Frauen-Kultur-Archiv

Yvonne Friedrichs Textforum
Kunstkritik 1992

Drei Generationen - unter einem Dach vereint

Ausstellung des Westdeutschen Künstlerbunds im Landesmuseum Volk und Wirtschaft

„1945 – da werden Erinnerungen wach an das Ende der apokalyptischen Bombennächte, an die Rückkehr der Überlebenden in Trümmerstädte, demoralisierte Heimkehrer mit nichts in den Händen. Es blieb wenig Zeit, um über Ursache und Schuld nachzudenken, weil die elementarsten Bedürfnisse, ein Dach über dem Kopf zu haben, das Stillen des hungrigen Magens, die letzten Kräfte des gelähmten Lebenswillens forderten . . . Und doch werden diese ersten, wirtschaftlich von Unmoral, Sorgen und Resignation gezeichneten Jahre für den, der sie mitgemacht hat, unvergeßlich bleiben als eine später nie wieder erlebte Zeit beherzter kultureller Aktionen, leidenschaftlicher Diskussionen und nicht lahmzulegender Aktivitäten – allerorten . . . Was war das damals für eine aufregende Sache, einen Quadratmeter Leinwand oder Karton ergattert zu haben . . .“ Dies schreibt Thomas Grochowiak in seinem Katalogtext „Im Blick zurück“ auf die Gründerjahre des Westdeutschen Künstlerbundes.

Vor solchem Hintergrund die 25. Hauptausstellung des 1946 in Hagen gegründeten Westdeutschen Künstlerbundes zu sehen, ist vielleicht gerade im Augenblick naheliegend. Sie wird erstmals außerhalb ihres Stammsitzes, des Hagener Karl Ernst Osthaus Museums, im Düsseldorfer Landesmuseum Volk und Wirtschaft am Ehrenhof gezeigt. Der neue Vorsitzende des Westdeutschen Künstlerbundes, Utz Brocksieper, will auch die nächsten, weiterhin im zweijährigen Turnus veranstalteten Hauptausstellungen in verschiedenen rheinisch-westfälischen Städten präsentieren. Die damit traditionell verbundene Verleihung des Karl Ernst Osthaus-Preises in Höhe von 10 000 Mark wird dann jeweils im Zusammenhang mit einer alternierenden Themenausstellung in Hagen vergeben.

Im Westdeutschen Künstlerbund haben sich im damals neugegründeten Nordrhein-Westfalen Künstler zusammengeschlossen, die in dieser Region geboren sind oder dort leben und arbeiten. Auch Vorstand und Juroren setzen sich aus gewählten Künstlermitgliedern zusammen. Geschäftsführer ist der Direktor des Karl Ernst Osthaus-Museums, Michael Fehr.

Knapp ein Drittel der 100 in dieser Jubiläumsschau vertretenen Künstlerinnen und Künstler, darunter 35 Gäste, wohnen im Rheinland, die anderen überwiegend in Westfalen. Die Schau wurde geschickt, locker gegliedert und in den nicht eben leicht „bespielbaren“ Räumen auf drei Etagen aufgebaut. Man kann sich auf jedes einzelne Werk ungestört einlassen. Ein gutes Niveau integriert Arbeiten von drei Generationen aus den letzten drei Jahren, und besonders die Jugend sorgt für manche Überraschung.

Gleich eingangs im Vestibül begegnet man einer großen Landschaft in Acryl und Pastell von Ludmilla von Arseniew, in der sich systematisierende Strenge und informelle Spontaneität zur prickelnden Farbstruktur verweben. Rolf Noldens „Glasbogen“-Objekt aus gespaltenen Glasscheiben fasziniert durch seine grünschimmernde Lichttransparenz. In Wulf Noltes große abstrakt-expressive Landschaft „Rückblick auf Texel“ taucht der Blick ein in großflächig strömendes und doch in sich ruhendes atmosphärisches Grau, Blau, Schwarz und Weiß nordischer Melancholie.

Gleich daneben suggeriert Margot Kerchners Wandinstallation „Orgelpfeifen“ aus Fließbandgummi, die sich gleichsam wie durch Luftgebläse ausdehnen, öffnen und schließen, visuelle Musik mit vollen und zurückgenommenen Tönen. „Inzucht“ nennt Victor Ronato seinen amüsanten Kreis aus igelartigen Stachelwesen, bestehend aus Roßhaarbürsten und einem Spiegel. Christina Hoppes kassettenartige Bodenplastik mit Deckel im Holz ist wie eine konstruktive Blume mit Holunderblüten gefüllt. In wilder, gestischer Vitalität stürmen die Farben durch Thomas Grochowiaks großartiges Tusche-Bild „Nach Mozart: Dies irae aus dem Requiem“. Oder sie fangen einen „Lichteinbruch“ auf in Sigrid Kopfermanns sprühendem Gemälde.

Wie in Luft aufgelöst, schaukelnd im Wind, ein Medium der Phantasie, ist Günter Zins’ ganz immaterieller „Fliegender Teppich“ der Phantasie aus zarten Edelstahlstangen. Graphisch-linear, raumdurchlässig sind auch Utz Brocksiepers „2 Keile in Aktion“ aus roten Vierkantrohren. Unverkennbar die sich ganz dem Raum anvertrauenden feinen Blätter in Aquarell und Feder von Gabriele Grosse und der „Molekularkörper“ in eloxiertem Aluminium und Acrylglas von Karl-Ludwig Schmaltz.

Mancherlei witzige illusionistische Täuschungen baute Silke Rehbert in ihr Mixed-Media-Objekt „Amphitrite trifft Flipper“ im Untergeschoß ein, wo auch Jens Christian Brand sein verspieltes, durch kleine Ventilatoren bewegtes „Triptychon für Carlos Gardel“ platziert.

In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 11. September 1992

Schauer und Schönheit

„Zauber des Rheins“, zu sehen in Bonn und Koblenz

Wenn Ernst Moritz Arndt einst in napoleonischer Zeit den Rhein als „Deutschlands Fluß, nicht Deutschlands Grenze“ proklamierte, so kann das im Europajahr 1992 eine ganz neue Dimension einschließen. Dieser ins Übernationale verweisende Aspekt findet seine zunächst überraschende Bestätigung in einer nicht absichtslos gerade jetzt in zwei Museen der Region, dem Mittelrhein-Museum Koblenz und dem Rheinischen Landesmuseum Bonn, arrangierten Ausstellung.

Ihr Titel „Vom Zauber des Rheins ergriffen ... Zur Entdeckung der Rheinlandschaft vom 17. bis 19. Jahrhundert“ entspricht ganz der Faszination, in die sie den Betrachter und auch den Leser der Katalogtexte verstrickt: sei es in Koblenz, wo niederländische Malerei, Zeichnungen, Graphik des 17./18. Jahrhunderts den Reigen des Rhein-Zaubers eröffnen, oder in Bonn, wo Klaus Honnef in sichtlicher Sammelfreude ein pittoreskes Ensemble von Gemälden, Aquarellen, Zeichnungen, Aquatinta-Arbeiten, Stichen, alten Photographien sowie Karikaturen vornehmlich britischer Künstler des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts zusammenstellte.

Aber auch Reisekoffer und –kamera, Reiseapotheke und –farbkasten, eine Lampe zur Beleuchtung der Kutsche, ein Modell der belgischen Postkutsche von 1830 oder des Dampfschiffs „Friede“ von 1886 fehlen als greifbare Zeitzeugen nicht. Gleich eingangs wird der Besucher mit der vergrößerten Zeichnung des „karierten“ reisenden Engländers „Mister Pief“ mit Fernglas von Wilhelm Busch (1882) konfrontiert und mit Richard Doyles ironisierender Rheinzeichnung „The Scenery becomes mysterious“ (Die Szenerie wird mysteriös). Romantik ist angezeigt.

Die Entdeckung der Rheinlandschaft für die Kunst ging keineswegs von den Deutschen, sondern von den Niederländern Ende des 16., Anfang des 17. Jahrhunderts aus. Auf den Bildungsreisen nach Italien wurde man auf die Schönheit und Phantastik des Rheins zwischen Köln und Bingen aufmerksam. Von Anfang an ging dieses Imaginäre, Märchenhafte und Sagenumwobene, das Stimmungsbetonte in Bilder mit Rheinmotiven ein, etwa von Roelant Savery, dem einstigen Hofmaler Rudolfs II. in Prag, der von 1617 an in Amsterdam und Utrecht wirkte, und dem von ihm beeinflußten Herman Saftleven.

Selbst der andere Zweig niederländischer Landschaftskunst, die durch den Aufstieg Hollands zur Welt- und Handelsmacht hoch favorisierte und in berühmten Sammelwerken verlegte realistische Vedute, blieb vom Zauber des Rheins nicht unberührt. In Koblenz kann man sich in die atmosphärischen, ins traumhaft Zeitferne entrückten Blauräume der dennoch glasklaren und präzise dokumentierenden aquarellierten Federzeichnungen von Wenzel Hollar entführen lassen: von Boppard etwa, Ehrenbreitstein, dem Mäuseturm bei Bingen.

Der Prager Künstler begleitete damals, 1636, den englischen Gesandten Arundel von Köln aus als Zeichner auf seiner Reise nach Wien. Selbst Böllerschüsse vom Festungsturm Engers zur Begrüßung des Schiffs-Konvois scheinen in verklärter Stille am menschenleeren Rheinufer zu verpuffen.

Noch sanfter schmiegen sich Berge und Burgen in den braun-, grau- und blautonig lavierten Federzeichnungen von Lambert Droomer (1662) mit ihren rhythmisierten Schattenpartien in den Lichtraum seiner schon nicht mehr topographisch genauen kleinen Ideallandschaften mit reglosen Staffagefigürchen.

Dem bürgerlichen Kunstgeschmack des 17. Jahrhunderts in den Niederlanden kamen dann besonders Herman Saftlevens phantastische, seit 1640/50 entstandene Ideal-Landschaften entgegen.

Wie außerordentlich beliebt und populär der auch von dem Barockdichter Joost van den Vondel besungene Rhein als Kunstmotiv schon damals war, beweisen in Koblenz zwei sehr kleine Rheinlandschaften von Saftleven. Sie hingen in der „Kunstkammer“ eines holländischen Puppenhauses (um 1674/79), das sich heute im Centraal Museum Utrecht befindet.

Daß selbst die Wirklichkeit phantastische Züge annehmen kann, verrät ein Kupferstich von Hendrik de Leth aus dem topographischen Werk „Gezichten längs den Rhijn ... von F.W. Grebe, Amsterdam, 1767“. Wie ein riesiger Lindwurm schlängelt sich auf dem Blatt ein Floß durch den Fluß. In einem Rheinreisebericht von 1789 wird es als „schwimmende Holz Insel“ von 1000 Fuß Länge, 90 Fuß Breite, mit zehn bis 13 geräumigen Hütten darauf beschrieben, die von 400 bis 500 Ruderknechten und Arbeitern bewohnt wurden.

Wie extrem ist aber der Gegensatz zwischen den sublimen Zeichnungen von Vincent Laurensz van der Vinne und seinem haarsträubenden Bericht über die Beschwerlichkeit und Gefährlichkeit der auch ständig von Raubrittern und plündernden Soldaten bedrohten Rheinreise in damaliger Zeit! Das wurde im 19. Jahrhundert anders durch die Entwicklung der Dampfschiffahrt, später der Eisenbahn. Als 1816 der erste Dampfer „Prinz von Oranien“ von London nach Köln fuhr, dauerte die Reise von Rotterdam nach Köln nur noch knapp vier Tage. Und als 1827 die Preußisch-Rheinische Dampfschiffahrts-Gesellschaft den ersten regelmäßigen Personenverkehr zwischen Köln und Mainz startete, wurden schon im ersten Jahr über 18 000 Passagiere befördert. Ihre Zahl hatte sich zwei Jahre später verdoppelt. Fast die Hälfte davon – 16 000 Touristen – kam aus England. Die Reiselust der Bürger drängte die einstige Grand Tour der Gebildeten in den Hintergrund. Der Massentourismus hatte begonnen.

Schauer, Schönheit, Erhabenheit von Natur, Historie, Sage, Traum, fast mystischer Übersteigerung. Ruinenromantik werden von den nach dem Ende der napoleonischen Kriege den Rhein bereisenden englischen Künstlern in wahren Bildwundern reflektiert: als Meister über allen William Turner.

In: Rheinische Post. Feuilleton, 19. September 1992

Über Europas Grenzen schwingende Bögen

Zu den Ausstellungen Henry van de Velde in Hagen und „1910 – Halbzeit der Moderne“ in Münster

Es gibt Ausstellungen, die Einsichten in Zeitläufe vermitteln, Vergangenheit aufwirbeln, Zusammenhänge aufdecken. Das ist besonders eindringlich der Fall in der Schau „Henry van de Velde – Ein europäischer Künstler in seiner Zeit“ im Karl-Ernst-Osthaus-Museum Hagen.

Mit der seit Jahren von Klaus-Jürgen Sembach und Birgit Schulte vorbereiteten Ausstellung wurde das Osthaus-Museum nach längerer Pause wiedereröffnet: nun mit seiner, soweit es möglich war, rekonstruierten, 1902 von Henry van de Velde geschaffenen Jugendstil-Innenausstattung. Vieles davon war zerstört worden, als nach Osthaus’ Tod (1921) dieses von ihm gestiftete private Hagener Museum Folkwang, das damals weltweit erste Museum für zeitgenössische Kunst, mit seiner berühmten Sammlung von den Erben 1922 nach Essen verkauft wurde. Das Hagener Gebäude war danach zu einem Bürohaus für das Kommunale Elektrizitätswerk umgebaut worden, bis man es von 1930 an wieder museal nutzte.

Im Anschluß an Hagen, wo auch der von van de Velde zwischen 1906 und 1908 gebaute und eingerichtete „Hohenhof“, das Wohnhaus Karl Ernst Osthaus’, besichtigt werden kann, wandert die bedeutende Ausstellung in weitere mit dem Wirken van de Veldes verbundene Städte: nach Weimar, Berlin, Gent, Zürich und Nürnberg. In Hagen wird das immense vielgleisige Lebenswerk des Malers, Zeichners, Typographen, Architekten und Gestalters ganzer Inneneinrichtungen, des Entwerfers von Möbeln, Tafelsilber, Schmuck, Keramik, Porzellan und Textilien gezeigt – den frei über die europäischen Grenzen schwingenden Bögen und Stationen seines bewegten Lebenslaufs folgend.

Parallel präsentiert das Westfälische Landesmuseum Münster die Schau „1910 – Halbzeit der Moderne. Van de Velde, Behrens, Hoffmann und die anderen“, mit vielen Architekturzeichnungen, -photos und –modellen, einer Flut von Plakaten, Werbegraphik, Design und kunstgewerblichen Objekten.

Die beiden Katalogbücher tragen dazu bei, die Faszination und die Einsicht in diese folgenreiche Übergangszeit zu vertiefen. Der Hagener Katalog erschien im Wienand-Verlag (466 Seiten, zahlreiche, meist farbige Abbildungen, Preis im Buchhandel gebunden 98 Mark), die Münsteraner Publikation (240 Seiten, über 300 teilweise farbige Abbildungen, 38 Mark) bei Hatje.

Frisiersalon und Textilmuster

Die etwa 1000 Werke aus allen Schaffensbereichen des 1863 in Antwerpen als zweitjüngstes von acht Kindern eines Apothekers und Chemikers geborenen, 1957 in Zürich gestorbenen belgischen Künstlers Henry van de Velde sind in Hagen, ganz im Sinn auch von Osthaus, locker zueinander geordnet. Das aufregendste ist die Vitalität, die leidenschaftliche Expressivität, ja Dämonie, die unglaubliche Schönheit und Reinheit der Linie, die in van de Veldes Schöpfungen immer wieder begeisteren, sei es in einem Eßzimmerstuhl aus Haus Bloemenwerf (1895/96), seinem ersten selbstentworfenen eigenen Wohnhaus in Uccle bei Brüssel, in dem fast magischen, von inneren Energien getriebenen Schwung eines silbernen Kandelabers von 1898/99 aus dem Bröhan-Museum Berlin oder in der Ornamentik seines berühmten „Tropon“-Plakats aus „Pan“ von 1891.

Schon in seinen frühen, in Antwerpen, Paris und Brüssel zwischen 1880 und 1893 entstandenen, von Seurat, Gauguin und van Gogh beeinflußten Bildern und Zeichnungen wird die Bedeutung der Linie offenbar. Van de Veldes Leidenschaft für die Linie wirkt fort, als er 1893, nach dem symbolistischen Bild „Engelwache“, die Malerei aufgibt und sich, tief beeindruckt durch die Schriften von John Ruskin und William Morris und ihre Arts- and Crafts-Bewegung, ganz der angewandten Kunst und der Architektur zuwendet, um stärker und direkter durch Kunst in die Gesellschaft zu wirken.

In Weimar gründete und errichtete van de Velde 1907 das Institut für Kunstgewerbe und Kunstindustrie als Vorläufer des Weimarer Bauhauses und baute das jüngst restaurierte Nietzsche-Archiv. Man sieht aus diesen Jahren zum Beispiel ein Kompartiment aus dem luxuriösen Frisiersalon Hardy in Berlin (1901), Textilmuster-Entwürfe für Krefeld, die Weimarer Wohnungseinrichtung Graf Kesslers (1902), Photographien seiner Weimarer Bauten, auch die in ihrer Sparsamkeit bezaubernden, nicht ausgeführten Entwürfe für den Umbau des Weimarer Museums. Dazu hinreißend profilierte Silberschalen, -tabletts, -terrinen, weich fließende Reformkleider.

In der Weimarer Zeit (1902 – 1917) entstanden auch seine ersten Theaterentwürfe (1903) für die Schauspielerin Louise Dumont, die, bevor sie nach Düsseldorf ging, in Weimar ein „Mustertheater“, ein Festspielhaus wie in Bayreuth, errichten wollte. Sie fielen, wie auch seine Pläne für das Pariser Théâtre des Champs Elysées (1911), Intrigen zum Opfer. Allein sein in der horizontalen Gliederung fein rhythmisierter Theaterbau der Werkbundausstellung von 1914 in Köln wurde realisiert.

In zweckmäßiger Strenge

Auch die Jahre nach van de Veldes kriegsbedingter Emigration in die Schweiz (1917) sind vor allem durch architektonische Projekte ausgefüllt. Zunächst seine Planungen für das Museum Kröller-Müller in Holland, das infolge der Inflation erst 1936 in sehr reduzierter Form gebaut werden konnte. In der Zeit seiner Berufung als Professor für Architektur nach Gent und Leiter der Hochschule für Angewandte Kunst in Brüssel (1925/26) fallen unter anderem der Bau der Universitätsbibliothek Gent sowie die belgischen Pavillons auf der Weltausstellung in Paris (1937) und New York (1939), die nun allerdings in zweckmäßiger Strenge der Zeit ihren Tribut zollen.

Sein letztes Lebensjahrzehnt hat van de Velde, längst weltberühmt und bis zuletzt an seinen Memoiren schreibend, „in einer weniger verpesteten Atmosphäre“ auf dem Land in der Schweiz verbracht.

In: Rheinische Post. Feuilleton, 24. September 1992

Die geometrischen Strukturen wachsen wie Organismen

Frantisek Kyncl stellt für das Kunstmuseum eine große plastisch-malerische Rauminstallation im Kunstpalast am Ehrenhof aus

Wie Kunst einen Raum verwandeln kann, wenn sie für ihn gemacht oder auf ihn bezogen ist, kann man jetzt in Halle 5 des Kunstpalasts am Ehrenhof wahrnehmen. Dort zeigt Frantisek Kyncl (geboren 1934 in Pardubice, Tschechoslowakei), der schon nach dem „Prager Frühling“ 1968 nach Düsseldorf kam, seine bisher schönste Ausstellung in dieser Stadt. Sie wird vom Kunstmuseum veranstaltet, betreut von Stephan von Wiese, und geht anschließend – in einer ersten Museumskooperation – ins Haus der Kunst der Stadt Brünn. Auch der von Winfried J. Jokisch gestaltete Katalog ist zweisprachig.

Die ganze Schau ist eine einzige, vielteilige und erstaunlicherweise erste große Rauminstallation Kyncls, der in Düsseldorf nach Ausstellungen auf der IKI (1972), in Galerien, in der Kunsthalle (1977) und im Kunstverein (1982) kein Unbekannter ist. Kyncl, zugleich Plastiker und Maler, behauptet allerdings, daß er keins von beiden sei. Technik, Material sind für ihn nicht ausschlaggebend. Wesentlich ist für ihn eine Struktur von Dreieck und Tetraeder, von der er geradezu besessen ist und die schon seit 1966 die alleinige Substanz seines Schaffens darstellt.

Sie wurde zur Keimzelle, aus der jedes seiner Werke wächst. Wohlgemerkt: nicht als rationale, serielle Konstruktion nach Plan, sondern – und das ist das Besondere an Kyncl – sie entsteht in geduldiger, geradezu liebevoller Handarbeit wie Organismen. Deshalb sind Kyncls Arbeiten, seien sie nun zwei- oder dreidimensional, niemals starr. Sie dehnen sich aus in der Fläche, wenn nötig weiter und weiter, sie wachsen in den Raum und lassen den Raum in sich hinein. „Ich weiß nicht, was herauskommt, ich fange einfach an“, sagt Kyncl. „Das wächst weiter wie in einem Kindertraum, ins Unendliche.“

Sind das wirklich Konzepte oder nicht eher Prozesse, die sich in diesen Arbeiten manifestieren? Geht man um die transparenten Objekte herum, so bewegt und verändert sich auch das Liniendickicht in ihrem Innern. „Das ist wie Gras“, meint Kyncl. Von effektvoller Kinetik hält er nichts.

In der Mitte des großen, nüchternen Raumes sind die aus filigranen Strukturen entwickelten plastischen Objekte teils an vom Boden zur Decke gespannten, sich fast unmerklich bewegenden Gummiseilen aufgehängt, teils stehen und liegen sie auf dem Boden: Kuben, rechteckige Elemente, Stelen, unregelmäßige Gebilde. Alle sind sie eigenhändig aus Bambusstäbchen gebaut. An den Treffpunkten der ineinandergreifenden Module wurden die Stäbchen mit Pattex oder Zwei-Komponentenkleber fixiert und diese Knotenpunkte dann leicht mit Ölfarbe übermalt. Das ergibt ein lyrisches punktuelles Farbspiel in den grazilen linearen Verzweigungen der entweder naturbelassenen oder schwarz, zuweilen weiß gestrichenen Stäbchen.

Manche dieser plastischen Elemente werden öfters wieder verändert, wie ein schwarzer Würfel, den Kyncl 1972 begann und bei dem er nun das Innere herausgerissen hat. Das Ganze wirkt schwebend leicht, verleiht dem kahlen Raum einen Anflug von Charme.

Die gleichen leichten Unregelmäßigkeiten handwerklicher Arbeit wie in den Objekten nehmen auch den malerischen Arbeiten die Trockenheit von Rastern. Es sind Prägedrucke, bei denen Stäbchen in das feuchte, dicke Papier gedrückt wurden. Über einem mit der Rolle eingefärbtem Grund sind die gereihten Linienstege der ineinandergreifenden Tetraeder wieder von anders getönten Pinselzügen begleitet. Das Wechselspiel der Farben mit den Linienstrukturen ist reizvoll, hat vielerlei Nuancen. Und die Kreuzungspunkte der Linien werden auch malerisch betont.

Wie gewachsen schaut das aus, und es macht Freude, mit den Augen darin spazieren zu gehen. Bestimmend sind aber auch Monochromien von Bildergruppen, die wechselweise den Ton angeben und somit Akzente im Raum setzen: ultramarinblaue oder rote, schwarze (mit rosa Grund), purpurne, grüne. Besonders vielseitig ist das Gespräch der Farbtöne untereinander und mit den Strukturen in den reinen Zeichnungen.

Rhythmus und Klang steuert als Hintergrund auch eine von Kyncl selbst zusammengestellte Musik bei. Er hat darin Radiomusik auf Band aufgenommen, die er in Intervallen immer wieder abschaltete und so ebenfalls strukturierte. Die schöne Ausstellung, die mit Fremdmitteln finanziert wurde (darunter vom Institut für Auslandsbeziehungen), ist die erste, die das Kunstmuseum in diesem Jahr im Kunstpalast veranstaltet, da dafür kein Etat zur Verfügung stand. Eine gelungene Sache.

In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 7. Oktober 1992

Worte, die im Raume schweben

Ausstellung der Arbeiten von Robert Barry in der Galerie Bugdahn und Kaimer

Der 1936 in New York geborene, in Teaneck/New Jersey lebende Amerikaner Robert Barry gehört zu den ersten Konzeptkünstlern und zur gleichen Generation wie Sol Lewitt oder Kossuth. Das Verzeichnis seiner internationalen Einzelausstellungen seit 1964 ist beachtlich. Die renommiertesten Galerien und Museen haben sich für ihn interessiert. Viermal war Robert Barry auf der Kasseler „documenta“ vertreten.

Jetzt hat er in der Düsseldorfer Galerie Bugdahn und Kaimer (Mühlenstraße 3) ein eigens auf diese Räume abgestimmtes neues „Wallpiece“ gemacht: ein Wandstück also. Doch diese Übersetzung kommt der Sache nur ungefähr nahe, denn was Barry dort in gelber Latexfarbe mittels Schablonen auf die Wand und die Decke gemalt hat, ist ebenso raum- wie flächenbezogen.

Es sind einzelne Worte, die da im Raum zu schweben scheinen. Nicht etwa brav in Zeilen oder Kolumnen, sondern horizontal, vertikal und schräg in allen Himmelsrichtungen locker über die Wände verteilt, die sie übergreifend zu verbinden scheinen. Ja selbst der obere und der untere Raum, die Treppe werden sozusagen zusammengeschlossen. Man hat den Eindruck von ins Räumliche ausgeweiteter „visueller Poesie“: jener Anordnung von Worten und Sätzen in Büchern, die das Zeilenschema durchbricht.

Robert Barry wehrt ab: „Ich bin Visualist, nicht Poet.“ Dennoch gibt er zu, daß die Bedeutung der Worte wichtig ist. Nicht im anekdotischen Sinn, sondern als „reine Worte, reine Konzepte“. Jedes Wort habe seine eigene Geschichte und solle nicht in Relation zu den anderen stehen. Und wirklich: jedes suggeriert ein Gefühl, eine innere Bewegung, einen Gedanken, einen Bewußtseins- oder Gemütszustand. Jedes läßt aber auch etwas offen, das der Betrachter vervollständigen muß.

Fixiert und freigesetzt

Nur einige seien genannt: Somehow / Remember / Could be / Try / Each one / Look / Listen / Changing / Almost / Please / Beyond / Given / Ourselves / Another / Wait / Together / Doubt / Chance / Alone / Coming / Later / Only one / Loved / Please / could be … (irgendwie, erinnere, es könnte sein, versuche, jeder, sieh, lausche, wechselnd, nahezu, bitte, jenseits, gegeben, wir selbst, ein anderer, warte, zusammen, Zweifel, Chance, allein, Kommend, später, nur einer, geliebt, bitte, kann sein ...

Mit den Worten scheinen alle diese Gefühle und Bedeutungen im Raum zu stehen. Sie werden durch das geschriebene Wort gleichzeitig angeregt, fixiert und freigesetzt in der Phantasie des Betrachters. Wie viele Gedanken und Empfindungen bewegen und durchdringen einander doch in einem Raum, in dem sich ein Mensch aufhält.

Robert Barry setzt in seinen „Wallpieces“, die er schon seit dem Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre macht, einen Kontrapunkt zur Architektur, zum rein Konstruktiven. Er öffnet darin einen spirituellen, immer anders gestimmten Raum, auch in der Farbe, und dabei läßt er sich immer von der gegebenen Situation anregen. Hier wollte er, auch in dem lichten Gelb, etwas Freudiges, Helles machen.

Freilich sind seine „Wallpieces“, sofern sie nicht von Museen oder privaten Sammlern angekauft werden, temporäre Erscheinungen, ähnlich wie Performances. Auch das Raumkonzept in der Galerie Bugdahn wird nach Ende der Ausstellung zerstört. „Für mich sind die Wände wie verschiedene Seiten eines Buches. Jede ist anders“, meint der Künstler.

Barry macht auch Projektionen von Worten, Lichtworten, im dunklen Raum, die kommen und gehen wie das Licht in der Zeit. Oder er projiziert Dias, etwa einen einzelnen blauen Kreis oder einen roten Punkt, auch einzelne Porträts. Für Rudi Fuchs in Eindhoven und für die „documenta“ 1982 erfand er „Soundpieces“ (Klangstücke). Begonnen hat er als Maler, gab aber Mitte der Sechziger die Malerei 20 Jahre lang auf. Robert Barry ist auch Photograph. Am liebsten porträtiert er seine Freunde und Galeristen.

In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 21. Oktober 1992

Sonnenblumen flattern

Maler Adolf de Haer, ausgestellt in Kaiserswerth

Heute vor 100 Jahren wurde der Düsseldorfer Maler Adolf de Haer (1892 –1944), einer der bedeutendsten Vertreter des rheinischen Kubo-Expressionismus, geboren. Mit einer verdienstvollen Ausstellung ehrt das 1991 eröffnete „Museum Kaiserswerth“ im Schulgebäude Fliednerstraße 32 den Künstler, der seit 1936 in Kaiserswerth wohnte und arbeitete.

Dort wird auch der Nachlaß von seiner Nichte, Melitta Ficher, betreut, den die Galerie Remmert und Barth erst vor knapp einem Jahrzehnt der Verborgenheit entriß. Ihre 1985 gezeigte Ausstellung mit frühen Arbeiten de Haers war eine kleine Sensation. Die jetzige Schau wird auf Initiative des Heimat- und Bürgervereins veranstaltet. Dessen Vorsitzender Wilhelm Mayer ist zugleich Leiter des privaten Museums Kaiserswerth, das er mit großem Engagement begründete. Er wurde unlängst dafür von der Hans-Maes-Stiftung ausgezeichnet.

Der gebürtige Düsseldorfer Adolf de Haer war schon in jungen Jahren fest entschlossen, Maler zu werden. Sein Rüstzeug erwarb er als Stipendiat an der hiesigen Kunstgewerbeschule (bis 1914), bevor er zum Kriegsdienst eingezogen wurde. Im Sommer 1917 konnte er einige Monate bei Adolf Hölzel in Stuttgart studieren, um sich bei ihm mit Grundgesetzen von Farbe und Form vertraut zu machen.

1919 gehörte de Haer in Düsseldorf zu den Gründungsmitgliedern des „Jungen Rheinland“ und zum Kreis der Johanna Ey. Er engagierte sich auch im „Aktivistenbund“. Schon 1919 stellte er im „Graphischen Kabinett“ von Dr. Hans Koch aus. Die Städtischen Sammlungen kauften im gleichen Jahr sein Bild „Menschen“ an, einige Jahre später unter anderem auch sein „Damenbildnis“ und ein Porträt seines Malerfreundes Werner Gilles. Gleichzeitig mit seiner Ausstellung im „Ey“ 1921 war er mit Abbildungen im ersten Heft der Zeitschrift „Das junge Rheinland“.

Obwohl de Haer schon Mitte der zwanziger Jahre die kubistisch-expressionistische Abstraktion aufgegeben hatte, gehörte er in der Nazizeit zu den Verfemten. Auch aus dem Düsseldorfer Kunstmuseum wurden Bilder von ihm entfernt. Seine große Zeit – und das wird besonders in dieser Kaiserswerther Ausstellung deutlich, in der auch Arbeiten der dreißiger und vierziger Jahre zu sehen sind – war eindeutig die zwischen 1919 und 1921.

Das Ensemble der drei großen Bilder „Maler und Mädchen“ (1919), „Mädchen mit Blume“ (1919) und „Zwei Sonnenblumen“ (1924) zeigt ihn auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Die straffe kubistische Komposition der beiden figürlichen Gemälde ist doch voller emotionaler Spannkraft. Fast dramatische innere Erregung deutet die grün-gelbe, von Licht durchflutete Hautfarbe des Manns und der beiden Mädchen an. Traumhafte Versunkenheit spricht aus den Farben – blauem Haar, gelbem Kleid, gelber Blüte – des „Mädchens mit der Blume“ vor abstraktem Farbengrund. Von kubistischen Zwängen befreit, flattern dagegen die drei Jahre später entstandenen Sonnenblumenblätter im Bild.

Eine Übergangssituation zwischen Expressionismus und Impressionismus markiert das große Porträt „Cellist Flieger“ (1925). Das „Stilleben mit Tisch und Stuhl“ von 1929 bewahrt die spontane Frische des impulsiven Pinselstrichs und der Farben, ebenso manche impressionistisch wirkenden Blumenstilleben von 1928/29. Charaktervoll, realistisch auch ein Bildnis wie „Frau Heinen (mit Vogelbauer)“ (1928). Schlicht und gesammelt selbst noch das „Selbstbildnis mit Buch“ von 1935 und das Porträt des Bildhauers Fritz Peretti. Doch was dann später kommt an Blumenstilleben und weiblichen Akten, macht verständlich, warum Adolf de Haer in der Versenkung verschwand. Der Schock der Verfemung von 1937 war offenbar zu stark.

Großartig sind aber auch die frühen kubistisch-expressiven Holzschnitte wie etwa das farbig aquarellierte „Mädchen“ von 1919 in seinem herben Lyrismus, das der „Brücke“-Kunst nahe steht, oder „Im Atelier“ von 1920 und „Erhebung“ (1921). Nicht zu vergessen Radierungen und Lithographien, wie „Porträt am Fenster“ (1923) und „Gasse“ (1920) aus dem „Buch Eins des Aktivistenbundes 1919“. Im ganzen sind 70 Arbeiten zu sehen.

Adolf de Haer ist 1944, nachdem er zum Volkssturm eingezogen worden war, in einem Lazarett in Osnabrück an Lungenentzündung gestorben.

In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 29. Okotber 1992

Als Anatol den Beuys heimfahren wollte

„Mit Haut und Haaren“ aus der Düsseldorfer Szene 1967 – 75 in der Kunsthalle

Ein Auftrieb, ein Menschengewimmel; fast wie einst war das. Viele waren gekommen und freuten sich ganz offensichtlich über ein Wiedersehen mit vielen bei der Eröffnung der Ausstellungen zum 25jährigen Jubiläum der Kunsthalle: der kleinen, aber inhaltsreichen, von Helga Meister engagiert als Rückblick auf die Szene der „Gründerjahre“ 1967 –1975 zusammengestellten Schau „Mit Haut und Haaren“ und der großen Präsentation „Avantgarde & Kampagne“, in der Arbeiten von 40 Künstlern mit Werbung konfrontiert werden.

Trotz der Fülle war aber doch unterschwellig ein wenig Resignation und Enttäuschung zu spüren. Alles ist in diesen beiden ja eigentlich städtischen Ausstellungen Sponsoren zu verdanken. Schon in der Pressekonferenz hatte Jürgen Harten – real und auch im übertragenen Sinn – von der Brüchigkeit und dem dringend notwendigen Umbau des „Kunstbunkers“ gesprochen. Die 25jährige Kontinuität der Vielfalt – sei jetzt einer Verunsicherung gewichen. „Der international stärker gewordenen Kunst sind wir mit dem kleinen Haus, den geringen Mitteln nicht mehr gewachsen.“

„Glücklich verheiratet“

Karl Ruhrberg, der erste Direktor der Kunsthalle, mit der er „sieben glückliche Jahre (einschließlich der Verlobungszeit) verheiratet“ war, hält sie noch immer „für einen unentbehrlichen Fixpunkt auch international“. Was waren das doch noch für Zeiten in den Endsechzigern, als es vielfach keine Kunst war, Kunst zu machen, weil man eigentlich die Anti-Kunst wollte, und als im Beuys’schen Sinne „jeder ein Künstler war“.

Ideen aber gab’s zuhauf. Die Kunstwerke selbst waren arm, bescheiden: arte povera. Sie verbargen dahinter doch oft ihre politische Brisanz im Wirtschaftswunderland. „Mit Haut und Haaren“ brachte man sich selbst ein. Alles wurde zum Happening. Vielleicht gibt gerade die dichte Enge des Ausstellungsraums den vielen Relikten jener Zeit wieder mehr Präsenz. Vieles haben damals ja immer nur wenige miterlebt. Selbst Insider werden nun so manches entdecken, das sie noch nie sahen.

Katharina Sieverdings 1969 mit dem Photomaton gemachte riesige frontale Selbstporträts reißen suggestiv Zonen zwischen Bewusstem und Unbewusstem auf. In den beiden bemalten Gipsbüsten im Kasten von ihr selbst und Imi Knoebel erscheinen Beziehungen: zugleich maskenhaft erstarrt zu sein und sich doch in der Suche nach Identität zu finden.

Sich selbst mit der Photographin Monika Baumgartl stellte auch Klaus Rinke in der Aktion „masculin-feminin“ auf der Tokio-Biennale 1970 aus als Personifikation eines Grundprinzips allen Lebens. Ausgeburten von Angstträumen gleichen oft Günter Weselers Atemobjekte aus Fell, wenn sie in Käfige eingesperrt sind, die ihren Lebens- und Atemraum beengen oder sie vielleicht auch schützen.

Sind es festgenagelte Ängste, die Günther Uecker zeigt, wenn er sich unter eine mit Nägeln gespickte Schreibmaschine stellt? Der einst aus der DDR übergewechselte Künstler stellt auch seine „Kleine Revolution 1948 – 1948“ vor: einen Käfig, in dem Hammer, Sichel und roter Stern maschinell angetrieben rotieren.

An einem mit Illustrierten bedeckten weißen Stuhl Ferdinand Kriwets „Walk-Talk“-Läufer und „Sehtexte“ verwirren als neuartige Seh-Schule, und Marcel Broodthaers, der in seinen fiktiven „Museen“ Kunst und Kultur in Frage stellt, schnitt aus einem Hundertmarkschein den Adler aus, um ihn als Symbol des Geistes über den Mammon triumphieren zu lassen.

Handfester, greifbarer sind Anatols „Arbeitszeiten“, in denen er beispielsweise den Einbaum machte, mit dem er 1972 seinen von der Akademie vertriebenen Lehrer Joseph Beuys über den Rhein wieder dorthin zurückbringen wollte.

Die rote Rose im Wasserglas war das Wahrzeichen von Beuys, als er 1972 auf der „documenta“ in Kassel über „direkte Demokratie“ debattierte und die „1 a gebratene Fischgräte“, das „Freitagsobjekt“, das der „Magier“ jener Zeit 1970 in der legendären Eat-Art-Galerie von Daniel Spoerri am Burgplatz ablieferte, mögen hier knapp den Radius seiner Arbeit vor und nach der Gründung seiner „Deutschen Studentenpartei“ abstecken.

Der „Lidl-Klotz“, mit dem sein Schüler Jörg Immendorff im Januar 1968 vor dem Bundestagsgebäude demonstrierte als Inbegriff für die Proteste und Feste vor und in der Kunstakademie; Klaus Staecks bissige aggressive Plakat-„Anschläge“, Hans Peter Alvermanns süffisante Polit-„Schweinchen“ gehören zu den Scharfmachern der Schau.

Scheren in den Wolken

Doch welch magrittescher Witz in Robin Pages „Skyssors“: einer Schere, die in Vogelfedern endet und die Wölkchen im blauen Himmel eher streichelt als zerschneidet. Welch kindlich-raffinierter, erotischer Charme in den Bildern von Dorothy Iannone, die in „siebenjähriger Umarmung“ mit dem Schokolade-Künstler Dieter Roth verbunden war.

Eine Rarität Fritz Schweglers „Ratat“-Koffer. Herrlich dieser „Pinselstrich“ aus Kuchenteig und Zuckerguß, ein Eat-Art-Objekt, in dem sich Roy Lichtenstein selbst über sein weltberühmtes Bild lustig macht. Und nicht zu vergessen Robert Filliou, der früh Gestorbene „Entertainer von Gedanken, der Fluxus-Künstler, Träumer und weiser Spieler und unerschöpfliche Poet“!

In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 22. September 1992