Wachen Auges und voller Begeisterung
RP-Kunstkritikerin Yvonne Friedrichs 73jährig in Mettmann gestorben
In ihrem Wesen schien ewige Jugend zu walten. Yvonne Friedrichs, aus Thüringen stammende Kunstkritikerin der „Rheinischen Post“ seit 35 Jahren, konnte sich immer wieder begeistern: für die Werke junger, nachwachsender Künstlergenerationen, für Moderne und Klassik und ganz besonders für alles Fernöstliche. Völlig überraschend ist sie gestern während eines Telefongesprächs in ihrer Wohnung tot zusammengebrochen, im Alter von 73 Jahren.
Yvonne Friedrichs war – nach kunst- und musikwissenschaftlichen Studien – in Düsseldorf zu einer liebenswürdigen Institution geworden. Sie pflegte enge Kontakte zu Galerien und Museen, und wenn Ausstellungen sie überzeugten, war es ihr ein Herzensanliegen, ihre Begeisterung auf die Leser überspringen zu lassen. Besonders schätzte sie heftige, wilde, farbintensive Malerei; aber auch Kunstwerke, deren Sinnlichkeit weniger unmittelbar in Erscheinung tritt, sucht sie in zuweilen überschwänglichen Worten ihrem zeitungslesenden Publikum zu vermitteln. Ihr letzter, gestern in der Redaktion eingegangener Bericht über eine Keramikschau im Düsseldorfer Hetjens-Museum legt davon erneut Zeugnis ab. Wenn Yvonne Friedrichs Kunst deutete, warb sie immer auch um Verständnis.
Ihr besonderes Interesse an meditativen, im Metaphysischen wurzelnden Werken ergab sich aus den Erkenntnissen, die sie auf ihren abenteuerlichen Reisen in den Orient, den Fernen Osten und in Länder der sogenannten Dritten Welt erworben hatte. In Persien kann sie sich ebenso gut aus wie in Pakistan, in Indien, Peru und Bolivien. Und mehr als einmal stand sie dabei, wie sie uns erzählte, am Rande des Abgrunds.
Zuweilen hat Yvonne Friedrichs die Seite gewechselt, hat selber Dinge in Gang gesetzt, die sie sonst nur schreibend begleitete. So gab sie zusammen mit anderen den Anstoß zur Errichtung des (inzwischen geschlossenen) Skulpturenparks der Firma Horten am Düsseldorfer Seestern, arrangiert für fünf Stationen eine Kunstschau mit dem Titel „Blickpunkt Niederrhein“, brachte Kunst sogar in die Schaufenster der Kö.
Düsseldorfs dienstälteste Kunstkritikerin (die immer wieder auch Ausstellungen in anderen Städten besprach) hat ihr Lebenswerk abgeschlossen. Sie wird uns fehlen mit ihrer aller Routine entgegenwirkenden Neugier auf Kunst unserer Tage, ihrer Herzlichkeit, ihren wachen, lachenden Augen.
Bertram Müller In: Rheinische Post. 24. September 1996
Yvonne Friedrichs †
Mettmann. Die Kollegenschaft der rheinischen Kunstkritiker hat eines ihrer angesehensten Mitglieder verloren. Am 23. September starb Yvonne Friedrichs im Alter von 73 Jahren. Völlig überraschend hat sie der Tod während eines Telefongesprächs in ihrer Wohnung ereilt.
Geboren in Thüringen, war sie nach dem Krieg in den Westen Deutschlands gekommen, hatte hier Kunst- und Musikwissenschaft studiert und sich anschließend publizistischer Arbeit zugewandt, der Kunstkritik vor allem Düsseldorf wurde ihr Lebens- und Wirkungszentrum 35 Jahre lang, zuletzt als dienstälteste Kunstkritikerin vor Ort, war sie für die „Rheinische Post“ tätig und seit 1969 für die WELTKUNST. Dabei berichtete sie nicht nur über das Kunstgeschehen in Nordrhein-Westfalens Kunstmetropole, sondern auch über die Ereignisse im Umfeld der Stadt, vornehmlich aus dem Ruhrgebiet.
Ihre Kunstberichte erfuhren Wertschätzung, denn sie waren geprägt von Sachkenntnis, informativer Substanz und schnörkelloser Lesbarkeit. Yvonne Friedrichs wusste sich leidenschaftlich zu engagieren, ohne, wenn nötig, die kritische Distanz zu verlieren.
Was sie besonders auszeichnete, war ihre spontane Begeisterungsfähigkeit. Diese galt sowohl der klassischen Moderne als auch dem Schaffen der nachrückenden Generationen, nicht zuletzt außereuropäischen Kulturerzeugnissen. Ihre Neigung zur sogenannten Dritten Welt war auf Reisen gewachsen, von denen sie einige selbst als abenteuerlich empfand. Sie kannte sich aus in Persien, Pakistan und Indien, auch in Bolivien und Peru. Kreative Aufmerksamkeit für Meditatives und Metaphysisches erschlossen ihr Begegnungen mit Werken des Fernen Ostens, wie viele ihrer Ausstellungsbesprechungen bezeugen, darunter auch die letzte für die WELTKUNST über die tausendjährige Kunst des tibetischen Buddhismus.
Yvonne Friedrichs war nicht zuletzt ein kontaktfreudiger Mensch, offen und herzlich anderen gegenüber. Ihre „wachen, lachenden Augen“, an die der Nachruf ihrer Düsseldorfer Zeitung erinnerte, werden allen in Erinnerung bleiben.
Horst Richter
In: WELTKUNST. Die Zeitschrift für Kunst und Antiquitäten, Personalie, 1. November 1996
Yvonne Friedrichs Würdigungen und Nachrufe
Ein Herzensanliegen (1991)
Seit 30 Jahren ist Yvonne Friedrichs in Düsseldorf als Kunstkritikerin unterwegs
Wenn Yvonne Friedrichs unterwegs ist, hat sie es meistens eilig. Doch sobald sie ihr Ziel erreicht hat, nimmt sie sich die Zeit, die ihr eigentlich fehlt. Ob sie Ausstellungen besucht, über die sie schreiben will, oder der Redaktion einen Besuch abstattet, für die sie eigentlich längst geschrieben haben sollte – stets dehnt sich ihr alles nahezu schicksalhaft in die Lange.
Das kommt nicht von ungefähr. denn Yvonne Friedrichs, seit 30 Jahren Verfasserin von Kunstkritiken für die „Rheinische Post“ in Düsseldorf und darüber hinaus, zählt nicht zu den kalten Routiniers, die sich beim Schreiben lediglich einer Pflicht entledigen. Kunst ist ihr ein Herzensanliegen, der Künstler eine Autorität. Für seine Arbeit um Verständnis zu werben, darin erblickt sie ihre vornehmste Aufgabe.
Künstler, Galeristen, Museumsleute und am meisten selbstverständlich ungezählte Leser wissen es zu schätzen. Wendet sich Yvonnen Friedrichs doch an ein Publikum, das in Kunst weniger einen Spiegel der Zeit als einen Hort höherer Werte erkennt. Nicht ohne Grund benutzt sie oft und gern Begriffe wie „mythisch“ und „Mystisch“ – eine Romantikerin in einer Epoche, in der das Wahre, Gute, Schöne immer mehr wie ein Relikt aus dem vorigen Jahrhundert erscheint.
Dabei zählt Yvonne Friedrichs keineswegs zu denen, die einer vermeintlich besseren, künstlerisch ertragreicheren Vergangenheit nachtrauern. Im Gegenteil, über 30 Jahre hinweg hat sie sich ihre Neugier auf die Kunst der unmittelbaren Gegenwart erhalten. Ihr besonderes Interesse gerade an meditativen, im Metaphysischen wurzelnden Werken erklärt sich aus den Erkenntnissen, die sie auf ihren Reisen in den Orient, den Fernen Osten und in Länder der Dritten Welt erworben hat. In Persien war sie ebenso unterwegs wie in Pakistan, in Indien wie in Peru und Bolivien.
Zuweilen hat Yvonne Friedrichs die Seite gewechselt, hat selbst Ding in Gang gesetzt, die sie sonst nur schreibend begleitete. So gab sie zusammen mit anderen den Anstoß zur Errichtung des (inzwischen geschlossenen) Skulpturenparks der Firma Horten am Seestern, arrangierte für fünf Stationen eine Kunstschau mit dem Titel „Blickpunkt Niederrhein“, brachte Kunst sogar in die Schaufenster der Königsallee. Nach wie vor allerdings bildet den Mittelpunkt ihres Lebens das Schreiben; nicht nur in der „Rheinischen Post“, sondern auch zum Beispiel in den Fachzeitschriften „das kunstwerk“ und „Weltkunst“.
Düsseldorfs dienstälteste Kunstkritikerin, die ihr Geburtsdatum zur Geheimsache erklärt hat, ist durch ihre sie immer wieder herausfordernde Arbeit jung geblieben. Kompliment!
Bertram Müller in: Rheinische Post, 26. November 1991.
Stets voller Selbstvertrauen (1991)
Yvonne Friedrichs geehrt
Mehr als hundert Gratulanten – Künstler, Museumsleute, Galeristen – waren der Einladung ins Stadtmuseum gefolgt, um der seit 30 Jahren in Düsseldorf tätigen RP-Kunstkritiker Yvonne Friedrichs ihre Reverenzen zu erweisen. Hausherr Wieland König rühmte ihr nach, sie habe ihre Berichte „niemals mit der heißen Nadel gestrickt“ – und schon gar nicht gestochen“; vielmehr arbeite sie stets gründlich und dabei nie verletzend. Kulturdezernent Bernd Diekmann bestätigte dies mit seiner Beobachtung, daß Yvonne Friedrichs nach Ausstellungs-Pressekonferenzen immer zu den letzten zähle, die das Haus verließen.
RP-Feuilletonchef Reinhard Kill schließlich zeichnete in seiner launigen Laudatio eine Persönlichkeitsskizze von Yvonne Friedrichs, die von Detailkenntnis zeugte: das Leben einer von schier grenzenlosem Selbstvertrauen erfüllten Frau, über der auf ungezählten abenteuerlichen Erkundungen der Erde offenbar stets ein Schutzengel schwebte. Gerührt bedankte sich die solchermaßen Durchschaute mit improvisiert vorgetragenen An- und Einsichten über Kunst und die Welt für die Zuwendung, die ihr an diesem Abend von allen Seiten entgegenschlug. Applaus und ein Glas Alt aufs weitere Wohlergehen.
Rheinische Post, 27. November 1991.
Nachrufe : 1996
Wachen Auges und voller Begeisterung RP-Kunstkritikerin Yvonne Friedrichs 73jährig in Mettmann gestorben
In ihrem Wesen schien ewige Jugend zu walten. Yvonne Friedrichs, aus Thüringen stammende Kunstkritikerin der „Rheinischen Post“ seit 35 Jahren, konnte sich immer wieder begeistern: für die Werke junger, nachwachsender Künstlergenerationen, für Moderne und Klassik und ganz besonders für alles Fernöstliche. Völlig überraschend ist sie gestern während eines Telefongesprächs in ihrer Wohnung tot zusammengebrochen, im Alter von 73 Jahren.
Yvonne Friedrichs war – nach kunst- und musikwissenschaftlichen Studien – in Düsseldorf zu einer liebenswürdigen Institution geworden. Sie pflegte enge Kontakte zu Galerien und Museen, und wenn Ausstellungen sie überzeugten, war es ihr ein Herzensanliegen, ihre Begeisterung auf die Leser überspringen zu lassen. Besonders schätzte sie heftige, wilde, farbintensive Malerei; aber auch Kunstwerke, deren Sinnlichkeit weniger unmittelbar in Erscheinung tritt, sucht sie in zuweilen überschwänglichen Worten ihrem zeitungslesenden Publikum zu vermitteln. Ihr letzter, gestern in der Redaktion eingegangener Bericht über eine Keramikschau im Düsseldorfer Hetjens-Museum legt davon erneut Zeugnis ab. Wenn Yvonne Friedrichs Kunst deutete, warb sie immer auch um Verständnis.
Ihr besonderes Interesse an meditativen, im Metaphysischen wurzelnden Werken ergab sich aus den Erkenntnissen, die sie auf ihren abenteuerlichen Reisen in den Orient, den Fernen Osten und in Länder der sogenannten Dritten Welt erworben hatte. In Persien kann sie sich ebenso gut aus wie in Pakistan, in Indien, Peru und Bolivien. Und mehr als einmal stand sie dabei, wie sie uns erzählte, am Rande des Abgrunds.
Zuweilen hat Yvonne Friedrichs die Seite gewechselt, hat selber Dinge in Gang gesetzt, die sie sonst nur schreibend begleitete. So gab sie zusammen mit anderen den Anstoß zur Errichtung des (inzwischen geschlossenen) Skulpturenparks der Firma Horten am Düsseldorfer Seestern, arrangiert für fünf Stationen eine Kunstschau mit dem Titel „Blickpunkt Niederrhein“, brachte Kunst sogar in die Schaufenster der Kö.
Düsseldorfs dienstälteste Kunstkritikerin (die immer wieder auch Ausstellungen in anderen Städten besprach) hat ihr Lebenswerk abgeschlossen. Sie wird uns fehlen mit ihrer aller Routine entgegenwirkenden Neugier auf Kunst unserer Tage, ihrer Herzlichkeit, ihren wachen, lachenden Augen.
Bertram Müller in: Rheinische Post. 24. September 1996.
Yvonne Friedrichs †
Mettmann. Die Kollegenschaft der rheinischen Kunstkritiker hat eines ihrer angesehensten Mitglieder verloren. Am 23. September starb Yvonne Friedrichs im Alter von 73 Jahren. Völlig überraschend hat sie der Tod während eines Telefongesprächs in ihrer Wohnung ereilt.
Geboren in Thüringen, war sie nach dem Krieg in den Westen Deutschlands gekommen, hatte hier Kunst- und Musikwissenschaft studiert und sich anschließend publizistischer Arbeit zugewandt, der Kunstkritik vor allem Düsseldorf wurde ihr Lebens- und Wirkungszentrum 35 Jahre lang, zuletzt als dienstälteste Kunstkritikerin vor Ort, war sie für die „Rheinische Post“ tätig und seit 1969 für die WELTKUNST. Dabei berichtete sie nicht nur über das Kunstgeschehen in Nordrhein-Westfalens Kunstmetropole, sondern auch über die Ereignisse im Umfeld der Stadt, vornehmlich aus dem Ruhrgebiet.
Ihre Kunstberichte erfuhren Wertschätzung, denn sie waren geprägt von Sachkenntnis, informativer Substanz und schnörkelloser Lesbarkeit. Yvonne Friedrichs wusste sich leidenschaftlich zu engagieren, ohne, wenn nötig, die kritische Distanz zu verlieren.
Was sie besonders auszeichnete, war ihre spontane Begeisterungsfähigkeit. Diese galt sowohl der klassischen Moderne als auch dem Schaffen der nachrückenden Generationen, nicht zuletzt außereuropäischen Kulturerzeugnissen. Ihre Neigung zur sogenannten Dritten Welt war auf Reisen gewachsen, von denen sie einige selbst als abenteuerlich empfand. Sie kannte sich aus in Persien, Pakistan und Indien, auch in Bolivien und Peru. Kreative Aufmerksamkeit für Meditatives und Metaphysisches erschlossen ihr Begegnungen mit Werken des Fernen Ostens, wie viele ihrer Ausstellungsbesprechungen bezeugen, darunter auch die letzte für die WELTKUNST über die tausendjährige Kunst des tibetischen Buddhismus.
Yvonne Friedrichs war nicht zuletzt ein kontaktfreudiger Mensch, offen und herzlich anderen gegenüber. Ihre „wachen, lachenden Augen“, an die der Nachruf ihrer Düsseldorfer Zeitung erinnerte, werden allen in Erinnerung bleiben.
Horst Richter in: WELTKUNST. Die Zeitschrift für Kunst und Antiquitäten, Personalie, 1. November 1996.
Yvonne Friedrichs Selbstverständnis
(Zu Yvonne Friedrichs, 1923-1996)
Verstehen statt Aburteilen (1966)
Yvonne Friedrichs sprach über „Kunstkritik heute“
Zum 50. Teenachmittag der Gesellschaft für christliche Kultur konnte der Erste Vorsitzende J. H. Sommer zahlreiche Gäste im Zweibrücker Hof begrüßen. Das besondere Interesse der Versammelten galt nicht so sehr der Feier der goldenen Fünfzig, als dem Vortrag der Journalistin und Kunstkritikerin Yvonne Friedrichs über das Thema „Kunstkritik heute“. Die Anteilnahme, die diesem Thema entgegengebracht wurde, läßt darauf schließen, daß viele Menschen, die der Kunst der Gegenwart sehr aufgeschlossen sind, doch vor der Schwierigkeit stehen, sie zu beurteilen, abzuwägen und Qualitätsunterschiede festzustellen.
Yvonne Friedrichs ging aus von der Überlegung, daß das echte Kunstwerk sich jeder rationalen Erklärung entzieht, daß folglich die Kritik sich auf Theorien weder stützen kann noch darf. Kunsttheorien wirken nach ihrer Meinung hemmend auf die Kunstkritik, legen ihr ein Korsett an und hindern ihre Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit. Damit wollte sie jedoch nicht sagen, daß der Kritiker nicht unbedingt über die ganze Kunstgeschichte unterrichtet sein müsse. Die umfassende Kenntnis der Kunst der Vergangenheit ist zwar die notwendige Basis für den Kritiker, aber entscheidender ist das Einfühlungsvermögen in das Werk des jeweiligen Künstlers, der Instinkt für das Originale, die Bereitschaft auf alles Neue zu reagieren, sich existentiell, mit der ganzen Person dem Kunstwerk hinzugeben. Yvonne Friedrichs verglich die erforderliche Vielseitigkeit des Kunstkritikers mit der des Schauspielers. Sie bestätigte auch, daß Kunstkritik immer subjektive Züge trug und trägt, lehnte aber jeden hemmungslosen Subjektivismus ab: „Dafür ist kein Platz mehr!“
Da die Kunstkritik von Anfang an soziale Funktionen gehabt hat, untersuchte die Referentin auch deren Aufgabe gegenüber dem heutigen Publikum. Sie kam zu dem Schluß, daß die Kunstkritik das Geistige in der Kunst aufzuspüren und zu vermitteln habe. Sie müsse die den meisten Menschen unverständlich gewordene Sprache der Kunst in eine dem Kunstwerk adäquate, aber dem Publikum wiederum verständliche Sprache übersetzen. Das sei nicht immer einfach, die bloße Information und Beschreibung, verbunden mit einer Schwarz-Weiß-Wertung, sei hier völlig verkehrt. „Die wortreiche Beschreibung trifft nicht das Wesen der Sache.“ Um die Erlebnisfähigkeit des Publikums zu erweitern und zu bereichern, bedürfe es der Interpretation, der individuellen Reaktion und der Reflexion des Kunstwerkes. Nur das nachschaffende Erleben könne dem Publikum das Kunstwerk näherbringen und – bei der Bewältigung dieser Aufgabe könne der Kritiker selbst zum Künstler werden. Das unterscheidet ihn auch vom gefürchteten Kritiker der Vergangenheit. „Aber“, sagte sie, „verstehen ist auch schwerer als aburteilen“, deshalb müsse der Kritiker heute mit unschuldigen Augen dem Kunstwerk begegnen, es in seiner Eigengesetzlichkeit erfahren und aufnehmen.
D. H. in: Rheinische Post, 15. März 1966.
Yvonne Friedrichs Kunstkritik: 1972-1974
Strukturen im weißen Papier (1972)
Ausstellung Oskar Holweck
Der Saarländer Oskar Holweck (48) gehörte zu den Künstlern, die seit 1958 in Kontakt mit der Düsseldorfer Zéro-Gruppe standen, mit ihr ausstellten und auch in der Zeitschrift „Zéro“ hervortraten. Zugleich war er damals Mitglied der Neuen Gruppe Saar in Saarbrücken und der Nouvelle Ecole Européenne in Lausanne. 1960 trat er dem Deutschen Werkbund bei. Holweck, der an der Staatlichen Schule für Kunst und Handwerk in Saarbrücken und an der Ecole des Arts Appliqués à l’industrie und der Académie de la Grande Chaumière in Paris studierte, ist seit 1956 Leiter der Klasse Grundlehre an der Werkkunstschule Saarbrücken.
Er war in den letzten 25 Jahren auf vielen internationalen Ausstellungen vertreten, von Amsterdam bis Formosa, Paris, Ljubljana, Venedig, Mailand, Moskau, Washington. Jetzt zeigt die Galerie Wendtorf-Swetec eine Ausstellung seiner Reliefbilder, Zeichnungen und Objekte aus den letzten 15 Jahren.
Holweck gehört nicht zu denen, die sich auf den lauten Märkten in den Vordergrund spielen. Seine mit schlichtesten Medien und einem Minimum an äußerem Aufwand geschaffenen Arbeiten wenden sich an die Sensibilität des Betrachters. Fontana, Manzoni, auch Bernhard Schultze gehören zweifellos zu seinen Anregern. Sein ästhetisches Konzept, das er mit unkonventionellen Methoden und Materialien realisiert, verbindet ihn mit der Gruppe Zéro.
Der Künstler reißt seine sparsamen, fein ausgewogenen Strukturen in weißes Papier – wie zarte, geknitterte und gefältelte Stalaktitenzungen, wellig gebogene Streifen springen sie reliefartig aus der Fläche vor. Diese die Fläche verletzenden und in vibrierende Spannung versetzenden Spuren werden oft mittels Nägeln gezogen, über die Holweck das Blatt spannt und zieht. Sie zeichnen Rhythmen von Licht und Schatten in das reine Weiß wie die in das Papier geknitterten blumigen und strahligen Strukturen oder die positiven und negativen Karo-Faltenreihen.
Daneben gibt es Objekte aus im Zentrum zusammengeklebten weißen Papieren, die sich wie große bauschige Blüten aufblättern. In all dem, auch in den Reihungen sich verwischender und auflösender Linien der Zeichnungen, halten sich formale Freiheit und Disziplin in der Balance. Die zarten optischen Impulse, die hier ausgespielt werden, weisen in den Bereich des Unausgesprochenen, der Stille.
In: Rheinische Post. Feuilleton, 3. Mai 1972.
Riesige Hände tasten (1972)
Plastiken von Michael Schwarze in der Galerie Niepel
Plastiken von vollendeter klassischer Schönheit, die in bruchloser, folgerichtiger Konsequenz in die Phantastik des Surrealen umschlägt, beeindrucken in einer Ausstellung der Galerie Niepel in der Grabenstraße. Der jetzt 33jährige, aus Krefeld stammende Michael Schwarze erweist sich den Plastiken als einer der bedeutenden jungen Bildhauer der Gegenwart, der in den zehn Jahren seines stetigen Aufstiegs unbeirrt einen eigenen Weg verfolgte. Sein Werdegang ist imponierend und zeugt von der Intensität, mit der hier in einer langen Lehr- und Studienzeit auch formal ein hohes Können erworben wurde.
Er begann 1953 mit einer vierjährigen Tischlerlehre, gefolgt von einem zweijährigen Architekturstudium an der Werkkunstschule Krefeld. Anschließend besuchte Michael Schwarze fünf Jahre lang die Berliner Hochschule für Bildende Künste und war Meisterschüler von Professor Karl Hartung. Seit 1964 lebte er als freier Bildhauer in Berlin und wurde 1967 mit dem Villa Romana-Preis, 1969 mit dem Kritikerpreis des Verbandes der deutschen Kritiker Berlin und dem Kunstpreis der Stadt Krefeld ausgezeichnet.
Eine große, ausdrucksvoll bewegte Hand ersetzt oft den Kopf von Schwarzes menschlichen Akten in Bronze oder weißem und bräunlich übermaltem Gips, deren Körper manchmal nur aus einem Bein besteht. Eine Hand, die sich schwermütig zum Boden neigt („Gebückter“) oder wie eine organische Schale die Äpfel des Paradieses umschließt („Eva“), die aus einer aufplatzenden Kugel bricht oder zur Stütze einer Kugel wird.
In flexibler Gestik und phantastischem Bewegungsspiel öffnet sich die Hand dem Raum, ist Trauma, Symbol, Ausdrucksmedium von Emotionen. Auch in einer Reihe von Zeichnungen und Radierungen, in denen riesige Hände und Handfiguren durch Räume tasten, kriechen und Berührung suchen. Zu den schönsten plastischen Darstellungen gehören daneben ein unkonventioneller „Ikarus“ – eine am Boden liegende Figuration aus Kopf, Bein und Flügel – sowie ein sich aus einer aufbrechenden Säule lösendes Mädchen.
Verhaltene Tragik und Melancholie sprechen aus diesen verschlüsselten Bildwerken – menschlichen Situationen im Spannungsraum zwischen Verstricktsein, Beklemmung, Angst und Aufbruch in die Freiheit.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 3. Mai 1972.
Wirklichkeit hinter der Oberfläche (1974)
Die zweite Generation der Wiener Phantastischen Realisten
Die zweite Generation der Wiener Phantastischen Realisten wird in der in Düsseldorf bisher umfangreichsten Ausstellung bei Norbert Blaeser, Königsallee 92a (Stadtsparkassen-Passage), vorgestellt: über 100 Bilder, Gouachen, Aquarelle, Zeichnungen und Radierungen von Helmut Heuberger, Peter Klitsch, Reny Lohner, Peter Proksch, Kurt Regschek und Werner W. Schulz. Die Preise liegen zwischen 1200 und 30 000 Mark – außer bei der Graphik.
Die vielschichtige, altmeisterliche Technik, das präzise bis ins minuziöse malerische Detail erfaßte, ins gegenständlich-figürliche gebannte Phantastische und Wunderbare, das sich als Gedanke, Emotion, Imagination hinter der Oberfläche des „Wirklichen“ verbirgt, haben diese in den zwanziger und dreißiger Jahren geborenen Künstler von ihren Vorgängern übernommen. Dabei hat man den Eindruck, daß manches unverkrampfter und in der Thematik weniger klischeehaft geworden ist, dafür intelligenter und dem Mystischen zuneigend.
Spitzenwerke kommen von Peter Proksch: das geheimnisvolle, das Dualitätsprinzip allen Lebens symbolisierende Gemälde „Die magischen Zwei“, in dem Mann und Frau, Land und Meer, Himmel und Erde, Sonne und Mond spannungsvoll aufeinander bezogen sind. Eine beeindruckende Leistung sind die in dreijähriger Arbeit entstandenen meisterhaften zwölf Radierungen zu dem satirisch-phantastischen Roman „El Criticon“ des spanischen Jesuitenpaters Baltasar Gracian (1584-1659), in denen Lebensweisheit und -einsicht geistvoll reflektiert und anschaulich werden.
Reny Lohners feinfiedrig und faserig in fast tänzerische Rhythmen aufgelösten Märchenlandschaften, über denen große Traumvögel schweben, sind am preziösesten im kleinen Format, wie etwa die in feinsten Farbnuancen irisierende Silberstiftzeichnung einer „Sphinx“ oder das Öl-Tempera-Bild „Vor einem Zelt“.
Kurt Regscheks von einem Tuch überschattete, von durchsichtigen Schleiern und flutendem Ornamentgrund umspielte „Eurydike“ erinnert an Klinger und den Jugendstil. Helmut Heuberger, Doktor der Philosophie und malender Autodidakt, der sich zum „Protest der Stille“ bekennt, baut seine poetischen Traumlandschaften wie Kartenhäuser oder Theaterkulissen auf: Schloßruinen, Muschelhäuser oder blaue Türme auf Klippen.
Mit einem ostasiatischen, von rauschhaften exotischen Farben umlohten Mädchen ist Peter Klitsch vertreten. In märchenfarbige Wellenstrukturen zerlegt Werner Schulz seine verwunschenen Landschaften, die offensichtlich an Hundertwasser orientiert sind.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 23. Mai 1974
Yvonne Friedrichs Kunstkritik: 1975-1978
Hrdlicka und das Dämonische (1975)
„Ich habe keine Visionen, ich lese Zeitung“, soll Alfred Hrdlicka einmal gesagt haben. Er bezieht Stellung zu dem, was um ihn herum passiert. Im Gegensatz zu manchen Zeitungslesern, die nach der Lektüre auch katastrophaler Nachrichten zur Tagesordnung übergehen, fühlt sich Hrdlicka im Innersten aufgewühlt.
In geradezu selbstquälerischer Leidenschaft nehmen die dunkelsten Triebe des Menschen in seinen Arbeiten Gestalt an, verdichten sich in spannungsgeladenen Menschengruppen, in erregten Schraffuren, flackerndem Helldunkel der Radierungen, in übersteigertem, brutalem Realismus der Plastiken Angst, Bedrohung, Grausamkeit, psychische Abnormität, sexueller Exzeß. Der Mensch wird einseitig als Ungeheuer gesehen, als Vollzugsorgan oder Opfer verbrecherischer Mächte und chaotischer Leidenschaften.
Nachdem 1971 der Graphiksalon Söhn eine große Auswahl der bis dahin erschienenen Graphiken Hrdlickas gezeigt hatte, sind jetzt in der Junior Galerie (Orangeriestr. 6) einige der neuesten Radierfolgen und Zeichnungen neben mehreren Bronzen ausgestellt.
Im Mittelpunkt steht der komplette Zyklus „The rake’s progress“ (Das Leben eines Wüstlings), der an das berühmte sittengeschichtliche Werk von Hogarth aus dem 18. Jh. anknüpft, und die 1973/74 entstandenen 52 Radierungen „Wie ein Totentanz“, ein Kommentar zum 20. Juli 1944.
Hrdlicka (geb. 1928 in Wien), der Schüler von Gütersloh, Dobrowsky und des Bildhauers Wotruba, der als Radierer an die Technik Rembrandts anknüpft, erweist sich hier aufs neue als ein Nachfahre Goyas in der schonungslosen Entlarvung des Diabolischen. Um das so konzentriert zu offenbaren - meisterlich im Technisch-Formalen -, bedarf es wohl einer so temperament- und wesensbedingten Einseitigkeit der Weltsicht.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 11. März 1975.
Vom optischen Chaos zum Organismus (1975)
Photoskulpturen und Zeichnungen von Klaus Kammerichs im Kunstverein
Wenn sich im 19. Jahrhundert renommierte Maler – wie Lenbach etwa, oder Zille – der Photographie als Vorlage und Hilfsmittel für ihre Bilder und Zeichnungen bedienten, so taten sie dies verschämt und hinter verschlossener Tür. Im Mittelalter, ja noch bis in die Barockzeit hinein, war es durchaus nicht ehrenrührig, sondern gang und gäbe, daß auch die berühmtesten Künstler Motive aus den in allen Werkstätten aufliegenden Kupferstichen, Modellzeichnungen oder Musterbüchern kopierten. Der Brauch, mit Mustern, Modellen und technischen Hilfskonstruktionen zu arbeiten, geht bis ins früheste Altertum zurück.
Die Photographie, die zunächst als gefährliche Konkurrenz der Malerei gefürchtet wurde und später die abstrahierenden und das äußere Bild der Wirklichkeit verfremdenden Kunstrichtungen mit auslöste, ist inzwischen durch Collage und Assemblage, durch Pop-, Land-Art und Photorealismus sogar nominell in das Kunstwerk integriert.
Der Düsseldorfer Künstler Klaus Kammerichs kann für sich in Anspruch nehmen, eine ganz spezielle Verwertung und Manipulation des Photos erfunden zu haben. Als seine ersten „Photoskulpturen“ 1971 in einer Ausstellung der Galerie Niepel auftauchten, war das eine kleine Sensation. Man bestaunte ihre eigenwillige Technik – eine wahre Sisyphos-Arbeit. Wichtig sind die Arbeiten Kammerichs’ aber auch historisch als vermittelndes Bindeglied zwischen informeller Struktur und realistischer Figuration, denn beide Elemente sind in reinster Form gleichzeitig in jeder seiner Skulpturen enthalten.
Dies beruht auf einem seltsamen, verblüffenden Effekt, den der Betrachter selbst steuern kann: geht er dicht an die Reliefs und Plastiken heran, zerfallen sie in zerklüftete Strukturlandschaften mit spitzigen Klippen und dunklen Schluchten, in denen das Auge umherirrt und vergeblich Sinn und Halt sucht. Bei zunehmender Entfernung verdichtet sich das optische Chaos zum geschlossenen Organismus und schließlich zum problemlosen Abbild profaner Wirklichkeit.
Die Distanz schafft Klarheit. Punktuellen Strukturen eines numinosen plastischen Rasters fügen sich in einer „Briefmarkenserie“ zusammen zum Porträt von John Kennedy oder Friedrich dem Großen, Heinemann oder Hitler, Ulbricht, Franco, Elisabeth II. von England, auch zum Selbstbildnis oder zu einem Tigerkopf. Banale Gegenstände des täglichen Lebens – Wasserhahn, Telefon, Taschenlampen – werden zum „Aha-Erlebnis“. Am erstaunlichsten sind ganze Reliefwände in Abmessungen von 2x5 Metern mit kompletten Rugby- und Eishockey-Mannschaften oder einer Radrennfahrergruppe der „Tour de France“. In ihnen wird die ganze Dynamik, die sich in Kammerichs’ Technik verbirgt, herausgeholt.
Ihr Geheimnis liegt in einer räumlich-plastischen Abstufung der Grau- und Helldunkelwerte einer zugrundeliegenden Photographie, wobei die hellsten Töne als plastischste Erhöhungen in den Vordergrund rücken, die dunkleren sich in die Tiefe stufen. Kammerichs setzt also nicht die Photographie unmittelbar in Skulpturen um, sondern die Reliefschichtung ergibt sich aus den Tonwerten. Alle Arbeiten sind mit Draht in mühsamster Präzisions- und Geduldarbeit aus Hartschaumplatten ausgesägt und in Graunuancen, seltener farbig, bemalt.
In den jüngsten Arbeiten ist der optische Verwandlungsprozeß noch komplizierter geworden. Kammerichs nimmt Abstand vom banalen Wirklichkeitsabklatsch als Endresultat einer kinetischen Sehschule. Die Silhouette von Realitätsausschnitten, die er von zwei Standpunkten aufgenommen hat, überschneidet und durchdringt sich in der Plastik. So entstehen würfelartige komplexe Skulpturen: ein „Silberwald“, eine „Hobelbank“, ein „Frühstück im Freien“, in denen sich für diese verblüffende Technik neue Perspektiven eröffnen.
Klaus Kammerichs, 1933 in Iserlohn geboren, ist gelernter Photograph, war als Bildjournalist tätig, bevor er an der Düsseldorfer Werkkunstschule und Kunstakademie studierte. Der spätere Werbeleiter erhielt 1962 einen Lehrauftrag für Photographie an der heutigen Düsseldorfer Fachhochschule, an der er seit 1973 Professor im Fachbereich Design ist.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 12. März 1975.
Ein Zwiegespräch auf zwei Ebenen (1978)
Rolf-Gunter Dienst stellt in Schloß Morsbroich aus
In der Stille des von Schneegestöber-Vorhängen umwehten Schloß Morsbroich scheinen die Bilder und Zeichnungen von Rolf-Gunter Dienst gut aufgehoben. Der in Baden-Baden lebende Maler, Zeichner, Kunstkritiker, Schriftsteller, Redakteur zeigt dort im Städtischen Museum Leverkusen eine Ausstellung mit über 90 Bildern und Zeichnungen aus den letzten vier Jahren. Die tanzenden Flocken draußen im Park, hinter denen sich Gezweig und Farben alter Bäume und der Rasenflächen verwischten, hatten so manchen Bezug zu Diensts Arbeiten: Ihrer Verführung zur Meditation kann man nicht widerstehen.
Auch in den Bildern werden Gewebe gewirkt, die den vollen Blick auf das Dahinterliegende nicht zulassen – eine zarte Barriere, die Behutsamkeit empfiehlt und alles Deutliche verwischt. Doch durch die leicht verzogenen, „handgestrickten“ Maschen erhascht man einen Blick von Welt, der gefiltert ist und der sich bricht in der Irritation beweglicher Strukturen. Ein Zwiegespräch auf zwei Ebenen setzt ein.
Rolf-Gunter Diensts skripturale Pinselstrukturen gehorchen dem Zufall der Eingebung und neigen doch zugleich dem Gesetz der Serie zu. Sie sind als Elemente individuell verschieden, aber zugleich anonym. Sie ordnen sich zu Zeilen gleich handgeschriebenen Buchstaben, doch man kann sie nicht entziffern oder lesen. Sie ergeben keinen literarischen Sinn. Es sei denn, daß die Titel der Bilder oder Zeichnungen Gedachtes anzeigen, etwa in den Serien „Epitaph für Ad Reinhardt“ mit 72 Acrylbildern, oder „Wenn Claude Monet statt Alice Hoschedé Gertrude Stein geheiratet hätte, oder eine Seerose ist eine Seerose ist eine Seerose“, die zwölf Bilder umfaßt. Diese aufgereihten Phantasiebuchstaben-Elemente lehnen sich offenbar ein wenig an chinesische Schriftzeichen an. Und schon das weist in die Richtung, wie sie wohl „gelesen“ werden sollen.
Der Schreiber Rolf-Gunter Dienst vollzieht in ihnen die Synthese mit dem Maler. Seine geschriebenen Bilder sind nur sehend, tastend, empfindend zu begreifen. Oder sind sie überhaupt nur Medien, die Zonen verfeinerten Sinnenerlebnisses vor uns öffnen, die in der Selbsterkundung zarteste Erlebnisschwingungen ins ästhetisch Wahrnehmbare transponieren, gemischt aus Graphismen und höchst empfindlichen lyrischen Farbvibrationen?
Die „Schrift“ als solche scheint nur wichtig in bezug auf die Farben. In ihnen erhascht der Maler seltene, verwunschene Stimmungen, geheimnisvoll Schönes; er visualisiert Reize sehr subtiler Art. Bezauberndes gelingt ihm auf der Skala der Gelbtöne in der oben genannten Reihe „Wenn Claude Monet ...“ Blaßgelbes, grünlich Gelbes bis Orange der skripturalen Maschen läßt Tupfen variablen Violetts, von Lavendelblau, Karminrot oder verlöschendem Pinkrosa durchschimmern - seerosenhaft, oder wie immer man es deuten will.
Die dunklen kleinformatigen „Epitaphe für Ad Reinhardt“ versinken in Schwarz-Blau, Braun, zwischen denen manchmal auch Hellrot durchblitzt oder ein fremd und wunderbar aufscheinendes Yves-Klein-Blau. Das erinnert an gewirkte Teppiche, hat manchmal einen seidigen Glanz, scheint sich zu verändern, wenn man daran vorbeigeht. Gliedernde lineare Elemente zwischen den malend geschriebenen Zeilen erinnern zuweilen an eine Treppe, an ein Kreuz.
Der autobiographische Zug in diesen Bildern - als Auffangen und Reflektieren von Stimmungen gemeint - wird auch in den Bleistift- und Federzeichnungen deutlich. Auch sie entstanden zyklisch unter dem Motto „Aus einem Tagebuch - immer an einem anderen Ort“. Was in den Bildern in Zeilen geordnet ist, bewegt sich hier frei in Verdichtungen und Lockerungen über die ganze Fläche - zellenhaft, oder auch wie verwehte kleine Blätter, die ständig sich Veränderndes suggerieren. Mark Tobey gehört hier wohl sicher zu den Anregern.
Rolf-Gunter Dienst, der gebürtige Kieler (1942), lebte mehrere Jahre in den Vereinigten Staaten, wo er auch verschiedene Gastdozenturen hatte, ebenso wie in Australien und Kanada und an den Kunsthochschulen in Braunschweig und Frankfurt/Main. Der Autor mehrerer Künstlermonographien und Kunstbücher hat in seinen Bildern das niedergeschrieben, was man in Texten nur zwischen den Zeilen lesen kann.
In: Rheinische Post. Feuilleton, 16. Februar 1978.
Wenn nicht Wort, dann Form (1978)
Barlach-Ausstellung bei Ludorff
Im 40. Todesjahr von Ernst Barlach (1870 bis 1938) zeigt die Galerie Ludorff (Königsallee 22) eine umfangreiche Ausstellung mit 120 Arbeiten des Künstlers – Plastiken, Zeichnungen und Druckgraphik. Daß hier allein zehn seiner berühmtesten Bronzen neben einer Porzellanplastik (Russische Bettlerin mit Schale, 1906) versammelt sind, ist eine Seltenheit. Sie kommen alle aus einer norddeutschen, jetzt aufgelösten Privatsammlung.
Im Zentrum der „Singende Mann“ von 1928, der dem ganzen Raum seine Gelöstheit und Freiheit mitteilt. Schon 1912 machte Barlach die erste Entwurfszeichnung für die Plastik. Hier besonders wird deutlich, was der Künstler in einem Brief äußerte: „Es ist mein Glaube, daß dasjenige, was nicht durch das Wort auszudrücken ist, durch die Form in den Besitz eines anderen übergehen kann.“
Barlach hat Bronzen in größerer Zahl erst nach dem mit dem Galeristen Flechtheim geschlossenen Vertrag seit 1930 gießen lassen. Bei Ludorff finden wir unter anderem die expressive kleine „Kußgruppe III“ von 1921: die in ihrer schlichten Hingabe an den Augenblick der Begegnung so ergreifende Gruppe „Christus und Thomas“ (1926); den strengen, stelenhaften „Singenden Klosterschüler“ (1931) oder den vom Hauch des Geistigen angerührten „Buchleser“ (Lesender Mann im Wind) von 1936.
Die Ausdruckskraft der Linie, ihr rhythmisches Umgreifen figürlicher Volumen erlebt man besonders in einigen signierten frühen Kohlezeichnungen von 1912, den „Vier Knienden“, der „Strickenden Bäuerin“ und dem „Schlafenden Paar mit Hund“, expressiv noch gesteigert in dem „Liegenden Hirten unter einem Tuch“ von 1918.
Einer der Schwerpunkte des umfangreichen Graphikangebotes sind unter den 70 signierten Blättern die vollständige Serie der sieben Holzschnitte „Die Wandlungen Gottes“, die in einer Auflage von 100 auf der Berliner Pan-Presse gedruckten Exemplaren 1922 bei Cassirer erschienen. Die Zeichnungen dazu entstanden zwischen 1913 und 1920. Komplett wird auch die Folge von 35 Lithographien Barlachs zu ausgewählten Gedichten Goethes angeboten. Der Lithographienzyklus, an dem neben Barlach (der 31 Steinzeichnungen lieferte) auch Liebermann, Hans Meid und Karl Walser mitarbeiteten, erschien 1924 in 100 numerierten Exemplaren ebenfalls bei Cassirer. Die Beiträge von Slevogt und Kokoschka wurden nicht mehr veröffentlicht, Cassirer war inzwischen gestorben.
Unter den signierten Einzelblättern, beginnend mit der herben „Stehenden Frau auf halber Kellertreppe“ von 1912, sind es vor allem auch einige Lithographien zum „Armen Vetter“ (1919), die durch ihre beschwörende Unmittelbarkeit und spannungsvolle Verdichtung von Empfindungen faszinieren.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 22. Februar 1978.
Yvonne Friedrichs Kunstkritik: 1981-1983
Naive Reize (1981)
Dubuffet-Ausstellung in der Kölner Kunsthalle
Aus dem Jahre 1935 stammen jene in Öl gemalten „Stadt- und Landmarionetten“ und die Folge der „Métro“-Gouachen, mit denen die große jetzt in der Kölner Kunsthalle gezeigte Retrospektive-Ausstellung Jean Dubuffets einsetzt, des nunmehr achtzigjährigen Erfinders der „Art brut“: der rohen, ursprünglichen Kunst, die sich an den unreflektierten künstlerischen Äußerungen von Kindern und Geisteskranken, von Naiven und Primitiven eher orientiert als an den gewohnten Wertvorstellungen.
Die von der Berliner Akademie der Künste zusammengestellte Ausstellung mit 360 Werken Dubuffets, aus über 70 öffentlichen und privaten Sammlungen, in ununterbrochener Folge von 1943 bis 1980, ist nach einer Retrospektive dieses Künstlers vor zwanzig Jahren in Hannover die erste dieser Größenordnung im deutschsprachigen Raum. Damals wurden nur 90 Arbeiten gezeigt.
Geht man vorbei an den chronologisch sich folgenden Werkgruppen, hat man von Anfang bis Ende den Eindruck, daß hier einer das Theater oder vielleicht noch eher den Zirkus dieser Welt in seinen komischen, beängstigenden und poetischen Aspekten zugleich ironisch-karikierend und mit liebevollem Einverständnis registrierte und dabei zeit seines Lebens das große Staunen nicht verlernte. Immer ist bei ihm das Eigenartige zugleich Ausdruck von etwas untergründig Gemeinsamen. Dubuffet war 43 Jahre alt, als er in fröhlichen Farben perspektivelos seine Métro-Gouachen malte: Menschen, eng zusammengedrängt, frontal, irgendwie verbunden durch eine allen gemeinsame Abwesenheit und Anonymität. Er ritzt, kratzt nach Art der Sgraffiti in Pasten aus Asphalt, Teer und Bleiweiß, Zement, Gips, Lack, Leim, Kalk, Sand, Kohlenstaub, Kieselsteinen etc. die Menschen von Paris mit ausgesprochenem Blick für die Komik und Tragikkomik deformierter Silhouetten. Man spürt: er mag sie alle, diese schlichten Zeitgenossen. Mit dem Röntgenblick eines verstehend Liebenden bringt er gleich einem Magier in den hintergründigen Porträts seiner Freunde – Jean Paulhan, Michel Tapié „als Sonne“, Antonin Artaud, seines Galeristen René Drouin – hinter dem Individuellen jenen inneren Kontakt zu einer surrealen Welt ins Bild.
Und dann, nach den Sahara-Aufenthalten Dubuffets, diese wie legendäre Erscheinungen aus den Bildgründen auftauchenden „Clowns der Wüste“. Sie haben alle teil an mysteriösen archaischen Seinsräumen, die den meisten von uns längst verschlossen sind. Oder die in ihrer Poesie unwiderstehlichen „Grotesken Landschaften“, deren eigentlich ganz in die Erde eingebetteten Strichmännchen stillvergnügt, ja selig die Freuden des Landlebens wie ein ungewohntes und ganz vergessenes Wunder erleben. Zu erdigen Landschaften scheinen auch breit und unförmig hingelagerte Frauenkörper zu werden. Gezeichnete Porträtköpfe wirken wie geologische Exkursionen der Zeichenfeder. In verzückten Strukturen, inspiriert von der Landschaft um St. Paul de Vence, wo er sich ein Atelier baut, verherrlicht der Künstler Himmel und Erde, collagiert Männchen aus Schmetterlingsflügeln, huldigt dem „Wald“, dem „Gartenboden“, der „blühenden Erde“ mit berückenden Collagen aus gesammelten Pflanzenteilen. Eine irreale Ausstrahlung haben auch die in einer Serie zusammengefaßten „Kühe auf der Weide“. Nach den Assemblagen entstehen die freistehenden „Statuen“, die doch so fragil und unbeständig sind wie jener so tief betroffen machende „Blinde“ aus Silberpapier.
„Ich vertraue den wilden und ungekünstelten Reizen gegenüber jeder Schminke und allen Friseuren“, sagte Dubuffet. Neben den Strukturen der Natur hat er immer wieder diejenigen der menschlichen Psyche und der Gesellschaft in dynamischen Rhythmen von Linien als phantastisches abstraktes Phänomen aus dem Gegenständlichen herausgelöst – in „Paris Circus“ etwa oder den seit 1962 entstehenden Bildern, Skulpturen, Zeichnungen, Räume des „L’Hourloupe“-Zyklus. Nach dem langen Gebrauch von erdigen Farben kehrt Dubuffet hier wieder zur Buntheit, wenn auch auf wenige Grundtöne beschränkt, zurück. In ein Puzzlespiel unendlicher Linien eingebettet, das auch die Plastiken verwirrend überzieht und sicher von den Comic strips beeinflußt ist, erscheint hier das menschliche Tun und Treiben in seiner Unbeständigkeit fragwürdig und illusionistisch.
Als Groteske stellt der Künstler es auf eine imaginäre Bühne in seinem berühmten „Coucou-Bazar“ – aus bemalten Plastikelementen zusammengesetzten menschlichen Figuren, Tieren, Wagen, Mischwesen teils auf Rädern, teils von Menschen getragen, die sich als phantastisches Ensemble zu einer von Dubuffet selbst komponierten Musik bewegten – erstmals 1973 im Guggenheim-Museum New York. Auch diese „Praticables“, die in der von Dubuffet gestifteten Fondation in Périgny-sur-Verres aufbewahrt werden, sind in Köln, wenn auch unbewegt, zu sehen. Dazu Großphotos seiner skulpturalen Architekturen, wie der einzigartigen „Closerie und Villa Falbala“ in Périgny: einem reich gegliederten, strukturell bemalten, eher einem Felsgebirge oder einer Eishöhle gleichenden, nach außen völlig geschlossenen Refugium als Gegenentwurf zur rationalen Wohnmaschine unserer Zeit: ein Ort zum Träumen und zur Besinnung.
In: Rheinische Post. Feuilleton, 19. März 1981.
Maler-Dialog mit dem Kreuze (1982)
Arnulf Rainers „Kruzifikationen“ im Suermondt-Ludwig-Museum Aachen
In der Karnevalszeit schwarze Gegenzeichen: Arnulf Rainers „Kruzifikationen“ im Suermondt-Ludwig-Museum Aachen. Die 55 Arbeiten, entstanden zwischen 1951 und 1980, stehen hier in der Nachbarschaft – wenn auch wohlweislich nicht in unmittelbarer Konfrontation – mit den dort bewahrten mittelalterlichen Kruzifixen und Kreuzigungsdarstellungen, als Ausdruck dafür, daß da auch ein Zeitgenosse von heute über die Jahrzehnte hinweg um die Auseinandersetzung mit dem Kreuz nicht herumkam.
„All diese Bildwerke erheben nicht den Anspruch, eine spezifische Bildnerei für sakrale Räume zu sein. Sie stammen aus sehr persönlichen Wurzeln. Anlaß war eine subjektive Betroffenheit“, schreibt Rainer im Katalogvorwort. „Kreuz und Nacht“ hat er es betitelt. So heißt auch seine 1961 erschienene Publikation, nachdem er sich in den fünfziger Jahren mit der Mystik, der Theologie und Kunstgeschichte des Kreuzes beschäftigt hatte. „Ich war mir über vieles im Unklaren, stehe selbst in Nacht, Finsternis und Nebel“, bekennt Rainer.
Er ist ein Abkömmling jener Tachisten und abstrakten Expressionisten der fünfziger Jahre, die in ihre „automatischen“, vom Verstand unkontrollierten Pinselgesten ihr Unbewußtes projizierten, immer in bohrender Suche nach dem eigenen Ich, die doch keinen Grund im einmal aufgerissenen Bodenlosen findet. Bei Rainer führt dies oft zu wahren Exzessen der Monomanie.
Alle Varianten seiner „Übermalungen“, seiner „Bodyworks“ und „Face Farces“, seiner „Fuß- und Fingermalereien“ oder „Untergrundarchitekturen“ beschreiben solche dialogischen Prozesse zwischen Selbstverlust und Selbstfindung. Sie sind Versuche, den permanenten Zerfall aufzuhalten, sind verwegene Drahtseilakte über dem Abgrund. Neben geradezu mönchischer Verinnerlichung ist dabei aber auch das Moment gestikulierender Zurschaustellung im Spiel.
Zwischen diesen beiden Polen sind auch die „Kruzifikationen“ angesiedelt, diese Identifikationen Rainers mit dem Kreuz wie auch mit dem Gekreuzigten.
Sofort am beeindruckendsten, weil jeder Theatralik fern, sind die in den fünfziger und sechziger Jahren entstandenen schlichten, stillen, auf alles Figürliche verzichtenden Holzkreuze. Rainer hat sie in unterschidlichen Formen und Proportionen aus einfachen Brettern verschiedener Breite und Länge in horizontalen oder vertikalen Rhythmen stufenartig zusammengesetzt, hat sie mit schwarzer oder nachtblauer Farbe befleckt, diese wie einen Strom finsterer Trauer darüber rinnen lassen oder sie ganz wie unter düsteren Schleiern des Unsagbaren versinken lassen.
Nur ein wenig rohes Holz, ein wenig blutrote Lebensfarbe oder lichtes Himmelblau bleiben zuweilen sichtbar, eine Ahnung auch manchmal von körperlicher Schattenhaftigkeit, wie bei einem „Zugedeckten Christus“ von 1968. Manche sind ganz urig primitiv und dörflich-volkstümlich, etwa ein „Kreuz aus Transportkistenholz“ (1967/68), manche von getragenem, ernstem Pathos, wie das „Große Vertikalkreuz“ von 1968.
Mit Stoff- und Ölfarbe auf Baumwolle und Leinwand ist ein großes „Weinkruzifix“ (1957/78) gemalt, in dem eine angedeutete schwarze Figur vor rot vertropfenden Rinnsalen und Gittern mit dem Kreuz verschmilzt. Solche Konzentration auf das Wesentliche, solches Ergriffensein des Malers strahlen auch einige kleinformatige Zeichnungen in schwarzer Tusche oder Mischtechnik und Radierungen aus, etwa die „Kreuzübermalung“ von 1955, ein „Verdecktes Kreuztabernakel“ (Mischtechnik / Radierung) von 1961 oder ein „Verhüllter Christus (1972), bei dem Strichgeflechte gleich einem angedeuteten Dornenkranz ein von Schwarz ganz ausgelöschtes Gesicht umrahmen. Auf mehreren Zeichnungen der siebziger Jahre erscheinen hinter dem Kreuzzeichen – das sich einmal, umgekehrt, in ein Schwert verwandelt oder auch zum zuckenden, schmerzhaften Blitz wird – der photographierte Kopf oder die Figur Reiners selbst.
Am Anfang seiner später sehr dramatisch und wild ausfahrenden, auch großformatigen und farbig expressiven „Kruzifikationen“ stehen einige schwarze Ölkreidezeichnungen über wenig Farbe von 1951, in denen das Kreuzerlebnis seinen abstrakten Ausdruck findet in schmerzhaft von einem zentralen Punkt in den Raum ausstrahlenden Strichgesten. Nur wenige der späteren, oft eher zur Groteske ausartenden und auf Effekt zielenden Übermalungen von photographierten und reproduzierten Christusköpfen oder Kreuzigungen von 1979 (zum Teil auf Aluplatten) erreichen die Glaubwürdigkeit und Betroffenheit der frühen Arbeiten. Sie gleichen oft mehr Dali-Haften Spiegelfechtereien. Im Katalog (20 Mark) sind alle Exponate abgebildet.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 25. Januar 1982.
Dämon im Reisfeld (1982)
Japanische Photographie in der CCD-Galerie
„Japanische Photographie“ von sechs zeitgenössischen Künstlern – diese Ausstellung wird gewiß auch manchen nicht professionell Interessierten in die CCD-Galerie (Hüttenstraße 47) locken. Daß Japan, der rasante Aufsteiger im Weltmarkt der Photoindustrie, auch künstlerisch manch Eigenes zu bieten hat, wird selbst in einer so begrenzten Ausstellung deutlich. Gegenüber den auch hier erkennbaren Übernahmen aus dem Westen ist es gerade das Bodenständige, der alten Tradition Entwachsene, was besonders beeindruckt.
Am reinsten bewahrt wird es – bei gleichzeitiger Angleichung an moderne, konstruktiv-abstrakte Strukturen und puristische Vereinfachung – von Takeji Iwaniya (geb. 1920), einem der Klassiker der japanischen Photographie, von dem es auch zahlreiche Buchveröffentlichungen gibt. Im Ausschnitt eines Tempel-Innenhofs mit Holzsäule und auf den Boden geworfene Gitterschatten, in der Strenge, strukturellen Feinheit und Präzision eines geschnitzten Dachrandes, eines verfugten Wanddetails ist typisch Japanisches bildhaft erfaßt.
Dinge werden zum abstrakten Zeichen, zum Symbol einer von Disziplin und Sensibilität bestimmten Geisteshaltung in Aufnahmen von Mattengefechten, einem Reisstrohbesen, von Kimono, Fächer und Eßstäbchen.
Auch in den Beauty-Photos-Farbaufnahmen japanischer Cover Girls des auch bei uns bekannten, durch viele Preise ausgezeichneten Mode- und Werbephotographen Hideki Fujii ist bei allem „Styling“ doch ganz konzentriert japanisches Wesen eingefangen. Die zarten Mädchen, oft im Kimono, mit den weißgepuderten, wie unter Masken des Geheimnisses verborgenen, fernöstlichen Mona-Lisa-Gesichtern, strahlen jene kultivierte Beseeltheit, gemischt mit einem Hauch von Melancholie, aus, die man in der kalten Sachlichkeit europäischer Mode- und Werbephotos vergeblich sucht.
In gefährliche Nähe des Süßlichen gerät allerdings Fernöstliches zuweilen in Shinya Fujiwaras farbig und stimmungsmäßig mit dem Morbiden spielenden „Traumkleidern, Traumakrobaten“: Aufnahmen zu seinem 1978 bei Parco erschienenen Buch „Yumet suzure“ zeigen photographische Poesien über selbstentworfene Kimonos, die sich zuweilen über halb entblößten Mädchenkörpern in Fäden auflösen und zerfasern.
Eikoh Hosoe, der sich seit über 20 Jahren mit der künstlerischen Photographie beschäftigt, interpretiert in seiner 1970 als Buch erschienenen Photo-Serie „Kamaitachi – eine extravagante Tragikomödie“ eine alte japanische Geschichte und verbindet sie mit Erinnerungen an seine eigene Kindheit, „als er die Geheimnisse des Lebens auf dem Lande entdeckte“. Auch heute spuken dort noch abergläubische Vorstellungen. Hier ist es der Dämon Kamaitachi, der einen vereinsamten Menschen zum Wahnsinn treibt. Manches von diesem Hintersinn, den der westliche Betrachter nur ahnen kann, wird da zwischen Realität – Reisfeldern, Bauern, Händlern, Tempel – und verborgenen Spannungen eingefangen.
Um die psychische Problematik von Homosexuellen geht es in der 1971 erschienenen Folge „Ordeal by Roses“, in der Hosue europäische Bildsymbole aus der Renaissance, etwa Botticellis „Geburt der Venus“, und des Barock effektvoll aufnimmt und im Labor übereinander kopiert. Die Photos sind dem Dichter Yukio Meshima gewidmet, der 1970 Selbstmord beging.
Die schon Anfang der sechziger Jahre entstandene, doch erst 1970 als Buch edierte Photoserie „Embrace“, raffinierte, einem perfekten ästhetischen Formalismus huldigende Kompositionen von Körperdetails, sind Beiträge zum Thema Sex, die in Japan einen Sturm der Entrüstung auslösten.
Ganz anders Shoji Ueda (geb. 1913), der älteste hier vertretene Photokünstler. Er ist zugleich Maler. Vor allem in seiner schon zwischen 1930 und 1940 geschaffenen Schwarz-Weiß-Serie „Sanddünen“ vermeint man jene Bezüge zwischen Figur und Raum wiederzuerkennen, wie sie für die Malerei des Magischen Realismus der zwanziger Jahre in Europa charakteristisch sind. Vereinzelt hat Ueda die Personen in diesen stillen Bildern inmitten von Sanddünen arrangiert – den Maler, Geiger, Spaziergänger, das spielende Kind, das kleine Mädchen neben der Blume: eine besinnliche Szenerie.
In den erst unlängst entstandenen Farbphotos „Brillant Scenes“, die mit Weichzeichnner nach ähnlichen Prinzipien komponiert sind, ist dieser überzeugende Eindruck eher verwässert.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 18. März 1982.
Deutsche Symbole (1982)
Jörg Immendorff in der Düsseldorfer Kunsthalle
Noch nie ist die Düsseldorfer Kunsthalle so total zum Bild-Raum-Panorama geworden wie jetzt in Jörg Immendorffs bisher größter deutscher Ausstellung, die ausschließlich seiner letzten, seit 1977 erarbeiteten Werkfolge „Café Deutschland/Adlerhälfte“ gewidmet ist. 19 großformatige Bilder im Format 282 x 400 cm, von denen die letzten fünf 1982 geschaffen wurden. Begleitet wird die Serie von Zeichnungen und Ölstudien sowie bemalten Plastiken in Lindenholz, darunter einige, in denen der in Düsseldorf lebende Künstler seine große Skulptur für die Kasseler „documenta“ – eine bronzene Version des Brandenburger Tors – vorbereitete. Sie ist letztlich der Kulminationspunkt von „Café Deutschland“, einem erregenden Zeitkommentar in Bildern über das deutsch-deutsche Verhältnis.
Diese Ausstellung ist ein Paukenschlag. Die lebhafte Resonanz, die sie im vollen Haus bei einem sichtlich überraschten, teils begeisterten, teils kritisch betroffenen Publikum fand, zeigte, daß da etwas angerührt wurde, auf das man wohl lange gewartet hatte. Nun, da sie da sind, fragt man sich angesichts der Bilder: Wie war es möglich, daß dieses gravierende, uns alle betreffende Zeitthema erst jetzt in der deutschen Kunst aufgegriffen wurde? Natürlich ist es in Einzelarbeiten immer wieder einmal behandelt worden. Doch erst jetzt scheint die Zeit wirklich dafür gekommen zu sein.
Was an den Bildern schon auf den ersten Blick fasziniert, ist die emotionale Kraft, die sie trägt und erfüllt, die auf den Beobachter überspringt und ihn fesselt, noch bevor er begreift, was hier im einzelnen dargestellt wird. Es ist diese Intensität der Hingabe, die mühelos riesige Bildformate und komplizierte, verschlüsselte Kompositionen mit dem Schwung der Empfindung und des spontanen Pinselstrichs zu Organismen und Räumen zusammenschmilzt.
Alles bleibt da überschaubar in den Details, ist greifbar real, zugleich malerisch und plastisch. Und doch ist es reine Vision, in der tatsächlich Erlebtes – persönlich und zeitgeschichtlich-politisch Relevantes – sich mischt mit Fiktiven oder sich wandelt in Bildsymbole und Gleichnisse. Das aber macht diese Bilder – und auch die Plastiken – so spannend, daß man sich von ihnen einfange lässt, begierig ist, sie zu lesen und zu entschlüsseln, um ihnen auf den Grund zu kommen.
Keine platte politische Agitation also, wie man sie von früheren Arbeiten Immendorffs (etwa in der Münsteraner Ausstellung von 1973) kannte, und von der man sich überfahren fühlte. Hier ist es gelungen, sehr komplexen, auch politisch wesentlich offenerer gewordenen Aussagen eine künstlerische Dimension zu geben. Und man sollte auch nicht von „schlechter Malerei“ sprechen (auch wenn einige kleinformatige Ölstudien zum Teil unterschiedlich in der Qualität sind): Ähnliches hat man schon den Expressionisten vorgeworfen. Der Anstoß zu dieser Folge und zugleich zu einem Wandel in der Konzeption seines Werks gab der italienische Maler Renato Guttuso, der 1976 auf der Bienale in Venedig Immendorffs Ausstellungsnachbar war, insbesondere Guttusos kurz danach kennengelerntes „Café Greco“. Darin wird dieser legendäre römische Künstlertreffpunkt zum Schauplatz imaginärer Situationen, die Künstler und Kunst betreffen.
Entscheidend für die Konzeption des „Café Deutschland“ war dann ein Treffen mit dem Maler A. R. Penck in Ost-Berlin. Die Freundschaft mit dem DDR-Künstler, der später in die Bundesrepublik übersiedelte, wurde ihm zum Symbol für die Probleme des deutsch-deutschen Verhältnisses, für die Teilung Deutschlands und ihre ersehnte Überwindung.
Immendorff, 1945 in Bleckede an der Elbe geboren, war mit dieser Spaltung von frühester Kindheit konfrontiert. An der Düsseldorfer Kunstakademie, wo er zuerst in der Bühnenbildklasse von Teo Otto, dann bei Beuys studierte, wuchs er in die Studenten-Protestbewegung der sechziger Jahre hinein. „Café Deutschland“ brachte dem bisherigen Hauptschullehrer, dem im Kunstmuseum Basel (1979), in der Kunsthalle Bern (1980) und zuletzt im Steldelijk Van Abbemuseum Eindhoven (1981) Einzelausstellungen gewidmet wurden, nun den entscheidenden Durchbruch.
„Café Deutschland“ ist der symbolische Aktionsraum, der zum Spannungsfeld der konfrontierten „Systeme“ diesseits und jenseits der Mauer und der in ihnen lebenden Menschen wird. Es ist eine fortlaufende Geschichte in Bildern, in die auch einzelne, politische Tagesereignisse chronologisch verflochten sind, die aber wiederum nur das Typische lebendig machen. Andererseits aber entrückt eine sehr persönliche Symbolsprache das Geschehen dem trivialen Wirklichkeitsabklatsch. Der Charakter dieser Bilder ist nicht illustrativ, sondern vehement erlebnishaft, schließt immer auch Wunsch und Hoffnung der Überwindung des Gespaltenen ein, vor allem durch die häufige Anwesenheit des durch Mauer und System getrennten Freundespaares Immendorff und Penck im Bild.
Das beginnt schon in der 1977 entstandenen ersten Szene „Grenze“, in der die beiden Freunde neben der Passkontrolle an einem durch die Mauer halbierten Ping-Pong-Tisch stehen (er existierte wirklich). Im Hintergrund vor der Fahne Leibesvisitation durch einen Vopo. Überdimensional neben dem als Hoffnungsvision winzigen Brandenburger Tor ein Mensch, der die Spitzhacke gegen die Mauer schwingt. In einer andere Komposition steckt Immendorff Penck, der visionär vor dem Tor erscheint, die Hand durch die Mauer entgegen. Zwei Totempfähle – mit eingeschnürten Menschen über der symbolischen „Systemzwinge“ (einem Schlagzeugbecken) auf der einen, einem Wachturm auf der anderen Seite – markieren die Grenzen der beiden deutschen Staaten.
Während uns in einem Bild von 1978 George Brecht von seinem Geburtstagstisch im „Café“ die brennende Kerze zur „Erleuchtung“ der Menschen in beiden Teilen Deutschlands zuwirft, tritt in den späteren Café-Szenen eine zunehmende Vereisung des Klimas, der Bilder ein. Der weiße Schneestern, auf den Blutstropfen fallen, auf dem die Säule der „Quadriga“ mit stürzenden schwarz-rot-goldenen Pferden wankt neben im Schnee steckenden Schlagstöcken und der kanonenbestückten „Systemzwinge“, wandelt sich in den „Schwarzen Stern“, auf dem alles zusammenstürzt. Übrig bleibt die von einem „Sammler“-Fuchs weggetragene Eisscholle, auf der nur noch Reflexe der „Café-Deutschland“-Vision erscheinen, bewacht von einem Grenzpfahl-Adler. Tabula rasa. „Was stellen wir rein?“, fragt Immendorff in der Skizze zu diesem End-Bild.
In: Rheinische Post. Feuilleton/ Wissenschaft und Bildung, 1. April 1982.
Dramen des Innern (1983)
Ölbilder von Cesar Klein in der Galerie Bläser
Wieder einmal stellt die Galerie Norbert Blaeser (Bilker Straße 5) einen Künstler vor, dessen überwiegend in der Zeit zwischen den Weltkriegen entstandenes Werk in der Abgeschiedenheit seines Ateliers nahezu dem Vergessen anheimgefallen ist: den 1876 in Hamburg geborenen, 1954 in Pansdorf bei Lübeck gestorbenen Maler Cesar Klein. Anregung zu dieser Retrospektive mit 20 Ölgemälden gab das im expressionistischen Stil gemalte Bild „Ruhe auf der Flucht“ (1918), das der Galerie-Inhaber im schleswig-holsteinischen Landesmuseum Schloß Gottorf entdeckte und das als Leihgabe auch in der jetzigen Verkaufsausstellung zu sehen ist.
Es entstand unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg in Berlin, als Cesar Klein dort zu den Mitbegründern der November-Gruppe gehörte. Der Künstler, der im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts an der Hamburger Kunstgewerbeschule, dann an den Kunstakademien in Düsseldorf und Berlin studiert hatte, war als freischaffender Maler 1903 aus Leipzig nach Berlin zurückgekehrt. Dort stellte er in der Sezession aus, war auch 1912 an der Kölner Sonderbund-Ausstellung beteiligt und gehörte 1914 zum Vorstand der Kölner Werkbund-Ausstellung.
1919 wurde Cesar Klein als Lehrer an die Berliner Akademie berufen und hatte in den folgenden Jahren unter anderem Einzelausstellungen in der Kestnergesellschaft Hannover und bei Gurlitt in Berlin. 1933 gehörte Klein zu den ersten, die die NSDAP vom Lehramt beurlaubte. Später zog er sich nach Pansdorf bei Lübeck zurück. Trotz seiner Nachkriegsausstellungen in den Kunsthallen von Hamburg, Kiel und anderen Großstädten sind Name und Werk von Cesar Klein noch wenig im Bewußtsein der Kunstfreunde präsent – unterlagen deshalb aber auch nicht kaum dem Verschleiß im Kunstbetrieb.
Die großformatige „Ruhe auf der Flucht“ in einer romantischen Gebirgs- und Flußlandschaft, deren Farben im letzten Tagesschein der Sonne rot und orange aufleuchten, während die Mondsichel über einem schon bläulich verschatteten Bergmassiv, über dem Zelt, dem davor sitzenden Josef, dem grasenden Esel, der im Zentrum des Bildes auf einem Hügel sitzenden zarten Madonna mit Kind aufgeht, ist bei aller Farbexpressivität eher still und verinnerlicht.
Solche introvertierte Empfindungsintensität, dabei nun eher subtil und klangvoll nuancierte, Seelisches reflektierende Farben, kennzeichnen auch die Bilder der zwanziger Jahre, mit ihren klar gegliederten und gegeneinander abgegrenzten, oft collagenhaft geschichteten Farbflächen mit kubistischem Einschlag. Die typisierend wiedergegebenen Figuren orientieren sich – im Stil der zwanziger Jahre – am klassischen Schönheitsideal.
Wir werden in diesen Gemälden Zeugen von Szenen, die mit innerer Dramatik aufgeladen sind. Sie scheinen aus dem Leben gegriffen und wirken doch inszeniert, als handele es sich um Theatergeschehen mit tragischem Hintergrund. Darauf deuten auch der in der Hand gehaltene Fächer, der unheimliche schwarze Schatten hinter einer „Frau mit Hündchen“ (1929) oder die volkstümlich-bäuerliche, wohl balkanesische Tracht der „Zwei Frauen mit Brief“ (1928): Weich fließende Linien, der Ausdruck von verhaltenem Schmerz und stillem Mitgefühl scheinen sie zu verbinden.
In den dreißiger Jahren hat sich der in Ungnade gefallene Künstler auf mythisch-symbolische Figurendarstellungen und Szenen zurückgezogen, die oft wie große beschwörende Zeichen reglos im Raum stehen, nicht selten vor kulissenartigen Prospekten oder Rahmen. Wieder wird man an Bühnenauftritte erinnert, die nun in eine fast kosmische Weite projiziert sind, auch an silhouettenhafte oder in Holz geschnitzte, farbig ornamentierte und strukturierte Figurinen.
Bezüge zum Kubismus, zur Pittura Metafisica, zu Henry Moore, auch zu den Zeichnungen von Archipenko und zu Picasso sind erkennbar in Bildern wie „Versuchung“ (1933), „Maternità“ (1945), „Botschaft der Taube“ (1947), „Eros“ (1947), „Lemuren“ (1949) oder „Sibylle“ (1953). Üppig barocke tänzerische Theatralik, Gestalten der Commedia dell’arte begegnen uns in dem schwungvollen „Tanz“ von 1951.
Man kann in diesen Gemälden die vielfältige künstlerische Tätigkeit Cesar Kleins auch auf den Gebieten von Bühnenbild, Wandmalerei, Glasfenster, Mosaik, Intarsien ahnen. Er schmückte viele öffentliche und private, profane und sakrale Gebäude und Räume aus. In diesen mit einer Ausnahme figürlichen Bildern verdichtet sich sehr stark der Geist des ersten Nachkriegs-Jahrzehnts mit seinem Erkunden unbekannter Seelengründe, seinem Hang zum Mythischen. Aber auch die Rückbindung an die frühen zwanziger Jahre wird in eigenwilliger Weise deutlich.
In: Rheinische Post. Stadtpost / Düsseldorfer Feuilleton, 19. März 1983.
Räume und Farben (1983)
Graubner-Schau im Düsseldorfer Kunstpalast
Man erlebt die Verwandlung einer nüchternen Halle in einen beseelten Raum. Gotthard Graubner setzte sich mit diesem Raum, seinen kalkweißen Wänden, seiner erdrückenden und zugleich alles verflüchtigenden Höhe und Weite auseinander, rang mit ihm „wie mit einer starken Persönlichkeit“, denn er sollte sich durch die Bilder „artikulieren“. Graubner hat seinen Widerstand bezwungen, seine Weite herabgestimmt, geradezu zusammengezogen um die Bilder. Sehr tief gehängt, im rhythmischen Wechsel von Gruppierungen, Formatgrößen, Zwischenräumen, Farbkontrasten vermitteln sie den Eindruck von Farbverwandlungen, Nähe zum Menschen, vom Glück der Begegnung. Es gelang, die Bilder in den Raum, den Raum in die Bilder zu integrieren. Umraum verliert sich im Farbraum, wird Wesensraum.
Wird beredte Stille, wortloser Dialog mit dem, der gekommen ist, sich auf Gotthard Graubners Meditationen in Farben einzustimmen, die der großen Halle, dem Kunstpalast im Düsseldorfer Ehrenhof, eine neue Seele einhauchen. Sie atmet in Farben die zugleich Raum, Stoff und Geist sind – oder Spur, die von einem zum anderen den Weg weist. „Nicht der Gongschlag ist das Entscheidende, sondern der Nachhall.“
Immer ist es das Dazwischen, das in diesen Farbflüssen, Farbräumen, imaginären Farbkörpern und –schichtungen, den sich tief ins schrundig Stoffliche eingrabenden, abstrakten Farblandschaften, artikuliert wird: die Spannung, das Vibrato, die Schwingungen, die den Ton, den Klang, die Bewegung und Modulation, die Intensität und Dichte, die Helligkeit und Dunkelheit, das leichte und Schwere, Warme und Kalte des Farbwesens bestimmen. Es ist schon erregend – visuell und imaginär den organischen Verschmelzungsprozeß der lasierenden Farben in den Bildern nachzuvollziehen, die sich an den Fließrändern oft schichtweise einzeln ausweisen, um dann zu einem Farbraumorganismus von wunderbarer Transparenz in immer neuen überraschenden Mischungen zueinander zu fließen, sich zu verdichten und wieder voneinander zu lösen.
Abgehoben von abbildhafter Bedeutung oder literarischen Inhalten, sind Graubners Farborganismen Gleichnisse von Schöpfungsvorgängen: ein Spiel sich harmonisierender Energien. Sie sind so auch Spiegel der Kräfte und ausstrahlenden Impulse der Natur und deren Entsprechung im menschlichen Wesen – nicht als rationale Analyse, sondern wie ein Atmen mit der Natur. Schon in frühen Zeichnungen aus den fünfziger Jahren hat Graubner an dem Motiv von Bäumen vor allem interessiert: Was bringt den Baum zum Wachsen?
Nicht als Stadt-, sondern als Landkind bezeichnet sich der 1930 in Erlbach (Vogtland) geborene Künstler, den Erlebnisse mit der Landschaft, mit Wolkenhimmel und Kornfeld früh geprägt haben. Später, an den Kunstakademien von Dresden und Düsseldorf, suchte und fand er seine „Ahnen“ in Turner, C. D. Friedrich, Rembrandt, Tizian, Velazquez, Goya, Rothko, Newman.
„Bei Tizian ergab sich eine Zusammengehörigkeit aller Farben, von denen jede einzelne nuancenreich belebt wird“, erwähnt Graubner. Durch die geschichteten Lasurfarben dringe „die Anschauung von Welt ... bis in den Kern des Wesens der Malerei“. Dabei zeige die Farbe, „was sie – nuancenreich und formbewegt dargestellt – über die Körperlichkeitsbezeichnung hinaus als Energie und geistige Macht“ vermöge. Farbe sei ihm Thema genug, sagt Graubner.
Nach seiner ersten Düsseldorfer Einzelausstellung in der Galerie Schmela 1960, den Ausstellungen im Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen (1969) und in der Kunsthalle (1977) bringt jetzt die Schau im Kunstpalast „Arbeiten auf Papier“ von Graubner. Mit 73 Exponaten umfaßt sie den Zeitraum von 1952 bis 1982, doch mit Schwerpunkt der Arbeiten aus dem letzten Jahrzehnt, darunter die seit 1972 entstandenen großformatigen „Fließblätter“. Einige davon sind in Verbindung mit seinen Ausstellungen in Venedig und New Delhi entstanden und erinnern in ihrer Arbatmosphäre an diese Orte: Tintoretto oder die Farbklänge Indiens, gemischt aus leuchtendem Rot, Orange, fahlem Violett und sandig-soinnigem fruchtigem Gelb, Ocker.
In den Fließblättern wird besonders deutlich, daß es in Graubners Werk keine Rangunterschiede zwischen Bildern und „Arbeiten auf Papier“ gibt, in denen der Künstler neben Bleistift, Aquarell, Gouache auch häufig Öl- und in jüngster Zeit auch Acrylfarbe verwendet. Nicht selten sind sie auf Keilrahmen aufgezogen. Auch im Format erreichen sie große Diemensionen. In dem von Coco Ronkholz in Verbindung mit Graubner gestalteten Katalog werden diese Arbeiten auf Papier überdies lückenlos vorgestellt; von den frühen Baum- und Aktzeichnungen, den aquarellierten „Zeichen“, den „Schwammgouachen“ über die Farbkörper, Kissenbilder, „Trampoline“ bis zu den Frottagen und Fließblättern. Auch die differenzierte Materialauswahl, seine Tonigkeit und Struktur scheinen immer von der Farbe inspiriert zu sein. Welche ein Weg von den frühen kleinen, im lichten Farbraum schwebenden Aquarell-Zeichen, einem flaumig-duftigen, rosigen „Nabel“-Bild bis zu den späten Diptychen und Triptychen mit ihren von Bild zu Bild überspringenden Farbmodulationen, -bewegungen, -metamorphosen, -kontrasten. „Fließblätter“ sind dramatische, von tiefen Furchen verletzte Seelenlandschaften, Furchen des Materials, die ins Fleisch gehen bis aufs Mark, schwer von ausblutenden, von Schwarz verletzten, leuchtenden Farbflüssen. Es ist Graubners heftige, sich in Farbenergie verdichtende Reaktion auf die Gegenwart. „ich mußte ein Leben lang auskommen mit diesen Kräften“, sagte Graubner.
In: Rheinische Post. Feuilleton / Wissenschaft und Bildung, 22. März 1983.
Bedrückende Phantastik (1983)
Kunst von Geisteskranken in der Galerie Heike Curtze
In seinem 1938 erschienenen Buch „Kunst und Rasse“ verglich der Maler, Architekt, Schriftsteller und Direktor der Weimarer Kunsthochschule Paul Schultze-Naumburg Bilder von Nolde, Modigliani, Picasso, Kirchner mit Photographien kranker, mißgestalteter Menschen und argumentierte, daß diese Künstler ihre Vorbilder „in Idiotengestalten, psychiatrischen Kliniken, Krüppelheimen“ gefunden hätten. Sie gehörten zu denen, deren als „entartete Kunst“ verfemte Werke im gleichen Jahr zu Tausenden aus den deutschen Museen entfernt oder zerstört wurden.
Der ehemalige Anstreicher Adolf Hitler hatte den Künstlern „grauenhafte Sehstörungen“ bescheinigt oder ihnen bewußten Betrug unterstellt, der mit Bestrafung oder Sterilisation geahndet werden müsse. Dies bekräftigte 1939 der Ordinarius an der Heidelberger Psychiatrischen Universitätsklinik Carl Schneider, indem er feststellte, daß die „entartete Kunst“ der Irrenkunst außerordentlich nahe stehe.
Diese Einstellung markiert den total gegensätzlichen Standpunkt zu dem in die Zukunft weisenden, 1922 erschienenen Buch von Hans Prinzhorn „Bildnerei der Geisteskranken“, in dem der Verfasser – damals Assistent am gleichen Heidelberger Institut – seine dort angelegte Sammlung künstlerischer Arbeiten von Geisteskranken therapeutisch auswertete. Fast gleichzeitig hatte der Schweizer Arzt Walter Morgenthaler das künstlerische und schriftstellerische Werk des schizophrenen Bauernknechtes Adolf Wölfli in der Anstalt Waldau bei Bern bekannt gemacht („Ein Geisteskranker als Künstler“, 1921).
An diese positive, therapeutisch hilfreiche Beurteilung der Kunst von Geisteskranken, deren künstlerisch-schöpferische Qualitäten vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg immer differenzierter erforscht, gefördert und herausgestellt wurden, knüpft auch Leo Navratil an. In der von ihm geleiteten psychiatrischen Abteilung des Niederösterreichischen Landeskrankenhauses für Psychiatrie und Neurologie Klosterneuburg hat er geduldig die Kranken zu der für sie so lebenswichtigen schöpferischen Arbeit ermuntert, die ihnen hilft, ihr Ich freizulegen. Zahlreiche Publikationen reflektieren sein Wirken, darunter „Schizophrenie und Kunst“ (schon 1965). Seit 1970 veranstaltet er vielbeachtete Ausstellungen künstlerischer Arbeiten der Patienten aus der Klinik in Galerien, Museen, auch im Krankenhaus selbst, übrigens mit großem Verkaufserfolg.
Zeichnungen von zwölf dieser psychiatrischen Patienten aus Gugging sind jetzt in einer Ausstellung „Zustandsgebundene Kunst“ in der Düsseldorfer Galerie Heike Curtze zu sehen. „Zustandsgebunden“ sind sie eben, weil man sie trotz ihrer immer wieder frappierenden künstlerischen Expressivität und erstaunlichen individuellen Eigenart nicht mit Arbeiten gesunder, unter „normalen“ Verhältnissen lebender Künstler vergleichen kann.
Am bekanntesten ist inzwischen Johann Hauser (geb. 1926 im slowakischen Bratislava), der seit 1949 in der Anstalt lebt und um 1960 zu zeichnen begann. Die meisten seiner in Erinnerung an Wirklichkeitseindrücke sehr sicher und eigenwillig vereinfachend umgeformten Zeichnungen entstehen in den manischen Phasen seiner Krankheit. Dann sind sie bunt, raumausgreifend, impulsiv, wie etwa ein Porträtkopf, der sich spiralig-wirbelig über den Rand ausdehnt. In den depressiven Phasen zeichnet er dann so einprägsame, sparsame, ernste, streng komponierte Blätter wie einen langen schwarzen abstrahierten Fisch, der vertikal über der Signatur mit pilzartiger Umrandung schwebt. Hauser erreicht nicht selten eine geradezu monumentale Surrealität, so auch in einem traurigen gelben Engel mit blauem Stern auf dem Kopf.
So verschlossen, introvertiert und kontaktlos zur Außenwelt wie der seit 1955 hospitalisierte Bauernsohn Frank Kernbeis sind auch seine sensiblen Blei- und Buntstiftzeichnungen: ein geflügeltes Tier ohne Augen und Gesicht oder eine kaktusartige Pflanze und sehr lyrisch-zarte, rhythmisch empfundene, abstrahierte Blumen. Eigenartige fragile Gitterarchitekturen, eine abstrahierte Katze, einen Menschenkopf in Rot und Violett, der zu einem als rote Gitterkonstruktion gebildeten Körper gehört, zeichnete Fritz Koller (geb. 1929), Sohn eines Landwirts, der seit seinem 22. Lebensjahr in der Klinik lebt: Menschliches, verstrickt in zwanghafte Geometrie.
Bei Oswald Tschirtner, der das Abitur mit Auszeichnung bestand und gern Priester geworden wäre, brach die Krankheit offenbar während des Kriegsdienstes und der Gefangenschaft aus. Er fühlt sich als Todgeweihter, der um Christi willen Leid tragen muß. Langgezogen, zart, fast zärtlich sind seine Tuschfederzeichnungen von Menschen, die in streifige Räume eingespannt sind. Ohne Körper stehen zwei schmale, lange Kamelhälse oder eine menschliche Kopfgestalt auf ihren Beinen. Eine Frauenhalbfigur hält ein Lämmchen oder eine Katze liebevoll im Arm, eine „Flucht nach Äypten“ entstand in abstrahierender, sensibler Deformierung nach einer Vorlage.
Die neueste Entdeckung ist J. F. (Johann Fischer), dessen höchst merkwürdige silhouettenhafte Tiere – Hühner und Hahn, ein Elefant ohne Kopf – sich dem Gedächtnis einprägen. Ganz präzise, fein gezeichnete Hausfassaden im Blumengarten mit einem jungen Liebespaar auf der Bank davor und einem Vogelschwarm zeichnete Otto Prinz, der in den letzten Jahren nur von drei Päckchen Zigaretten und einer Flasche Cola am Tag lebte und kürzlich starb. Auch er war als Soldat während des Ersten Weltkriegs erkrankt.
Johann Korbec verbindet seine illustrativen Aquarellzeichnungen dekorativ mit integrierten handgeschriebenen Texten. Anton Dobay reflektiert sein Ich in einer dunklen, schwarz-grün-violett gestrichelten abstrakten Raumvibration. Auch Johann Garber füllt die ganze Bildfläche mit seinen gezeichneten Erzählungen: phantastischen Tieren, Drachen, Hasenköpfen, fliegenden Erzengeln, Zwiebelturm-Kirchen, Frauen am Fenster.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 7. April 1983.
Yvonne Friedrichs Kunstkritik: 1989-1991*
Ein flammender Tanz (1989)
Barbara Heinisch in der Galerie Zimmer
Barbara Heinisch, 1944 in Rathenow/Mark Brandenburg geboren, gehört zu den Künstlerinnen, die durch die Intensität und Ernsthaftigkeit des Erlebens die Neue expressive Malerei zu immer verdichteterer Bild- und Aussagekraft steigerten. Die ehemalige Schülerin von Beuys und Hödicke, die Auszeichnungen wie den Deutschen Kritikerpreis, Berlin, das PS-1-New-York-Stipendium, Berlin, und das Kunstfonds-Stipendium, Bonn, vorweisen kann, zog 1986 von Berlin nach Düsseldorf, wo sie von der Galerie Elke und Werner Zimmer (Oberbilker Allee 27) vertreten wird.
Ihre jetzt dort gezeigte Ausstellung mit Bildern aus zehn Jahren (1979-1989) läßt erkennen, welche Reife und Souveränität sie inzwischen erreicht hat. Auch ihr selbst erfundener und entwickelter aktionistischer, dialogischer Malprozeß ist in ein neues Stadium eingetreten. Barbara Heinisch malte früher ihre großen Tempera-Bilder (auf Nessel) in direkter gestischer Berührung mit ihrem Modell, das hinter der Leinwand agierte, tanzte, sein Wesen, seine Emotionen, seine Gegenwart und ihre Ausstrahlung in Bewegungen einbrachte und darstellte: Sie drückten sich ab und wurden von der Künstlerin malend aufgefangen. Doch keineswegs nur als reine motorische, dynamische Geste, sondern als energetisches Phänomen, als direkte Übertragung spiritueller und sinnlicher Energien an der Nahtstelle zwischen dem lebenden Körper und dem gemalten Bild.
Farbspuren im leeren Raum
Aus dieser Zeit solcher direkter Induktion stammt noch „Sprungkraft“ von 1979, ein Schlüsselbild jener Periode der blitzschnell nach Körperabdrücken gemalten Bewegungsabläufe. Sie stehen als Farbspuren im leeren Raum mit viel freigelassenem Nesselgrund und beziehen noch nicht das Umfeld als total visualisierten malerischen Organismus ein wie in den späteren Bildern. Kam hier die Inspiration durch ein männliches Modell, so ist das ebenfalls frühe dreiteilige „Totem und Tabu“ mit seinem roten, sich verströmenden Zentrum eine Beschwörung des Weiblichen. Es weist auf Ursprünge, Geburtsvorgänge hin.
Die seit 1987 entstandenen Bilder sind zwar weiterhin Dialogmalerei im Zusammenspiel mit Modellen, doch nicht mehr direkt auf den Körper gemalt. Der oft ekstatische Impuls teilt sich dem ganzen Bild mit, das sich in der Bewegtheit von Gestik und expressiven Farben verselbständigt.
In einer Kirche gemalt
In dem großen Tempera-Bild „Genesis“ von 1988 scheinen sich die farbdurchglühten violetten, goldgelben, erdfarbenen Figuren in einem rituellen, sakralen Tanz flammend und zugleich meditativ in einem gemeinsamen Imaginationsraum zu begegnen. Als durchsichtiger Farbraum schimmert er auch durch ihre Körper. Figuren, Bewegung und Bildgrund verschmelzen, Licht umfängt alles. Barbara Heinisch hat dieses Bild nach Musik von Ligeti in einer Kirche gemalt mit Robert Solomon vom Tanztheater Düsseldorf als Modell, während der ekstatische „Tanz“ (1987) nach Saxophonmusik, gespielt von Sibylle Pomorin, und mit der Kölner Tänzerin Mane Lu Leisch entstand.
In „Lichtsturz“ (1987) mit seinem von sakralem Licht getroffenen, unter der Kraft dieses Strahls zusammenstürzenden oder nach ihm greifenden Figuren verarbeitete die Künstlerin einen eigenen Traum. Immer wieder fordern sie Engel, Geistwesen und Lichtfiguren zur malerischen Auseinandersetzung heraus. Sie ist so intensiv, daß man in den Bildern geradezu eine Identifikation mit den Modellen zu verspüren meint.
Der „Sonnentanz“ von 1987 entstand als kraftvoll-vitales, farb- und lichtdurchglühtes Gegenbild - mit demselben Modell - zu „Tanz der Dämonen“: einer Ballung von Schrecken, Grauen und Leiden in morbiden, ausgelaugten Farben als Darstellung eines psychodramatischen Prozesses mit maskierten Figuren und als Reflex eines von ihrem Modell erlebten Motorrad-Unfalls. Gemalt wurde das Bild am Rosenmontag angesichts des närrischen Treibens auf den Düsseldorfer Straßen.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 27. September 1989.
Von Manet zu Johns und den Jungen (1989)
Jubiläumsausstellung zum 15jährigen Bestehen in der Galerie Wittrock
Mit einer kostbaren Ausstellung von 15 Gemälden und Zeichnungen sowie 15 Graphiken feiert die Galerie Wolfgang Wittrock (Sternstraße 42) ihr fünfzehnjähriges Bestehen. Sie schlägt die Brücke vom französischen Impressionismus, Symbolismus und Fin-de-Siècle über die deutschen Expressionisten, über Beckmann, Picasso, Dali, Klee zu junger und jüngster Kunst der Gegenwart.
Zur Ausstellung, die auch einige Leihgaben aus Privatbesitz enthält, vor allem frühe Gemälde der Expressionisten, erschien ein Katalogbuch mit 30 Farbabbildungen aller ausgestellten Werke. Wittrock hat selbst darin den Werdegang seiner Galerie beschrieben. 1974 machte er sich in Düsseldorf selbständig und begann mit einer Photoausstellung von Brassai. Eine Reihe erfolgreicher, von Wittrock organisierter Ausstellungen für Museen in Stuttgart, Bern und München wurde 1985 gekrönt durch die Toulouse-Lautrec-Ausstellung für das Museum of Modern Art, New York.
Entscheidend bereichert wurde das bis dahin vor allem graphisch orientierte Galerieprogramm 1983 durch den Eintritt von Margret Heuser, der langjährigen Mitarbeiterin des verstorbenen Kunsthändlers Wilhelm Grosshennig. Ihren Erfahrungen sind die wichtigen Ausstellungen mit Bildern der Expressionisten des Blauen Reiter und der „Brücke“ zu verdanken.
Nicht wenige der jetzigen Exponate in der Galerie erinnern an Ausstellungen der Galerie in ihrem ehemaligen Domizil in der Sternstraße 16. Zum Beispiel eine Kreide-Lithographie „Les Courses“ von Manet, ein Probedruck der Auflage von 1884 im ersten Zustand: in samtig-schwarzem Strich werden hier das Pferderennen und seine Zuschauer zu einer lebhaft bewegten Struktur zusammengefaßt. Redons ätherische Lithographie „Beatrice“ (1897) entstand nach einem Pastell und wurde von A. Clot in Paris in ganz wenigen Exemplaren gedruckt.
Munchs berühmtes Motiv „Das kranke Kind“, das er bis 1927 immer wieder in Ölbildern und Graphiken variierte, erlebt man hier in der ungemein sprechenden, sinnlich-subtilen gestischen Strichführung der Zeichnung in farbigen Kreiden und Pastell auf Karton von 1896. Berechnende Verruchtheit, umschmeichelt von duftigem Charme verhüllender Gewänder, hat Toulouse-Lautrec in seiner signierten Vier-Farben-Lithographie auf Chinapapier von 1897 „Elsa, dite la Viennoise“ erfaßt.
Zu diesem Graphikangebot höchsten Ranges gehören auch Noldes extrem seltene Lithographie „Junge Dänin“ (1913): ein Frauenporträt, zerschmelzend fast im sinnlichen Reiz der Verführung, Dämonie und Melancholie, oder berühmteste Blätter von Picasso („Le Repas frugal“, 1904, „La Minotauromachie“, 1935), Kirchner („Akt mit schwarzem Hut“, 1912), Heckel („Männerbildnis/Selbstporträt“, 1919), Beckmann („Der Nachhauseweg“, 1919) bis hin zu Jasper Johns’ („Decoy I“, 1971), Felix Droeses in ihrem Symbolgehalt ergreifenden „Vogelpredigt (Hesekiel): Sammelt Euch“ von 1983 und Matthias Mansens „Situation, Straße, Hinterhaus“ (Paris, 1988),
Otto Muellers „Halbakt Zigeunermädchen“ (um 1925) in seinem unwiderstehlichen, in weichen farbigen Kreiden eingefangenen Charme mag überleiten zu so großartigen Bildern wie Jawlenskys „Dunkelblauem Turban“ (1910), Heckels flammenden frühen, noch von van Gogh und den Fauves beeindruckenden „Blühenden Apfelbäumen“ von 1907, Schmidt-Rottluffs „Weißem Haus in Dangast“, 1910, Franz Marcs „Fabeltier II (Pferd)“, 1913, August Mackes heiter-bestechender kleiner „Kolonnade mit Segelboot I“ (1913), Paul Klees spätem, den schwarzen Zeichen des Schicksals verfallenem Bild „Dieser Stern lehrt beugen“ von 1940 oder Emil Noldes farbglühendem, doch schon dem Vergehen anheimgegebenen „Herbstblumen“ (1931).
Gegenüber solcher künstlerischer Herausforderung enttäuschen aber auch die ausgewählten Bilder von Baselitz („Flügel“, 1972/73), Klapheck („Ballade“, 1984) und eine große Gouache von Helfried Hagenberg („ohne Titel“, 1989) keineswegs. Sie behaupten sich.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 28. September 1989.
Wie eine seelische Folterkammer (1991)
Jannis-Kounellis-Ausstellungen in Amsterdam und Den Haag
„Via del Mare“, der Weg des Meeres – man stelle sich den einmal vor: Schon wird man getragen von unendlicher Bewegung. Jannis Kounellis, der 1936 in Piräus geborene, seit 1956 in Rom lebende Grieche, hat seine jetzige große Ausstellung in acht Räumen des Amsterdamer Stedelijk Museums „Via del Mare“ genannt. Man geht durch das Szenarium der Schau wie durch eine seelische Folterkammer. Die Sprache der Dinge und Objekte selbst, der Materialien in ihrem Verweis-Charakter, ihren Reihungen und Schichtungen, ihrem Zwiegespräch mit dem Raum ist überwältigend.
Eingerollt in Stahl: gezeichnete Menschenköpfe, Totenköpfe; 16 an einer langen Wand aufgereihte große Stahlplatten, darauf gepreßt, zwischen vertikale Eisenschienen und Steine, mit Eisen gefüllte Jutesäcke (1988). Um einen Pfeiler kreist auf einer Eisenspirale eine Eisenbahn. Das Fenster dahinter ist zum Teil mit Stahlplatten verschlossen. Einritzungen in der Wand sind mit Teer gefüllt. „Hommage an Piranesi“ nennt Kounellis diese Rauminstallation, die er 1977 für das Studio Tucci Russo in Turin machte. Natürlich fehlt auch die berühmte „Carboniera“ nicht, der mit Steinkohlen gefüllte Stahlträger für die Galleria L’Attico in Rom (1971). Für das Museum Zeitgenössischer Kunst in Bordeaux entstanden 1990 mächtige mit Kohle gefüllte Stahl-Container.
Arte povera, Kunst mit „armen“ Materialien, die doch hier mit Weltgeschichte, historischen, kulturellen, sozialen und autobiographischen Erinnerungen und der Ausdruckskraft ihrer Materialität aufgeladen sind – Kounellis ist einer ihrer hervorragendsten Repräsentanten. Burri, Fontana, Manzoni, die ihm nahestanden, hat er längst überflügelt.
Über einer Bodeninstallation von 1988 mit rund 12 000 aufgereihten Likörgläsern liegen organische Bleiformen, die Wachsen, Werden, Vergehen, Transformation signalisieren; mit den Gläsern spielt das Licht. Für das Museum von Capodimonte in Neapel fertigte Kounellis 1990 die großartige Installation mit über 50 alten Terrakotta-Krügen, großen und kleineren, einst Vorratsgefäße für Wein oder Öl. Mit Seewasser und Blut gefüllt, als lebensvolle, erdgebundene Formen stehen sie auf dem Boden, kontrastierend zu an den Wänden darüber an Eisenplatten hängenden, mit Kohle gefüllten Jutesäcken.
Wie Kounellis einst in seiner berühmten römischen Installation von 1969 lebendige Pferde in den Ausstellungsraum brachte, so begegnet man jetzt seinem lebenden bunten Papagei auf eiserner Stange oder seinem Ei auf Stahlplatte im stählernen Raum. Auf einer riesigen, über Eck gestellten Metallwand scheinen kleine Knospen aus Gips zu sprießen. Auf dem Fragment eines romanischen Holzkreuzes stehen goldverbrämte Kinderschühchen.
Ein Kreuz aus Eisenträgern ist mit einem Mantel bekleidet. Ein Kleiderständer steht vor einer mit Blattgold belegten Wand. Aus einem Objekt aus vier Stahlplatten quillt flockige weiße Wolle hervor. „Die Werke, in denen ich Wolle benutze, sind ein Echo des verlorenen Arkadiens außerhalb der Zeit“, schrieb Kounellis.
Parallel zu dieser Retrospektive in Amsterdam zeigt das Gemeentemuseum in Den Haag eine von Rudi Fuchs eingerichtete weitläufige Ausstellung mit Zeichnungen von Jannis Kounellis aus den Jahren 1970 – 1990 unter dem Titel „La stanza vede“ (Der Raum sieht). Als erste ihrer Art überhaupt erschließt sie ein bisher noch weitgehend unentdecktes Gebiet seines Schaffens.
Die Zeichnungen sind eine Offenbarung, denn in ihnen zeigt sich der unbändige Drang des Künstlers in die Freiheit des Raums. Variationen über Vögel und Flug etwa, in farbigen Fasern auslaufend in Kreide- oder Federzeichnung. Von einem dunklen Zentrum ausgehende blaue Strahlen ins Unendliche. Ein Raum mit schwarzer Tür und schwarzen Fenstern „sieht“, blickt uns an in Gesichtern auf den Wänden. In einem anderen, dunklen, fensterlosen qualmen Schlote. Ein melancholisches weibliches Gesicht mit einer Binde vor den Augen und wie im Flug verwehendem Hut schwebt im Freiraum. Rauch wandelt sich in schwarzes Haar eines weiblichen Aktes, der aus einem Schornstein herausgeschleudert wird. Farbfeuer glimmt in der Erde. Feuer, Rauch in Innenräumen, eine Industrielandschaft mit dampfender Lokomotive, eine archaische Architektur. Menschen tragen einander auf dem Rücken vor einer modernen Hausfassade.
In: Rheinische Post. Feuilleton, 2. Januar 1991.
Lichterwald und Superland (1991)
Zur Peter-Brüning-Ausstellung in der Galerie Niepel
In den sechziger Jahren konnte man sie in der alten Galerie Niepel taufrisch sehen: die neuen, von der Kartographie, später auch von Verkehrszeichen inspirierten Bilder, Zeichnungen, farbigen Lithographien und Siebdrucke, die Objektbilder und schließlich Objekte von Peter Brüning. Sie waren nach seinen früheren informellen Bildern eine solche Überraschung, etwas so absolut Neues und Einzigartiges, daß man sich vom Anschauen gar nicht trennen konnte.
Peter Brüning, dieser hochbegabte, damals von der „Szene“ zunächst noch mehr oder weniger ignorierte, 1929 geborene Düsseldorfer Künstler, ist vor 20 Jahren – Weihnachten 1970 – 41jährig gestorben. Seine im Herbst desselben Jahres vom Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen arrangierte erste Retrospektive wurde unvorhergesehen zu einer Gedächtnisausstellung. Sie blieb die bisher letzte in einem Düsseldorfer Kunstinstitut.
Als großartiger eigenständiger Maler des Informel, der spätgeborene jüngste seiner bedeutenden Vertreter, ist er inzwischen auch in der hiesigen Galerieszene wiederentdeckt und inzwischen weltbekannt geworden. An das spätere, hier lange nicht mehr ausgestellte, nicht minder die Zeit überdauernde Werk des Künstlers, dem nur 16 Jahre blieben, sich zu entfalten, erinnert jetzt eine spontane „Hommage à Peter Brüning“ in der Galerie Niepel (Orangeriestraße 6).
Sie kam auf Anregung und mit Unterstützung von Marie-Luise Otten zustande, die über Brüning promovierte und deren umfassende und eingehende, aus direkten Quellen schöpfende Buchpublikation mit Werkverzeichnis über den Künstler 1988 im Wienand Verlag Köln erschien.
An Düsseldorf zunächst vorbei
Die daraufhin im selben Jahr veranstaltete große Ausstellung seiner Bilder und Objekte in Saarbrücken, Dortmund und Marl ging an Düsseldorf vorbei. Peter Brüning, einst Schüler von Willi Baumeister, wurde 1969, ein Jahr vor seinem frühen Tod, zum Professor für Malerei an die Düsseldorfer Kunstakademie berufen.
Seine jetzige Ausstellung mit 17 teilweise unverkäuflichen Arbeiten aus der Zeit zwischen 1964, als er sich der Kartographie zuwandte, bis 1970 setzt Zeichen – vielleicht auch für eine umfassende Retrospektive in Düsseldorf? In ihrem Zentrum, umgeben von Malerei, Zeichnungen und Graphik, dominiert die große Installation „Lichterwald“ mit „Superland“ von 1967. Der „Lichterwald“, bestehend aus drei stark vergrößerten kartographischen Zeichen für Nadelwald, die sich plastisch verselbständigt haben und mit phosphorgrün oszillierenden Neonröhren überzogen sind, wurden erstmals in einer von dem französischen Kunstkritiker Pierre Restany im schwedischen Lund veranstalteten Schau ausgestellt.
Darauf spielt doppelsinnig der Titel des dahinterstehenden Diptychons „Superlund“ an, auf das sie, auch durch Lichtreflexionen, bezogen sind. Es ist ein von Brüning gefundenes Plakat der von oben gesehenen Landschaft mit der Ruhrtalbrücke bei Essen. Er überzeichnete es mit kartographischen Zeichen, unter anderem für Straßen verschiedener Ordnung, Laubbäume und jenen sich nach unten verjüngenden Punktsäulen, die auf topographischen Karten ansteigendes Gelände markieren.
Sie versetzen, hier in der Konfrontation von Realität und Zeichen in einen optischen und gedanklichen Schwebezustand zwischen abstrakter überhöhender Imagination und photographierter Gegebenheit. Zugleich weitet sich das Bild durch die plastischen stilisierten Raumobjekte in einen Raum der Realität und Fiktion gleichermaßen aus. Angesprochen wird auch die verfremdende Überlagerung von Zivilisation und Natur.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 5. Januar 1991.
Hölzerne Ladies (1991)
Wolfgang Thiel in der Galerie am Stadtmuseum
Wie aus dem Schnittmusterbogen wirken sie, hart und eckig in den Kanten, die Modemädchen des Bildhauers Wolfgang Thiel. Gratig falten sich die Stoffbahnen gestylter Gewänder, die die gelängten Figuren hölzern umspielen. Knochig, faltig, präsentieren sie sich, die Ausgemagerten, Langbeinigen mit den spitzen Knien, spitzen Brüsten, spitzen Fingernägeln – fast Giacometti-Körper, doch verfremdet ins Groteske, zeitkritisch Frisierte, mondän Drapierte, in Holz erstarrte Mannequins zwischen Schlemmer, Picasso und Pop.
Gefroren auch die zur Schau gestellte erotische Stimulanz, die zur Maske geronnenen, ins Scheinwerferlicht getragenen Make-Up-Gesichter, aus denen jede Regung gewichen ist. Scheinbar lässig die einstudierten Haltungen: Marionetten, die sich selbst am Faden führen. Man kann sie jetzt in der Galerie am Stadtmuseum von Marlies Fischer-Zöller (Citadellstraße 25) kennenlernen, sich über sie amüsieren oder Anstoß nehmen an diesen tragikomischen Figuren der Jet-Set- und Schicki-Micki-Welt.
Das Material Holz ist wichtig. Hat es doch dieses Rauhe, Sperrige, das zur Groteske taugt und das die modische Eleganz parodiert. Die scharfen Grate und Einkerbungen, die oft naturbelassene Oberfläche in Verbindung mit den überzogenen Längenproportionen, dem Geltungsdruck der breiten Schultern, der überhohen Stöckelschuhe, des penetrant dargebotenen „Oben-Ohne“ schaffen nicht nur Spannung, sondern mischen dem Humor auch ein bißchen brutalen Horror bei, einen Schuß Aggressivität.
Hinzu kommt ein formaler Kunstgriff. Wolfgang Thiel arbeitet nämlich auf verschiedenen Ebenen. Seine Skulpturen entwickeln sich oft aus der Fläche zum Relief oder sogar bis zum Vollplastischen hin und zurück. Das intensiviert ihre Stoßkraft: eine Methode der versetzten und übermalten Flächen und Volumina, die schon Oskar Schlemmer angewandt hat. Thiel benutzt überdies außer dem skulptierten Holz ganz prosaische Kistenbretter, Paletten, Balken, die als flächig-lapidare Kleidung, als Sitzgelegenheit, Podest, Liege dienen: Kleidungs- und Möbelstücke, die auch ein wenig an Panzer oder Marterinstrumente erinnern. Manche Figuren verschmelzen mit Objekten, vor allem thronartigen Stühlen. Die Verbindung zwischen Körper, Gewand und Objekt stellt die farbfröhliche Bemalung her. Im Wandobjekt „La Piscine“ schwappen sogar munter gemalte Wellen des Swimmingpools über die auf einer Luftmatratze sich aalende Dame.
Ja, es ist eine amüsante Ausstellung von Wolfgang Thiel (geboren 1951 in Zweibrücken), der in Stuttgart studierte. Seit 1986 hat er einen Lehrauftrag an der dortigen Akademie. Daß er ursprünglich Bühnenbildnerei studierte, ist aufschlußreich. Dennoch hat er bis 1982 eher strenge, introvertierte, sogar sakrale Plastiken gemacht. Erst seit 1983 entstanden seine großen, nun bemalten Holzplastiken.
„Silvia“ (in Anlehnung an Otto Dix’ Porträt der Journalistin Silvia von Harden aus den zwanziger Jahren) im roten, himmelblau gepunkteten Kleid mit grünem Haar sitzt streitbar und leicht morbide auf ihrem hohen Holzlattensitz. „Madame Recamier“ ruht unbequem unter ornamentierter Bretterdecke. Das mit einem Möbelstück verwachsene Terzett mit streng einseitig ausgerichteter Kopfhaltung besingt die „Magie des Schönen“.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 18. Januar 1991.
Von der Tombola zum Millionending (1991)
Werke von Schlemmer, Loos und anderen bei Bröhan
Die „Geteilte Halbfigur nach rechts“ in Gouache und Bleistift auf Papier von Oskar Schlemmer (Bauhaus 1923), ein Millionenobjekt, und eine Kommoden-Uhr in Messing und Glas mit intaktem Originalwerk von Adolf Loos (um 1898, 160 000 Mark) sind Spitzenwerke einer hochrangigen Ausstellung mit Neuerwerbungen des Jahres 1990 in der Galerie Torsten Bröhan, Gartenstraße 41. Gezeigt werden Kunsthandwerk und Industriedesign aus dem Zeitraum 1890 bis 1990, insgesamt 133 Arbeiten aus Glas, Keramik, Metall, dazu Möbel sowie Bilder und Graphiken von Künstlern des Bauhauses.
Es handelt sich dabei, dem Anspruch dieser Galerie entsprechend, um Dinge, die sich durch Originalität, Schönheit und Reinheit der Form auszeichnen. Nicht wenige dieser Einzelstücke, die im Lauf des vergangenen Jahres Preissteigerungen von 50 bis 100 Prozent erreichten, sind beispielhaft für die historische Entwicklung formkünstlerischer Gestaltung.
Vertreten sind nicht nur führende Entwerfer der Wiener Werkstätten wie Josef Hoffmann, Koloman Moser, Michael Powolny, Otto Prutscher, sondern auch Meister des Bauhauses, darunter Marcel Breuer und Kandinsky, der Dresdner Werkstätten (Richard Riemerschmid), des holländischen und belgischen Jugendstils (Jan Eisenloeffel, Henry van de Velde), bis hin zu jungen Designern von heute.
Die wunderschöne Gouache von Schlemmer, die eine gewisse Nähe zu Paul Klee verrät und jetzt einen kostbaren Renaissance-Rahmen aus der Sammlung Conzen bekam, trägt auf der Rückseite die Widmung „Für die Tombola des Metallischen Festes im Bauhaus Dessau gestiftet von Oskar Schlemmer“. Der flächige, in Farbsegmente geteilte Profilkopf erscheint in verschiedenen Ebenen versetzt wie Schlemmers gleichzeitige Reliefs und korrespondiert in seinem feingestuften Farbspiel mit dem konstruktiven, ebenfalls vor- und zurücktretenden Flächenmuster seines Hintergrunds. Der melodische Umriß des Profilkopfs antwortet einer Vasenform: Fugato und lyrische Kantilene.
Strenge Noblesse
Die trapezförmige Messinguhr des Wiener Architekten Adolf Loos mit ihrem freischwebenden Achttagewerk nimmt in der strengen Noblesse ihrer avantgardistischen Formgebung um die Jahrhundertwende schon den Bauhausstil vorweg. Kandinskys 1922 am Bauhaus gedruckte Farblithographie „Kleine Welten IV“ verbindet Malevitchs Drang ins Universum mit den „kleinen Welten“ des Diesseits – Wasser und Boot sind zu erkennen – zu einem zauberhaft leichten, poetischen Spiel. Eine kleine Rarität ist auch eine lithographierte Postkarte Kandinskys zur Bauhaus-Ausstellung 1923.
Zwei Stühle, die Geschichte machten: Henry van de Veldes „Bloemenwerf-Stuhl“ von 1894/95, den er für sein eigenes Haus in Uccle entwarf. Damals gab er die Malerei auf, wandte sich ganz dem Design zu. Und Marcel Breuers Lounge-Chair aus verchromtem Stahlrohr mit originalem Eisengarnbezug (um 1930), zusammen mit einem Tisch (verchromtes Stahlrohr, Glas, um 1928) und einem Regal (verchromtes Stahlrohr, schwarzgebeiztes Holz, um 1928). Sehr elegant in seinen schwingenden Stahlrohrelementen ist ein Stuhl mit Korbgeflecht, den Mies van der Rohe 1927 für die Stuttgarter Weißenhofsiedlung machte.
Begeisternd in der Kultur der Formgebung und Ausführung sind auch viele kleinere Gebrauchsobjekte. Den Wiener Werkstätten steht eine in ihrer Kelchform sehr schlichte Loetz-Vase mit stilisiertem Seerosendekor nahe (um 1900). Ein Unikat ist Jan Eisenloeffels kupfernes Tintenfaß (Holland, um 1900). Josef Hoffmanns sich üppig wie eine Frucht entfaltende Teekanne in Silber und Elfenbein (1918) wurde in den Wiener Werkstätten ausgeführt. Apart eine schlanke Tischlampe des Dänen Poul Henningsen (1925). Und wer möchte nicht gern mal einen Apfel zum Nachtisch mit Henry van de Veldes schnittigem Obstbesteck schälen?
Aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wären etwa eine schlanke Silbercasserole von Henning Koppel, dem Chefdesigner bei Georg Jensen (Dänemark) zu nennen oder zwei Ariel-Gläser, die Edvin Öhrström (Schweden) um 1950 für Orrefors machte, und eine charmante kleine „Taschentuchvase“ aus gekräuseltem dünnen Glas von Venini/Fulvio Bianconi, Murano um 1960.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 19. Januar 1991.
Noten in Bildern, verständlich für Kinder (1991)
Der in Düsseldorf lebende Buch-Illustrator Johannes Grüger wird 85 Jahre - Herkunft aus Breslau
Kinderbuch-Illustratoren sind andere Menschen, oft stille, feinfühlige, versponnene. Wie könnte es auch anders sein, wenn man täglich mit Engeln und Heiligen, mit Königen und Helden, mit Blumen und Schmetterlingen, mit Tieren zu Wasser und zu Lande oder mit Sonne, Mond und Sternen verkehrt, sie nach ihrem Wesen, ihrer Gestalt fragt; wenn einem die Bilder zuwachsen aus vielen, vielen Geschichten?
Johannes Grüger, der gestern sein 85. Lebensjahr vollendete, hat unzählige Kinder in aller Welt erfreut, hat ihnen in früher Jugend eine Welt der Bilder, der Phantasie aufgeschlossen, die sie innen reich machte fürs Leben. Weit über 120 von ihm illustrierte Kinderbücher erreichten rund um den Globus eine Gesamtauflage von mehr als zehn Millionen Exemplaren.
Bunte Kreidevögelchen
Aus Musik sind sie erwachsen. Ganz am Anfang waren sie Ansporn zum Singen der Kleinsten in der Schule. Als die nämlich Notenköpfe auf der Wandtafel nicht begriffen, verwandelte sie ihr Musiklehrer Heribert Grüger, der ältere Bruder von Johannes Grüger, flugs in farbig gezeichnete Kreidevögelchen, die auf den Notenlinien munter zwitscherten und die Höhen und Tiefen der Töne, ihren Auf- und Abstieg markierten. Die Idee der „Liederfibel“ war geboren und wurde umgehend von seinem Bruder, dem Zeichner, verwirklicht.
1926 erschien die erste „Liederfibel“ in der Ostdeutschen Verlagsanstalt von Viktor Kubczak in Breslau, wo Johannes Grüger 1906 als Sohn des Kalligraphen Max Grüger geboren wurde. Der 21jährige besuchte damals die Theaterklasse von Professor Hans Wildermann an der Breslauer Kunstschule (1926-1929) und war anschließend zwei Jahre als Bühnenbildner tätig.
Die schon bald außerordentlich erfolgreiche „Bilderfibel“ von Johannes und Heribert Grüger, der zwei weitere unterschiedliche Ausgaben folgten und die auch im amerikanischen Verlag Lippicott & Co. in Philadelphia verlegt wurde, brachte Johannes Grüger auf den Weg des Buch-Illustrators. In den dreißiger Jahren war er außerdem Gemälderestaurator in den Städtischen Kunstsammlungen Breslau. Während des Kriegs gingen alle seine frühen Arbeiten dort zugrunde, auch die Druckstöcke und Lithos der „Bilderfibel“. 1945 kehrte Johannes Grüger mit einem einzigen geretteten Pinsel zu seiner in das Dorf Aiterhofen bei Straubing geflohenen Familie – er war mit der Schauspielerin Erika Fricke verheiratet – heim. Dort fand sich bald auch der Verleger Viktor Kubczak ein.
Nach einem erhalten gebliebenen Exemplar malte Grüger die Illustrationen zur „Liederfibel“ neu, und Kubczak gab sie 1949 – auch neu gestaltet – in dem von ihm gegründeten Brentano Verlag Stuttgart heraus: wieder mit durchschlagendem Erfolg. Die Auflage stieg in den nächsten Jahrzehnten in die Hunderttausende, später auf 1,5 Millionen.
Im Spiele lernen
Denn auch nach dem Tod Kubczaks, als der Düsseldorfer Schwann-Verlag die Rechte übernahm und die Werke mit neuen Bildern in acht verschiedenen Auflagen edierte, hatte die Zauberformel, Noten wie im Spiel durch Bilder zu lernen, nichts von ihrer Kraft verloren. Es erschien auch eine Sonderauflage mit acht Liedern und einer Schallplatte, auf der ein Kinderchor, begleitet von Orffscher Musik, singt.
Drei Generationen von Kindern sind nicht nur mit der „Liederfibel“ aufgewachsen, sondern auch mit den vielen anderen von Johannes Grüger illustrierten Kinderbüchern. Genannt seien besonders die in ihren Bildern – einer inspirierten Mischung aus mittelalterlicher Miniatur und unschuldsvoll-naiver Kunst – auf so wundersame Weise kindhaften religiösen, im Patmos-Verlag erschienenen Bücher, darunter die „Kleine Eckersche Schulbibel“: ein Welterfolg.
Sie wurde in 27 Sprachen übersetzt, zum Beispiel ins Russische, Ukrainische, ins Arabische, in die Sinti-Sprache, in verschiedene afrikanische Dialekte und in Indianersprachen. Die für noch kleinere Kinder gedachte „Bilderbibel“ erreichte in Deutschland und acht weiteren Ländern, von der Tschechoslowakei bis Borneo, eine Gesamtauflage von über 350 000 Exemplaren.
Neben seinen Illustrationen hat Johannes Grüger, der seit 1951 in Düsseldorf lebt, unter dem Eindruck der Schrecken und Ängste der Kriegs- und Nachkriegszeit expressiv-surreale, phantastische, Kubin, Brueghel, Bosch nahestehende Federzeichnungen geschaffen. In dieser Zeit malte er auch zwei kleine niederbayerische Kirchen aus.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 13. Februar 1991.
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* Die Texte ins Internet zu stellen, wurde freundlicherweise durch die Verlagsleitung der Rheinischen Post in Düsseldorf genehmigt. Das Copyright liegt weiterhin bei der RP.
Yvonne Friedrichs Gespräch mit Heinz Mack über Dürer
Respekt aber keine Bewunderung (1971) *
Ein Gespräch unserer Kunstkritikerin Yvonne Friedrichs mit Heinz Mack über Albrecht Dürer
„Zero“ und Dürer – lässt sich dafür ein gemeinsamer Nenner finden? Was bedeutet Dürer für einen „progressiven“ Künstler unserer Zeit? Völlig ungewiß über den Verlauf unseres Gespräches sitze ich Heinz Mack in der geräumigen Wohndiele seines jahrhundertealten Bauernhauses in Mönchengladbach gegenüber. Die Synthese von denkmalgeschütztem, mittelalterlichem Fachwerk und gleißenden Aluminiumrastern, Plexiglasstelen und Lichtrotoren scheint verheißungsvoll.
Y. F. „Herr Mack, haben Sie ein Verhältnis zu Dürer?"
„Mit dieser Frage werde ich zum erstenmal konfrontiert. Ich habe drei bis vier Schulaufsätze geschrieben. Als sehr kleiner Junge über die Dürerzeichnungen mit der Drahtziehermühle, als Abiturient über die Eisenätzung „Die große Kanone“, natürlich auch über „Ritter, Tod und Teufel“ – womit des Deutschen liebste Bildungsgüter genannt wären. Nach dem Beethovenjahr haben wir nun ein Dürerjahr. Ich halte das Werk Dürers nicht für geeignet, ein ganzes Jahr gefeiert zu werden.“
Y. F. „Warum? Aus thematischen, formalen oder technischen Gründen?"
„Von der Sache her. Ich glaube kaum, daß es gelingt, Dürer so zu aktualisieren, daß sein Werk ein ganzes Jahr lang fasziniert. Hat man übrigens in Nürnberg, wo man jetzt so bemüht ist, die jüngste Vergangenheit der Parteitage mit Dürer zu übermalen, nicht daran gedacht, daß gerade Dürer wie kaum ein anderer von den Nationalsozialisten gefeiert wurde.“
Y. F. „Das dürfte doch wohl eher ein typisches Beispiel dafür gewesen sein, wie Kunst in Richtung von Parteipolitik verzerrt wurde."
„Dürer ist ein nationaler Genius. Er ist der Prototyp des deutschen Künstlers. Das hat seine guten und bösen Seiten. Übrigens: Die Stadt Nürnberg erteilte Dürer nie einen Auftrag. Ja, sie schuldete ihm sogar lange Zeit Geld, da sie sich weigerte, die von Kaiser Maximilian für Dürer ausgesetzte Leibrente auszuzahlen. Daß man jetzt den Großen Dürer-Preis der Stadt an HAP Grieshaber vergibt, ist bezeichnend für die provinzielle Mentalität, die die Aufmerksamkeit der Welt auf sich lenken will. Max Ernst wäre ein würdigerer Preisträger gewesen. Dürers Kupferstich der ‚Bekehrung Pauli’, die ‚Melancholie’ und ganz besonders die Holzschnittfolge ‚Die Unterweisung der Messung’ sind gar nicht so weit von Max Ernst entfernt.“
Y. F. „Ist Dürer also doch für den modernen Künstler aktuell?"
„Nein. In allen Büchern ist zu lesen, daß Dürer immer bewundert wurde. Ich selbst erweise ihm Respekt als großem Künstler. Meine Generation ist jedoch weit davon entfernt, in ihm unseren größten Meister zu sehen.“
Y. F. „Wie begründen Sie das?"
„Dürer hat unbestreitbar viel Einfluß auf die deutsche Kunst gehabt, auch durch seine theoretischen Neigungen. Ich persönlich würde Grünewald weit höher einschätzen als Dürer, weil das Werk Grünewalds irrationaler ist. Darunter verstehe ich keinen romantischen Aspekt. Dürer war ein freier, bewundernswerter Forschergeist, doch nicht mit Leonardo zu vergleichen. Er lebte aus dem Geist der Renaissance und formulierte ihn. Aber auf mich heute wirkt er sehr akademisch und trocken – zuviel Grammatik, wenig Sprache. Seine moralische Integrität, seine eindeutige ethische Haltung bleiben unangetastet. Aber dieses Moment der Moral setze ich bei einem großen Künstler als selbstverständlich voraus. Es ist kein eigentlich künstlerisches Kriterium.“
Y. F. Spezifisch dem „Maler" Dürer spricht Mack – und damit steht er nicht allein – die höchsten Qualitäten ab.
„Die Farbe hält die von Dürer erstrebte Monumentalität nicht aus. Ich schätze ihn als Graphiker und Aquarellisten viel höher ein. In den Aquarellen ist er naiv, spontan, unbefangen, frischer, lebendiger. Es fehlt jeder falsche Ehrgeiz. Hier hat die Farbe sinnliche Präsenz und ist wirklich malerisch empfunden. Typisch dafür erscheint mir das Blatt ‚Arco’. Es erinnert mich sogar an Cézanne. In Dürers eigentlicher Malerei hat dagegen die Farbe keine Primärbedeutung und wird überlegt in Kontrastflächen nebeneinander gesetzt. Es fehlt das, was Dürer selbst in Venedig nicht gesehen hat und was bei Giorgione so großartig ist: daß sich über das ganze Bild eine Farbtemperatur allen Farben gleichermaßen mitteilt.“
Y. F. „Nun, das kann man ihm, objektiv gesehen, als primär linear empfindendem Renaissance-Künstler – nach Wölfflins Definition – nicht übel nehmen. Auch Leonardo verdammt die Maler, die ‚die Reize der Farben gleich schönen Buhlerinnen für ihre Bilder werben ließen’“.
„Ich bewundere, daß Dürer sich in Italien nicht überfahren ließ, daß er Selbstbewusstsein hatte. Er konnte Venedig als freier Mann wieder verlassen. Doch wenn es darum geht, zu werten und Dürer als universalen und größten deutschen Künstler auf den Olymp zu heben, sehe ich diese Universalität im malerischen Werk nicht. Die fast graphische Pinselführung verrät – wie die Liebe zum Kleinen auch in der Graphik – die typisch deutsche Akribie.“
Y. F. „Dürer lebte in einer Zeit und einem Milieu des Übergangs von mittelalterlicher Befangenheit zur Weltoffenheit der Renaissance. Man spürt in seinem Werk die Entdeckerfreude, mit der er sich dem Diesseitigen, der Natur zuwendet, ohne dabei seine unerschütterliche religiöse Bindung preiszugeben."
„Auch darin war er einer der deutschesten Künstler, in dessen Brust zwei Seelen wohnten: die Freizügigkeit, der Forschergeist des Erkenntnismalers mit dem offenen Blick für die Natur, andererseits die Aussage des Bekenntnismalers. Diese beiden Elemente in ihrer Spannungsrelation sind typisch für einen großen Teil der deutschen Malerei. Bekenntnismalerei wie Dürers Selbstporträt als Christus – das ist noch Joseph Beuys. Typisch für die gegenwärtige Kunst erscheint mir aber die Objektivation des Irrationalen; die Befangenheit im Subjektiven ist immer eine Schwäche.“
Y. F. „Diese Objektivität findet sich in hohem Maße doch gerade bei Dürer. Denken Sie nur an die realistischen Porträts und ihre scharfe Charakterisierung."
„Das ist ein humanistisch-literarisch Aspekt, kein spezifisch malerischer. Trotz der Charakterisierung ist übrigens ihre Variationsbreite verhältnismäßig gering. Dürers Werk ist für mich – mit wenigen Ausnahmen – ohne Faszination, ist keine Quelle der Imagination, weil in ihm keine Imagination realisiert wurde.“
Y. F. „Sie reagieren sensuell?"
„Ja. Ein Dürer-Bild muß man lange anschauen, weil es reich an Details ist. Dabei erkennt man, daß Natur unmittelbar in die Kunst übertragen wurde. Betrachte ich das Werk eines irrationalen Künstlers, vollziehe ich nicht eine Naturbeobachtung nach, sondern es öffnet meiner Imagination einen weiten Raum.“
Y. F. „Dürer ist Ihnen also zu real vordergründig?"
„Vieles finde ich ausgesprochen banal.“
Y. F.„Das ist aus der Zeit heraus zu verstehen. Das Reale war das Neue, ein großes Felder der Entdeckung."
„Das respektiere ich. Unsere moderne Welt wäre ohne die Renaissance nicht denkbar. Wir befinden uns aber nach wie vor in einem Prozeß der Emanzipation gegenüber der Natur.“
Y. F. „Sind Sie auch nicht beeindruckt von den großen Holzschnittfolgen, der Passion, der Apokalypse?"
„Ich habe kein Verhältnis zum Holzschnitt. Ich halte ihn für eines der unglücklichsten Medien in der Kunst. Ein Holzschnitt erscheint mir wie das Gerippe eines vertrockneten Blattes, verholzt, hart. Als Linearstruktur mag das bei Dürer sehr schön sein, aber doch manieriert.“
Y. F: „Gerade die Apokalypse zeigt aber – im Vergleich mit der Kölner Bibel, die Dürer als Vorbild diente -, mit welcher Leidenschaft, mit welcher Dramatik er diese in Holz geschnittenen Bilder aufzuladen vermochte."
„Es ist ein leidenschaftliches Pathos, das jedoch wieder in der Struktur erstickt und in unauflöslichem Widerspruch zur ‚Grammatik’ der Technik steht. Genial finde ich dagegen fast alle Zeichnungen. Sie sind expressiver, wie das Bild der Mutter Dürers, das die ganze Käthe Kollwitz vorwegnimmt. Oder auch das Selbstporträt mit 14 Jahren. Am meisten schätze ich persönlich die Landschaftsaquarelle und die spontanen Federzeichnungen, die für Dürer nur Skizzen waren. Auch die Kupferstiche – ‚Hieronymus’, ‚Melancholie’, ‚Eustachius’ – beeindrucken mich sehr, wo am meisten das Eingang findet, was ich das Irrationale oder die Imagination nenne.“
Y. F. „Hier liegt wohl auch der Ansatzpunkt für den starken Einfluß Dürers auf die heutige Wiener Schule des Phantastischen Realismus."
„Sie ist für mich der Inbegriff einer modischen, anachronistischen, dekadenten Haltung. Im Vergleich dazu war Dürer ein hochgesunder Künstler. Sein moralisch und formal gefestigtes Werk verrät nichts von existentieller Selbstzerstörung.“
Y. F. „Dennoch lebt auch er in einer Zeit des Umsturzes. Denken Sie an den Prozeß seiner Schüler Jörg Pencz und der Brüder Beham, die 1524 wegen Verbreitung extrem anarchistischer, materialistisch-atheistischer und kommunistischer Ansichten angeklagt und aus der Stadt Nürnberg ausgewiesen wurden. Gerade Nürnberg war ein Sammelbecken solch radikaler Strömungen, die dann zu den Bauernkriegen führten. Dürer hat in seinem Bild der Vier Apostel – der Johannes trägt die Züge des Melanchtons – ein Bekenntnis seiner gegenteiligen Ansicht abgelegt, die den Wirrnissen Ordnung und Harmonie entgegenstellen."
„Ja, Dürer ist durch diese Zeit – ähnlich wie später Goethe – mit großer Gelassenheit gegangen.“
Y. F. „Gerade im Augenblick dominiert wieder die Strömung eines Neuen Realismus in der Kunst der Gegenwart."
„Die Gruppe Zéro hatte einen Neuen Idealismus auf ihr Programm geschrieben. Das war ein Missverständnis. Heute fühle ich mich völlig frei, und ich wünsche mir, daß mein Werk den Menschen daran erinnern könnte, daß es neben dieser von einem Extrem und einem Elend ins andere fallenden Welt eine Welt rein ideeller Natur gibt, die aber sinnlich erfahrbar, beglückend und problemfrei ist. Dieser Wunsch ist menschlich und künstlerisch begründet.“
Y. F: „Auch Dürer strebte nach der vollkommenen Schönheit und musste schließlich einsehen, daß sie sich durch keine Regel fassen und rational begründen ließ."
„Ja, das Wort Dürers, er wisse nicht, was das Schöne sei, bestätigt ihn zuletzt als einen Künstler, der die Grenze der Rationalität und damit alle Endlichkeit des Diesseitigen erkannte. Da er der Künstler der deutschen Renaissance war, ist seine Erkenntnis besonders schicksalhaft.“
Y. F. „Sie plädieren für eine weitgehend abstrahierte, sensibilisierte Schönheit?"
„Nun, ich gehe der Natur aus dem Wege, weil Ihre Schönheit etwas anderes ist als das Schöne in der Kunst. Insofern war die Renaissance-Schönheit, so schön sie auch war, ein Irrtum.“
In: Rheinische Post. Geist und Leben, 15. Mai 1971.
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* Den Text ins Internet zu stellen, wurde freundlicherweise durch die Verlagsleitung der Rheinischen Post in Düsseldorf genehmigt. Das Copyright liegt weiterhin bei der RP.
Yvonne Friedrichs Kunstkritik: 1992 *
Drei Generationen – unter einem Dach vereint (1992)
Ausstellung des Westdeutschen Künstlerbunds im Landesmuseum Volk und Wirtschaft
„1945 – da werden Erinnerungen wach an das Ende der apokalyptischen Bombennächte, an die Rückkehr der Überlebenden in Trümmerstädte, demoralisierte Heimkehrer mit nichts in den Händen. Es blieb wenig Zeit, um über Ursache und Schuld nachzudenken, weil die elementarsten Bedürfnisse, ein Dach über dem Kopf zu haben, das Stillen des hungrigen Magens, die letzten Kräfte des gelähmten Lebenswillens forderten . . . Und doch werden diese ersten, wirtschaftlich von Unmoral, Sorgen und Resignation gezeichneten Jahre für den, der sie mitgemacht hat, unvergeßlich bleiben als eine später nie wieder erlebte Zeit beherzter kultureller Aktionen, leidenschaftlicher Diskussionen und nicht lahmzulegender Aktivitäten – allerorten . . . Was war das damals für eine aufregende Sache, einen Quadratmeter Leinwand oder Karton ergattert zu haben . . .“ Dies schreibt Thomas Grochowiak in seinem Katalogtext „Im Blick zurück“ auf die Gründerjahre des Westdeutschen Künstlerbundes.
Vor solchem Hintergrund die 25. Hauptausstellung des 1946 in Hagen gegründeten Westdeutschen Künstlerbundes zu sehen, ist vielleicht gerade im Augenblick naheliegend. Sie wird erstmals außerhalb ihres Stammsitzes, des Hagener Karl Ernst Osthaus Museums, im Düsseldorfer Landesmuseum Volk und Wirtschaft am Ehrenhof gezeigt. Der neue Vorsitzende des Westdeutschen Künstlerbundes, Utz Brocksieper, will auch die nächsten, weiterhin im zweijährigen Turnus veranstalteten Hauptausstellungen in verschiedenen rheinisch-westfälischen Städten präsentieren. Die damit traditionell verbundene Verleihung des Karl Ernst Osthaus-Preises in Höhe von 10 000 Mark wird dann jeweils im Zusammenhang mit einer alternierenden Themenausstellung in Hagen vergeben.
Im Westdeutschen Künstlerbund haben sich im damals neugegründeten Nordrhein-Westfalen Künstler zusammengeschlossen, die in dieser Region geboren sind oder dort leben und arbeiten. Auch Vorstand und Juroren setzen sich aus gewählten Künstlermitgliedern zusammen. Geschäftsführer ist der Direktor des Karl Ernst Osthaus-Museums, Michael Fehr.
Knapp ein Drittel der 100 in dieser Jubiläumsschau vertretenen Künstlerinnen und Künstler, darunter 35 Gäste, wohnen im Rheinland, die anderen überwiegend in Westfalen. Die Schau wurde geschickt, locker gegliedert und in den nicht eben leicht „bespielbaren“ Räumen auf drei Etagen aufgebaut. Man kann sich auf jedes einzelne Werk ungestört einlassen. Ein gutes Niveau integriert Arbeiten von drei Generationen aus den letzten drei Jahren, und besonders die Jugend sorgt für manche Überraschung.
Gleich eingangs im Vestibül begegnet man einer großen Landschaft in Acryl und Pastell von Ludmilla von Arseniew, in der sich systematisierende Strenge und informelle Spontaneität zur prickelnden Farbstruktur verweben. Rolf Noldens „Glasbogen“-Objekt aus gespaltenen Glasscheiben fasziniert durch seine grünschimmernde Lichttransparenz. In Wulf Noltes große abstrakt-expressive Landschaft „Rückblick auf Texel“ taucht der Blick ein in großflächig strömendes und doch in sich ruhendes atmosphärisches Grau, Blau, Schwarz und Weiß nordischer Melancholie.
Gleich daneben suggeriert Margot Kerchners Wandinstallation „Orgelpfeifen“ aus Fließbandgummi, die sich gleichsam wie durch Luftgebläse ausdehnen, öffnen und schließen, visuelle Musik mit vollen und zurückgenommenen Tönen. „Inzucht“ nennt Victor Ronato seinen amüsanten Kreis aus igelartigen Stachelwesen, bestehend aus Roßhaarbürsten und einem Spiegel. Christina Hoppes kassettenartige Bodenplastik mit Deckel im Holz ist wie eine konstruktive Blume mit Holunderblüten gefüllt. In wilder, gestischer Vitalität stürmen die Farben durch Thomas Grochowiaks großartiges Tusche-Bild „Nach Mozart: Dies irae aus dem Requiem“. Oder sie fangen einen „Lichteinbruch“ auf in Sigrid Kopfermanns sprühendem Gemälde.
Wie in Luft aufgelöst, schaukelnd im Wind, ein Medium der Phantasie, ist Günter Zins’ ganz immaterieller „Fliegender Teppich“ der Phantasie aus zarten Edelstahlstangen. Graphisch-linear, raumdurchlässig sind auch Utz Brocksiepers „2 Keile in Aktion“ aus roten Vierkantrohren. Unverkennbar die sich ganz dem Raum anvertrauenden feinen Blätter in Aquarell und Feder von Gabriele Grosse und der „Molekularkörper“ in eloxiertem Aluminium und Acrylglas von Karl-Ludwig Schmaltz.
Mancherlei witzige illusionistische Täuschungen baute Silke Rehbert in ihr Mixed-Media-Objekt „Amphitrite trifft Flipper“ im Untergeschoß ein, wo auch Jens Christian Brand sein verspieltes, durch kleine Ventilatoren bewegtes „Triptychon für Carlos Gardel“ platziert.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 11. September 1992.
Schauer und Schönheit (1992)
„Zauber des Rheins“, zu sehen in Bonn und Koblenz
Wenn Ernst Moritz Arndt einst in napoleonischer Zeit den Rhein als „Deutschlands Fluß, nicht Deutschlands Grenze“ proklamierte, so kann das im Europajahr 1992 eine ganz neue Dimension einschließen. Dieser ins Übernationale verweisende Aspekt findet seine zunächst überraschende Bestätigung in einer nicht absichtslos gerade jetzt in zwei Museen der Region, dem Mittelrhein-Museum Koblenz und dem Rheinischen Landesmuseum Bonn, arrangierten Ausstellung.
Ihr Titel „Vom Zauber des Rheins ergriffen ... Zur Entdeckung der Rheinlandschaft vom 17. bis 19. Jahrhundert“ entspricht ganz der Faszination, in die sie den Betrachter und auch den Leser der Katalogtexte verstrickt: sei es in Koblenz, wo niederländische Malerei, Zeichnungen, Graphik des 17./18. Jahrhunderts den Reigen des Rhein-Zaubers eröffnen, oder in Bonn, wo Klaus Honnef in sichtlicher Sammelfreude ein pittoreskes Ensemble von Gemälden, Aquarellen, Zeichnungen, Aquatinta-Arbeiten, Stichen, alten Photographien sowie Karikaturen vornehmlich britischer Künstler des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts zusammenstellte.
Aber auch Reisekoffer und –kamera, Reiseapotheke und –farbkasten, eine Lampe zur Beleuchtung der Kutsche, ein Modell der belgischen Postkutsche von 1830 oder des Dampfschiffs „Friede“ von 1886 fehlen als greifbare Zeitzeugen nicht. Gleich eingangs wird der Besucher mit der vergrößerten Zeichnung des „karierten“ reisenden Engländers „Mister Pief“ mit Fernglas von Wilhelm Busch (1882) konfrontiert und mit Richard Doyles ironisierender Rheinzeichnung „The Scenery becomes mysterious“ (Die Szenerie wird mysteriös). Romantik ist angezeigt.
Die Entdeckung der Rheinlandschaft für die Kunst ging keineswegs von den Deutschen, sondern von den Niederländern Ende des 16., Anfang des 17. Jahrhunderts aus. Auf den Bildungsreisen nach Italien wurde man auf die Schönheit und Phantastik des Rheins zwischen Köln und Bingen aufmerksam. Von Anfang an ging dieses Imaginäre, Märchenhafte und Sagenumwobene, das Stimmungsbetonte in Bilder mit Rheinmotiven ein, etwa von Roelant Savery, dem einstigen Hofmaler Rudolfs II. in Prag, der von 1617 an in Amsterdam und Utrecht wirkte, und dem von ihm beeinflußten Herman Saftleven.
Selbst der andere Zweig niederländischer Landschaftskunst, die durch den Aufstieg Hollands zur Welt- und Handelsmacht hoch favorisierte und in berühmten Sammelwerken verlegte realistische Vedute, blieb vom Zauber des Rheins nicht unberührt. In Koblenz kann man sich in die atmosphärischen, ins traumhaft Zeitferne entrückten Blauräume der dennoch glasklaren und präzise dokumentierenden aquarellierten Federzeichnungen von Wenzel Hollar entführen lassen: von Boppard etwa, Ehrenbreitstein, dem Mäuseturm bei Bingen.
Der Prager Künstler begleitete damals, 1636, den englischen Gesandten Arundel von Köln aus als Zeichner auf seiner Reise nach Wien. Selbst Böllerschüsse vom Festungsturm Engers zur Begrüßung des Schiffs-Konvois scheinen in verklärter Stille am menschenleeren Rheinufer zu verpuffen.
Noch sanfter schmiegen sich Berge und Burgen in den braun-, grau- und blautonig lavierten Federzeichnungen von Lambert Droomer (1662) mit ihren rhythmisierten Schattenpartien in den Lichtraum seiner schon nicht mehr topographisch genauen kleinen Ideallandschaften mit reglosen Staffagefigürchen.
Dem bürgerlichen Kunstgeschmack des 17. Jahrhunderts in den Niederlanden kamen dann besonders Herman Saftlevens phantastische, seit 1640/50 entstandene Ideal-Landschaften entgegen.
Wie außerordentlich beliebt und populär der auch von dem Barockdichter Joost van den Vondel besungene Rhein als Kunstmotiv schon damals war, beweisen in Koblenz zwei sehr kleine Rheinlandschaften von Saftleven. Sie hingen in der „Kunstkammer“ eines holländischen Puppenhauses (um 1674/79), das sich heute im Centraal Museum Utrecht befindet.
Daß selbst die Wirklichkeit phantastische Züge annehmen kann, verrät ein Kupferstich von Hendrik de Leth aus dem topographischen Werk „Gezichten längs den Rhijn ... von F.W. Grebe, Amsterdam, 1767“. Wie ein riesiger Lindwurm schlängelt sich auf dem Blatt ein Floß durch den Fluß. In einem Rheinreisebericht von 1789 wird es als „schwimmende Holz Insel“ von 1000 Fuß Länge, 90 Fuß Breite, mit zehn bis 13 geräumigen Hütten darauf beschrieben, die von 400 bis 500 Ruderknechten und Arbeitern bewohnt wurden.
Wie extrem ist aber der Gegensatz zwischen den sublimen Zeichnungen von Vincent Laurensz van der Vinne und seinem haarsträubenden Bericht über die Beschwerlichkeit und Gefährlichkeit der auch ständig von Raubrittern und plündernden Soldaten bedrohten Rheinreise in damaliger Zeit! Das wurde im 19. Jahrhundert anders durch die Entwicklung der Dampfschiffahrt, später der Eisenbahn. Als 1816 der erste Dampfer „Prinz von Oranien“ von London nach Köln fuhr, dauerte die Reise von Rotterdam nach Köln nur noch knapp vier Tage. Und als 1827 die Preußisch-Rheinische Dampfschiffahrts-Gesellschaft den ersten regelmäßigen Personenverkehr zwischen Köln und Mainz startete, wurden schon im ersten Jahr über 18 000 Passagiere befördert. Ihre Zahl hatte sich zwei Jahre später verdoppelt. Fast die Hälfte davon – 16 000 Touristen – kam aus England. Die Reiselust der Bürger drängte die einstige Grand Tour der Gebildeten in den Hintergrund. Der Massentourismus hatte begonnen.
Schauer, Schönheit, Erhabenheit von Natur, Historie, Sage, Traum, fast mystischer Übersteigerung. Ruinenromantik werden von den nach dem Ende der napoleonischen Kriege den Rhein bereisenden englischen Künstlern in wahren Bildwundern reflektiert: als Meister über allen William Turner.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 19. September 1992.
Als Anatol den Beuys heimfahren wollte (1992)
„Mit Haut und Haaren“ aus der Düsseldorfer Szene 1967 – 75 in der Kunsthalle
Ein Auftrieb, ein Menschengewimmel; fast wie einst war das. Viele waren gekommen und freuten sich ganz offensichtlich über ein Wiedersehen mit vielen bei der Eröffnung der Ausstellungen zum 25jährigen Jubiläum der Kunsthalle: der kleinen, aber inhaltsreichen, von Helga Meister engagiert als Rückblick auf die Szene der „Gründerjahre“ 1967 –1975 zusammengestellten Schau „Mit Haut und Haaren“ und der großen Präsentation „Avantgarde & Kampagne“, in der Arbeiten von 40 Künstlern mit Werbung konfrontiert werden.
Trotz der Fülle war aber doch unterschwellig ein wenig Resignation und Enttäuschung zu spüren. Alles ist in diesen beiden ja eigentlich städtischen Ausstellungen Sponsoren zu verdanken. Schon in der Pressekonferenz hatte Jürgen Harten – real und auch im übertragenen Sinn – von der Brüchigkeit und dem dringend notwendigen Umbau des „Kunstbunkers“ gesprochen. Die 25jährige Kontinuität der Vielfalt – sei jetzt einer Verunsicherung gewichen. „Der international stärker gewordenen Kunst sind wir mit dem kleinen Haus, den geringen Mitteln nicht mehr gewachsen.“
„Glücklich verheiratet“
Karl Ruhrberg, der erste Direktor der Kunsthalle, mit der er „sieben glückliche Jahre (einschließlich der Verlobungszeit) verheiratet“ war, hält sie noch immer „für einen unentbehrlichen Fixpunkt auch international“. Was waren das doch noch für Zeiten in den Endsechzigern, als es vielfach keine Kunst war, Kunst zu machen, weil man eigentlich die Anti-Kunst wollte, und als im Beuys’schen Sinne „jeder ein Künstler war“.
Ideen aber gab’s zuhauf. Die Kunstwerke selbst waren arm, bescheiden: arte povera. Sie verbargen dahinter doch oft ihre politische Brisanz im Wirtschaftswunderland. „Mit Haut und Haaren“ brachte man sich selbst ein. Alles wurde zum Happening. Vielleicht gibt gerade die dichte Enge des Ausstellungsraums den vielen Relikten jener Zeit wieder mehr Präsenz. Vieles haben damals ja immer nur wenige miterlebt. Selbst Insider werden nun so manches entdecken, das sie noch nie sahen.
Katharina Sieverdings 1969 mit dem Photomaton gemachte riesige frontale Selbstporträts reißen suggestiv Zonen zwischen Bewusstem und Unbewusstem auf. In den beiden bemalten Gipsbüsten im Kasten von ihr selbst und Imi Knoebel erscheinen Beziehungen: zugleich maskenhaft erstarrt zu sein und sich doch in der Suche nach Identität zu finden.
Sich selbst mit der Photographin Monika Baumgartl stellte auch Klaus Rinke in der Aktion „masculin-feminin“ auf der Tokio-Biennale 1970 aus als Personifikation eines Grundprinzips allen Lebens. Ausgeburten von Angstträumen gleichen oft Günter Weselers Atemobjekte aus Fell, wenn sie in Käfige eingesperrt sind, die ihren Lebens- und Atemraum beengen oder sie vielleicht auch schützen.
Sind es festgenagelte Ängste, die Günther Uecker zeigt, wenn er sich unter eine mit Nägeln gespickte Schreibmaschine stellt? Der einst aus der DDR übergewechselte Künstler stellt auch seine „Kleine Revolution 1948 – 1948“ vor: einen Käfig, in dem Hammer, Sichel und roter Stern maschinell angetrieben rotieren.
An einem mit Illustrierten bedeckten weißen Stuhl Ferdinand Kriwets „Walk-Talk“-Läufer und „Sehtexte“ verwirren als neuartige Seh-Schule, und Marcel Broodthaers, der in seinen fiktiven „Museen“ Kunst und Kultur in Frage stellt, schnitt aus einem Hundertmarkschein den Adler aus, um ihn als Symbol des Geistes über den Mammon triumphieren zu lassen.
Handfester, greifbarer sind Anatols „Arbeitszeiten“, in denen er beispielsweise den Einbaum machte, mit dem er 1972 seinen von der Akademie vertriebenen Lehrer Joseph Beuys über den Rhein wieder dorthin zurückbringen wollte.
Die rote Rose im Wasserglas war das Wahrzeichen von Beuys, als er 1972 auf der „documenta“ in Kassel über „direkte Demokratie“ debattierte und die „1 a gebratene Fischgräte“, das „Freitagsobjekt“, das der „Magier“ jener Zeit 1970 in der legendären Eat-Art-Galerie von Daniel Spoerri am Burgplatz ablieferte, mögen hier knapp den Radius seiner Arbeit vor und nach der Gründung seiner „Deutschen Studentenpartei“ abstecken.
Der „Lidl-Klotz“, mit dem sein Schüler Jörg Immendorff im Januar 1968 vor dem Bundestagsgebäude demonstrierte als Inbegriff für die Proteste und Feste vor und in der Kunstakademie; Klaus Staecks bissige aggressive Plakat-„Anschläge“, Hans Peter Alvermanns süffisante Polit-„Schweinchen“ gehören zu den Scharfmachern der Schau.
Scheren in den Wolken
Doch welch magrittescher Witz in Robin Pages „Skyssors“: einer Schere, die in Vogelfedern endet und die Wölkchen im blauen Himmel eher streichelt als zerschneidet. Welch kindlich-raffinierter, erotischer Charme in den Bildern von Dorothy Iannone, die in „siebenjähriger Umarmung“ mit dem Schokolade-Künstler Dieter Roth verbunden war.
Eine Rarität Fritz Schweglers „Ratat“-Koffer. Herrlich dieser „Pinselstrich“ aus Kuchenteig und Zuckerguß, ein Eat-Art-Objekt, in dem sich Roy Lichtenstein selbst über sein weltberühmtes Bild lustig macht. Und nicht zu vergessen Robert Filliou, der früh Gestorbene „Entertainer von Gedanken, der Fluxus-Künstler, Träumer und weiser Spieler und unerschöpfliche Poet“!
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 22. September 1992.
Über Europas Grenzen schwingende Bögen (1992)
Zu den Ausstellungen Henry van de Velde in Hagen und „1910 – Halbzeit der Moderne“ in Münster
Es gibt Ausstellungen, die Einsichten in Zeitläufe vermitteln, Vergangenheit aufwirbeln, Zusammenhänge aufdecken. Das ist besonders eindringlich der Fall in der Schau „Henry van de Velde – Ein europäischer Künstler in seiner Zeit“ im Karl-Ernst-Osthaus-Museum Hagen.
Mit der seit Jahren von Klaus-Jürgen Sembach und Birgit Schulte vorbereiteten Ausstellung wurde das Osthaus-Museum nach längerer Pause wiedereröffnet: nun mit seiner, soweit es möglich war, rekonstruierten, 1902 von Henry van de Velde geschaffenen Jugendstil-Innenausstattung. Vieles davon war zerstört worden, als nach Osthaus’ Tod (1921) dieses von ihm gestiftete private Hagener Museum Folkwang, das damals weltweit erste Museum für zeitgenössische Kunst, mit seiner berühmten Sammlung von den Erben 1922 nach Essen verkauft wurde. Das Hagener Gebäude war danach zu einem Bürohaus für das Kommunale Elektrizitätswerk umgebaut worden, bis man es von 1930 an wieder museal nutzte.
Im Anschluß an Hagen, wo auch der von van de Velde zwischen 1906 und 1908 gebaute und eingerichtete „Hohenhof“, das Wohnhaus Karl Ernst Osthaus’, besichtigt werden kann, wandert die bedeutende Ausstellung in weitere mit dem Wirken van de Veldes verbundene Städte: nach Weimar, Berlin, Gent, Zürich und Nürnberg. In Hagen wird das immense vielgleisige Lebenswerk des Malers, Zeichners, Typographen, Architekten und Gestalters ganzer Inneneinrichtungen, des Entwerfers von Möbeln, Tafelsilber, Schmuck, Keramik, Porzellan und Textilien gezeigt – den frei über die europäischen Grenzen schwingenden Bögen und Stationen seines bewegten Lebenslaufs folgend.
Parallel präsentiert das Westfälische Landesmuseum Münster die Schau „1910 – Halbzeit der Moderne. Van de Velde, Behrens, Hoffmann und die anderen“, mit vielen Architekturzeichnungen, -photos und -modellen, einer Flut von Plakaten, Werbegraphik, Design und kunstgewerblichen Objekten.
Die beiden Katalogbücher tragen dazu bei, die Faszination und die Einsicht in diese folgenreiche Übergangszeit zu vertiefen. Der Hagener Katalog erschien im Wienand-Verlag (466 Seiten, zahlreiche, meist farbige Abbildungen, Preis im Buchhandel gebunden 98 Mark), die Münsteraner Publikation (240 Seiten, über 300 teilweise farbige Abbildungen, 38 Mark) bei Hatje.
Frisiersalon und Textilmuster
Die etwa 1000 Werke aus allen Schaffensbereichen des 1863 in Antwerpen als zweitjüngstes von acht Kindern eines Apothekers und Chemikers geborenen, 1957 in Zürich gestorbenen belgischen Künstlers Henry van de Velde sind in Hagen, ganz im Sinn auch von Osthaus, locker zueinander geordnet. Das aufregendste ist die Vitalität, die leidenschaftliche Expressivität, ja Dämonie, die unglaubliche Schönheit und Reinheit der Linie, die in van de Veldes Schöpfungen immer wieder begeisteren, sei es in einem Eßzimmerstuhl aus Haus Bloemenwerf (1895/96), seinem ersten selbstentworfenen eigenen Wohnhaus in Uccle bei Brüssel, in dem fast magischen, von inneren Energien getriebenen Schwung eines silbernen Kandelabers von 1898/99 aus dem Bröhan-Museum Berlin oder in der Ornamentik seines berühmten „Tropon“-Plakats aus „Pan“ von 1891.
Schon in seinen frühen, in Antwerpen, Paris und Brüssel zwischen 1880 und 1893 entstandenen, von Seurat, Gauguin und van Gogh beeinflußten Bildern und Zeichnungen wird die Bedeutung der Linie offenbar. Van de Veldes Leidenschaft für die Linie wirkt fort, als er 1893, nach dem symbolistischen Bild „Engelwache“, die Malerei aufgibt und sich, tief beeindruckt durch die Schriften von John Ruskin und William Morris und ihre Arts- and Crafts-Bewegung, ganz der angewandten Kunst und der Architektur zuwendet, um stärker und direkter durch Kunst in die Gesellschaft zu wirken.
In Weimar gründete und errichtete van de Velde 1907 das Institut für Kunstgewerbe und Kunstindustrie als Vorläufer des Weimarer Bauhauses und baute das jüngst restaurierte Nietzsche-Archiv. Man sieht aus diesen Jahren zum Beispiel ein Kompartiment aus dem luxuriösen Frisiersalon Hardy in Berlin (1901), Textilmuster-Entwürfe für Krefeld, die Weimarer Wohnungseinrichtung Graf Kesslers (1902), Photographien seiner Weimarer Bauten, auch die in ihrer Sparsamkeit bezaubernden, nicht ausgeführten Entwürfe für den Umbau des Weimarer Museums. Dazu hinreißend profilierte Silberschalen, -tabletts, -terrinen, weich fließende Reformkleider.
In der Weimarer Zeit (1902 – 1917) entstanden auch seine ersten Theaterentwürfe (1903) für die Schauspielerin Louise Dumont, die, bevor sie nach Düsseldorf ging, in Weimar ein „Mustertheater“, ein Festspielhaus wie in Bayreuth, errichten wollte. Sie fielen, wie auch seine Pläne für das Pariser Théâtre des Champs Elysées (1911), Intrigen zum Opfer. Allein sein in der horizontalen Gliederung fein rhythmisierter Theaterbau der Werkbundausstellung von 1914 in Köln wurde realisiert.
In zweckmäßiger Strenge
Auch die Jahre nach van de Veldes kriegsbedingter Emigration in die Schweiz (1917) sind vor allem durch architektonische Projekte ausgefüllt. Zunächst seine Planungen für das Museum Kröller-Müller in Holland, das infolge der Inflation erst 1936 in sehr reduzierter Form gebaut werden konnte. In der Zeit seiner Berufung als Professor für Architektur nach Gent und Leiter der Hochschule für Angewandte Kunst in Brüssel (1925/26) fallen unter anderem der Bau der Universitätsbibliothek Gent sowie die belgischen Pavillons auf der Weltausstellung in Paris (1937) und New York (1939), die nun allerdings in zweckmäßiger Strenge der Zeit ihren Tribut zollen.
Sein letztes Lebensjahrzehnt hat van de Velde, längst weltberühmt und bis zuletzt an seinen Memoiren schreibend, „in einer weniger verpesteten Atmosphäre“ auf dem Land in der Schweiz verbracht.
In: Rheinische Post. Feuilleton, 24. September 1992.
Die geometrischen Strukturen wachsen wie Organismen (1992)
Frantisek Kyncl stellt für das Kunstmuseum eine große plastisch-malerische Rauminstallation im Kunstpalast am Ehrenhof aus
Wie Kunst einen Raum verwandeln kann, wenn sie für ihn gemacht oder auf ihn bezogen ist, kann man jetzt in Halle 5 des Kunstpalasts am Ehrenhof wahrnehmen. Dort zeigt Frantisek Kyncl (geboren 1934 in Pardubice, Tschechoslowakei), der schon nach dem „Prager Frühling“ 1968 nach Düsseldorf kam, seine bisher schönste Ausstellung in dieser Stadt. Sie wird vom Kunstmuseum veranstaltet, betreut von Stephan von Wiese, und geht anschließend – in einer ersten Museumskooperation – ins Haus der Kunst der Stadt Brünn. Auch der von Winfried J. Jokisch gestaltete Katalog ist zweisprachig.
Die ganze Schau ist eine einzige, vielteilige und erstaunlicherweise erste große Rauminstallation Kyncls, der in Düsseldorf nach Ausstellungen auf der IKI (1972), in Galerien, in der Kunsthalle (1977) und im Kunstverein (1982) kein Unbekannter ist. Kyncl, zugleich Plastiker und Maler, behauptet allerdings, daß er keins von beiden sei. Technik, Material sind für ihn nicht ausschlaggebend. Wesentlich ist für ihn eine Struktur von Dreieck und Tetraeder, von der er geradezu besessen ist und die schon seit 1966 die alleinige Substanz seines Schaffens darstellt.
Sie wurde zur Keimzelle, aus der jedes seiner Werke wächst. Wohlgemerkt: nicht als rationale, serielle Konstruktion nach Plan, sondern – und das ist das Besondere an Kyncl – sie entsteht in geduldiger, geradezu liebevoller Handarbeit wie Organismen. Deshalb sind Kyncls Arbeiten, seien sie nun zwei- oder dreidimensional, niemals starr. Sie dehnen sich aus in der Fläche, wenn nötig weiter und weiter, sie wachsen in den Raum und lassen den Raum in sich hinein. „Ich weiß nicht, was herauskommt, ich fange einfach an“, sagt Kyncl. „Das wächst weiter wie in einem Kindertraum, ins Unendliche.“
Sind das wirklich Konzepte oder nicht eher Prozesse, die sich in diesen Arbeiten manifestieren? Geht man um die transparenten Objekte herum, so bewegt und verändert sich auch das Liniendickicht in ihrem Innern. „Das ist wie Gras“, meint Kyncl. Von effektvoller Kinetik hält er nichts.
In der Mitte des großen, nüchternen Raumes sind die aus filigranen Strukturen entwickelten plastischen Objekte teils an vom Boden zur Decke gespannten, sich fast unmerklich bewegenden Gummiseilen aufgehängt, teils stehen und liegen sie auf dem Boden: Kuben, rechteckige Elemente, Stelen, unregelmäßige Gebilde. Alle sind sie eigenhändig aus Bambusstäbchen gebaut. An den Treffpunkten der ineinandergreifenden Module wurden die Stäbchen mit Pattex oder Zwei-Komponentenkleber fixiert und diese Knotenpunkte dann leicht mit Ölfarbe übermalt. Das ergibt ein lyrisches punktuelles Farbspiel in den grazilen linearen Verzweigungen der entweder naturbelassenen oder schwarz, zuweilen weiß gestrichenen Stäbchen.
Manche dieser plastischen Elemente werden öfters wieder verändert, wie ein schwarzer Würfel, den Kyncl 1972 begann und bei dem er nun das Innere herausgerissen hat. Das Ganze wirkt schwebend leicht, verleiht dem kahlen Raum einen Anflug von Charme.
Die gleichen leichten Unregelmäßigkeiten handwerklicher Arbeit wie in den Objekten nehmen auch den malerischen Arbeiten die Trockenheit von Rastern. Es sind Prägedrucke, bei denen Stäbchen in das feuchte, dicke Papier gedrückt wurden. Über einem mit der Rolle eingefärbtem Grund sind die gereihten Linienstege der ineinandergreifenden Tetraeder wieder von anders getönten Pinselzügen begleitet. Das Wechselspiel der Farben mit den Linienstrukturen ist reizvoll, hat vielerlei Nuancen. Und die Kreuzungspunkte der Linien werden auch malerisch betont.
Wie gewachsen schaut das aus, und es macht Freude, mit den Augen darin spazieren zu gehen. Bestimmend sind aber auch Monochromien von Bildergruppen, die wechselweise den Ton angeben und somit Akzente im Raum setzen: ultramarinblaue oder rote, schwarze (mit rosa Grund), purpurne, grüne. Besonders vielseitig ist das Gespräch der Farbtöne untereinander und mit den Strukturen in den reinen Zeichnungen.
Rhythmus und Klang steuert als Hintergrund auch eine von Kyncl selbst zusammengestellte Musik bei. Er hat darin Radiomusik auf Band aufgenommen, die er in Intervallen immer wieder abschaltete und so ebenfalls strukturierte. Die schöne Ausstellung, die mit Fremdmitteln finanziert wurde (darunter vom Institut für Auslandsbeziehungen), ist die erste, die das Kunstmuseum in diesem Jahr im Kunstpalast veranstaltet, da dafür kein Etat zur Verfügung stand. Eine gelungene Sache.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 7. Oktober 1992.
Sonnenblumen flattern (1992)
Maler Adolf de Haer, ausgestellt in Kaiserswerth
Heute vor 100 Jahren wurde der Düsseldorfer Maler Adolf de Haer (1892 –1944), einer der bedeutendsten Vertreter des rheinischen Kubo-Expressionismus, geboren. Mit einer verdienstvollen Ausstellung ehrt das 1991 eröffnete „Museum Kaiserswerth“ im Schulgebäude Fliednerstraße 32 den Künstler, der seit 1936 in Kaiserswerth wohnte und arbeitete.
Dort wird auch der Nachlaß von seiner Nichte, Melitta Ficher, betreut, den die Galerie Remmert und Barth erst vor knapp einem Jahrzehnt der Verborgenheit entriß. Ihre 1985 gezeigte Ausstellung mit frühen Arbeiten de Haers war eine kleine Sensation. Die jetzige Schau wird auf Initiative des Heimat- und Bürgervereins veranstaltet. Dessen Vorsitzender Wilhelm Mayer ist zugleich Leiter des privaten Museums Kaiserswerth, das er mit großem Engagement begründete. Er wurde unlängst dafür von der Hans-Maes-Stiftung ausgezeichnet.
Der gebürtige Düsseldorfer Adolf de Haer war schon in jungen Jahren fest entschlossen, Maler zu werden. Sein Rüstzeug erwarb er als Stipendiat an der hiesigen Kunstgewerbeschule (bis 1914), bevor er zum Kriegsdienst eingezogen wurde. Im Sommer 1917 konnte er einige Monate bei Adolf Hölzel in Stuttgart studieren, um sich bei ihm mit Grundgesetzen von Farbe und Form vertraut zu machen.
1919 gehörte de Haer in Düsseldorf zu den Gründungsmitgliedern des „Jungen Rheinland“ und zum Kreis der Johanna Ey. Er engagierte sich auch im „Aktivistenbund“. Schon 1919 stellte er im „Graphischen Kabinett“ von Dr. Hans Koch aus. Die Städtischen Sammlungen kauften im gleichen Jahr sein Bild „Menschen“ an, einige Jahre später unter anderem auch sein „Damenbildnis“ und ein Porträt seines Malerfreundes Werner Gilles. Gleichzeitig mit seiner Ausstellung im „Ey“ 1921 war er mit Abbildungen im ersten Heft der Zeitschrift „Das junge Rheinland“.
Obwohl de Haer schon Mitte der zwanziger Jahre die kubistisch-expressionistische Abstraktion aufgegeben hatte, gehörte er in der Nazizeit zu den Verfemten. Auch aus dem Düsseldorfer Kunstmuseum wurden Bilder von ihm entfernt. Seine große Zeit – und das wird besonders in dieser Kaiserswerther Ausstellung deutlich, in der auch Arbeiten der dreißiger und vierziger Jahre zu sehen sind – war eindeutig die zwischen 1919 und 1921.
Das Ensemble der drei großen Bilder „Maler und Mädchen“ (1919), „Mädchen mit Blume“ (1919) und „Zwei Sonnenblumen“ (1924) zeigt ihn auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Die straffe kubistische Komposition der beiden figürlichen Gemälde ist doch voller emotionaler Spannkraft. Fast dramatische innere Erregung deutet die grün-gelbe, von Licht durchflutete Hautfarbe des Manns und der beiden Mädchen an. Traumhafte Versunkenheit spricht aus den Farben – blauem Haar, gelbem Kleid, gelber Blüte – des „Mädchens mit der Blume“ vor abstraktem Farbengrund. Von kubistischen Zwängen befreit, flattern dagegen die drei Jahre später entstandenen Sonnenblumenblätter im Bild.
Eine Übergangssituation zwischen Expressionismus und Impressionismus markiert das große Porträt „Cellist Flieger“ (1925). Das „Stilleben mit Tisch und Stuhl“ von 1929 bewahrt die spontane Frische des impulsiven Pinselstrichs und der Farben, ebenso manche impressionistisch wirkenden Blumenstilleben von 1928/29. Charaktervoll, realistisch auch ein Bildnis wie „Frau Heinen (mit Vogelbauer)“ (1928). Schlicht und gesammelt selbst noch das „Selbstbildnis mit Buch“ von 1935 und das Porträt des Bildhauers Fritz Peretti. Doch was dann später kommt an Blumenstilleben und weiblichen Akten, macht verständlich, warum Adolf de Haer in der Versenkung verschwand. Der Schock der Verfemung von 1937 war offenbar zu stark.
Großartig sind aber auch die frühen kubistisch-expressiven Holzschnitte wie etwa das farbig aquarellierte „Mädchen“ von 1919 in seinem herben Lyrismus, das der „Brücke“-Kunst nahe steht, oder „Im Atelier“ von 1920 und „Erhebung“ (1921). Nicht zu vergessen Radierungen und Lithographien, wie „Porträt am Fenster“ (1923) und „Gasse“ (1920) aus dem „Buch Eins des Aktivistenbundes 1919“. Im ganzen sind 70 Arbeiten zu sehen.
Adolf de Haer ist 1944, nachdem er zum Volkssturm eingezogen worden war, in einem Lazarett in Osnabrück an Lungenentzündung gestorben.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 29. Oktober 1992.
Worte, die im Raume schweben
Ausstellung der Arbeiten von Robert Barry in der Galerie Bugdahn und Kaimer
Der 1936 in New York geborene, in Teaneck/New Jersey lebende Amerikaner Robert Barry gehört zu den ersten Konzeptkünstlern und zur gleichen Generation wie Sol Lewitt oder Kossuth. Das Verzeichnis seiner internationalen Einzelausstellungen seit 1964 ist beachtlich. Die renommiertesten Galerien und Museen haben sich für ihn interessiert. Viermal war Robert Barry auf der Kasseler „documenta“ vertreten.
Jetzt hat er in der Düsseldorfer Galerie Bugdahn und Kaimer (Mühlenstraße 3) ein eigens auf diese Räume abgestimmtes neues „Wallpiece“ gemacht: ein Wandstück also. Doch diese Übersetzung kommt der Sache nur ungefähr nahe, denn was Barry dort in gelber Latexfarbe mittels Schablonen auf die Wand und die Decke gemalt hat, ist ebenso raum- wie flächenbezogen.
Es sind einzelne Worte, die da im Raum zu schweben scheinen. Nicht etwa brav in Zeilen oder Kolumnen, sondern horizontal, vertikal und schräg in allen Himmelsrichtungen locker über die Wände verteilt, die sie übergreifend zu verbinden scheinen. Ja selbst der obere und der untere Raum, die Treppe werden sozusagen zusammengeschlossen. Man hat den Eindruck von ins Räumliche ausgeweiteter „visueller Poesie“: jener Anordnung von Worten und Sätzen in Büchern, die das Zeilenschema durchbricht.
Robert Barry wehrt ab: „Ich bin Visualist, nicht Poet.“ Dennoch gibt er zu, daß die Bedeutung der Worte wichtig ist. Nicht im anekdotischen Sinn, sondern als „reine Worte, reine Konzepte“. Jedes Wort habe seine eigene Geschichte und solle nicht in Relation zu den anderen stehen. Und wirklich: jedes suggeriert ein Gefühl, eine innere Bewegung, einen Gedanken, einen Bewußtseins- oder Gemütszustand. Jedes läßt aber auch etwas offen, das der Betrachter vervollständigen muß.
Fixiert und freigesetzt
Nur einige seien genannt: Somehow / Remember / Could be / Try / Each one / Look / Listen / Changing / Almost / Please / Beyond / Given / Ourselves / Another / Wait / Together / Doubt / Chance / Alone / Coming / Later / Only one / Loved / Please / could be … (irgendwie, erinnere, es könnte sein, versuche, jeder, sieh, lausche, wechselnd, nahezu, bitte, jenseits, gegeben, wir selbst, ein anderer, warte, zusammen, Zweifel, Chance, allein, Kommend, später, nur einer, geliebt, bitte, kann sein ...
Mit den Worten scheinen alle diese Gefühle und Bedeutungen im Raum zu stehen. Sie werden durch das geschriebene Wort gleichzeitig angeregt, fixiert und freigesetzt in der Phantasie des Betrachters. Wie viele Gedanken und Empfindungen bewegen und durchdringen einander doch in einem Raum, in dem sich ein Mensch aufhält.
Robert Barry setzt in seinen „Wallpieces“, die er schon seit dem Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre macht, einen Kontrapunkt zur Architektur, zum rein Konstruktiven. Er öffnet darin einen spirituellen, immer anders gestimmten Raum, auch in der Farbe, und dabei läßt er sich immer von der gegebenen Situation anregen. Hier wollte er, auch in dem lichten Gelb, etwas Freudiges, Helles machen.
Freilich sind seine „Wallpieces“, sofern sie nicht von Museen oder privaten Sammlern angekauft werden, temporäre Erscheinungen, ähnlich wie Performances. Auch das Raumkonzept in der Galerie Bugdahn wird nach Ende der Ausstellung zerstört. „Für mich sind die Wände wie verschiedene Seiten eines Buches. Jede ist anders“, meint der Künstler.
Barry macht auch Projektionen von Worten, Lichtworten, im dunklen Raum, die kommen und gehen wie das Licht in der Zeit. Oder er projiziert Dias, etwa einen einzelnen blauen Kreis oder einen roten Punkt, auch einzelne Porträts. Für Rudi Fuchs in Eindhoven und für die „documenta“ 1982 erfand er „Soundpieces“ (Klangstücke). Begonnen hat er als Maler, gab aber Mitte der Sechziger die Malerei 20 Jahre lang auf. Robert Barry ist auch Photograph. Am liebsten porträtiert er seine Freunde und Galeristen.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 21. Oktober 1992.
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*Die Texte ins Internet zu stellen, wurde freundlicherweise durch die Verlagsleitung der Rheinischen Post in Düsseldorf genehmigt. Das Copyright liegt weiterhin bei der RP.
Yvonne Friedrichs Kunstkritik: 1993 *
Als dänische Künstler in Düsseldorf studierten (1993)
„Malerei auf Bornholm“ im Stadtmuseum
Unter dem Patronat von Prinzessin Benedikte von Dänemark, einer Schwester der dänischen Königin, steht die Ausstellung im Stadtmuseum „Malerei auf Bornholm“. In ihr wird erstmals die vom besonderen Licht, von der reizvollen Landschaft und ihren Menschen angeregte moderne Malerei dieser Insel außerhalb von Dänemark gezeigt. Anlaß ist der 100. Geburtstag des Bornholmer Stadtmuseums, das aus diesem Grund einen Neubau bekommt und deshalb zur Zeit geschlossen ist. So konnten 40 Bilder aus der Zeit zwischen 1840 und 1950 nach Düsseldorf reisen.
Welche Überraschung! Es sind auch Werke von zwei dänischen Malern darunter - A.E. Kieldrup (1827-1869) und Viggo Feuerholdt (1832-1883) -, die im 19. Jahrhundert an der Düsseldorfer Kunstakademie studierten.
Museumsdirektor Wieland König nahm dies zum Anlaß, ein Forschungsprojekt über den Einfluß der Düsseldorfer Malerschule des 19. Jahrhunderts in Dänemark in Gang zu setzen. Ebenso will man versuchen, die Sammlung moderner und „entarteter“ Kunst des vor den Nazis nach Bornholm mit seinen Bildern emigrierten Hannoveraner Kunsthändlers Herbert von Carvens wieder in einer Ausstellung zusammenzubringen.
Es ist zu hoffen, daß im Gegenzug auch Düsseldorf in dem Bornholmer Museumsneubau eine Ausstellung mit in dieser Stadt entstandenen Bildern zeigen kann. Das Inselmuseum hat nicht nur eine beachtliche Sammlung unter anderem von prähistorisch-geologischen, naturhistorischen, keramischen, ethnographischen Objekten aufgebaut, sondern auch eine große Kollektion von Gemälden, Skulpturen, Graphiken, Kunsthandwerk, die alle auf Bornholm entstanden oder mit der Insel eng verbunden sind. Obwohl immer vom europäischen Kontinent, seinen Schulen und Stilen beeinflußt, bewahrten sie, besonders in der Moderne, viel Individuelles.
Die Bornholmer Inspiration
Schon im 19. Jahrhundert suchten immer wieder Künstler die abgeschiedene Insel Bornholm auf. Hat doch ihre Ostküste, ähnlich wie Skagen, das intensivste Licht in ganz Dänemark. Immer wieder bildeten sich Künstler-Kolonien. Die dänische Kunstgeschichte verzeichnet sogar seit 1911 eine „Bornholmer Schule“ oder „Bornholmer Inspiration“. Die frühen in der Ausstellung vertretenen Gemälde stehen freilich noch ganz unter dem Einfluß des europäischen Klassizismus und der deutschen Romantik. Amüsant ist das 1843 entstandene Gemälde „Die Malerschule in Göteborg“ des in Bornholm geborenen Lars Hansen. Ausschließlich junge Mädchen (!) zeichnen hier nach Gipsmodellen, darunter Thorvaldsens „Leier spielendem Amor“, auf den sich die ganze Aufmerksamkeit der jungen Kunststudentinnen konzentriert.
Der Bornholmer Landschaft wendet sich A.E. Kieldrup in seiner 1849 gemalten romantisch-idealistischen Ansicht von „Hammershus“, einer der größten mittelalterlichen Burgruinen Dänemarks auf Bornholm, zu. Vor dem Motiv hat er nur die Skizze gemacht und dann, getreu den Richtlinien der Düsseldorfer Malerschule im Atelier das Bild aus Einzelbeobachtungen in der Phantasie komponiert: Schon in erstaunlich lichten Plein-air-Farben. Auch Viggo Fauerholdt fängt das besondere Licht Bornholms in seiner Klippenlandschaft bei Gudjem an der Bornholmer Ostküste ein (1857).
Bahnbrecher der Moderne
Winzig ist die Rückenfigur des Hirten in Georg Emil Liebens grandiosen, dramatischen „Randkloven“ (Randklippen) einer gewaltigen Felsschlucht auf Bornholm. Der gebürtige Bornholmer Kristian Zahrtmann (1843-1917) wurde dann, zusammen mit anderen Kollegen in Kopenhagen, zum an Paris orientierten Bahnbrecher der Moderne und Überwinder des Akademismus. In seiner Nachfolge hielt auch auf Bornholm, wo 1911 bis weit in die 20er Jahre hinein auf Christansö eine Künstlergruppe bestand, die Moderne Einzug. Cézanne und der Kubismus formten nun auf eigenwillige Weise den Stil ihrer Landschafts- und Figurenbilder, ihrer Porträts. Sie sind die eigentliche Überraschung dieser Ausstellung.
Gestisch und formstreng zugleich ist das Porträt von Bertha Brandstrup (1914) des mit Dänemark eng verbundenen Schweden Karl Isakson, während er in einem Stilleben (1916-1918) oder einer „Ansicht von Gudhjen“ (1921) und dem „Friedhof von Christansö“ (1921) mit der zarten, schwebend leichten Lichttransparenz von Farbflächen mit kubistischem Einschlag spielt. Ein temperamentvoller, oft ekstatischer Pinselstrich zeichnet Edvard Weies „Selbstporträt“ (1910/15), seinen „Waldweg Christansö, Morgen“ aus oder seinen „Entwurf für eine romantische Phantasie“ (um 1921). Zahrtmannschüler wie Weie war auch Olaf Rude, der ständige Sommergast auf Bornholm. Streng in farbige kubistische Flächen geschichtet ist seine „Schwarze und weiße Frau“ von 1918. Farbflächen schaffen Farbräume in seinen späteren abstrahierten, doch stimmungsreichen Landschaften („Frühlingsmorgen, Allinge“. 1941).
Weitere in großen vereinfachenden Farbflächen und Schichten aufgebaute Gemälde sind auch Niels Lergaards herbe Porträts und Landschaften, die schlichten Bilder von Claus Johansen und die fast informellen, das Gegenständliche nur als Vorwand für Farb- und Lichtschimmer nehmenden Malereien von Oluf Möst.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 3. März 1993.
Wie Wölkchen im Wind (1993)
Doppelausstellung Poncar/ Minnich im Kunstverein
Für seine erste Ausstellung als neuer Direktor des Kunstvereins für die Rheinlande und Westfalen hat Raimund Stecker das Oberlicht seiner Räume in der Kunsthalle mit weißer Gaze abgeschirmt. In solch gefilterter, wie schwebender Atmosphäre kann die gelungene Doppelschau mit Bildern von Bernd Minnich und Photographien von Jaroslav Poncar ihre Reize ganz entfalten.
Bei beiden Künstlern geht es gleichermaßen um Weite, um Raum, um das Abgehobene, um eine Dimension, in der das Reale, Faßbare zu entgleisen scheint, fast aufgesogen wird eben von diesem Raum, gegen den es sich gerade noch behauptet.
Die Einsamkeit des Menschen zwischen Erde und Himmel empfindet man besonders in den Panorama-Photographien des 1945 in Prag geborenen Jaroslav Poncar aus West- und Ost-Tibet, dem Karakorum, den Himalaya-Gebieten – Ladakh, Nepal – sowie Burma und Südjemen. Bernd Minnichs großformatige Gouachen auf Holz, Papier oder Schaumstoff (1990 – 1992) sind gegenüber solch erhabenem, schweidendem, fast reglos in sich ruhendem Ernst ein heiterer, bewegter Aufschwung, ein Sich-Lösen von irdischen Bindungen und materiellen Zwängen.
Es sind Bilder in lichten, zarten Farben – Rosa-, Gelb-, Orange-, Hellgrün-, Zartblau- und Grautönen, in die sich wie eine Ahnung Gold- und Silberabglanz mischt.
Minnichs wie in Sphärenräumen schwebende lyrische Klangfarben wirken als abstrakte, flüchtige Farb-Erscheinungen und -Bewegungen im weißen Raum, wie Ahnungen oder Erinnerungen. Frühlingshaft wirken sie wie Wölkchen oder Schleier im Wind, wie schöne Träume und Spuren von Glück.
Der gebürtige Hamburger Bernd Minnich (1941) ist nach seinem Studium der Kunstgeschichte, Archäologie und Geologie in Hamburg und dem Kunststudium an den Akademien in Braunschweig und Düsseldorf seit 1990 Professor für Freie Malerei an der Kunsthochschule Braunschweig. Er lebt in Düsseldorf.
Jaroslav Poncar ist seit 20 Jahren Professor für Photoingenieurwesen an der Kölner Fachhochschule. Bekannt wurde er nach zahlreichen Expeditionen durch seine Dokumentationen buddhistischer Wandmalereien im Tempel von Alchi (Ladakh), zusammen mit Professor Goeppner, dem ehemaligen Direktor des Museums für Ostasiatische Kunst in Köln. Auf Anregung von Josef Sudek hat er sich seit 1976 der Panorama-Photographie zugewandt und ist seitdem, allen Tücken seiner russischen Panorama-Kamera zum Trotz, immer tiefer in die Feinheiten dieses schwierigen Metiers eingedrungen. Mit seiner hinten mit einem Schlitz sowie mit einer Wasserwaage versehenen Panorama-Kamera kann man ohne Verzerrungen einen optischen Blickwinkel von 120° erfassen. Trotzdem müssen die von links bis rechts scharfen Aufnahmen noch im Labor den letzten Schliff bekommen.
Für die grandiosen, weiten Landschaften Tibets, des Himalaya oder etwa des Jemen ist die Panorama-Photographie das ideale Medium, Poncars Schwarzweiß- und Farbphotographien mit ihren einerseits subtilsten Binnenstrukturen, andererseits dem großartigen Pathos der Landschaft, ihrer matten, weichen Tonigkeit und gleichzeitig dramatischen Helldunkel-Kontrasten sind ein Erlebnis. So lassen die Aufnahmen des Lake Manasarovar, des dunklen, heiligen Sees in West-Tibet, erschauern, die Klarheit auch, die ungeheure Einsamkeit zwischen Himmel und Erde in der Bergwelt im Quellgebiet des Indus in West-Tibet oder der märchenhaft-illusionistische, zwischen Wasser und Land verspiegelt schwebende „Goldene Tempel von Amritsar“. Dann wieder das zwischen wandernden Wolken in dünner Luft über wogende Berggipfel huschende Licht einer Landschaft wie auf einem fernen Planeten einer Landschaft in Tibet oder die Majestät einer Lehmhochhäuserstadt im Südjemen.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 18. März 1993
Kraft aus heimischen Bräuchen (1993)
Lateinamerikanische Kunst im 20. Jahrhundert / Ausstellung in Köln
„Lateinamerikanische Kunst im 20. Jahrhundert“ – diese chronologisch nach Stileinflüssen, nicht nach Ländern gegliederte, klar die wesentlichen Aspekte herausstellende Schau ist zur Zeit in zwei Etagen der Kölner Kunsthalle zu sehen. Für Europäer ist das Obergeschoß der eigentliche Ort der Begegnung. Dort schreitet man von geradezu atemberaubend packenden Sektionen der Pioniere der Moderne – unter dem Einfluß von Kubismus, Futurismus, Expressionismus, Surrealismus – aus Mexiko, Uruguay, Argentinien und Brasilien zu einer eigenen, gewachsenen, selbst in den 20 lateinamerikanischen Staaten nicht homogenen Kunst. Über die bekannten sozial engagierten „Mexikanischen Muralisten“ Orozco, Rivera und Siqueiros führt der Weg zu konstruktivistischen, neo-konkreten und op-artistisch-kinetischen Tendenzen. Im Untergeschoß sind dann Neu-Figuratives, Pop-art und unmittelbar zeitgenössische Installationen untergebracht.
Gleich zu Anfang wird man konfrontiert mit der Vielfalt individueller künstlerischer Reaktionen junger, aus der akademischen Tradition lateinamerikanischer Länder ausbrechender, seit etwa 1910 nach Europa strömender Künstler. In den von Temperament und Farben sprühenden, naiv-spontanen Bildern des Argentiniers Alejandro Xul Solar, der in München Klee und Kandinsky kennenlernte, vermischen sich konstruktive und mythische altindianische Traditionen mit kubistischen und expressionistischen zu vielschichtigen Aussagen („Heiliger Tanz“, „Welt“, „Nana Watzin“, 1923 – 1925). Zeigt schon Diego Riveras kubistisches „Porträt Martin Luis Gazmán“ von 1915 einige folkloristisch-brasilianische Elemente, so ist sein „Tag der Blumen“ von 1925 geradezu eine Beschwörung heimischer Bräuche.
Allenthalben besinnt man sich in den zwanziger Jahren auf die eigene Herkunft. In Brasilien ruft der Dichter Oswald de Andrade in seinem „Anthropophagischen Manifest“ dazu auf, die europäischen avantgardistischen Strömungen dem eigenen afroindianischen Kulturgut „menschenfresserisch“ einzuverleiben. Einzigartig und im Ausdruck überwältigend gelingt das der Brasilianerin Taarsila do Amaral in ihren monumental deformierenden und vereinfachenden tropisch-vegetativen Bildern; darunter „Abaporu“, „Die Negerin“ und „Anthropophagia“.
Renaissance der Wandmalerei
Auch die engagierte, in der Mexikanischen Revolution von 1910 wurzelnde „Renaissance der Wandmalerei“ seit den zwanziger Jahren ist in diesen alten Kraftquellen begründet, die den Menschen durch die Kunst wieder bewußt werden sollen; besonders bei Diego Rivera in seinen schlichten Darstellungen des bäuerlichen Lebens, während David Alfaro Siqueiros in düsteren Menschenbildern Leiden und Unterdrückung der Armen von einst und jetzt ins Unheimliche steigert und José Clemente Orozco die Grausamkeit und den Terror schildert, denen sie ausgeliefert sind.
Die intimen Kabinette für Maria Izquierdo und Frida Kahlo, die in ihrer traumhaften Melancholie, ihrem zum Bild geronnenen Schmerz zum Bewegendsten der Ausstellung gehören, leiten über zu den eigenartigen Versionen eines lateinamerikanischen Surrealismus, wie er vor allem durch die von André Breton mit initiierte große Internationale Surrealistenausstellung in Mexiko-City 1940 Impulse erhielt. Die erotisierten, durch schweifende Linien in Schwingung versetzten Räume des Chilenen Matta und die von Picasso nicht unberührten, aus geheimnisvollen Vorstellungen und Ritualen afro-kubanischer Glaubensvorstellungen erwachsenen Visionen von Wifredo Lam, dem Sohn chinesischer und afro-kubanischer Eltern, sind in großartigen Bildbeispielen vertreten.
Unter den mancherlei Varianten eines teils spielerischen (Arte Madi), teils streng-konkreten Konstruktivismus bezaubern vor allem die Bilder und reizvollen Holzkonstruktionen des in Uruguay geborenen Pioniers des lateinamerikanischen Konstruktivismus Joaquin Torres-Garcias, in denen sich die geometrische Grundstruktur der präkolumbischen Kunst erzählerisch und nicht ohne Humor mit stilisierten Figuren, Zeichen und Zahlen verbindet.
Die vorgeführte Op-Art und Kinetik, darunter von Soto, Cruz-Diez und Le Parc, durch die sich Lateinamerika seit den sechziger Jahren international profilierte, ist uns geläufig; auch der Kolumbianer Fernando Botero mit seinen prallen, die aufgeblasene Gesellschaft ironisierenden Figurenbildern oder Marisol aus Venezuela mit ihren in bemalte Holzklötze gebannten Figuren. Für die lebhafte Gegenwartskunst, die sich freilich von der europäischen kaum unterscheidet, hätte man sich lieber eine eigene Ausstellung gewünscht.
In: Rheinische Post. Feuilleton, 19. März 1993.
Neben dem Licht wartet das Dunkel, und das Blühen ist auch Tod (1993)
H. Hödickes Ausstellung „Berliner Ring / Gemälde und Skulpturen 1975 – 1992“ des Kunstmuseums im Kunstpalast
Karl Horst Hödicke ist einer der wesentlichen Künstler unserer Zeit. Mit Herzblut getränkt sind Hödickes in der ganz banalen Umweltwirklichkeit aufgelesenen Bilderlebnisse und doch immer zugleich Symptom, Vision. Ein seherischer Blick hat sie gleichsam durchleuchtet, hat in ihnen das Zeichenhafte aufgespürt. Aufgescheuchte, geheime Bewegkräfte der Zeit scheinen in ihnen sichtbar zu werden. Und das grenzt sich keineswegs auf der Ebene des Sozialkritischen oder Politischen ein.
Auch der Titel seiner jetzigen, aus Berlin kommenden Ausstellung „Berliner Ring – Gemälde und Skulpturen 1975-1992“, die das Kunstmuseum im Kunstpalast am Ehrenhof zeigt, stellt dies wieder unter Beweis nach der vor sieben Jahren in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen ausgerichteten Hödicke-Retrospektive. Gegenüber Berlin hat sich zwar die Zahl der großformatigen Bilder auf 30, die der Skulpturen auf eine einzige reduziert. Doch die großräumig placierte Schau hebt die geniale, im Impuls ungemein sichere, sparsame, selbst in der Expressivität jedes Zuviel vermeidende Pinselführung um so eindringlicher hervor. K. H. Hödicke (geboren 1938 in Nürnberg), „Vater“ der aus der 1964 gegründeten Galerie Großgörschen 35 hervorgegangenen Berliner Malergruppe der „Neuen Expressiven“ (vertreten unter anderem durch Koberling, Middendorf, Salome bis hin zu Hella Santarossa und Elvira Bach), lebt seit seinem Studium bei Fred Thieler in Berlin, ist dort Professor an der Hochschule der Künste und Mitglied der Akademie der Künste.
Die geteilte Stadt, dieser Brennpunkt des Zeitgeschehens, wo Hödicke immer noch sein Atelier in der Dessauer Straße hat - ganz nahe der ehemaligen Zonengrenze in einer verödeten Niemandslandschaft -, erscheint wirklich wie ein „Ring“, der auch sein eigenes Denken ein- und umschließt. Das Aufregende und Bestürzende an seinen Bildern ist ja diese Gleichzeitigkeit des Gegensätzlichen, das sie vermitteln. Das Schöne, Leben, Lust, Begeisterung und Freiheit sind zugleich Schmerz, Trauer, Melancholie, Sterben. Neben dem Licht wartet das Dunkel, Blühen ist auch Tod. Offenheit und beklemmende Enge schließen einander fast aus.
Man vergißt sie nicht, diese traumatischen Stadtlandschaften von 1973/75 („Der Himmel über Schöneberg“), deren Häuserschluchten den („versilberten“) Himmel wie einen Gefängnishof einmauern. Welche Perversion: Dieses „Feuerwerk über dem Alexanderplatz“ (1982) hinter den gespenstisch vom Dunkel ausgehöhlten Silhouetten des Brandenburger Tors neben tristen Plattenbauten. Menschen sind nicht zu sehen. „Fluchtfuß“ (1985), riesig über dem Grünstreifen fliegend-fliehend in schwarzer Nacht, mit leuchtenden Blutspuren auf der Sohle. Oder die angstvoll-lustvolle „Vertreibung“ von 1981, der Sprung an das rettende andere Ufer.
Das Brandenburger Tor immer im Visier auch des inneren Auges über die „Wüste Gobi“: unpathetisch, fragil, Relikt der Erinnerung, ins Dunkel getaucht. Die verfremdend grellen Farben der „Quadriga“ und die vergänglichen, sich versprühenden Feuerwerksblumen erscheinen über dem „Flammenden Tor“ als Bühne der Leidenschaften, der Schmerzen, Trauer und Hoffnungen.
Das Bild der „Mütter“ dann im Golfkriegsjahr 1991, die den toten Sohn auf ihrem Schoß tragen, die Pietà aller Zeiten in einer unendlichen Reihe: Leiden, das sich in Linien ausdrückt, in fahlem Rosa, entschwindendem Blau. Durchscheinend ist das Bild wie der in den Körpern eingefangene leere weiße Raum. Aufgereiht auch die Frauen im „Polenmarkt“ (1990) wie Puppen, durch deren weiße, gleichförmige Maskengesichter schmerzhaft zurückgestaute menschliche Not bricht. Wie Lampions, vielleicht aber auch wie vertropfendes Blut sind sie aufgehängt vor schwarzem Grund, die rotleuchtenden Fuchsienblüten und –knospen, angeregt durch Fuchsienhecken in Irland. Kaum intensiver als vor diesem vierteiligen Bild könnte man erleben, wie schmerzhaft das Schöne, wie tödlich das Blühen sein kann. „Hecke (wo sind die Heckenschützen?) Rot wird so leicht glutrot so blutrot so feuerrot durch Schwarz“ hat es K. H. Hödicke genannt.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 6. April 1993.
Ringen gegen Hemmnisse – ein Künstlerleben lang (1993)
Malerin Julie von Egloffstein im Goethe-Museum
Für die außergewöhnliche Schönheit und die große künstlerische Begabung ihrer Tochter Julie, die am 12. September 1792 in Erlangen geboren wurde, hatte die Mutter, Henriette Gräfin von Egloffstein, eine plausible Erklärung. Während sie dieses - ihr drittes - Kind unter dem Herzen getragen habe, sei sie durch Italien gereist und habe dort von der Natur und der Kunst überwältigende Eindrücke empfangen. Das Leben der Julie von Egloffstein (1792-1869), „Goethes Zeichnerin“, ist Thema einer bezaubernden Ausstellung im Goethe-Museum, die aus dem Hildesheimer Roemer-Museum kommt als Ehrung zu ihrem 200. Geburtstag.
Bewegliches Temperament
Die Zeit der Klassik, der Romantik und des Biedermeier gewinnt in dieser Schau mit Gemälden, Aquarellen, Zeichnungen, Lithographien, Handschriftlichem und in ihrem schönen Katalog greifbar menschliche, ja persönliche Konturen. Im Milieu, in den wechselnden Schauplätzen, in den Porträts, Landschaften, Genrebildern, in Person und Lebensweg der Künstlerin selbst reflektiert sie immer zugleich Weite, Größe, Zielstrebigkeit, Tatendrang, schwärmerische Entdeckungsfreude und ein bewegliches Temperament, die doch alle den Rahmen des Angepaßten nicht sprengen. Dieser bleibt durch Erziehung und Standesbewußtsein gewahrt und hemmte die künstlerische Entfaltung Julie von Egloffsteins lebenslang.
Und dies, obwohl sie von Jugend an eine professionelle Künstlerlaufbahn anstrebte, immer unvermählt blieb, um sich in damals ungewöhnlicher Hingabe für eine Dame von Rang dieser Aufgabe zu widmen und jede Gelegenheit ergriff, sich malerisch-zeichnerisch und auch in der neu aufkommenden Lithographie weiterzubilden. Weimarer Künstler wie Haller von Hallerstein und Heinrich Meyer, Georg Kersting in Dresden, Heinrich Christoph Kolbe, Karl Stieler oder Overbeck in Rom, Peter Cornelius, Dillis in München, an der Düsseldorfer Akademie (1837) Louis Ammy Blanc, Schadow, Hübner, Lessing gehörten zu ihren Lehrern und Vorbildern. Nicht zuletzt auch die alten Niederländer und Raffael, Guido Reni, Correggio, Rubens.
Goethe, ihr großer Förderer und Verehrer am Weimarer Musenhof, war es, der sie „seine glückliche Zeichnerin“ nannte. War sie es wirklich? Nach den Jahren in Weimar (1816-1828), wo sie unter dem Scherznamen „Julemuse“ zusammen mit Ottilie von Pogwisch („Tillemuse“), Adele Schopenhauer („Adelmuse“) und der Schwester Caroline („Museline“) zum Freundeskreis des „Musenvereins“ gehörte, brach sie fast fluchtartig zu einem zweijährigen Rom- und Italienaufenthalt auf, weil sie ihr Amt als Großherzogliche Hofdame zuletzt als „wahre Höllenpein“ empfand und Behinderung ihres Schaffens.
Die Bilder der Ausstellung spiegeln ihre zahlreichen Reisen, die Schauplätze ihres Wirkens, ihrer Erfolge und Anerkennungen auch in Ausstellungen: Reisen nicht nur in die deutschen und italienischen Kunstmetropolen, sondern auch nach England, in die Schweiz und die Niederlande, ebenso die Zeiten idyllischer Zurückgezogenheit im Forsthaus Misburg bei Hannover, im fränkischen Stammsitz Schloß Egloffstein und zuletzt im Klostergut Marienrode bei Hildesheim.
Besonders anmutig in der subtilen Schwerelosigkeit sind die lichtdurchwobenen, meist lavierten, teils auch aquarellierten Graphit- und Bleistiftzeichnungen ihrer Rheinromantik-Reise von Mainz bis Köln 1816. Voller Charme und Frische, auch souverän in der Zusammenschau und dem Detailreichtum die gezeichneten Ansichten von Schloß Egloffstein (1814) oder aus der Umgebung von Weimar, während die Architekturzeichnungen aus dem antiken Rom zum Teil etwas angestrengt, die eigenhändig lithographierten Genreszenen aus Italien indes grazil und technisch perfekt wirken. Meisterhaft in der zupackenden Erfassung von Wesen und Charakter sind Porträtzeichnungen wie die von August von Goethe (Kreide, Bleistift, aquarelliert, um 1830) oder von der gealterten Charlotte von Stein (um 1825, hier als Kreidelitho).
Unter den großen, repräsentativen Ölporträts gefällt besonders das romantisch-empfindsame Selbstbildnis von 1822 vor dem Hintergrund der fränkischen Landschaft mit Burg Egloffstein oder das prachtvolle, in seiner Ausstrahlung von hoheitsvollem Glanz und Faszination der Farben, kostbarer Stofflichkeit und weiblicher Schönheit unübertreffliche Bildnis der Therese, Königin von Bayern (1836). Gestellt und unlebendig wirkt dagegen die „Sitzende Dame auf der Terrasse“ (um 1833), und auch die Goethe-Porträts können nicht überzeugen. Daß sich aber die kinderlose Königin Adelheid von England so sehr in das reizende kleine Kinderbild der dreijährigen schlafenden Elise Rautert (hier in einem Schabkunstblatt vertreten) verliebte, es für 1000 Pfund Sterling kaufte und immer um sich haben wollte, kann man wohl verstehen.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 21. April 1993.
Mythen und Monströses (1993)
Zyklus Frauen in Sagenwelt und Kunst bei Zimmer
Im Rückblick auf den jeweils mit einem Vortragsabend verbundenen Ausstellungszyklus der Galerie Zimmer (Oberbilker Allee 27) „Frauengestalten aus Mythologie und Kunst in der Malerei der Gegenwart“ darf eine positive Bilanz gezogen werden. Der gute Besuch, der Brückenschlag zwischen Historie und Gegenwart, die künstlerische Anregung durch zeitübergreifende Themen und die Vertiefung der Ansicht durch Einsicht in bemerkenswerten Vorträgen eröffneten fruchtbare Perspektiven. Künstler unserer Zeit haben mythische oder biblische Themen neu erlebt.
Nach den beiden ersten Ausstellungen, die der griechischen Leda und der fernöstlichen Göttin Ushas/ Ratri gewidmet waren, muß nun auch der Bogen zur derzeitigen Schau geschlagen werden: Sigrid Redhardts monumentale Malereicollagen von 1992/93 zum Thema „Die Töchter des Pelias“. Den Vortrag zu diesem Medea-Thema hielt der Direktor des Kunstmuseums, Hans Albert Peters. Es ist die Geschichte von der Zauberin Medea, die ihre Töchter gegen deren Willen anstiftet, ihren Vater Pelias zu ermorden und zu zerstückeln, angeblich, um ihm auf diese Weise unaufhörliche Jugend zu schenken, in Wahrheit aber, um ihn aus Rache zu töten. Die Töchter folgen aus Liebe zum Vater vertrauensvoll dem Rat der Mutter. Gerade dieser Aspekt reizte die Düsseldorfer Künstlerin zur Darstellung.
Zerrissenheit wirkt schon im Herstellungsprozeß des monumentalen Schlüsselbildes, das zunächst für die durch acht Fenster geteilte Wand des „Ballhauses“ konzipiert und entsprechend in acht Teile aufgespalten wurde. Gerissen und geschnitten, auch wieder zusammengeklebt die figurativen Teile der Malereicollage. Die Zerstückelung in Fragmente führt im Bild zu einem neuen Ganzen.
Gewaltig, wie in Stein gehauen, wirken Redhardts malerisch-rhythmisierte Figuren. Ohne Schatten sind sie, auf das Wesentliche reduziert und zeitlos. 15 Zeichnungen führen zu dem 260 x 320 cm großen Gemälde und anderen Bildern des Zyklus hin, in denen zärtlichere, traurig-empfindsame Aspekte der mörderischen Tragödie zum Vorschein kommen.
Vorangegangen waren die der Lilith gewidmete Ausstellung von Tina Juretzek mit einem Vortrag von Gisela Götte vom Clemens-Sels-Museum Neuss und Antonius Höckelmanns Trilogie „Judith und Holofernes“, eingeführt von Siegfried Gohr, ehemaligem Chef des Museums Ludwig.
Die böse Schlange Lilith
Die vor Eva erschaffene Dämonin Lilith, böse Schlange und schwarzgeflügeltes Gegenstück des Teufels – diese vielschichtige Gestalt hat Tina Juretzek in einer ganzen Folge expressiver, zum Teil collagierter Zeichnungen in Tusche und Graphit in flackerndem Helldunkel 1986 dargestellt in einer von Zweifeln gequälten Phase ihres Schaffens: spannungsvoll, zerrissen, abgründig. Flügelwesen sind das voll düsterer Unberechenbarkeit, bedrohlich, auch in tierhafter Körperlichkeit. Selbstquälerisches, Selbstzerstörerisches drückt sich darin aus.
Und die alttestamentarische Judith, die den Assyrerfürsten Holofernes erschlug, um ihr jüdisches Volk zu retten? Höckelmann hat in seinen großen Bleistift- und Tuschzeichnungen, farbigen Wachskreiden und bemalten Reliefs das wild lachende und zugleich todbringende Gesicht der Judith, in dem Schönheit und Monströses, Wildes und Grausames verschmelzen, mit flackerndem Helldunkel gleichsam aus einer Maske entwickelt: Abgründe des Menschen, wie sie sich zu allen Zeiten in ihm verbergen oder ausbrechen können.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 28. April 1993.
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