Frauen-Kultur-Archiv

Rheinischer Kulturjournalismus
Gerda Kaltwasser Textforum

Keine Wohnung an Homosexuelle?

Es fehlt vor allem an Information

Interviews zu einem Vorurteil

In dem zur dritten Lesung anstehenden Entwurf zur Strafrechtsreform soll es, nach dem Willen seiner Verfasser, weiterhin einen Paragraphen geben, der homosexuelle Beziehung mit männlichen Jugendlichen und Heranwachsenden bis21 Jahre unter Strafe stellt. Nach Meinung der Homosexuellen-Verbände in der Bundesrepublik verstößt diese Regelung gegen den im Grundgesetz verankerten Gleichheitsgrundsatz. Um diese Ansicht einer breiteren Öffentlichkeit bekanntzumachen und gleichzeitig die Meinung der Bevölkerung zum Thema Homosexualität zu erkunden, hatte die Homosexuelle Interessengemeinschaft Düsseldorf (HID) Informationsstände errichte, Flugblätter verteilt undKurzinterviews mit Passanten an der Schadowstraße auf Tonband aufgenommen.

Im Fragenkatalog hieß es: „Meinen Sie, daß Homosexualität bestraft werden sollte?“- Würden Sie einem homosexuellen Paar eine Wohnung vermieten?“- „Würden Sie etwas dagegen haben, daß ein homosexueller Lehrer ihren Sohn unterrichtet und wenn ja, haben Sie auch etwas dagegen, daß ein heterosexueller Lehrer Ihre Tochter unterrichtet?“ Jugendliche wurden auch gefragt, ob sie an der Schule Sexualkunde-Unterricht haben, ob überhaupt mit dem Lehrer ein Gespräch über Aspekte der Sexualität stattfinde.

Das Ergebnis, das beim HID an Hand der Tonbandaufnahmen überprüft werden kann, erstaunte auch die Interviewer, die nicht ohne innere Hemmungen zum ersten Mal in dieser Form an die Öffentlichkeit gegangen waren. Von wenigen Ausnahmen abgesehen sprachen sich die befragten Hausfrauen, Geschäftsleute, Rentner, Schüler, kurz eine zufällig ausgewählte Gruppe von Interviewten gegen jegliche strafrechtliche Verfolgung der Homosexuellen aus, gingen also einen Schritt weiter, als der Gesetzgeber dies zu tun beabsichtigt. Unter den wenigen entgegengesetzten Antworten lautete eine (bezeichnende?): „Ich war nie ein Nazi, aber so ein kleiner Hitler, der täte der Bundesrepublik gut. Ins Zuchthaus gehört ihr, alle.“

Bei den weniger allgemein gehaltenen Fragen entspannen sich oft lebhafte Diskussionen. Eine Wohnung an ein homosexuelles Paar vermieten? Außer dem spontanen „Warum nicht?“ oder „Aber ja!“ gab es Zögern, bei dem deutlich die Frage, was wohl die Nachbarn sagen würden, mitschwang. Verblüffung herrschte, wenn der Interviewer fragte, ob die Gefährdung, die der Befragte in einem homosexuellen Lehrer seines Sohnes sieht, nicht auch dort vorhanden sei, wo ein heterosexueller Lehrer die Tochter unterrichte. Darüber hatten viele noch nicht nachgedacht.

Ganz allgemein ergab sich, daß Frauen vorurteilsfreier zum Thema Homosexualität stehen als Männer. Das zeigte sich auch in den Unterschriftslisten – neben Studenten sprachen sich hauptsächlich Frauen für Straffreiheit der gleichgeschlechtlichen Beziehungen aus. Immer wieder wurde bei der Befragung der Mangel an Kenntnis der Situation und Probleme Homosexueller in unserer Gesellschaft deutlich, und nicht selten hieß es. „Wenn ich mehr darüber wüsste, würde ich auf die Fragen vielleicht anders antworten.“

Bemerkenswertes Nebenergebnis der Befragung: Schüler und Schülerinnen, aber auch Heranwachsende, die vor kurzem die Schule verlassen haben, erklärten übereinstimmend, daß es in ihren Schulen keinen Sexualkundeunterricht gebe, daß über Probleme der Sexualität zwar die Schüler untereinander, nur selten aber mit den Lehrern sprechen.

Von unserem Redaktionsmitglied Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post, 2. Mai 1973

Citadellstraße

Nicht nur Baudenkmäler sind erhaltenswert. Auch intakte alte Straßen sind Kunstwerke.

Ganze Städte werden heute von Künstlern zu Kunstwerken erklärt. Die Bewohner dieser Kunstwerke halten meist nicht viel davon. Oft fehlt ihnen sogar das Auge für das, was bemerkens- und erhaltenswert in ihrer Stadt ist. Dieses Schicksal scheint die Citadellstraße jetzt zu erleiden. Ein junger Fotograf, Sigurd Storch, setzt sich mit den Fotos auf dieser Seite für ihre Rettung ein und hofft auf Bügerinitiative.

Die Citadellstraße – die alte Schreibweise mit „C“ statt „Z“ blieb auf den Straßenschildern erhalten – gehört zwar nicht zu den ältesten Straßen der Altstadt, aber sie ist eine typische Altstadtstraße und, was mehr zählt, sie ist in ihrem ursprünglichen Zustand vollkommen erhalten. Kopfsteinpflaster und verschnörkelte Straßenlaternen ergänzen das Bild der Häuserzeilen mit ihren Bauten, die zum Teil in das 17. Jahrhundert zurückreichen.

Die Maxkirche, Klosterkirche des ehemaligen Franziskanerklosters an der Ecke Schul- und Citadellstraße (Heinrich Heine besuchte hier das Lyzeum) entstand um 1735. Doch schon 1620 war das Berger Tor ans Südende der damaligen Citadelle, an die Ecke Citadell- und Bäckerstraße verlegt worden. Um 1755 schuf Baumeister Anton Schnitzler das Haus der Max-Schule.

Im Laufe der Jahrhunderte im Wandel der Stilepochen sind viele würdige Bürger- und Adelshäuser hier entstanden. Sie trugen so freundliche Namen wie „Im Schenkchen“ (Haus Nummer 3, das ehemals zum Palais Nesselrode gehörte), „Im roten Ochsen“ (Haus Nummer 15), „Im Schloß Benrath“ (Haus Nummer 10, erbaut 1718) oder auch „Im Sonnenaufgang“ (Haus Nummer 12, wo 1838 der Brauer Mathias Schumacher eine Brauerei erwarb, Stammhaus der heutigen Brauerei Schumacher an der Oststraße).

Es ist ein Vergnügen, gemischt mit Bitterkeit, durch die stille Straße zu gehen. Mancher Hauseigentümer verwendet auch heute noch Mühe und Geld auf die Pflege der so ausgewogen und maßvoll gestalteten Fassaden. Traurig aber stimmt der Zustand des Verfalls, der an den meisten Häusern zu beobachten ist, aber auch in ihrem Inneren, wo der Detektiv auf den Spuren der Vergangenheit noch Schätze an wertvollen Stuckarbeiten entdecken kann. Zwecklos, dem von Oberbürgermeister Marx 1895 einen nicht vorhandenen Verkehr geopferten Berger Tor nachzutrauern. Und auch der Trost ist schwach, dass diese Straße viel Pariserisches hat, im selbstgenügsamen Charme ihrer Zurückgezogenheit von dem, was man „modernes Leben“ nennt.

Seltsam genug: Der Beschuss der Stadt 1758 verschonte die Straße; das Hochwasser von 1784 umspülte die Erdgeschosse, richtete aber keinen größeren Schaden an. Bomben und Artilleriegrananten im Zweiten Weltkrieg fanden andere Ziele. Jetzt aber scheint der Niedergang einer intakten alten Straße unausweichlich, wenn nicht Heimatvereine, Denkmalpfleger und die Bürger, für die sie tätig sind, ihr Augenmerk statt auf ein einzelnes Bauwerk einmal auf ein komplexes Stück historischer Umwelt richten. Viel haben wir davon nicht aufzuweisen.

Fakten

Die Citadellstraße liegt in der Karlsstadt, dem ab 1787 entstandenen erweiterten Teil des alten Düsseldorf. Die Karlstadt trägt ihren Namen zu Ehren des Kurfürsten Karl Theodor (1724 bis 1799).

Die Citadellstraße reicht von der Schulstraße im Norden zur Bäckerstraße im Süden. Sie umfasst nur 13 Grundstücke auf der westlichen, acht auf der östlichen Seite.

Benannt wurde sie nach der 1552 von Herzog Wilhelm dem Reichen erbauten Citadelle.

Bei der dritten Erweiterung der Stadtbefestigung, 1620, wurde die Straße in den geschützten Teil der Stadt mit einbezogen.

Zwei bedeutende Bauwerke, das ehemalige Franziskanerkloster mit Kreuzgang und das Palais Nesselrode, markieren den Nordrand.

Im Palais Nesselrorde zeigt heute das Hetjensmuseum seine Keramikschätze. Im Süden schließt sich die Berger Allee an. Eng benachbart ist das Spee’sche Palais mit dem Stadtgeschichtlichen Museum.

Gerda Kaltwasser In: Rheinische Post. Düsseldorfer Stadtpost. „Im Blickpunkt“, 4. März 1972

Ein Museum aus Seerosen, Emaille-Ranken und Majolika-Theken

Metzgerladen im Jugendstil

Für jemanden, der mit Begeisterung gute Wurst herstellt, für eine Jemandin, die sich ein Leben ohne den herzlichen Kontakt zu den Kunden nicht vorstellen kann, mit fachlichem Rat zum Bratenstück und zur Wahl des Aufschnitts – für ein eingefleischtes Fleischerehepaar also muss es nicht leicht sein zu verkraften, dass viele Käufer und noch mehr Vorübergehend den Fleischerladen nur betreten, um zu fragen.“ Ist das wirklich echter Jugendstil?“ Oder um zu sagen: „So einen schönen altmodischen Laden hab ich noch nirgendwo gesehen.“

Helene und Peter London von der Lorettostraße sind solche Kunden inzwischen gewöhnt. Vor wenigen Jahren noch kannten sie andere Fragen: „Wollen Sie denn nicht mal modernisieren? Das muss doch schrecklich sein, solche Staubfänger immer sauber halten zu müssen?“ Oder ganz blank: „Wann schaffen Sie endlich das alte Gerümpel weg?“ Das „alte Gerümpel“ ist eine komplette Einrichtung eines Metzgerladens im Jugendstil. Peter Londons Vater Theodor, ein wohlhabender Mann, hat sie 1906 zum Preis von 28 000 Goldmark gekauft und damals um den Preis nicht gefeilscht. Die Einrichtung mit einem Wurst-Gestänge, mit den herrlichsten emaillierten Eisenranken, mit einer Majolika-Theke, mit einer Glas-Kassettendecke, einem unverwüstlichen Plattenfußboden und Wandkacheln im typischen Stil der Zeit hatte zuvor auf der Weltausstellung in Gent (Belgien) 1906 einen ersten Preis gewonnen.

Preiswürdig 1906 – zu preisen 1974. Peter und Helene London, Kinder alteingesessener Düsseldorfer Familien, wissen inzwischen, dass ihr Geschäft das Wert eines Museums hat. Sie wissen auch, wie schnell sich Geschmack und Vorlieben ändern. Peter London, ganz ehrlich, sagt: „Wenn ich einen Sohn hätte, von dem ich wüsste, dass er das Geschäft mal übernehmen wird, ich hätte das alte Zeug schon kurz nach der Währungsreform rausmachen lassen.“

Wer hätte das nicht zu einer Zeit, als Chrom und glatte Fliesen das Gesicht der Geschäfte, vor allem der Lebensmittelgeschäfte, zu formen begannen. Als nur das als sauber und akzeptabel galt, was auch blitzend war wie ein Chirurgenbesteck. Inzwischen blitzt es uns zu sehr, ist alles zu glatt und eintönig. Ein Kachelband mit Seerosenrelief, von keinem Granatsplitter zerstört, darüber ein symmetrisches Rankenmuster, davor das Gestänge mit üppig wucherndem Rankenwerk – daran kann das Auge sich festhalten, daran wird auch etwas deutlich von der Liebe nicht der Gewinnsucht, die einmal bürgerliche Geschäfte zu Treffpunkten der Bürger machte. Liebe zur Natur und zum Detail, aber auch der Stolz zwischen Speck und Blutwurst nicht verwelkende Natur in Großstadteinrichtungen einfügen zu können, das wirkte wohl mit, als Geschäfte in dieser Art eingerichtet wurden. Jugendstil als Stil einer Großstadt-, einer Massengesellschaft: Nirgendwo kann er geschlossener und eindrucksvoller studiert werden als hier an der Lorettostraßen.

Doch was geschieht, wenn die Londons einmal Schluß machen möchten mit der Plackerei? Dr. Irene Markowitz vom Stadtgeschichtlichen Museum hat das Ganze schon neidvoll für ihr Museum in Augenschein genommen. Doch wer kann das bezahlen? Vor allem, wer in Düsseldorf wird die Mittel aufbringen, dieses kunsthistorische Beispiel ohne Beispiel zu erhalten, möglichst sogar in Funktion?

Helene London, die ihren Laden liebt, hat eine Zukunftsvision, die mit ein paar Finanzspritzen Wirklichkeit werden könnte: „Als Schönstes könnte ich mir vorstellen, dass der ganze Laden in ein altes Haus in der Altstadt übernommen würde. Nicht als Museum, sondern als ein feines Aufschnittgeschäft.“ Vergangenheit, die wir lieben, sollte leben.

Gerda Kaltwasser In: Rheinische Post. Düsseldorfer Stadtpost. 13. April 1974

Vom nackten Hans und anderen Leckereien

Ein alteingesessener Düsseldorfer kommt nach der Spätschicht in ein freundliches Innenstadtrestaurant, bestellt ein Altbier und „‘ne halve Hahn“. Nach 15 Minuten, er hat inzwischen das dritte Bier vor sich stehen, will er sich vorsichtig nach dem Verbleib des Happens erkundigen. Da serviert ihm der Ober mit elegantem Schwung und einem fröhlichen „Guten Appetit“ – ein halbes Hähnchen, frisch und knusprig, mit Schweizer Rösti und gemischtem Salat. Der Ober – ein sehr guter nebenbei bemerkt – war Ostfriese. Und er war erst wenige Tage in Diensten eines Restaurants in Düsseldorf am Rhein. Deshalb ist dieses Erlebnis auch nicht den Friesenwitzen zuzuzählen.

Wer, wenn er nicht gerade hier geboren ist, kann sich vorstellen, daß ein „halver Hahn“ ein Mainzer Käse im laufenden Zustand mit Zwiebeln, Kümmel und einem Röggelchen ist. Die gehackten Zwiebeln, womöglich in einer Essig-Öl-Marinade, werden auch „Musikk“ genannt, mit der Betonung auf der ersten Silbe. Die „Musikk“ findet sich auf den Spezialitätenkarten Düsseldorfer Altbierlokale zum Beispiel zum Schwartenmagen. Einfache Leberwurst mit Musikk hingegen wird „Stockfärv“ genannt. Dabei muß die Leberwurst über Nacht in der Marinade liegen, die noch mit Lorbeerblatt, Nelke, Pfeffer- und Senfkörnern gewürzt wurde.

Aber Stockfärv oder Läwerwooschschlat – Leberwurstsalat – sind auf den Speisekarten kaum mehr zu finden. Wohl der „Näcke Hennes“, der nackte Hans, wenn auch nicht unter dieser Bezeichnung. Das ist nämlich einfache Blutwurst, die sogenannte Blootwoosch oder Flönz mit Zwiebeln, Senf und Röggelchen. Man sieht’s an den wenigen Beispielen, die Düsseldorfer halten etwas von der deftigen Hausmannskost. Einfach und billig, so ist sie von den Vorvätern auf uns gekommen, denn Düsseldorf war nicht immer die von allen beneidete reiche Metropole eines (problem)-reichen Bundeslandes. Als das arme Fischerdorf 1288 zur Stadt erhoben wurde, war damit nicht automatisch Reichtum verbunden. Und auch in den Jahrhunderten später ging es eher eingeschränkt zu in den Bürgerhäusern.

Die Vorliebe für die alten rheinischen Spezialitäten hat sich nicht nur erhalten, sie ist in den letzten Jahren wieder stärker geworden. Viele Gaststätten in der Altstadt, aber auch an der Oststraße, am Wehrhahn und in den Außenbezirken pflegen den Eintopf aus Gemüse, Kartoffeln und Fleisch. Der Rheinische Sauerbraten fehlt auf den wenigsten Speisekarten. Nur die alten Namen, die wurden eingehochdeutscht.

Eigentlich schade. Wer würde nicht gern mal in „Pollezeifenger“, Polizeifinger, beißen. Das klingt nicht so hart wie „Bullen“ und erleichtert doch das Gemüt. Polizeifinger sind Möhren oder gelbe Rüben, mit Kartoffeln, Zwiebeln und Räucherspeck gekocht. Anders die „Schnieder-Courage“, die Schneider-Courage. Da werden die Möhren und Kartoffeln mit weißen Bohnen, Rindfleisch und Speckwürfeln angerichtet. Mit den Möhren hatten’s die Düsseldorfer überhaupt. Beim „Dolle Jacob“ werden die Möhren und weißen Bohnen gesondert gegart, beim Mohrepuspas wird das Fleisch gespart, statt dessen wird der Eintopf aus Möhren, Kartoffeln, weißen Bohnen, mit verschlagenen Eiern und Sahne angereichert. Etwas für starke Esser mit viel körperlicher Bewegung. Ganz schön schlau nach modernen Erkenntnissen der Ernährungswissenschaft war dieses Essen. Möhren sind reich an B-Vitaminen, Karotin; weiße Bohnen enthalten viel Vitamin-C und ersetzten dadurch das für die einfachen Leute nur selten erschwingliche Fleisch.

Heutzutage haben die Gerichte nicht mehr die gemütlichen alten, anzüglichen Namen. Der Eintopf wird nicht Eintopf, sondern Gemüse „bürgerlich“ genannt. Das Stielmus heißt Stielmus, nicht „Zenthötches“ wie in alten Zeiten. Und ein Gastwirt, der noch Panhas zum Sauerkraut serviert, wird Panhas nicht als „Knabbeldanz“ anpreisen. Denn das würden nicht mal Düsseldorfer mehr verstehen.

Wie schön, daß wenigstens der Riefkooke noch Reibekuchen, der Pillekooke noch Pillekuchen heißt, ein „Pfannkuchen“, der aus rohen Kartoffelschnitzen-Eierteig besteht. In die Richtung gehört auch die „Pann Schiewe“, Bratkartoffeln aus dünn geschnittenen rohen Kartoffelscheiben. Hier übrigens, wie auch bei den beliebten Muscheln in den Monaten mit „r“ (September bis Februar) findet der Gast endlich die wahrscheinlich lange gesuchte Verbindung zur französischen Küche. Denn Kartoffelgerichte dieser Art wie auch Muschelspeisen von derb bis delikat finden sich in Frankreichs Provinzen. Und die Düsseldorfer haben sich in ihrem Geschmack immer eher nach Westen denn nach Osten ausgerichtet.

Übrigens – auf dem Weg zum Pillekooke in der Altstadt empfiehlt es sich, als Vorspeise ein Matjesröllchen mit Zwiebeln auf dem Markt zu essen. Danach ist Düsseldorfer Altbier, nach alter Art gebrautes Bier, nicht mehr zu umgehen.

Gerda Kaltwasser In: Düsseldorf. Das Magazin für Gäste und Freunde der Landeshauptstadt Düsseldorf, 1977, Heft 4, S. 37

Ich gehe langsam durch die Stadt (Januar)

Alle reden vom Schnee. Lambertus nicht. Schneeprobleme tauen weg. Die anderen bleiben. Zum Beispiel die mit den auf Radwegen geparkten Autos.
Lambertus fielen sie besonders an der Erkrather Straße auf. Wenn da nämlich nicht gerade Schnee liegt, ist ein antikes Kopfsteinpflaster auf der Fahrbahn zu betrachten, das nicht mal bei den Leuten in ihrer vierrädrigen Blechkiste nostalgische Gefühle weckt. Noch viel weniger bei den Leuten auf den zweirädrigen Blechgestellten. Wie dankbar wird da so ein Radweg begrüßt, selbst wenn sein Asphalt angenagt und abgeknabbert ist. Mütter lassen ihre Kinder beruhigt mit dem Rad zur Schule fahren, weil sie ja auf dem Radweg geschützt sind.
Aber wie geschützt ist ein Radfahrer auf dem Radweg? Lambertus beobachtet die Fahrkünste erwachsene wie jugendlicher Radfahrer nur mit Herzklopfen. Schwungvoll geht es da hinunter auf die Pflasterfahrbahn, weil da wieder ein Wagen auf dem Radweg steht. Auf der Fahrbahn aber fahren Autos, dicht an dicht. Die Radfahrer balancieren wieder auf ihrem Radweg, aber nur für ein paar Meter, dann ist ein geparkter Kleinbus im Weg.
Slalom für Kunstfahrer. Keine Kripo steckt den sorglosen Radweg-Parker ein Protokoll hinter die Windschutzscheibe. Aber einem Radfahrer, der statt auf die Fahrbahn auf den Bürgersteig ausweicht – dem kann ein Protokoll schon drohen.

Lambertus
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Stadtpost, 6. Januar 1979

Ratlos vor dem "Anderssein"

Beratungsstelle für Homosexuelle in Düsseldorf

Wie anders darf man sein, ohne aufzufallen? Eine homosexuelle Frau – landläufig „lesbisch“ genannt – hat in unserer Gesellschaft meist nur üble Nachrede riskiert. Es gab und gibt keine Strafverfolgung. Es gab und gibt keine Strafverfolgung. Die Neigung zum gleichen Geschlecht gilt bei der Frau in unserer Gesellschaft als „permissiv“ –man kann’s vergessen. Eine solche Neigung hat ja keine katastrophalen Folgen. Und wen interessiert schon, daß es eine homosexuelle Frau, wie der homosexuelle Mann, sehr viel schwerer hat, einen Partner für das Leben, für das Zusammenleben zu finden?

Die Eltern denken sich meist nichts dabei, wenn ihre Tochter mit Freundlinnen und mit Männern kaum Umgang hat. Ein Mädchen, das keinen Mann zum Freund hat, kann auch kein unerwünschtes Kind bekommen. Das Thema gehört, wie jede Familienberatungsstelle bestätigen kann, seit Erfindung der Pille noch nicht zu den Akten einer überlebten Vergangenheit.

Es ist kein Wunder, daß die Beratungsstelle für Homosexuelle, die es seit dem vergangenen Jahr in Düsseldorf gibt, nur selbten von Frauen angerufen wird. Obwohl die Probleme gleichgeschlechtlicher Neigung bei Frauen nicht geringer sind als bei Männern. Die Beratungsstelle (Telefon 0211 / 353591) beschäftigt sich mit sexual-soziologischen Fragen. Sie wurde von Rolf Gindorf ins Leben gerufen, der 1972 in Düsseldorf die Gesellschaft zur Förderung Sozialwissenschaftlicher Sexualforschung gründete und später das Institut zur Lebens- und Sozialberatung. Die Gesellschaft beschäftigt sich nicht nur mit der Erforschung der Homosexualität. Vor wenigen Tagen hielt sie – wie gemeldet – in Königswinter einen wissenschaftlichen Kongreß über „Sexualität und Gewalt“ ab, bei dem es unter anderem um das Thema der Gewalt gegen Frauen ging: zum Beispiel, aber nicht nur, in der Ehe.

Erfahrungen in Beratungsstellen von „Pro Familia“, Erfahrungen aber auch, die Pfarrer Dr. Hans-Georg Wiedemann und andere Mitarbeiter der Düsseldorfer Telefonseelsorge gemacht haben, ließ die Gesellschaft zur Förderung Sozialwissenschaftlicher Sexualforschung (GFSS)zu dem Schluß kommen, daß Homosexuellen eine eigene Beratungsmöglichkeit geboten werden müsse. Anders als zum Beispiel in den Vereinigten Staaten, wo zumindest in einer breiten bürgerlichen Schicht der Gang zum Psychiater oder Psychotherapeuten nicht ungewöhnlich ist, tut sich der Bundesbürger auch dann schwer, mit seinen Problemen zu einer Beratungsstelle zu gehen, wenn er im Rahmen der gesellschaftlich anerkannten Formen der Sexualität Probleme hat. Wieviel mehr jene anderen, die nicht „normal“ sind.

Wer seine Schwellenangst überwunden hat, erlebt dann oft neue, eher bedrückende als hilfreiche Gespräche. Gerät er nicht durch Zufall an einen Schicksalsgenossen, eine Schicksalsgenossin, wird er auch bei Ärzten, Sozialpsychologen, Pfarrern, Therapeuten oft große Wissenslücken in einem Bereich der menschlichen Entwicklung feststellen, der, wenn nicht dumme Witze, dann peinlich behutsames Darüberhinweggehen provoziert.

Die Mitarbeiter der Beratungsstelle berichten, daß in keinem einzigen Fall der Beratungssuchenden Sexualität im Vordergrund gestanden habe, vielmehr eine Ratlosigkeit, die sich aus dem ergebe, was man „andersartig“ nennt. Nach dem Telefongespräch, das sich lange hinziehen kann, wird ein persönliches Gespräch vereinbart. Meist bleibt es nicht bei einmaligem Gespräch. Es haben sich Gespräche in Wochen- oder Monatsabständen empfohlen. Die Gesprächspartner kommen wieder, oft über 100, 200 Kilometer Entfernung, denn die Düsseldorfer Einrichtung ist bisher die einzige in der Bundesrepublik.

Die Homosexuellen-Beratungsstelle sieht sich einem Problem gegenüber, das auch anderen sozialpsychologischen Beratungsstellen immer wieder zu schaffen macht. Ihre Klientel besteht aus Angehörigen des Mittelstandes. Sie erreicht nicht jene Bevölkerungsschichten, in denen es der Mensch nicht gelernt hat, sich und die ungelösten Fragen, die ihn quälen, die sein Verhalten in der Gemeinschaft beeinflussen, auszudrücken.

In diesen, den sogenannten „unteren Schichten“ der Bevölkerung ist das Unverständnis weit größer als in der Mittel- oder Oberschicht., wo in den vergangenen Jahren, man kann fast genau sagen seit Änderung der Homosexuellen-Paragraphen 175 und 175a im Jahre 1969 im Strafgesetzbuch, sich eine Haltung achselzuckender Duldung durchsetzt. Je geringer der Bildungsstand, desto stärker der psychische und physische Druck auf den Homosexuellen, desto schwieriger auch für ihn, mit seiner Andersartigkeit fertigzuwerden.

Die Gesellschaft insgesamt ist aber auch noch weit davon entfernt, homosexuelle Liebe und Lebensgemeinschaften als gleichberechtet neben anderen Arten des Zusammenlebens anzuerkennen. Noch gibt es Schwierigkeiten am Arbeitsplatz, die über gelegentliches Frotzeln durch Kollegen hinausgehen. Noch gibt es Vermieter, die zwei Männern, die eine Wohnung mieten wollen, das Wohnrecht verweigern oder ihnen kündigen. Bei Straftaten, in die Homosexuelle verwickelt sind, spricht die Polizei gleich von „einschlägigen Kreisen“. Treffpunkte der Homosexuellen sind häufiger als andere Gaststätten Ziel von Razzien.

Solcher Druck ist trotzdem von geringerer Bedeutung als die ganz persönlichen Probleme. Oft erkennen Eheleute erst im Verlauf etlicher Ehejahren, daß er oder sie gleichgeschlechtliche Neigungen haben. Nicht immer sind die Ehepartner dann ohne fremde Hilfe zu Aussprache und Erkennen des Problems fähig. Gindorf weiß von Fällen, in denen Männer erst im Alter von 50 Jahren in der Lage waren, den Eltern klarzumachen, daß sie homosexuell waren.

Die GFSS drängt daher auf eine Sexualaufklärung für Kinder und Jugendliche, in der das Thema Homosexualität nicht ausgespart wird. Spätestens in den weiterführenden Schulen, ganz besonders auch in den Berufsschulen, müßten Jungen und Mädchen über das Wesen gleichgeschlechtlicher Neigungen aufgeklärt werden, um Missverständnisse und Unverständnis abzubauen, aber auch, um den betroffenen JugendlichenHilfen zu geben, sich über den eigenen Zustand Klarheit zu verschaffen. Pastor Wiedemann spricht über das Thema Homosexualität im Konfirmandenunterricht und mit den Eltern der Konfirmanden. Zu diesem Zweck wurde von der GFSS auch eine Kurzinformation für Eltern veröffentlicht.

Über Bedeutung und Umfang der Aufklärungsarbeit muß nicht diskutiert werden. Es wird auf Grund von Umfragen angenommen, daß 13 Prozent der männlichen Bevölkerung homosexuell veranlagt ist. Über die Zahl homosexueller Frauen gibt es keine halbwegs zutreffenden Zahlen.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post, 10. März 1979

Absage an Vorurteile

Wenn der Ausflugsjet, von Abu Simbel kommend, in der Morgenfrische bei Assuan landet, wird Touristen manchmal ein Anblick zuteil, den die Pharaonen während viertausendjähriger Herrschaft in Oberägypten nicht kannten, der noch vor einer Generation undenkbar war: Weiße Wolken machen der jungen Sonne das Himmelsblau streitig. Die Wolken, die manchmal sogar etwas Niederschlag bringen, entstehen über dem Nasser-See, dem See, der durch den neuen Assuan-Staudamm entstanden ist. Noch immer sind die Ägypter stolz auf ihren Staudamm. Die Bewunderung der Touristen für dieses Werk ist ebenso berechtigt wie für die kaum mit Laiensinnen erfaßbare Leistung, mit der der Tempel von Abu Simbel mit seinen riesigen Steinfiguren versetzt wurde, ehe sich der See mit Nilwasser füllte.

Aber die Diskussion über den Nutzen des Staudammes entbrennt immer heftiger. Der Nutzen, den er der seit Jahrtausenden fruchtbaren, aber auch allen Wetterabweichungen ausgelieferten Uferregion des Nils bringen sollte, steht gegen die Zerstörung eines Gleichgewichtes auf biologischem Gebiet, das von den Anbaumethoden der Fellachen in den letzten sechstausend Jahren kaum ins Wanken gebracht worden ist. Die Methoden haben sich nicht geändert, mit dem Holzpflug wird gepflügt, mit der Hand gesät, mit Wasserrädern und der Archimedischen Schraube Wasser auf die Felder geleitet. Mit der Sichel wird geerntet. Dahinter droht das Wunderwerk des Staudamms. Er läßt das Wasser stetig fließen. So stetig, daß der Grundwasserspiegel ständig ansteigt und Tempelbauten wie den von Medinet Habu in Gefahr bringt. In spätestens zehn Jahren wird der Tempel, der 3000 Jahre überdauert hat, zerstört sein. Eine Rettung würde Milliarden Ägyptische Pfund kosten. Omm Seti allerdings, eine Engländerin von 82 Jahren, die sich so in Geschichte und Religion des Pharaonenreiches hineingelebt hat, daß sie als Staatsrentnerin neben dem Tempel wohnen darf, weiß billigere Rettungswege. „Man müßte einen künstlichen See zwischen Nil und Tempel anlegen, um das Grundwasser aufzufangen und abzuleiten. Aber das wollen die Leute in den Dörfern nicht. Sie fürchten, ihre Kinder fallen hinein und ertrinken. Dabei haben sie so viele Kinder.“ Den Einwand, die vielen Kinder seien die Lebensversicherung des armen Mannes, weil von den vielen viele sterben, läßt sie nicht gelten. „Hier stirbt kein Kind mehr, dafür sorgen kostenlose Schutzimpfungen und die medizinische Versorgung. Meine Nachbarn haben zehn, zwölf Kinder, und die werden alle groß.“

Touristen, die – meist in Gruppen – durch Ägypten reisen, haben überall Gelegenheit, den Aufprall von Entwicklungen der letzten zwanzig, der letzten zehn Jahre auf Jahrtausende alte Strukturen kennenzulernen. Vielen ist das gleichgültig. Sie wollen Sonne, Erlebnis, alte Kultur in faßbarer Dosierung und mit Komfort. „Man sollte die Einheimischen aussperren, wenn die Touristen kommen“, sagten Mutter und Tochter auf der Bananeninsel im Nil bei Luxor. Die beiden deutschen Touristinnen fühlten sich, wie viele andere Touristen, von der „Bettelei“ der Plantagenarbeiter und ihrer Kinder so belästigt, daß sie keinen anderen Ausweg wußten. Eine siebzigjährige Deutsche las den beiden in biblischem Sinn die Leviten: „Wir sind hier die Eindringlinge.“ – „Ja, aber wir bringen das Geld. Wir, die westlichen Touristen.“ Wir waren es wohl auch, die dem kleinen Mädchen im Nubierdorf als erste das Zicklein in den Arm gedrückt haben, um die niedliche Idylle zu fotografieren. Jetzt kommen die Kinder mit den Zicklein an die Touristen-Busse und sagen „Foto, Foto“. Und halten schmutzige Kinderhände auf, während die Fliegen in den Augenwimpern sitzen. Aber gegen die Augenkrankheit gibt es Medikamente und das Betteln ist wirklich sehr lästig. Das müßten diese Leute doch merken...

Die nach westlicher Vorstellung ungewohnten Verhaltensweisen der Ägypter verleiten viele Touristen zu Fehlschlüssen und Fehlverhalten. Es ergeht ihnen wie den ersten Spanientouristen vor 25 Jahren in den engen Gassen Barcelonas - sie wagten sich nur mit stoßbereit geballter Faust in der Tasche voran. Der Deutsche, durch lange Isolation von der übrigen Welt nur noch an seinesgleichen gewöhnt, vermochte „fremdländische“ Typen nicht mehr einzuschätzen.

So ergeht es vielen, selbst weitgereisten deutschen Touristen in Ägypten. Die Freundlichkeit der Menschen dort läßt sie unsicher werden, ihr ständiger Drang zum Feilschen bewirkt Unwillen bis zur Bösartigkeit. Viel zu hohe Erstforderungen für minderwertige Ware bringt vielen das Wort „Betrüger“ auf die Lippen. Das absolute Chaos des Kraftfahrzeugverkehrs in der 12-Millionen-Stadt Kairo jagt dem ampelgesteuerten Westler ebenso einen Schauer über den Rücken wie die Menschentrauben, die an den roten Linienbussen hängen, die mit zerbrochenen Fenstern und oftmals nur noch an ein paar Drähten hängenden Motoren durch die Stadt jagen. Dazu die Menschenpulks auf den Vorortzügen, auf den Dächern der Überland-Taxis. Auf dem Dach ist es billiger.

Da stellt sich Aufatmen ein, wenn eine Kamelkarawane, beladen mit frisch geernteten Zuckerrohrbündeln, über die Straße zieht oder der Fellache auf eilig trippelndem Eselchen gegen Abend vom Feld heimkehrt.

Aber das Offensichtliche täuscht. Das Verkehrschaos in Kairo löst sich immer wieder auf, meist sogar ohne schwere Unfälle. In den engen schlecht gepflasterten Straßen geht auch der touristische Einzelkämpfer, ob Mann oder Frau, sicherer als in mancher mitteleuropäischen Großstadt. Eigentumsdelikte oder gar solche mit Körperverletzung gegenüber Fremden sind selten. Viel häufiger ist Höflichkeit und herzlich einladendes Lächeln. Auch in den ärmsten Gegenden, auch dort , wo magere Ziegen, zerrupftes Federvieh zwischen den armseligen Häusern am Stadtrand umher rennen.

Je entfernter vom Tourismus, desto weniger Aufdringlichkeit, desto mehr freundliches Entgegenkommen. Versuchen Sie es mal mit einem mühsam erlernten ägyptischen Grußwort in einer dieser schmutzstarrenden Gassen – eine schönere Steigerung des Selbstwertgefühls durch aufmunternde Zurufe ist kaum vorstellbar. Meist werden Sie gleich eingeladen, zu Tee oder Kaffee. Nehmen Sie an. An Postkartenständern sind überall Ansichtskarten mit dem Bildnis von Staatspräsident Sadat zu sehen. Sie brauchen nicht zu kaufen. Aber sagen Sie, daß Sie Sadat für „a good man“ halten. Der Verkäufer wird Ihr Freund sein. Aber versuchen Sie nicht, einem Mann in den Arm zu fallen, der bettelnde Kinder mit Stockhieben von tankenden Touristenbussen fernhält. Man würde Sie nicht verstehen.

Begriffe wie Schmutz und Elend erhalten in Ägypten andere Dimensionen. Der Kampf gegen Sand, Lehm und Abfall stellt sich als Unternehmen dar, gegen das die Säuberung des Augiasstalles durch Herkules wie ein Kindergartenspiel erscheint. Aber auf jedem Balkon auch in den ärmsten Straßen weht ständig frisch gewaschene Haus- und Körperwäsche. Die Mütter kämpfen den endlosen Kampf immer neu, genau wie die müden alten Esel der Kairoer Müllabfuht.

Auch das Elend hat andere Gesichter. Es muß niemand hungern. Obdachlose, die auf Straßen und Plätzen schlafen, gibt es kaum.

Reisen in Ägypten setzt nicht so sehr Toleranz als vielmehr Einfühlungsvermögen und Absage an Vorurteile voraus. Reisen in Ägypten bringt menschlichen Gewinn, denn es läßt uns ein Volk kennenlernen, daß unter der Last der Schwierigkeiten seinen Stolz nicht verloren hat. Nicht jeder Ägypter heißt Hassan oder Mohammed, sowenig wie jeder Deutsche Fritz heißt. Aber jeder Ägypter fühlt in sich noch das Blut der Pharaonen, deren wunderbare Tempel und Gräber, deren Fertigkeit im Ausnutzen der Gaben der Natur und hochentwickelten menschlichen Geistes wir heute noch staunend erleben, im Ägyptischen Museum, das eine klägliche Rumpelkammer und ein Zauberberg märchenhaften Ausmaßes ist; zwischen den Pyramiden von Gizeh bei Sonnenuntergang, in den Tempeln von Luxor und im Tal der Könige bei sengender Mittagshitze, bei Sonnenaufgang im Sand vor den Felsengöttern von Abu Simbel. Es kann nicht überraschen, wenn auch dieser Pharaonenvergangenheit, der mancherlei Fremdherrschaft, dann die große Umwälzung durch den Islam und dann wieder Fremdherrschaft folgte, - wenn aus den Erfahrungen von 6000 Jahren Geschichte eine neue Religionsphilosophie erwächst, eine von der „Dreieinigkeit“ aus pharaonischem Jenseitsglauben, hebräisch-christlicher Hinwendung zum Jenseits und mohammedanischem Prophetentum. Und daß diese versöhnende Philosophie durch den jungen Ägyptologen Wahit aus Kairo nahegebracht wird. Er kennt übrigens auch das alte Geheimzeichen gegen Schlangen und Skorpione. Es wirkt, selbst wenn man es nur in den Sand malt. Wahit hat es als junger Archäologiestudent selbst ausprobiert.

Von unserem Redaktionsmitglied Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Touristik, 26.02.1980

Hörgeschädigte

Sie sind allein unter Hörenden. Sie finden kaum Berufe. Sie brauchen Geduld und Zuwendung

Es gibt in Düsseldorf sieben Gehörlosenverbände. 670 Gehörlose sind „amtlich erfasst“. 670 Gehörlose sind „amtlich erfasst“. Die tatsächliche Zahl liegt sehr viel höher, da vielfach Eltern lange zu verbergen suchen, daß ihr Kind taub – und damit meist auch stumm – ist. Frühe Förderung aber ist hier, wie bei allen anderen Arten der Behinderung, wichtig. Die Gehörlosen leiden sehr unter ihrer Isolation, sie sind „allein unter Hörenden“, die oft ihre starke Behinderung kaum wahrnehmen, sich über die Konsequenzen nicht klar sind. Vielleicht liegt es daran, daß die Gehörlosen von den „tauben Ohren der Stadtväter“ sprachen, als Vertreter des Stadtverbandes der Gehörlosen ins RP-Pressehaus in Heerdt kamen. Wie wenig sie beachtet werden, zeigt die Tatsache, daß auch bei der vom Sozialamt in der AOK-Zentrale an der Kasernenstraße eingerichteten Behindertenberatung niemand auf Beratung von Gehörlosen eingestellt ist. Bei so wenig Interesse im lokalen bereich wundert es kaum, daß die Gehörlosen auch bundweit wenig Beachtung finden mit ihren Forderungen. Wichtige Forderung, und wahrscheinlich kaum auf Ablehnung durch die Hörenden stoßend, ist die nach schriftlicher Untertitelung der Nachtrichtensendungen im Fernsehen. Dafür findet heute, am Samstag, eine Unterschriftensammlung an einem Informationsstand im Fußgängerbereich Schadowstraße statt.

Die Spatzen streiten sich laut am Futterhaus. In der Kurve kreischen die Bremsen der Straßenbahn. In der kleinen Dorfkirche spielt ein Feriengast die Orgel. Das sind Geräusche, kaum wahrgenommen. Allenfalls das Orgelspiel, wenn ein Könner am Werk ist, lässt aufhorchen. Aufhorchen? Für Gehörlose, speziell für solche, die taub sind von Geburt an, ist dies ein Begriff ohne Bedeutung. Werals normal Hörender sich einmal für kurze Zeit klarmacht, wie stark er von dem abhängig ist, was seine Ohren wahrnehmen und als Information ans Gehirn weitergeben, als lebenswichtige Information oft, der wird erschrecken vor der Vorstellung, nicht hören zu können. Und er wird sich wundern, daß in diesem so strapazierten „Internationalen Jahr der Behinderten“ kaum von Hörgeschädigten die Rede gewesen ist.

Es ist wichtig, über Hilfen nachzusinnen, nicht über Hilfen aus der Technik. Die sind so teuer, daß ein Hörgeschädigter sie sich nicht leisten kann, so zum Beispiel die vor einigen Jahren entwickelten Schreibtelefone oder das Videotextgerät zum Farbfernseher. Das Hörgerät ist nur bei bestimmten Schädigungen des Gehörs wirksam.

„Niemand“, so klagen die Betroffenen, „ist auf unsere Probleme eingestellt. Am Arbeitsplatz entstehen Mißverständnisse, bei Behörden nimmt sich niemand die Zeit, Anordnungen, Vorschriften zu erklären.“ Hinzu kommt bei den meisten eine starke Sprachbehinderung. „Meist werden wir für blöd gehalten, weil wir nicht schnell genug verstehen.“

Obwohl bei Gehörlosen Begabungen und Talente ganz dem Bevölkerungsdurchschnitt entsprechen, stehen ihnen nur wenige Berufe offen, etwa der des Zahntechnikers. Es gibt kaum Aufstiegs-, kaum Weiterbildungsmöglichkeiten. In Düsseldorf ist es bis heute nicht gelungen, wenigstens einen festangestellten Gehörlesendolmetscher oder eine Gehörlosendolmetscherin für die Ämter bereitzustellen. Im Gespräch war einmal der Vorschlag, einen Mitarbeiter des Sozialamtes als Gehörlosendolmetscher ausbilden zu lassen. Aber dafür war kein Geld vorhanden. Es gibt auch in Düsseldorf und schon in vielen anderen Städten, einen Treffpunkt oder ein Informationszentrum für Gehörlose. „Uns wird gesagt, wir sollten uns integrieren. Integrieren Sie sich mal, wenn sie akustisch von der Welt abgeschnitten sind. Zunächst ist es für uns wichtiger, daß wir uns gegenseitig auch fördern können. Es fehlt in Düsseldorf eine höhere Person, die sich für die Gehörlosen einsetzt.“

Hinzu kommt, daß es in der Bundesrepublik die Gebärdensprache, mit der sich Gehörlose verständigen können, lange Zeit als veraltet, unmodern galt, sogar bei Gehörlosen selbst. Alles Heil wurde von der Technik erwartet. Übrigens ganz im Gegensatz zu den so technikbessenen Vereinigten Staaten. In Deutschland können angehende Gehörlosenlehrer diese Gebärdensprache nicht einmal gründlich erlernen. Erst kürzlich wurde in Münster ein Kursus für Sozialarbeiter eingerichtet.

Am Schwierigsten wird es für die Gehörlosen, wenn es um stark abstrakte Begriffe geht, etwa bei Steuererklärungen. Sie können in der Gebärdensprache nicht Wort für Wort übersetzt werden, der Gehörlosendolmetscher muß sie vielmehr selbst vorher begreifen, ehe er sie durch Handzeichen einem Gehörlosen verständlich machen kann.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Stadtpost, 12. Dezember 1981

Wer hat Werke und andere Dokumente? Peter Ludwigs – ein verfolgter Künstler

Kulturinstitute planen eine Ausstellung

Erst in jüngster Zeit hatten die Düsseldorfer Gelegenheit, mehr über jene Künstler zu erfahren, die unter den Nationalsozialisten verfolgt, verfemt, gefoltert, zum Teil getötet worden sind. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg hatte es erste Erinnerungsversuche gegeben, so in der Ausstellung „Lebendiges Erbe“ 1946. Später hieß die Devise „verdrängen“ oder „vergessen“.

In der Reihe der Künstler, die das Stadtmuseum dem Vergessen entreißen will, wird sich im November Peter Ludwigs einfügen, ein Bildhauer und Maler aus dem Kreis um Wollheim und Pankok, später um Schwesig und Barz. Das Stadtmuseum, das Kunstmuseum und die Kunsthalle bemühen sich gemeinsam darum, den Düsseldorfern ein Bild dieses Künstlers zu vermitteln, als freie Mitarbeiterin hat Inge Ludescher die Forschungsarbeit übernommen. Es ist eine Suchaufgabe: Gesucht werden Bürger, die im Besitz von Arbeiten des Malers und Bildhauers Peter Ludwigs sind. Gesucht werden aber auch Zeitgenossen, die noch über persönliche Erinnerungen, Briefe, Dokumente des Künstlers verfügen.

Peter Ludwigs, 1888 in Aachen geboren, hatte die Kunstakademien in Aachen, Lüttich, Brüssel und Düsseldorf besucht und zunächst die Bildhauerei bevorzugt. In Düsseldorf heiratete er, mußte dann in den Krieg ziehen, kehrte zurück und zählte zu den Mitbegründern der Gruppe „Junges Rheinland“ bei Mutter Ey, fand auch bald Kontakt zum Aktivistenbund.

Seine Arbeiten zeigen früh ausgeprägtes soziales Engagement, er war KPD-Mitglied, gründete 1928 die Arbeitsgemeinschaft Revolutionärer Bildender Künstler Deutschlands, war in allen wichtigen Ausstellungen vertreten und wurde schließlich Schriftführer des Reichsverbandes Bildender Künstler, Ortsgruppe Düsseldorf. Das Ausstellungsverbot der Nazis, 1933 ausgesprochen, traf einen Mann, der bekannt war. Schon bald war er ein armer Mann, der von 50 Mark Unterstützung im Monat leben mußte.

Ludwigs arbeitete trotzdem im Widerstand mit. Im März 1937 wurde er wegen Vorbereitung zum Hochverrat verhaftet, 1938 wieder entlassen, 1943 erneut verhaftet und in die Ulmer Höh gebracht. Er mußte schwer arbeiten. Der hochgradig Zuckerkranke überstand diese Zeit nicht. Er starb am 2. Juli 1943.

Das Kunstmuseum bewahrt den von Ludwigs Witwe vermittelten Nachlaß. Im Stadtmuseum gibt es ein großes Ludwigs-Ölbild „Die Mutter“, das wohl die Mutter der Freundin Karl Scheswigs auf dem Hof der „Ulm“ zeigt. Diese mutige Frau brachte den inhaftierten Künstlern oft Essen. 12 Bilder, die noch 1946 in der Ausstellung „Lebendiges Erbe“ gezeigt worden waren, werden heute ebenso gesucht wie Skulpturen.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Stadtpost, 23. Januar 1982

Ich gehe langsam durch die Stadt (Februar)

Längst hat Lambertus es eingesehen – er ist ziemlich altmodisch. Altmodische Leute, das zeigt die Erfahrung, die nicht erst Lambertus’ Generation macht, wundern sich häufiger als jene, die jede neue Entwicklung hinnehmen und keinen Grund zum Wundern haben.
Lambertus wundert sich über manchen Neubau, der in der Innenstadt entstanden ist und nach des Bauherrn Willen Büros aufnehmen soll. Viele dieser Komfort-Büro-Etagen stehen ziemlich lange leer und ungenutzt. Der verwunderte Lambertus erfährt, das sei nicht so schlimm, schließlich handele es sich um Abschreibungsobjekte. Ach so.
Aber was ist mit den Erdgeschossen? Seit Soziologen festgestellt haben, daß Stadtteile, in denen nur Büros existieren, veröden, läßt der kluge Investor im Erdgeschoß Läden bauen. Klein und teuer und deshalb nur schwer zu vermieten oder zu verpachten.
Statt in aparte Boutiquen, freundliche Tante-Emma-Läden eintreten zu können, fühlt sich Lambertus alle paar Meter aufgefordert, in riesige, bunt belegte Brötchen zu beißen. Die heißen zwar nicht Brötchen sondern Baguettes, werden aber auch aus Mehl und Wasser gebacken. Oder eine amerikanische Speiseeiskette will ihm unbedingt bei Temperaturen unter Null ein Kompaktangebot von fünf verschiedenen Schokoladeeis-Sorten unter den Gaumen reden.
Nun scheinen Lambertus die Brötchen wie das Eis zum Fress-Stress der an Verödungssymptomen leidenden Büro-Angestellten zu gehören. Abendliche Belebung der Innenstadt hat er durch sie noch nicht feststellen können.

Lambertus
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Stadtpost, 26. Februar 1983

Das Kopfnicken der Katastrophe

Hanns Dieter Hüsch mit neuem Programm in der Freizeitstätte Garath

Ein Waldschrat, ein Gartenzwerg mit Teufelsblick, ein großer Moralist und ringelnatzischer Lyriker – Hanns Dieter Hüsch, seit Jahrzehnten Einzelkämpfer auf Kabarettbrettern, hat sein Publikum in der Freizeitstätte Garath seit langem; es schrickt zusammen, wenn er donnert, es lauscht atemlos bei jedem Pianissimo des Vortrags und es weiß, wann noch so heiß empfundenes Mitgefühl sich nicht in Applaus entladen darf. Es hat damit manchem Konzertpublikum in der Tonhalle etwas an Bildung voraus.

Hanns Dieter Hüsch hat „Ein neues Programm“. Wieder mit Gesang und Orgel. Der Spiegel, den er vorhält, nicht nur den anderen, der besteht aus unserem Alltagsreden und flach-flotten Modefloskeln. Beim Hineinschauen trifft’s einen: „Oh Schreck, das bist ja du.“ Zum Beispiel: „Was ich schon an Geld ausgegeben habe, um meine trockene Haut zu pflegen, darf ich eigentlich niemandem erzählen.“

Zum Nachdenken: „Wir sind ja auch das Land, in dem immer was gemacht wird. Egal wie, egal wo, egal wann. Ich kenne kein anderes Land, in dem immer alle so viel und so viel Neues und so viel Anderes machen wie bei uns.“

Hüsch scheut sich nicht, von früher zu erzählen. Sein Erinnern an Kindheit, Kindermädchen in sparsam bürgerlicher Umgebung, an die kleinen, reichen Freuden beim Füttern der Schwäne, an Wohnküche mit Sofa, an Klo auf dem Treppenabsatz lassen die jungen Leute, die doch angeblich den alten Quatsch nicht mehr hören können, bereitwillig ins Bewusstsein dringen. Man muss andererseits nicht Grüner sein, um über das da nachzudenken: „’Wo gebaut wird, muss man Bäume pflanzen’, sagt ein türkisches Sprichwort, Le Corbusier bemerkt dazu: ‚Bei uns entfernt man sie.’“

Hüsch findet Worte für unsere Ängste und Ahnungen: „Die Welt hat kein Dach über dem Kopf. Wir sitzen unter Stehlampen und warten auf das Kopfnicken der Katastrophe.“ Er ruft uns zur Tapferkeit auf: „Wenn die Krieger kommen, geh ihnen entgegen mit offenen Händen voll Brot und Salz, Wein und Obst, dass sie sich verlaufen im Knüppelholz deiner Tugenden, dass sie sich verirren im Labyrinth deiner Freundlichkeit.“ Doch was, Hanns Dieter Hüsch, hilft alle Tapferkeit, wenn die „Krieger“ Raketen sind, die weder Wein noch Freundlichkeit von der Bahn ablenken können?

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 23. März 1983

Altern – ein bohrender Abschiedsschmerz

Arno Schmidts nachgelassener Roman „Julia, oder die Gemälde“ - Tippfehler oder Verschreiber aus Absicht?

Prinzessin Julia tritt aus einem Gemälde im großen Saal des Bückeburger Schlosses. Sie, ein Nymphchen, eine Lolita, tritt damit in das Leben, wird Ziel sehnsüchtiger Gedanken und Gefühle eines 65jährigen Schriftstellers namens Leonhard Ihering, könnte auch heißen: Arno Schmidt.

„Julia, oder die Gemälde“ ist der Titel des nachgelassenen, unvollendeten Werkes von Arno Schmidt, der Anfang Juni 1979 im Alter von 66 Jahren gestorben ist. Die Arno Schmidt Stiftung hat das Werk im Haffmans Verlag veröffentlicht (100 Seiten, Personenverzeichnis, Planskizze, DM 130,-, Vertrieb über 2001-Versand) im Großformat als unkorrigiertes Schreibmaschinenmanuskript, wie Schmidt es über 100 DIN-A-3 Seiten hinterlassen hat. Also auch mit Fehlern, die dem Leser das zusätzliche Vergnügen verschaffen, herauszurätseln, ob ein beabsichtigter Verschreiber des Autors vorliegt, der dieses Vexiermittel liebt, oder ob er tatsächlich unbeabsichtigt danebengetippt hat. Unbeabsichtigt gewiß auf Seite 74, wo zweimal ein „daß“ als „das“ getippt steht – Genugtuung für einen Redakteur, dem im Zeitalter der neuen Technik (der Journalist als sein eigener Setzer und Korrektor) ein solcher Vertipper sofort als mangelnde Kenntnis in der Orthographie angelastet wird.

Kaum erschienen, hat das Buch höchst widersprüchliche Urteile ausgelöst, ganz abgesehen vom Streit über die Herausgaberechte zwischen Haffmans Verlag und dem Verlag S. Fischer, in dem die meisten Schmidt-Werke, vor allem die Taschenbücher, herausgekommen sind.

Die einen sind enttäuscht vom immer bitterer und besserwisserischer werdenden Ton des Schriftstellers, von seiner Neigung zu einer Art Alters-Lüsternheit. Andere zollen dem immer noch verblüffenden Universalgeist, dem „Gehirntier“, vorsichtige Hochachtung. Viele sind verwundert, in Arno Schmidt, dem Mann der Mathematik, der pedantischen Genauigkeit, der Detailbesessenheit, einen Romantiker zu entdecken, einen, der nicht nur seinem Hang zu gefürchteter Ironie freien Lauf läßt, wie sie den Romantikern eigen ist, sondern einer, der auch nach romantischer Art ein bißchen spinnt(isiert).

Doch erstaunen kann das nur jene, die Arno Schmidt „gekettet an Daten und Namen“ sahen, wie der Titel eines literaturwissenschaftlichen Werkes über ihn lautet. Wer ihn vorbehaltlos gelesen hat, geriet immer schon ins Jubeln über eine bis ins Weltall blühende Phantasie, die etwa aus „KAFF, auch Mare Crisium“ mehr machte als einen beim Eintritt ins Raumfahrtzeitalter genau berechneten kritischen Roman. Und wer die dankenswerterweise vom 2001-Verlag herausgegebenen, von Arno Schmidt entdeckten „Haidnischen Alterthümer“ gelesen hat, dem mußte sich Schmidt als gar nicht einmal „heimlicher“ Romantiker offenbaren. Die literarische Romantik als Nährboden der Science Fiction, auch das ist eine Entdeckung Arno Schmidts (Ludwig Tieck: „Die Vogelscheuche“, Johann Karl Wezel: „Belphegor“).

Er macht es anfangs mit „Julia“ seinen Lesern nicht leicht. Tatsächlich ist er, der immer seine Stacheln gegen zuviel Öffentlichkeit gesträubt hat, zuletzt gallenbitter in seiner Bargfelder Abgeschiedenheit geworden. Und wo man beim Lesen lachen möchte, wird ein sarkastisches Krächzen draus. Das nicht ohne Selbstgefallen ausgebreitete enzyklopädische Wissen, das auch Entlegenstes umfaßt, läßt den normal Wissenden zurückschrecken vor dem Schmidt-Berg. Und wie schafft er es, zum Donnerwetter, in seinen Büchern immer wieder eine menschliche Gesellschaft aufzutreiben, die seinem Wissen halbwegs gewachsen ist, selbst wenn es sich im Gruppenbild der weniger handelnden als redenden Personen um die Rollenträger des alltäglichen Mittelmaßes handelt?

Doch plötzlich, nach Abwehr, nach Verärgerung über scheinbare Menschen- und Zukunftsverachtung, wirkt der alte Schmidt-Zauber, wird der Leser in den Sog eines Denk- und Fühlprozesses gezogen, der ihn nicht mehr losläßt. Er entwirrt immer leichter das kunstvolle Gespinst aus Realität und Überwirklichkeit, platter Sex entwickelt sich zu wehmütiger Erotik, immer wieder schimmert für den, der gerade am Anfang des Alters steht, die Erkenntnis durch, daß Altern wohl wirklich ein bohrender Abschiedsschmerz ist, mit dem Arno Schmidt bewußt gekämpft hat, wohl wissend, daß jeder in diesem Kampf unterliegen muß.

Deshalb haben gewiß jene nicht Recht, die ihm vorwerfen, in „Julia“ mehr als in allen früheren Büchern das Ende der Menschheit, zumindest ihrer Kultur, akzeptiert zu haben.

Gewiß, da gibt es Sätze wie „Gott iss nischt heilig“, oder „Nichts kann man machen – gar nichts“. Aber dagegen steht ein ganz selbstverständliches Denken in die Zukunft in 1000 Jahren. Ihering-Schmidt: „Gewiß; nach dem Tode eines Schriftstellers entstehen zunächst immer erst einmal Leer-Stellen, blinde Flecke, die langsam nachrücken, manchmal auch nicht – wann wird man wohl erkennen, daß SCHILLING einer der größten deutschen Humoristen gewesen ist und gleichzeitig voll unschätzbarster Zeitbilder: in tausend Jahren wird man ihn brauchen wie LUKIAN!“

Oder wie endzeitlich ist der Satz auf Seite 88: „Es ist so gut wie alles noch zu leisten?“ So schreibt keiner, der wirklich das Ende für gekommen hält. Wer das behauptet, auf den trifft auch ein Zitat aus „Julia“ zu, er ist nämlich „altklug, ohne klug gewesen zu sein“.

Bei allem Abschiedskampf ist es also doch der alte Arno Schmidt, der Mann, der das Radioprogramm so gut kennt wie seinen geliebten Cooper und alle Fehler in der zuverlässigsten Logarithmen-Tafel. Der Mann, der nicht nur einen sitzengebliebenen Primaner zu einem Mathematikbesessenen macht, sondern auch seine Leser dazu treibt, nach über 30 Jahren die Raum- und Zahlenlehre der Oberprima (heute Sekundarstufe II) nebst Logarithmentafel wieder in die Hand zu nehmen und die arg zerfledderte Qual von damals mit neuen Augen zu betrachten.

Dann der Beimwortnehmer Schmidt. Wie hüpft der sprungbereite Geist bei der Schöpfung „Mekka-Liese“ oder dem „Millionarren“. Gar nichts Besonderes ist das, aber erst, wenn’s einer erfunden hat.

Jene Kritiker, für die das Einsortieren in Kästchen das Wichtigste ist und die Arno Schmidt gern ins linke Kästchen sortierten, kriegen auch gleich noch einen Satz vorgesetzt, der nicht ins Kästchen paßt: „Mit diesem Mangel an Nuancen wirkt ihr grauenhaft.“ Gemeint ist die Deutsche Demokratische Republik, aber anziehen kann sich’s, wer mag.

All das, Weltschau und Weisheit, Resignation und Rückschau, sind verpackt in eine vordergründig einfache Geschichte. Ein paar Leute, Weltkind Ihering in der Mitten, finden sich zufällig in einem kleinen Hotel in einem Ort, der „eine Art Bückeburg“ ist, im Sommer 1979, zur Ferienzeit. Zu den real existierenden Personen kommen die zum Leben erweckten Schloßbewohner, Julia vor allem, aber auch der belesene Kastellan, der eigentlich eine Durchlaucht ist, dann die Traumgestalt „1001“ mit ihrem Väterchen, dem Bootsführer auf dem Steinhuder Meer.

Verpackt aber auch in ein Schreibmaschinen-Skript, das in sich selbst Rätsel aufgibt. Wie macht der das? So fragt sich der Schreibmaschinen-Malträtierer, der Mühe genug hat, ein einigermaßen lesbares Maschinen-Skript vorzulegen. Langzeilen eng, Langzeilen mit Zwischenräumen. Kurzzeilen als Pakete rechts und links eingefügt, noch kurzzeiligere dazwischen. Die Ebenen des Denkens und Handelns, des Redens und Schilderns schieben sich übereinander, ineinander, jede Seite zeigt eine äußerst vielseitige Kameraführung, die alles gegenwärtig macht, ohne den Leser von eigener Mit-Arbeit zu befreien. Freilich: „Die Leute weigern sich einfach, aus irgend etwas eine Lehre zu ziehen.“

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post am Wochenende. Geist und Leben, 9. April 1983

Ich gehe langsam durch die Stadt (Oktober)

Es muß wohl mit dem gesteigerten Interesse an Stadt- und Heimatgeschichte, mit der Begeisterung für Hausrat aus alter Zeit, kurzum, mit der seit Jahren unvermindert anbrandenden Nostalgie-Welle zu tun haben, daß die Düsseldorfer ihre Stadt entdecken.
Erntete man früher auf die Frage nach der oder jener Kirche, dem oder jenem besichtigungswerten Haus oder Platz meist Schulterzucken, erhielt höchstens auf die Frage nach dem nächsten Altbierausschank erschöpfende Auskunft, so hat sich das inzwischen geändert.
Gut, die Lokale mit dem leckeren Dröpken sind auch noch heute bekannt. Lambertus aber hört häufig auf den Straßen, in der Straßenbahn noch andere Töne. Da erklärt jemand seinem Besuch von auswärts: „Und hier findet ihr Kultur auf jedem Schritt: Opernhaus, Kunsthalle, die neue Landesgalerie. Auch die Andreaskirche ist sehr schön.“ Am Karlplatz schwenkt ein wackerer Düsseldorfer den rechten Zeigearm, um seinem Gast die Maxkirche und Düsseldorfs Antiquitätenviertel auszudeuten. Am Musikpavillon vor dem Carsch-Haus lacht Lambertus’ Journalistenherz, wenn er den Gesprächen der Passanten anhört, daß sie seine Berichte gelesen haben.
Lambertus freut sich, daß die Stadt bei ihren Bewohnern ankommt. Wenn er aber durch die feingemachten Altstadtstraßen mit den hunderten Pollern Marke Gaslaterne und dem in Müsterchen gelegten Pflaster geht, fragt er sich, ob das noch seine Stadt ist. So fein wie heute war die Altstadt noch nie.

Lambertus
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Stadtpost, 27. Oktober 1984

Ich gehe langsam durch die Stadt (Oktober)

20. Oktober 1984

Ein Glück, Lambertus hat seine Kastanien schon in der Tasche. Zwar plagt ihn noch nicht das Zipperlein, gegen das die Roßkastanien in der Hosentasche ja Wunder wirken sollen, aber der Anblick der glänzenden, schön gefleckten braunen Früchte, das wohlige Gefühl, sie in der Hand liegen zu haben, gehören für Lambertus zum Herbst. Nicht nur mit Kopfschütteln, mit Erschrecken hat Lambertus jetzt erfahren, daß es gelungen ist, Roßkastanienbäume ohne Kastanien zu züchten. Sie grünen zwar, sie blühen zwar, aber vermehren können sie sich nicht, können folglich im Herbst nicht mehr die grünen Stachelbälle zur Erde plumpsen lassen, aus denen beim Aufprall die dicken brauen Samen quellen.
Schlimmer als die impotente Kastanienart aber klingt für Lambertus, daß in Krefeld diese Kastanien nun „aus Versicherungsgründen“ angepflanzt werden sollen. Hat wirklich schon mal jemand eine Beule von einer fallenden Kastanie bekommen? Doch allenfalls von einem Knüppel, den Jungen in die Baumkronen werfen, damit mehr Früchte herunterfallen. Lambertus ohne Roßkastanien in der Hosentasche? Das Forstamt ohne die für die Winterfütterung im Wildpark gelagerten Kastanienberge? In Düsseldorf werden solche „Versicherungsgründe“ nicht greifen, hofft...

Lambertus
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Stadtpost, 20. Oktober 1984

Ich gehe langsam durch die Stadt (Dezember)

Der Knabe auf dem Fahrrad, der sich zwischen den Sonntagsspaziergängern auf dem Niederkasseler Deich durchschlängelte, war seines Zweirads noch nicht ganz sicher. Er schwankte, kippte seitlich in eine Ackerfurche, stieß dabei mit Lenker und Pedal ein paar Fußgänger an. Sie klopften Erde von den Mänteln und lächelten. Auch der Knabe lächelte ein wenig verlegen, packte sein Rad und führte es ein paar Schritte, ehe er wieder aufstieg.
Es war ein japanischer Junge. Aber das ist bei uns in Düsseldorf, ist zumal im linksrheinischen Düsseldorf kein ungewohnter Anblick. Lambertus staunte vielmehr über die Spaziergänger, die, ohne zu schimpfen und zu meckern, über das Mißgeschick hinweggingen. Lambertus ertappte sich bei der Überlegung, was er wohl zu hören bekommen hätte, wenn es sich bei dem unsicheren jungen Radfahrer um – na, sagen wir mal um einen kleinen Düsseldorfer oder gar um einen kleinen türkischen oder griechischen Jungen gehandelt hätte.
Die Überlegung, meint Lambertus, ist erlaubt. Denn es ist schon bewerkenswert, wie unterschiedlich wir reagieren. Lambertus will sich da nicht ausnehmen. Unsere japanischen Mitbürger, die Kinder vor allem, bekommen eine gehörige Sympathievorgabe. Sie wirken nicht so sehr exotisch als vielmehr freundlich, diszipliniert, ruhig. Ein kleines Mißgeschick löst da kaum Unmut aus.
Wäre es ein deutscher Junge gewesen, der Bengel wäre gehörig ausgeschimpft worden. Jedenfalls wäre hinter ihm her geschimpft worden: „Wieder einer von diesen Burschen, die keine Rücksicht kennen, keine Achtung vor Erwachsenen haben, sich alles herausnehmen . . .“ Kennen wir’s nicht alle, was da so auf die Kinder von heute gehäuft wird? Und bei „diesen Gastarbeiterkindern“, da hört doch schlichtweg alles auf, die sind ja – da fehlen einem die Worte. Was wohl das Schlimmste an Mißachtung ist, was wir zu bieten haben.
Die Konsequenz? Lambertus meint, daß Sympathievorgabe allen Kindern gehört. Auch den Rüpeln? Schimpfende Erwachsene sind für sie kein anfeuerndes Beispiel. Diesen nicht nur weihnachtlichen Gedanken gibt zu bedenken

Lambertus
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Stadtpost, 23. Dezember 1984

Lawine des Kircherns

Bernt Hahn las Hermann Harry Schmitz

Im Kammermusiksaal des Palais Wittgenstein herrschte gespannte Stille. Aber nicht lange, dann kicherten hier und dort die Gäste; das Kichern schwoll immer wieder an zu stürmischem Gelächter. Die Heiterkeit hielt auch in der Pause an und ergriff selbst den Rezitator des Abends, Bernt Hahn, so sehr, daß er einmal nicht weiterlesen konnte, sich erst einmal ausprusten musste. Anlaß der Heiterkeit waren die Grotesken des Düsseldorfers Hermann Harry Schmitz, der nach einem kurzen Dasein voller Leiden vor 75 seinem Leben ein Ende setzte, der aber bis heute bei einer großen Lesergemeinde jeden Alters unsterblich geblieben ist. In der vorigen Woche sind im Züricher Haffmans-Verlag diese Werke in drei Bänden neu erschienen (60 Mark) – Anlaß für das Heinrich-Heine-Institut, das Stadtmuseum und das Kulturamts, Schmitz-Grotesken lesen zu lassen.

Bernd Kortländer vom Heine-Institut stellte Autor und Neuerscheinung kurz vor. Bernt Hahn, den sein Generalintendant für knappe zwei Stunden aus der Generalprobe im Großen Haus entlassen hatte, las neben dem Flügel mit der Büste des Groteskenschreibers, einer Porträtbüste, der anzusehen ist, daß Hermann Harry Schmitz ein ebenso scharfer Denker wie Beobachter gewesen ist.

Was ist zu sagen etwa zur Geschichte vom „Ersten Tag an der Table d’hòte“, die man heutzutage als gemeinsame Speisetafel im Hotel oder in der Pension bezeichnen würde im Gegensatz zum Essen à la carte? Da gibt es einen Herrn Schmitz, der sich auf die unglaublichste Art und Weise in ein Nudelknäuel verstrickt. Da gibt es auch eine Kölnerin, die als „brilliantenbeladne Korpulenz“ charakterisiert wird. Schmitz nimmt da gleich die Gelegenheit wahr, auf unnachahmlich übertreibende Art das Köln-Düsseldorfer Konkurrenzverhältnis auf den Arm zu nehmen. In anderen Geschichten treten ein Charleß Nulpe, ein Jean Maurice Ragout Fin auf und geraten in absurde, übertrieben komische Situationen.

Aber solcherlei Komik durch Übertreibung zu beschreiben, führt zu nichts. Lesen muß man das, lesen, am besten laut. Deshalb bitte, bitte, mehr davon und am liebsten bald. Die Fundgrube enthält keine Ladenhüter.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 17. Oktober 1988

Tourismus in China: Mit Maos Mütze auf die Mauer

China – das bedeutet für uns Menschenmassen und strenge Geburtenregelung. Wir denken an Tempel, an tropische Wälder. Der eine schüttelt sich beim Gedanken an gebratene Hunde, der andere beim Gedanken an hundertjährige Eier. China, das erinnert auch an Katastrophenmeldungen. Noch in diesem Frühjahr war von Dürrekatastrophe in der einen, schrecklicher Überschwemmung in einer anderen Provinz zu lesen. China ist eine Welt für sich, fremd, liebenswürdig, lebenslustig und von furchteinflößender Energie. Diese Herausforderung übersteigt jene durch den Nachbarn Japan bei weitem.

Nichts ist gegenwärtig so schnell überholt wie ein Reiseführer über die Volksrepublik China. Wenn das Buch in den Handel kommt, stimmten nur noch die historischen Daten, die kunstgeschichtlichen Kapitel. Handel und Wandel, das Alltagsleben der ehemals blauen Ameisen entwickeln sich atemberaubend geschwind und nicht geradlinig, sondern in Form artistischer Purzelbäume. Mit der Folge, daß es in China heute schon Probleme gibt, die wir mit unserem Gesellschaftssystem identifizieren.

In der Hauptstadt Beijing wachsen die Wohnblocks gleich hinter den alten Flachbauten, die eng ineinandergeschachtelt um kleine Höfe gebaut sind, empor. Ist ein Hochhaus fertig, werden die alten Häuschen abgerissen. Gegen den Protest ihrer Bewohner, die die Entwurzelung fürchten. Es gibt nicht nur Mietwohnungen, auch Wohneigentum. Doch vor allem die älteren Leute fühlen sich heimatlos und verloren in den neuen Waben.

„Das Alte“ stammt inzwischen nicht mehr nur aus der Zeit vor der Revolution, alt ist auch schon die Zeit Maos. Ungeniert wird die Mao-Mütze mit dem roten Stern und anderen Abzeichen als Souvenir verkauft und nicht nur von West-Touristen getragen. Das junge chinesische Liebespaar, das einen freien Tag in der Schlange von vielen hundert einheimischen und fremden Touristen auf der Großen Mauer verbringt, setzt selbstverständlich so eine Mütze kess auf die Ohren. Mao hat viel getan für das chinesische Volk, Mao ist tot. Sie aber wollen leben; wenn möglich, täglich ein wenig besser.

Fanggitter

Es scheint möglich zu sein. Kühlschrank und Farbfernseher sind die meistbegehrten Konsumziele. Private Kraftwagen gibt es kaum. Die Chinesen sind noch immer ein Volk auf Fahrrädern, ohne Beleuchtung, aber mit phonstarken Klingeln, die zu einem begehrten Mitbringsel der Touristen wurden. In Beijing haben alle Lastwagen seitlich zwischen den Rädern ein Fanggitter, um die Zahl der tödlichen Unfälle mit Radfahrern – monatlich etwa 15 – zu verringern.

In den Touristenzentren – neben Beijing, Shanghai, Nanjing ist das vor allem Xi’An wegen der weltberühmten Ausgrabungen der Terrakotta-Armee – schießen die Luxushotels nach amerikanischem Muster und mit amerikanischem Kapital aus dem Boden. „Joint venture“ ist das Zauberwort. Die Amerikaner scheinen auf die chinesische Zukunft zu setzen. Mit Grund. In diesem Jahr hat der Touristenstrom die Qualität einer Sturmflut erreicht.

Sie drohte zeitweise die noch junge Tourismusorganisation im Land hinwegzuspülen. Vor allem in den bisher wenig erschlossenen Westgebieten Chinas fehlt es an Hotels, aber auch an Dolmetschern, vor allem deutschsprachigen. Unbekümmert vertrauen die meist noch jungen, eben den Universitäten entwachsenen Fremdenführer darauf, daß „doch alle Deutschen englisch sprechen“. Das Ergebnis ist unwilliges Murren in den Bussen mit wissenshungrigen Touristen, denen wieder einmal die Erklärung einer Buddha-Statue in den Dunhuang-Grotten entgeht. In Peking in den kaiserlichen Palästen und Gärten oder in XiÀn zwischen den tönernen Soldaten des Kaisers Quin Shi Huang Di ist das anders. Dort gibt es soviel zu sehen und (auch auf Deutsch) zu hören, daß am Anfang einer Reise „auf der alten Seidenstraße“ von Chinas Ostprovinzen in den Westen anderes Murren laut wird: „Wir wollen auch die Leute heute kennen lernen.“

Dazu ist dann reichlich Gelegenheit, vor allem bei Tag- und Nachtfahrten in Zügen, in denen die Reisenden meist regelrecht in Lagen gestapelt unterwegs sind. Sie liegen unter und auf den Bänken, schlafen stehend, geduldige Babies auf dem Arm, in Gängen und Toiletten, lassen ohne Zorn, oft mit einem Lächeln, das Drängeln der glücklicheren Reisenden über sich ergehen, die einen Platz im Schlaf- und Speisewagen haben, sich von dem einen zum anderen Aufenthaltsort aber meist einen Weg durch bis zu 20 Waggons bahnen müssen. Wer diesen Weg einmal hinter sich hat, unternimmt ihn nicht ein zweites Mal, verzichtet lieber auf die nächste Mahlzeit.

Verkehrsprobleme

Die Bahnstrecke quer durchs Land ist eingleisig, nur an den größeren Stationen gibt es ein Gleissystem. Schwere alte Dampfloks ziehen den fast kilometerlangen Zug durch Wüsten und gewaltige Gebirge, bei größeren Steigungen werden zwei Loks vorgespannt. Hin und wieder bekommt der Zug einen Schluckauf: Dann fliegen Koffer aus den Netzen, stürzen die großen Thermoskannen mit immer glühheißem Wasser für den Tee in den Gang.

Das Eisenbahnnetz in dem riesigen Land ist kaum entwickelt. Entgleist ein Zug, ist die Strecke oft tagelang blockiert. Die Straßen werden außerhalb der Ortschaften zu nur mühsam befahrbaren Pisten. In den Wüstengebieten sind sie wegen der starken Stürme im eisigen Winter unbefahrbar, selbst schwere Lastwagen würden umgeweht. Der Liniendienst der staatlichen Fluggesellschaft CAAC wird auf weite Strecken zum Bedarfsluftverkehr. Ist die Maschine von Peking nach Urumqui, der Hauptstadt der autonomen Provinz Sinkiang, nicht genügend gebucht, fällt der Flug aus, die Reisenden sitzen im fernen Urumqui oder noch ferneren Kashgar fest, müssen auf Bahn oder Omnibus umdirigiert werden. Das Improvisationstalent der Chinesen wird immer wieder gefordert. Für die Touristen, aber auch die Geschäftsreisenden, die in immer größerer Zahl unterwegs sind, bedeutet das Abenteuer und Ungewißheit, vor allem aber Zeitverlust.

Doch wieso Verlust? Es gibt soviel zu erleben. Die Westprovinzen unterscheiden sich stark von den Gebieten, die von den buddhistischen Han-Chinesen bewohnt werden. Statt der Tempel bestimmen moslemische Moscheen das Bild der Ortschaften. Die Lebensart hier ist geruhsamer, erinnert an die Türkei, an arabische Länder. Auf dem Speisezettel steht Lammfleisch. Reis tritt in den Hintergrund gegenüber den Fladenbroten. Die Märkte sind bunt und reich bestückt mit Gemüse, Obst, Fleisch und köstlichen Süßwasserfischen. Auf Esels- und Maultierkarren werden Waren und Menschen transportiert. Mit Begeisterung liefern sich die Kutscher, oft noch Kinder, mit ihren Touristenfrachten auf zweirädrigen Karren Wettrennen auf Straßen voller Schlaglöcher und Wasserrinnen. Kleine Geschenke – der einfache Kugelschreiber ist freilich kein beeindruckendes Angebot mehr – werden von der ganzen Familie bewundert. Feilschen um den Preis ist selbstverständlich, aber die Anfangsforderungen sind noch nicht so phantastisch wie in Touristengegenden Ägyptens oder Nordafrikas. Wie lange noch? Die Touristen, die die niedrigen Preise mit üppigen Trinkgeldern ausgleichen, sorgen schon dafür, daß auch der kleine Kashi bald merkt, wohin der Hase läuft.

In den schon erschlosseneren Gebieten, etwa am Anfang der Großen Mauer, ist die „Touristen-Anmache“ bereits Alltagsgeschäft. Hier ist’s auch erheblich teurer als in den westlichen Provinzen. Auch das übrigens ein Ergebnis der freieren Wirtschaft. Unter Mao galten Einheitspreise, war allerdings die Versorgung einheitlich karg, soeben zum Leben ausreichend.

Neue Kaufhäuser

Heute werden fast täglich neue Kaufhäuser eröffnet, nicht nur Freundschaftsläden, wo der Tourist mit dem eigens für ihn geschaffenen Geld Seide und Lackarbeiten, Jadeschnitzereien und Schmuck oder Vasen aus Cloisonnée kaufen kann. Auf den Märkten und im Kaufhaus wird mit Renminbi, der einheimischen Währung, bezahlt. Es gibt einen grauen Markt, auf dem der Touristen-Yüan günstig gegen Renminbi getauscht werden kann. Wer sich auskennt, kann auf diese Weise außerordentlich billig leben. Junge und nicht mehr so junge Rucksacktouristen wissen dies zu schätzen, genau wie die preiswerten Massenunterkünfte in großen, mit Matratzen ausgelegten Schlafsälen.

Wer nicht mit dem Rucksack reist, braucht stabiles Gepäck und zumindest eine Krawatte – Damen vergleichbar Formelles. Denn in Xi’An lockt neuerdings eine große China-Schau mit Bankett: „The Tang Dynasty“.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Reise-Journal, 5. November 1988

Nur die Hausgeister der Flora durften auftreten

Bilderbogen über 90 Jahre auf der Schulbühne

Sie priesen nicht mit viel schönen Reden das 90jährige Bestehen ihrer Schule, sie demonstrierten es auf der Bühne der gut hergerichteten Aula ihres ehrwürdigen Schulhauses: Die Mädchen und Jungen der Realschule an der Florastraße, die einst als Mädchen-Mittelschule begonnen hatte. Schulleiterin Adelheid Kolb begrüßte die Gäste, darunter Ratsherr Hans Funk (CDU) vom Schulausschus und Vertreter des Stadtbezirks 3, in dem die Floraschule eine bedeutende Stelle als Lehrinstitut hat. Die Bilker Heimatfreunde waren vertreten, aber auch der für die Existenz einer Schule so wichtige Nachwuchs, die Kinder einer Grundschule des Bezirks.

Dann ging’s gleich hinein in die Geschichte. Kunsterzieher Walter Borgerding hatte es übernommen, durch das Geschehen zu führen. Da gab es manches zu belächeln. Aber die blauen Schulmützen aus Kaisers Zeiten wirkten eigentlich ganz modisch. Der Chor kommentierte die Entwicklung musikalisch. Schulleiterin Kolb hatte gebeten, die Szenenfolge nicht durch Beifall zu unterbrechen. Spätestens beim Walzer mit richtigem Turnierpaar konnten die Gäste ihre Hände nicht mehr ruhig halten. Es musste geklatscht werden. Erster Weltkrieg mit Fußlappen nähen und Binden wickeln für die Soldaten an der Front. Schulfest unter französischer Besatzung, da durfte kein politisches Wort fallen, durften nur „die Hausgeister der Flora“ auftreten. Nazizeit mit Hitlergruß und Drohungen, wieder Krieg, Bomben, von denen die Floraschule zum Glück weitgehend verschont blieb.

Neunzig Jahre ist sie jung, das Schulhaus selbst ein Baudenkmal, mit noch erhaltenem mehrfarbigem Plattenfußboden im Treppenhaus und einem blühenden Schulleben, von dem sich am Nachmittag bei Kaffeetafel und Rundgang einige hundert „Ehemalige“ überzeugen konnten.

Gerda Kaltwasser In: Rheinische Post. Düsseldorfer Stadtpost, 17. April 1989

Monumente aus Reimen

Christoph Hauschild: Lyrische Heine-Porträts

Statuen bedeutender Persönlichkeiten sind im allgemeinen aus Stein oder Bronze. Manchen setzen auch Dichter oder Schriftsteller ein Standbild aus Reimen. Bei Heinrich Heine, selbst wortgewaltig wie kaum ein zweiter in der deutschen Sprache, musste die Fahndung nach solchen literarischen Denkmälern zu Überraschungen führen. Jan-Christoph Hauschild, Mitarbeiter am Heine-Institut und an der Düsseldorfer Heine-Ausgabe, bekannt auch als Büchner-Forscher, enthüllte jetzt vor der Heinrich-Heine-Gesellschaft solche poetischen Statuen für den so geliebten wie gehaßten Dichter.

Auf Heine, von dem über 700 Gedichte bekannt sind (der Düsseldorfer Lokalredakteur Karl-Ludwig Zimmermann, genannt Zips, hatte ihn an Zahl noch übertreffen wollen, was aber nicht gelang), wurde mit Vorliebe in „Heine’scher Manier“ gereimt. Was dabei herauskam - rund 500 Beispiele sind bekannt - war „selten Gold, meist Strass“, meinte Hauschild. Ein Gedicht von Gustav Schwab, das Hauschild deutlich schwäbelnd vortrug, war allerdings eher ein Un-Denkmal, schon deutlich antisemitisch. Ganz anders Georg Herwegh, den Heine als „eiserne Lerche“ verspottet hatte, die dann ihrem Kritiker ein wahrhaftiges, gedichtetes Monument schuf.

Paul Heyse, den Hauschild rheinisch reden ließ, beschäftigte sich hellseherisch mit „Heine in Düsseldorf“ wie auch Arnold Weiss-Rüthel, dessen grimmiges Gedicht „Heine-Denkmal“ 1925 in der „Weltbühne“ abgedruckt wurde, und das er „dem Kaiser, Hitler und Ludendorff“ widmete. Daß der Schriftsteller später ins KZ kam – wen wundert’s?

Peter Rühmkorf, Träger der Heine-Ehrengabe der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Gesellschaft, schrieb 1959 ein bewegendes Heine-Gedenklied, zu einer Zeit, als das noch nicht so selbstverständlich war wie heute. Und auch der scharfzüngige Gerd Semmer dachte 1959 an Heinrich Heine, den Geschmähten und fast Vergessenen, als er über „Düsseldorf an der Düssel“ schrieb, die Hauptstadt des Wirtschaftswunders.

Hauschild ließ auch eine zeitgenössische Stimme von „drüben“ zu Wort kommen. Peter Hacks, der sonst so gesprächige, wird in dem Gedicht auf das Heine-Denkmal in Ost-Berlin ganz knapp, ganz präzise. Hauschild bedauerte, daß es in Düsseldorf kein Heine-Denkmal gibt, bei dem man dem Dichter den Arm um die Schulter legen kann. Aber hat nicht der Bildhauer Bert Gerresheim sein Heine-Monument am Schwanenmarkt als „begehbare Gesichtslandschaft“ geschaffen, damit Heine ganz ergriffen werden kann?

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 28. Oktober 1989

Masuren – noch ein Stück der alten Welt

Das Reiseland Polen ist zu entdecken, jetzt, da die ärgsten Versorgungsschwierigkeiten beseitigt sind. Im Sommer locken Ermland, Masuren mit Seen und Wäldern. Der Zwangsumtausch wurde abgeschafft. Wenn auch die Preise ständig steigen, für den Touristen aus dem Westen sind Lebensmittel, öffentliche Verkehrsmittel und Kfz-Treibstoff noch immer unvorstellbar billig.

Auf dem Bahnhof von Preußisch-Eylau, dem heutigen Ilawa, standen unsere Freunde mit frisch gepflückten Feldblumensträußen. Der Hausherr begrüßte die Damen mit dem in Polen auch heute noch selbstverständlichen Handkuß. Wir hatten eine angenehme Reise hinter uns. Der Ferien-Autoreisezug, den TUI in Hannover einsetzt, erspart dem westlichen Autotouristen in Richtung Polen die noch immer aussichtslose Suche nach einer Übernachtungsmöglichkeit in der DDR oder im polnischen Grenzgebiet. Der Zug setzt sich gegen 21 Uhr in Bewegung, jedes Abteil enthält vier Liegemöglichkeiten, Frühstück ist im Preis enthalten.

Durch die Grenzformalitäten nachts wird der Reisende kaum geweckt. Freundliche Grenzbeamte werfen einen kurzen Blick auf Visum und Reisepaß. Der Zugbegleiter hat schon vorher die Kraftfahrzeug-Papiere kassiert, falls der Zoll eines der Autos inspizieren will. Es passiert so gut wie nie. Der Zugbegleiter gibt auch wichtige Ratschläge. Er hilft sogar, wenn jemand mitten in der Nacht entdeckt, daß er ohne Visum unterwegs ist. Die Sonne strahlt auf die von den Rungenwagen rollenden westdeutschen Autos und auf einen liebevoll restaurierten Bahnhof aus der Jahrhundertwende.

Kaffee nach Gramm

Hier werden wir in 14 Tagen unsere letzten Sloty in Hefeteilchen, polnische und albanische Zigaretten, in glühheißen Kaffee (es gibt ihn in zwei Qualitätsstufen, das Kaffeemehl wird nach Gramm abgewogen) und einen letzten Teller Bigosch, Sauerkraut, umsetzen. Jetzt ist keine Zeit. Außerdem haben unsere Gastgeber in Kühltaschen und Thermoskannen alles dabei für ein Picknick. Die beiden, vor zehn Jahren aus politischen Gründen zu Frührentnern gemacht, müssen sparen. Draußen essen und trinken ist zu teuer. Für sie. Wir hingegen halten unsere tausende Slotyscheine in Händen und wissen nicht, wie wir sie loswerden sollen. Daß das Leben so billig sein kann…

Mitreisende, soweit sie ohne Auto unterwegs waren, hatten schon ab Grenze an jeder Station den Zug verlassen. Ältere Leute waren es meist, oft in Begleitung der Kinder. Für die einen war es Heimkehr, für die anderen erste Begegnung mit einer anderen Welt. Niemand gab lautstark Ansprüche zum besten. Viele aber schwärmten vom Land ihrer Jugend. Eine Schwärmerei, die drei Düsseldorfer auf der Fahrt ins Ermland und nach Masuren schon vom Zug aus teilten.

Allenstein, das polnische Olstyn, ist die größte Stadt in Ermland und Masuren, eine Industriestadt mit den fürchterlichen Miethauskomplexen, wie sie die Stadtränder hüben wie drüben, wenn auch häßlich in unterschiedlichen Graden, markieren. Mrogowo, das frühere Sensburg, liegt landschaftlich reizvoll, hier gibt es ein Vier-Sterne-Hotel am Wasser, mit allen Sportmöglichkeiten. Die Übernachtung im Doppelzimmer mit Frühstück kostet fast 200 Mark. Busausflüge in den nahen Wallfahrtsort Heiligelinde, ins fernere Danzig, aber auch nach Masuren, wo es am ursprünglichsten ist, nach Augustow oder Suwalki zum Beispiel, werden angeboten.

Wir wohnen in einem Knusperhäuschen mitten in einem Wald, der nur an einer Stelle einmal endet und in weite, sorgfältig bestellte Felder übergeht. Zum Schwimmen haben wir in unmittelbarer Nachbarschaft die Wahl zwischen der Kleinen und der Großen Babant, zwei Seen, in denen sich die Wipfel von Eichen, Birken, Fichten spiegeln, aber auch die gestreckten Silhouetten fliegender Störche, die auf der Suche nach der nächsten Heumahd sind. Wo gemäht wird, finden sich reichlich Mäuse. Reh- und Rotwild kommt allabendlich in die Nähe des Knusperhäuschens. Nachbarskinder bieten frischen Fisch aus den Seen an, Aale, Karauschen, Schleien, sicher ein wenig am Rand der Legalität der Natur abgeluchst.

Diese Natur ist ein Kapital, eines, das sich durch Brachliegen verzinst. Viele Polen, die nachdenklichen vor allem, wissen das. Sie möchten vorsichtig, nicht überstürzt vorgehen. Möchten die touristische Zersiedelung verhindern. Herrliche Campingplätze in Wäldern und an Seen gibt es bereits. Walderdbeeren und Pfifferlinge gedeihen üppig ringsum. Bienenzucht und Honigproduktion haben einen hohen Standard. Niemand muß mehr hungern, am wenigsten die Touristen.

Das Straßennetz ist ausgezeichnet. Ein paar weitere Hotels sind wünschenswert. Aber nur an ganz wenigen Stellen sollen Feriendörfer entstehen. Die westdeutsche Tourismusindustrie hat längst bei den Gemeindeverwaltungen angeklopft, hat goldene Berge versprochen. Bisher weitgehend vergebens. Wie lange noch in einem Staat, dessen Finanzkraft erschöpft ist?

Die Polen sind Meister im Ergreifen von Gelegenheiten. Das ist die einzige Überlebensstrategie für den Einzelnen. Wenn es keinen Kitt gibt, werden die Scheiben eben mit gut ausgekautem Kaugummi aus den Paketen westlicher Freunde befestigt. Aber solche Improvisationskunst hilft der Volkswirtschaft nicht auf die Beine. Jeder kauft nur das Allernötigste, weil das Nötige zu teuer ist. Deshalb ist der Versuch unserer beiden 60jährigen Freunde, es beruflich noch einmal in der freien Wirtschaft zu versuchen, ein Drahtseilsakt ohne Balancierstange.

Not in den Städten

Die große Hoffnung der Polen ist die Bundesrepublik. Enttäuscht haben sie sich von ihren traditionellen Freunden Frankreich und England abgewandt, von denen sie sich in Notzeiten betrogen und übervorteilt fühlten. Die DDR, das ehemalig sozialistische Bruderland, ist ihr Freund auch nicht, in Polen wird das sehr klar gesehen. Werden wir, können wir im Westen die Hoffnungen erfüllen?

25 Prozent Preissteigerung in einem halben Jahr bei knapp 100 Mark Rente. Ist damit zu leben? In den Städten werden die Touristen immer wieder um ein paar Mark angesprochen, in deutscher Sprache von alten Leuten, die mit dieser Rente leben müssen. Auf dem Land ernten die meisten in Feld und Garten, was sie brauchen. Dort klappt auch die übrige Versorgung besser, etwa mit T-Shirts aus China und Rotwein aus Spanien. Weil Stadt und Land nach dem Gießkannenprinzip versorgt werden, auf dem Land aber keiner so etwas kauft.

Außer Deutsch wird von der älteren Generation Französisch, von der jüngeren oft Englisch gesprochen. Ohne Vergleiche zu ziehen, ohne das Aufrechnen des nicht Aufrechenbaren werden in Gesprächen Erinnerungen wach. Erinnerungen an böse Erfahrungen mit Nazis wie mit sowjetischen Unterdrückern. Und es gibt nicht wenige Polen, die „könnten auf einem deutschen Paß bestehen“. Aber sie wollen Polen bleiben in der Hoffnung, daß ihr Land alle Schwierigkeiten überwindet.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Reise-Journal , 4. August 1990

Phänomenaler Fallensteller

Obwohl jung gestorben, ist er quicklebendig geblieben: Herrmann Harry Schmitz, der Düsseldorfer Meister des Grotesken. Wir sind eingeladen zu seinem 111. Geburtstag

Die Elf ist eine närrische Zahl, die einhundertelf selbstverständlich auch. Aber die Tatsache, daß wir in diesem Jahr, genau gesagt am 12. Juli, des einhundertelften Geburtstags von Hermann Harry Schmitz gedenken, sollte uns nicht dazu verleiten, den Autor höheren und allerhöchsten Blödsinns für einen Narren zu halten. Schon gar nicht für einen Jecken oder Karnevalisten. Der Mann mit dem langen Schädel, den langen Händen, den traurigen Augen und der fragilen Gesundheit war alles andere als ein deftiger Büttenredner. Sein Ideal war Oscar Wilde, ihm eiferte er beim Schreiben nach, seinem Dany-Vorbild folgte der Düsseldorfer Hermann Harry Schmitz, wenn er im schwarzen, rot gefütterten Cape mit wehendem weißem Seidenschal durch die Altstadtstraßen schritt, gestützt auf ein Spazierstöckchen, dessen Griff die Nachbildung eines Negerkopfes war.

Hermann Harry Schmitz wurde nur 33 Jahre alt, starb von eigner Hand nach langem schmerzhaftem Leiden, für das er wohl keine Besserung sah. Der Schriftsteller war, ein besseres Wort fällt mir nicht ein, ein Phänomen. Die Düsseldorfer liebten ihn, ihren Landsmann aus gutbürgerlichem Hause, sie verschlangen regelrecht gierig die tollen Geschichten, die er schrieb, Geschichten voller Übertreibungen, grotesker Zwischenfälle und Verwicklungen, dabei auch voller Anspielungen auf Fakten und Moden der Zeit. Nichts war vor seinem durchdringenden, die unwahrscheinlichsten Verflechtungen voraussehenden Schriftstellerblick sicher, nicht der Hut der Dame, der Friseur des Herrn, nicht die scharwenzelnde Untertänigkeit des Spießers und die Dummheit so manchen Akademikers. Er schrieb groteske Theaterstücke von durchschlagender Kürze und Bösartigkeit, etwa „Die Philosophen“, Stelldichein von Zeitgenossen an einer verwesenden Leiche. Oder „Nr. 42. Ein Albdruck“ – groteske Darstellung eines Besuches von Kaiser Wilhelm Zwo in einer Irrenanstalt bei dem Philosophen Friedrich Nietzsche. Das alles ist so übersteigert, daß Zeitgenossen vor lauter ersticktem Lachen möglicherweise die Fallen nicht sahen, die der Autor ihnen stellte. Der Zensor jedenfalls sah sie nicht, H. H. S., wie wir ihn der Kürze halber nennen wollen, wurde nie verboten.

Vielleicht erschien er den seriösen Schrift-Wächtern zu albern. In Wirklichkeit war er ein Vorgänger der großen Absurden wie Dürrenmatt oder Ionesco, vor ihnen Alfred Jarry.

Die Geschichten erschienen im Düsseldorfer Generalanzeiger, wo Schmitz auch Theaterkritiken schrieb. Zu seinem Freundeskreis zählten Hanns Heinz Ewers, Herbert Eulenberg, Rudolf Herzog, Detlev von Liliencron, um nur die Schriftsteller aufzuzählen. Zu ihnen stießen im Weinhaus „Rosenkränzchen“ am Stiftsplatz noch Maler und Musiker. Schmitz, der seit seiner Jugend unter Schmerzanfällen litt, war es wohl nicht zum Lachen zumute.

Und unsereins? Unsereins grinst stillvergnügt bei der nun fast 100 Jahre alten Geschichte vom „überaus vornehmen Friseur“: „In jeder Stadt gibt es sogenannte ‚First-class-Geschäfte’, die ihren Ruf meist ohne eigenen Verdienst, durch die Suggestion der Tradition zu wahren wissen. Da haben wir das Herrenmodengeschäft, sprich ‚Lätest fäschen’, den Schneider, sprich: ‚Täler’, den Schuster, sprich: ‚Buuts’, bei welchem sich der Kavalier, der etwas auf sich hält, zu bedienen hat ... Liegt in einer großen Auslage aus poliertem Mahagoni lediglich ein zusammengeknülltes Seidentuch, ein Hosenträger, ein seidener Strumpf und eine Glasflasche mit englischen Drops, so befindest du dich vor dem einzigen Ort, wo du als Mann von Geschmack und Distinktion dir deine Krawatten, Unterwäsche und so zu kaufen hast“ ... – als wär’s ein Stück von heut’!

Hermann Harry Schmitz war so beliebt, daß sich seine Fangemeinde bis heute erhalten hat und sogar erneuert. So gibt es seit zwei Jahren, seit der denkwürdigen Welturaufführung von „Nr. 42“ beim Bücherbummel 1989, in Düsseldorf eine Hermann-Harry-Schmitz-Societät, die inzwischen über ein eigenes ansehnliches Archiv verfügt. Ein Jahr vorher bereits hatten die beiden Literaturwissenschaftler Bruno Kehrein und Michael Matzigkeit im Haffmans Verlag eine dreibändige, sehr sorgfältig gearbeitete Ausgabe der gesamten Werke herausgebracht. Da hat man den ganzen Schmitz und kommt nicht wieder von ihm los.

Am 12. Juli zum 111. Geburtstag gibt es eine literarische Nacht unter dem Titel „Verschmitzte lesen Hermann Harry Schmitz“, dabei wird auch der Handpressendruck der „Philosophen“ von Wolfgang E. Herbst vorgestellt, ein Ereignis für alle Freunde schöner Bücher.

Es klingt so grotesk wie die Schriften des Schriftstellers, der genau in seine Zeit, in die des Jugendstils, paßte, daß seine gutbürgerlichen Eltern der Düsseldorfer Öffentlichkeit die Tatsache des Selbstmordes ihres Sohnes vorenthielten. Lediglich vom „Tod“ wurde seinen Freunden Mitteilung gemacht.

Gerda Kaltwasser
In: Überblick, Juli 1991, S. 56-57

Schreiben und Reisen über die Abgründe

Autor Hanns Heinz Ewers

Düsseldorf ist dabei, seine Literaturtradition wiederzuentdecken. Das gilt seit gut zwei Jahrzehnten für Düsseldorfs unbestritten größten Sohn, Heinrich Heine: das gilt für eine fast exotische literarische Blüte - für den Groteskenautor Hermann-Harry Schmitz -, und das gilt für einen Mann, der zu den meistgedruckten deutschsprachigen Autoren unseres Jahrhunderts gehört. Mit seiner Biographie ist eine Liste aus dem „Who is who?“ von Thomas Mann bis Adolf Hitler verbunden; sein berühmtestes Werk, „Alraune“, ist in 25 Sprachen übersetzt und wird noch heute gedruckt: Hanns Heinz Ewers.

Ihm galt die Dissertation des jungen Wissenschaftlers Wilfried Kugel, die soeben, vollkommen überarbeitet und mit Forschungsergebnissen bis ins Jahr 1992 aktualisiert, im Düsseldorfer Grupello Verlag erschienen ist (560 Seiten, reicher Bildteil, 42 Mark). Die Stadt Düsseldorf und das Land Nordrhein-Westfalen leisteten Hilfe.

Hanns Heinz Ewers - das war doch der... Ganz richtig, das war der mit dem Buch über den Hitlerjungen Horst Wessel: der, dessen Buch „Reiter in deutscher Nacht“ über den Widerstand gegen die französische Besatzung nach dem Ersten Weltkrieg der Autor mit Widmung dem „Führer“ Adolf Hitler geschenkt hatte; der mit Franz von Papen bekannt war und schon vor 1933 Parteigenosse (PG) wurde; der sich als PG zu seinen jüdischen Freunden bekannte und für ein Heine-Denkmal in Düsseldorf einsetzte.

Ein Mann also in seinem Widerspruch, welcher über den Tod fortdauerte, als ihm im Grabstein auf dem Nordfriedhof ein falsches Todesjahr eingemeißelt wurde. Hanns Heinz Ewers, Freund übrigens von Hermann-Harry Schmitz, lebte von 1871 bis 1943.

Erforscher Wilfried Kugel, der gestern, unterstützt vom stellvertretenden Kulturamtsleiter Klaus Lehmann, die Arbeit „Der Unverantwortliche – das Leben des Hanns-Heinz Ewers“ im „Malkasten“ vorstellte, ist in Düsseldorf bekannt. Vor einigen Jahren besorgte er die Wiederherstellung des Ewers-Films „Der Student von Prag“ für das Düsseldorfer Filminstitut. Dabei wurde die Bedeutung des Schriftstellers für die Geschichte der Filmkunst deutlich. Er hatte das erste Buch eigens für den Film geschrieben, hatte Bühnenschauspieler - wie den „Studenten“ Paul Wegener - überzeugt, daß Filmschauspiel eine achtenswerte Kunst sei.

Ein Jahr arbeitete Kugel im Heinrich-Heine-Institut, wo Ewers’ Nachlaß aufbewahrt wird. In ihm finden sich unter anderem Satiren des Schriftstellers auf die Nazis, denen er schon bald zum Horror geworden war. Sie belegten ihn mit Schreib- und Veröffentlichungsverbot bis an sein Lebensende.

Mit dem Ergebnis, daß sein wechsel- und rätselvolles Leben lange unaufgeklärt blieb, sein Werk in Deutschland fast vergessen wurde, während es in Frankreich und den USA bekannt und beliebt ist. Hierzulande freilich steigen inzwischen die Preise für Ewers-Werke im antiquarischen Buchhandel.

Kugels Ewers-Interesse hatte im Berlin der siebziger Jahre auf dem Sperrmüll begonnen, mit einem zerlesenen Band der „Alraune“. Das war die „Alraune“, die in den fünfziger Jahren noch einmal verfilmt worden war mit Hildegard Knef, Erich von Stroheim und Karlheinz Böhm. Kugel las sich fest und las immer mehr, bis aus dem Lesehunger Forschungshunger wurde. Der führte in Archive bis nach Washington, wo des „Führers“ Bibliothek aufbewahrt wird. Und in Berlin kam es zu Kugels aufsehenerregenden Studien über den Reichstagsbrand. Auch der hatte kurioserweise etwas mit Ewers zu tun.

Der Forscher versuchte, die Psyche des Autors zu ergründen, der früh mit Drogen wie Haschisch, Meskalin, später mit Morphium experimentierte; der die Abgründe der menschlichen Seele beschrieb und dabei oft genug selbst über den Abgründen wandelte - von der Sucht bis hin zu phantastischer geheimdienstlicher Tätigkeit im Kaiserreich. Ewers schrieb, er reiste, und das sowohl in wörtlicher wie übertragener Bedeutung.

Düsseldorf kann sich in den kommenden Wochen auf vielfältige Art dem Autor Hanns Heinz Ewers nähern. Seine „Alraune“ wird in neuer Fassung vom „Off-Theater“ auf die Bühne gebracht; Kugel gestaltet eine Ausstellung mit Reprints aus dem Heine-Institut im Literatur-Café der Stadtwerke, die ab 2. November zu sehen sein wird. Dort zeigt auch der Düsseldorfer Graphiker und Holzschneider Wolfgang E. Herbst eine Holzschnitt-Serie, die er auf Anregung der Stadtwerke zur „Alraune“ geschaffen hat. Im kommenden Jahr wird bibliophil die „Alraune“ nachgedruckt, und das ZDF arbeitet an der Fernseh-Fassung eines Texts mit dem Titel „Die Spinne“.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 21. Oktober 1992

Orden und ein Meyer, der ein Schmitz ist

„Verzeihen Sie, ich bin eine Stricknadel“

„Meyer ist montags Schmitz“, heißt es auf einem Plakat in Köln. In Düsseldorf war Meyer am Wochenende Schmitz, und zwar im Stadtmuseum, dort, wo er laut Museumsdirektor Dr. Wieland Koenig auch hingehört. Nicht Meyer unbedingt, aber Schmitz, Hermann-Harry Schmitz nämlich, in dessen Gestalt und Werk der Kölner Theatermann Frank Meyer mit Kopf und Geist, Haut und Haar geschlüpft ist. „Verzeihen Sie, ich bin eine Stricknadel“ heißt das Programm, mit dem der Ein-Mann-Darsteller unter anderem in einer Acht-Personen-Groteske des Düsseldorfer Autors Hermann-Harry Schmitz (1880 bis 1913) Triumphe feiert.

„Verzeihen Sie, ich bin eine Stricknadel“ ist der Titel eines Stückes verschmitzter Kurzprosa mit der H. H. S., wie wir ihn der Einfachheit halber nennen wollen, seine Düsseldorfer vor 90 Jahren zum Lachen brachte. Und auch 90 Jahre später wieder.

Im Ibach-Saal des Stadtmuseums, wohin die Düsseldorfer H. H. S.-Sozietät eingeladen hatte - ohne Griff in leere Stadtkassen, versteht sich -, machte so mancher erste und wahrscheinlich nachhaltige Bekanntschaft mit dem Autor, dessen Leben so unglücklich verlief. Er schoß, unter unerträglichen Schmerzen leidend, frei nach Ringelnatz in sich „ein ewig tiefes Loch“. Die Zuschauer im Saal sahen nur die Pistole, konnten allenfalls ahnen, wie H. H. S. die Menschen unter Qualen lachen machte. Und Ringelnatz konnte er ja auch nicht kennen.

Folgerichtige Fortsetzung fand die Groteske mit der Verleihung des Grotesken-Ordens 1992 durch den Vorsitzenden der Sozietät, Klaus Lehmann, an den ehemaligen Ratsherren der Grünen, Günther Classen. Der hatte sich im August handgreiflich mit einem Mitarbeiter seiner Fraktion auseinandergesetzt, seine Entschuldigung war von den Mit-Grünen nicht akzeptiert worden, seit dem gibt es im Rat der Stadt eine siebte Partei. Grotesk?

Der Lustwart der Sozietät, Wolfhard Bode, lieferte an den neuen Ordensträger eine geschliffene Büttenrede ab, die es sorgsam vermied, den Schlagfertigen als Helden darzustellen, vielmehr auf die allgemeine kulturelle Misere in Düsseldorf abhob. Nur hier könne man „mit Lustgewinn in die Röhre sehen“. Und mit dem vorgeschlagenen „Kunsthallen-Kahlschlag“ hat sich der neue Kulturdezernent Hans-Heinrich Grosse-Borckhoff möglicherweise schon in der Riege der Grotesken-Orden-Anwärter für 1993 nach vorn geboxt. Günther Classen, dessen Orden aus Kleiderhaken mit Boxer-Shorts und Handtuch bestand, erwies sich als würdiger Ordensempfänger, machte gute Miene zum grotesken Spiel und betonte, daß seine neue Partei keine „schlagende Verbindung sei“.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 26. Oktober 1992

Dichter, Revolutionär & Frauenheld

13.12.1797 – 17.2.1856 Heinrich Heine

Heinrich Heine (geboren vor 200 Jahren) war ein ziemlich pingeliger Zeitgenosse, der sich gern piekfein kleidete und das „Rote Sefchen“ ebenso wie andere Damen seiner Zeit gern küßte. Doch der edle Herr aus Düsseldorf liebte auch den Freiheitskampf der Polen und Griechen und unterstützte den Aufstand der hungernden Weber mit einem Gedicht, das bis heute unter die Haut geht. Heine, der von seiner Heimatstadt lange verschmähte Jude, war ein Anhänger der Französischen Revolution und ihrer Ideale: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Also, genau genommen hatte er mit Euch Brüdern und Schwestern von der Platte ja nicht viel am Hut, dieser Heinrich Heine, dessen 200. Geburtstag die Welt am 13. Dezember 1997 feiert. Er war immer ein ziemlich pingeliger Mensch, wohnte gern nett und zog sich modisch an. Bis zum Schluß natürlich, da lag er nur noch schmerzgekrümmt mit schütterem Bart in Paris in seiner Matratzegruft. Übrigens, wenn ich Euch so liegen sehe auf den vergammelten Bettgestellen in der Kö-Passage, die zur Landskrone hinführt, dann fällt mir immer das Wort von der Matratzengruft ein, mit dem er sein Couchbett in der Pariser Wohnung kennzeichnete. Aber sonst, nee, also, Leute mit schmutzigen Fingernägeln und die nach Tabak stanken, die mochte er nicht. Überhaupt war er ein ziemlich verquerer Typ, dieser Schriftsteller Heinrich Heine, der eigentlich Harry hieß, nach dem Vornamen eines Englischen Geschäftsfreundes des Vaters, und der seine Kinderzeit in Düsseldorf an der Bolkerstraße verbrachte. Viel später, als er schon in Frankreich lebte und schrieb, weil man seine Gedichte und Artikel in Deutschland und Österreich verboten hatte, der Fürst Metternich, heimlich im Bett seine Sachen las. Und mit den Minderheiten, da hatte er auch so seine Probleme. Den schwulen Schriftstellerkollegen August Graf von Platen hat er öffentlich richtig fertiggemacht und auch mit seinem alten Freund Ludwig Börne, deutscher Jude wie er und Emigrant in Frankreich wie er, ging er noch nach dessen Tod ganz schön gemein um. Andererseits machte er sich bei vielen Politikern seiner Zeit unbeliebt, weil er sich für den Freiheitskampf der Polen und der Griechen einsetzte, nicht mit Lichterketten und so, sondern mit toll geschriebenen Aufsätzen. Und als die fast verhungerten Weber in Schlesien den Aufstand wagten, da schrieb er ein Gedicht, das einem bis heute die Gänsehaut auf den Rücken und die Haare zu Berge treibt. Für „Die schlesischen Weiber“ allein hat er ein ganzjähriges Fest zum 200. Geburtstag verdient. Vielleicht merkt Ihr jetzt, daß es sich lohnt, etwas mehr über diesen Kerl zu erfahren. Wie gesagt, in der Bolkerstraße wuchs er auf, war er auch zur Welt gekommen. Da gibt es jetzt das Heine-Haus. Unten ist eine Kneipe drin, die heißt „Schnabelewopski“, nach einem Typen, den er erfunden hat. Und weil Schnabelewopski so ein schweres Wort für die Düsseldorfer ist, nennen sie die Kneipe einfach „Schnabel“. Oder vielleicht auch, weil der Heine mit dem von ihm erfundenen Heimatort des Schnabelewopski eigentlich Düsseldorf gemeint hat. Das lohnt sich, zu lesen, viel hat sich nämlich nicht verändert. Wenn nun einer fragt, warum aus dem kleinen Harry von der Bolkerstraße schließlich der berühmte Dichter Heinrich Heine wurde, so ist das ganz einfach. Der deutsch-jüdische Jurastudent Harry Heine beschloß nämlich, ein wohlbestallter Beamter zu werden. Aber dazu durfte er nicht Jude sein. Aus dem jüdischen Harry wurde ein protestantischer Heinrich. Geholfen hat es ihm nicht. Einmal Jude, immer Jude; das ist wie einmal Berber, immer Berber. Der konvertierte Heinrich mußte statt als beamteter Jurist mit Pensionsanspruch sein Geld als freier Schriftsteller und Journalist verdienen. Mit alle dem Kampf um Honorare und Platz in den Gazetten, der seitdem dazugehört, von dem Ärger mit der Zensur gar nicht zu reden. Übrigens, wenn in diesem Jahr in der ganzen Welt des 200. Geburtstages unseres Düsseldorfers gedacht wird, dann ist das ein Kompromiß. Kein fauler Kompromiß; denn genau weiß wirklich niemand, im Dezember welchen Jahres er zur Welt gekommen ist. Zu der Zeit gab es noch keine amtliche Geburtsurkunde, nur die Taufregister in den Kirchengemeinden. Und ein kleiner Jude, der wurde ja nicht „getauft“. Er selbst führt uns auch in die Irre, hat sich einmal ein Kind des neuen Jahrhunderts genannt. Da könnte er, wenn man es genau nimmt, frühestens im Dezember 1799 zur Welt gekommen sein. Aber ob er dann so herzergreifend über den Abschied des alten Herrschers von seinem Düsseldorfer Volk hätte berichten können, als die Franzosen 1806 einmarschiert waren? „Der Kurfürst läßt sich bedanken“ lasen die älteren Leute neben dem kleinen Harry von einer Bekanntmachung am Rathaus ab. Hab’ ich gesagt, die Welt feiert seinen Geburtstag? Das ist nicht gelogen, nicht einmal übertrieben. Ob in Japan, China, Vietnam, ob in Moskau oder New York – wo immer Schüler oder Studenten die deutsche Sprache erlernen, da tun sie es mit Heinrich Heine. Richtig rührend ist das, wenn irgendwo im amerikanischen Mittelwesten so ein langbeiniger Jeanstyp auf einen zukommt, den Unterkiefer knödeln läßt und rausgurgelt: „Du bist uieh einä Blumä“. Oder wenn in einer Karaoke-Bar im Rotlichtviertel der alten japanischen Kaiserstadt Kyoto um Mitternacht ein japanischer Familienvater im korrekten Anzug, wenn auch mit etwas verrutschter Krawatte zu einem Videofilm vom Rheintal das Bierglas hebt und singt: „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten…“. Kein Quatsch, das gibt es. Und was noch toller ist: die wissen, daß das Gedicht von Heinrich Heine ist. Bei uns galt es ja in den finsteren 1000 Jahren, als man auch Heines Bücher verbrannt hatte, als „Volksmund“. Hohe Ehre für einen verfemten Dichter, oder? Der Knabe, der das Röslein brach, tat das ja auch nicht als Volksmund sondern als Goethe. Wir haben also allen Grund, unsere(n) Dichter zu ehren. Als Düsseldorfer haben wir das sowieso. Schließlich hat er uns den schönsten Werbespruch gratis geliefert. So hat es jedenfalls mal der frühere Oberstadtdirektor Gerd Högener gesagt. Jeder Werbefuzzi würde heute sonstwas dafür bezahlen: „Die Stadt Düsseldorf ist sehr schön, und wenn man in der Ferne an sie denkt, und zufällig dort geboren ist, wird einem wunderlich zu Muthe.“ Na schön, ihr, die ihr Platte macht und Trebe geht, werdet das ein bißchen anders sehen. Oder auch nicht. Wärt ihr sonst hier? Zeit habt ihr ja auch, Zeit, den Heinrich Heine in Düsseldorf zu entdecken. Muß ja nicht gerade auf dem Nordfriedhof sein, wo ganz versteckt zwischen anderen verwitterten Steinen auch der von Betty Heine, Harry’s geliebtem Mütterlein, zu finden ist. Der hat er ein Gedicht gewidmet, das später hochpolitische Bedeutung für alle die bekam, die an der Entwicklung in Deutschland irgendwas nicht richtig fanden: Nachtgedanken. Schau’n wir also mal. Vom Heine-Haus an der Bolkerstraße 53 war schon die Rede. Heine kam da übrigens in einem Hinterhaus zur Welt, das schon vor etwa 100 Jahren abgerissen wurde. Wer eine Spürnase hat, geht in die Mata-Hari-Passage rein und findet dann irgendwo hinten in einem Winkel einen Brunnen, da hat mal Heines Geburtshaus gestanden, zu dem, wie der Dichter mal ironisch (oder vielleicht nicht ironisch?) geschrieben hat, grünverschleierte Engländerinnen pilgern würden. Heine, wohin man guckt. Schräg gegenüber, wo heute Schumacher Alt in den Goldenen Kessel lockt, haben die Heines auch mal gewohnt. Da gibt es noch heute eine Gedenkecke mit Dichterbüste, das war einmal das erste und lange Zeit einzige öffentliche Heine-Denkmal in Düsseldorf. Vor dem Ersten Weltkrieg war es von dem Düsseldorfer Dichter Herbert Eulenberg enthüllt worden. Und auch damals drohte die Zensur, drohte der Polizeifinger, und der hatte mit Gelben Rüben gar nichts zu tun (Polizeifinger nannten die Düsseldorfer nämlich das ebenso billige wie gesunde Möhrengemüse). In der Mertensgasse gibt es ein Haus mit einer Tafel, darauf steht „Arche Noah“. Hier lebte der Onkel des kleinen Harry, der hieß Simon de Geldern und war ein richtiger Märchenonkel, mit dessen Büchern und Mitbringseln aus aller Welt Klein-Harry die tollsten Abenteuer erlebte. Ein anderes erlebte er mit dem Roten Sefchen, der rothaarigen Josepha, Tochter des Scharfrichters. Heine war da schon kein richtiges Kind mehr und Sefchen noch etwas älter. Es erzählte schaurige Hinrichtungsgeschichten und zeigte das scharfe Henkerschwert, aber Harry sagte trotzig: „Ich will nicht küssen das blanke Schwert, ich will das Rote Sefchen küssen.“ Später machte er daraus eine revolutionäre Aktion „aus Hohn gegen die alte Gesellschaft und alle dunklen Vorurteile“. Noch etwas Heine gefällig? Er kannte die alten Geschichten und Sagen der Stadt, etwa die von der armen Jacobe von Baden, die im Schloß umgebracht worden sein sollte (heute wissen wir, daß sie erdrosselt wurde) und seitdem dort spukte. Oder die Geschichte vom Jan-Wellem-Denkmal auf dem Marktplatz, als es dem berühmten Bildhauer Gabriel de Grupello beim Guß an Erz mangelte. Er schickte seinen Gießerjungen in die Bürgerhäuser, um dort silberne Löffel (nein, nicht zu klauen) zu sammeln, damit Roß und Reiter vollendet werden konnten. Im Hofgarten erlebte Harry dann den Einritt Napoleons im November 1811. Für ihn war der Franzosenkaiser ein Befreier, der für die Ideale der Revolution stand: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Heine mußte viele Erfahrungen machen, nicht nur die des übermütigen Rußlanderoberers und Europaverlierers Napoleon, ehe er melancholisch dichtete:

ENFANT PERDU Verlorner Posten in dem Freiheitskriege, Hielt ich seit dreißig Jahren treulich aus. Ich kämpfte ohne Hoffnung, daß ich siege, Ich wußte, nie komm ich gesund nach Haus.

Ich wachte Tag und Nacht – Ich konnt nicht schlafen, Wie in dem Lagerzelt der Freunde Schar – (Auch hielt das laute Schnarchen dieser Braven Mich wach, wenn ich ein bißchen schlummrig war).

In jenen Nächten hat Langweil ergriffen Mich oft, auch Furcht – (nur Narren fürchten nichts) – Sie zu verscheuchen, hab ich dann gepfiffen Die frechen Reime eines Spottgedichts.

Ja, wachsam stand ich, das Gewehr im Arme, Und nahte irgendein verdächtger Gauch, So schoß ich gut und jagt ihm eine warme, Brühwarme Kugel in den schnöden Bauch. Mitunter freilich mocht es sich ereignen, Daß solch ein schlechter Gauch gleichfalls sehr gut Zu schießen wußte – ach, ich kann’s nicht leugnen – Die Wunden klaffen – es verströmt mein Blut.

Ein Posten ist vakant! – Die Wunden klaffen – Der eine fällt, die andern rücken nach – Doch fall ich unbesiegt, und meine Waffen Sind nicht gebrochen – Nur mein Herze brach.

Kein Wunder, daß das einzig wahre Düsseldorfer Heinrich-Heine-Denkmal eine gespaltene Totenmaske ist, vom Bildhauer Bert Gerresheim übrigens als „begehbare Gesichtslandschaft“ gedacht. Auf dem Schwanenmarkt wird sie als solche gern zum Plattemachen im Sonnenschein benutzt. Harry hat sicher nichts dagegen, obwohl ihm, da machen wir uns nix vor, grünverschleierte Engländerinnen lieber wären.

Gerda Kaltwasser In: fiftyfifty. Das Straßenmagazin, 3. Jg. Februar 1997

Die Friedrichstraße

Kopfsteinpflaster, in der Mitte zwei Stränge Straßenbahnschienen, in jedem Haus im Parterre ein kleiner Laden – Metzgerei, Bäckerei, Obst und Gemüse, aber auch Bücher und sogar Schmuck – in den Obergeschossen Wohnungen ohne Bad, die Klos im Treppenhaus; auch mal ein Photoatelier, eine Uhrmacherwerkstatt, ein Herrenschneider, eine Näherin, die auf Wunsch zum Nähen und Flicken in die Wohnung kommt. In den Treppenhäusern riecht es nach Kohl, Pellkartoffeln, auch mal nach Reibekuchen, selten nach Braten oder Rouladen. Das ist meine Friedrichstraße in Düsseldorf zwischen 1930 und 1945, südlich vom Graf-Adolf-Platz, der damals Adolf-Hitler-Platz hieß, Bindeglied zwischen dem alten Bilk und dem jungen Stadtzentrum mit der Königsallee. Kleine Leute wohnten hier bis zum Pfingstangriff im Juni 1943, auch arme Leute. Zum Beispiel in dem großen Haus Nummer 23, das einen Innenhof hatte, der von drei Seiten mit Hinterhäusern umgeben war, mit grüngestrichenen hölzernen Falltüren im Hof, unter denen ausgetretene Steinstufen in Waschküchen und Abstellräume führten. Im Vorderhaus waren zwei Geschäfte, eines für Miederwaren, das andere für „Feinkost“, darüber die etwas teureren Wohnungen. Hinten wohnten die armen Schlucker, die kinderreichen Arbeiter, bei denen manchmal nachts Möbel und Porzellan aus dem Fenster flogen, wenn der Vater den Wochenlohn versoffen hatte. Kommunisten sollten da auch wohnen. Das war in dieser Straße schlimmer als fliegende Untertassen. Die flogen auch bei uns hin und wieder aus dem Fenster im Hinterhaus von Nummer 43, wo mein Vater, der Metzgermeister Michael Kaltwasser, seit 1927 eine völlig heruntergewirtschaftete Metzgerei wieder zu Ansehen und Kundschaft bringen wollte. Sein Meister hatte ihm ein Darlehn gegeben. Irgendwann 1946 habe ich dem die letzte Rate gebracht. Dort im Haus Nummer 43 ließ ein Barmusiker nach besonders großzügigen Gästen – Motto: „Geh’m se dem Mann am Klavier mal ein Bier“ – das Porzellan sausen. Ein Barpianist in dieser Gegend? Nicht nur einer. Klamotten-Schauspieler wie Hilde und Fritz Servos wurden als Freunde begrüßt, Operettenstars wie Trude Adam oder Rudolf Rudolphi, die im Kleinen Haus, dem städtischen Operettentheater gegenüber dem Apollo, auftraten, wurden angehimmelt, Artisten, Conferenciers, Humoristen wie Karl Napp, die im Apollo oder auf Adlers Bunter Bühne auftraten, gehörten zur besser zahlenden Steak- und Schinken-Kundschaft. Gegenüber an der Friedrichstraße war der Kristallpalast. Besuch des Kinderkarnevals vom fünften Lebensjahr an war Ehrensache; erst recht, als Besitzer Ederer Prinz Karneval geworden war. Zwischen Friedrichstraße und Hauptbahnhof war bis zum Kriegsende und noch etwas länger und trotz sich wie Meereswogen auftürmender Trümmerberge das Düsseldorfer Vergnügungsviertel, ein Paradies mit legendären Nachtlokalen wie dem Rauchfang im Apollo, dem Café Korso und der Grotte, mit Kinos wie Residenz und Asta Nielsen, mit Schwof und Rumtata im Oberbayern und dem sanften Übergang zum Rotlichtviertel an der Bandelstraße, das wir Nachtjackenviertel nannten. Das war östlich von der Friedrichstraße. Westlich war auch ein Paradies: das Ständehaus mit dem Vater-Rhein-Brunnen, mit Park, Kaiserteich und Schwanenspiegel, der Schwanenmarkt und der Spee’sche Graben oder, an der Bilker Allee, unter Aufsicht der Großeltern erreichbar, der Floragarten. Und überall Spielplätze mit Schaukeln, Sandkästen und Rutschen.

Feuerwerk am Samstag

Aber das war nur für die Kleinen. Wir Größeren spielten in den Büschen, fochten blutige Bandenkriege mit den Jungens von der Villa Jück aus, eine alte Zigarrenkiste von Vati war mit Pflaster und Flickenresten gefüllt, Ersatz für Mullbinden, denn Rot-Kreuz-Einsatz war immer nötig. Auch an jenem 10. November 1938, als die achtzigjährige Frau Cohn vom Haushaltswarengeschäft gegenüber aus einem Scherbenhaufen in unsere Metzgerei gewankt kam, Mutter ihr einen Stuhl und ein Glas Wasser brachte, der Blockwart die Ladentür aufriß und brüllte: „Das werden Sie noch zu spüren kriegen!“ Meine Mutter bekam es Jahre später zu spüren, als ihr, der schon schwer Behinderten, der Blockwart den Zutritt zum öffentlichen Luftschutzkeller in der Klebekiste, dem alten Bau der Landesversicherungsanstalt, verweigerte. „Korinthenkacker“, sagte ich, versuchte, den Mann beiseite zu drücken. Wäre das Kriegsende nicht schon nahe gewesen, wir hätten das alle zu spüren bekommen. So aber verkrochen wir uns in die Waschküche unter unserem Trümmerhaufen – mein Vater hatte am Tag, bevor deutsche Soldaten die Oberkasseler Brücke sprengten, noch von seinem linksrheinischen Einsatz als Volkssturmsoldat desertieren können – und warteten darauf, daß die Amis endlich kämen. Während sechs Wochen Artillerie- und Tieffliegerbeschuß lernten wir alle, mit dem Sterben und dem Tod umzugehen. Als die Amis schließlich auf ihren Panzern durch die Friedrichstraße rollten, war das eine Befreiung, aber ohne politisches Pathos. Der Kampf ums Überleben ging weiter, nun ohne Artilleriefeuer, ohne Tieffliegerangriffe und Bombergedröhn. In der warmen Maisonne trockneten die im Waschkeller angeschimmelten Matratzen. Der Gelenkrheumatismus kam später. Auch der Hunger. Aber da brachte uns die Tochter eines jüdischen Nachbarn, einzige KZ-Überlebende unserer ganzen jüdischen Nachbarschaft von vor 1938, Matzenbrot. Fritz und Hilde Servos hatten sich aus Berlin durchgeschlagen und standen in den Trümmern unserer Metzgerei. Von den Klos im Treppenhaus war nur das im Parterre übriggeblieben. Ein löchriger Teppich ersetzte die Tür. Es war das einzige funktionierende Klo für drei Trümmerhäuser. Durch die Schlagersängerin Evelyn Künneke erhielt es seinen Charme, durch den Komponisten Michael Jary, der dort Amizigaretten rauchte, seinen exklusiven Duft. Jary und die Künneke gastierten im behelfsmäßig bespielbar gemachten Apollo und wohnten in den Trümmern neben uns bei Freunden. Meine Friedrichstraße hatte überlebt. Ihr Sterben kam viel, viel später.

Gerda Kaltwasser In: Pfeffer, Alla (Hrsg.): Straßenbilder. Düsseldorfer Schriftstellerinnen und Schriftsteller über ihr Quartier., Düsseldorf 1998, S. 58-60

Wie Buys zu Beuys wurde

Probleme mit dem Gleichklang berühmter Namen

Nicht alles, was wie Beuys ausgesprochen wird, wird auch wie Beuys geschrieben. Die Anwohner der Buysstraße in Bilk, am Karolinger Platz, wissen das. Und es wundert sie seit den spektakulären Aktionen des Künstlers und Kunstprofessors Joseph Beuys im Düsseldorf der siebziger Jahre nicht mehr, dass ihre Straße ihm zugeschrieben wird, obwohl die doch Buysstraße heißt. Ein Schreibfehler des Straßenschildermalers?

Keineswegs, auch wenn neulich auf dieser Zeitungsseite die Buysstraße als Beuysstraße auftauchte. Warum brauchten die Düsseldorfer auch so lange, ihrem weltberühmten Künstler Joseph Beuys eine Straße mit seinem Namen zu widmen, nämlich am Rheinufer. Eine Beuysstraße also gibt es, aber nicht in Bilk, wohl aber die Buysstraße und die schon ziemlich lange. Benannt ist sie nach Albert Buys. Der setzte 1657 eine große Buchdruckertradition fort, die von dem Niederländer Jakob Bathen in Düsseldorf begründet worden war. Albert Buys und später sein Sohn Bernhard führten den Titel „Hofbuchdrucker“. Sie druckten meist Werke religiöser Art, so 1589 das erste Hauptwerk des Kaiserswerther Pfarrers und späteren Kölner Universitätsrektors Caspar Ulenberg, die „Psalmen Davids“ mit von Ulenberg komponierten „Teutschen Gesang-Reimen“. Der vor zwei Jahren gestorbene RP-Redakteur Dr. Karl-Jürgen Miesen hat Buys Vater und Sohn in seiner „Kleinen Geschichte des Düsseldorfer Buches“, erschienen 1990 bei Droste, gewürdigt.

Gerda Kaltwasser In: Rheinische Post. Stadtteilnachrichten, Düsseldorf-Mitte, 19. Januar 1999

Erbliche Ataxien

Wachen Geistes in den körperlichen Verfall

Krankheit, Leiden, Behinderung, Tod – Begriffe, die wir mit Schmerzen, schwerbehandelbaren Krankheiten, vor allem mit vielen Tumordiagnosen verbinden. Mit Krankheiten, die zum Tode führen. Wer denkt daran, daß es Leiden fast ohne Schmerzen gibt, die auch nicht zum Tode führen, die geistige Fähigkeiten nicht oder kaum einschränken, aber irgendwann eine völlige körperliche Hinfälligkeit zur Folge haben – die einen geistig gesunden Menschen zum schweren Pflegefall machen?

Aber diese Krankheiten gibt es. Zu ihnen gehört die vielfältige Gruppe der hereditären Ataxien. Hereditär bedeutet erblich; eine Ataxie isteine Störung des geordneten Zusammenwirkens der für eine Bewegung erforderlichen Muskeln. Die Fähigkeit dazu ist in den Zellen des Kleinhirns angelegt. Wenn sich dort Zellen zurückbilden, spricht der Mediziner von einer Atrophie, der Mensch ist nicht mehr in der Lage, seine Bewegungen zu koordinieren. Ein Beispiel von vielen: Wenn sich im Kleinhirn jene Zellen zurückbilden, in denen die Gleichgewichtsinformationen anderer Organe, so der Augen und Ohren, in Blitzesschnelle koordiniert werden, kann der Mensch das Gleichgewicht nicht mehr halten. Er fällt, obwohl die einzelnen Organe ungehindert richtige Informationen ans Kleinhirn senden. Meist treten erste Symptome ererbter Ataxien im dritten und vierten Lebensjahrzehnt auf, in Einzelfällen schon bei Kindern, häufig auch nach dem 60. Lebensjahr. Die Krankheit ist selbst bei Medizinern nicht allgemein bekannt, die Zahl der falschen Diagnosen deshalb nach wie vor hoch.

Der Neurologie ist es auf dem Gebiet der Kleinhirnforschung, in der sich auch der Düsseldorfer Mediziner Georg Auburger an der Heinrich-Heine-Universität spezialisiert hat, in den letzten Jahren gelungen, eine Anzahl von Genen zu orten, die für bestimmte Formen von Ataxien verantwortlich sind. So gibt es Formen, die nur in Japan auftreten, andere, in Europa häufige, sind in Japan unbekannt. Aber weder ist es gelungen, einen Grund für die Apoptose, das heißt für das von der Zelle selbst ausgelöste Absterben (Zell-Selbstmord) im Kleinhirn zu finden, noch dafür, daß in einigen wenigen Fällen und scheinbar grundlos die negative Entwicklung stoppt.

Zuverlässige Therapien gibt es kaum, immerhin kann Physiotherapie Symptome lindern, etwa die Greiffähigkeit der Hände oder die Gangsicherheit verbessern. Übungen mit Hanteln verlangsamen den Abbau der Muskulatur, Sprachtherapie kann Sprechstörungen erträglicher machen.

Das Gebiet der Pharmazie jedoch ist vor allem Experimentierfeld. „Jeder neue Fall einer Heredoataxie macht den Mediziner zum Pionier“, sagte ein auf Kleinhirnerkrankungen spezialisierter Neurologe, der bis vor wenigen Jahren an der Düsseldorfer Uniklinik arbeitete. Daran hat sich bis heute nichts wirklich geändert.

Geändert hat sich die Sprache der Wissenschaft. Bezeichnungen wie „Typ Holmes“ oder „Nonne-Marie“ gehen auf die Erstbeschreiber der Krankheitserscheinungen zurück, ebenso wie die Friedreichsche Ataxie oder Machado-Joseph. Im Zeitalter der molekularen Diagnosen und der Gentechnik einigte man sich auf Kürzel und Numerierung wie SCA1 bis SCA7, DRPLA, EA1 und EA2.

Die Betroffenen sind meist bereit zu Experimenten, etwa zum Ausprobieren von Medikamenten, die zur Behandlung von Parkinson oder Multipler Sklerose entwickelt wurden. Aber jede Behandlung ist ein Versuch mit ungewissem Ausgang. Darauf weisen Neurologen wie der Privatdozent Harald Hefter von der Neurologie der Heine-Uni ihre Patienten mit Nachdruck hin. Diese entwickeln die innere Haltung der skeptischen Hoffnung, daß bei ihnen das eine oder andere Medikament zu einer langsameren Verschlechterung beitragen könnte.

Daß aus der skeptischen Hoffnung nicht der tiefe Fall in die Hoffnungslosigkeit wird, dazu hilft die Deutsche Heredo-Ataxie-Gesellschaft – unter anderem mit einer vierteljährlich erscheindenden Mitgliederzeitschrift, in der Kranke und ihre Angehörigen medizinisch-fachliche Informationen und praktische Alltagshilfe finden.

Sie finden dort aber auch die Auseinandersetzung mit medizinsozialen und medizinethischen Problemen, die so entlegen nicht sind, wie die Begriffe vermuten lassen. Trotz aller sonstigen Unsicherheiten: Die Erblichkeit ist erschreckend sicher (von den erworbenen Ataxien ist hier nicht die Rede) und kann inzwischen eindeutig nachgewiesen werden. Also stellt sich bei Ehepartnern die Frage nach den Risiken einer Elternschaft mit allen Konsequenzen. Auch die Diskussion darüber, ob in Zukunft solcherart „erblich Belastete“ entweder mit höheren Krankenkassenbeiträgen belegt werden können oder eine Versicherung abgelehnt werden darf, hat bereits begonnen.

In der Deutschen Heredo-Ataxie-Gesellschaft (DHAG) sind etwa 800 Erkrankte und ihre Angehörigen organisiert (in der vergleichbaren Vereinigung der USA, der NAF, National Ataxia Foundation, sind es 8000). Die Zahl der Erkrankten ist aber hier wie dort erheblich höher. Die DHAG hat ihren Sitz in 70188 Stuttgart, Haußmannstraße 6.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post., 15. Mai 1999

Von Hoheiten und Stammtischen

Stadtmuseum: Fest zum 125jährigen Bestehen

Es herrschte Kaiserwetter zum Geburtstag des Stadtmuseums, das vor 125 Jahren entstand. Heute das älteste städtische Museum und zweitältestes historisches Museum im Rheinland, wurde es 1874, zu Beginn des wilhelminischen deutschen Kaiserreichs, in Düsseldorf gegründet. Damals begann der Kulturkampf zwischen evangelischen und katholischen Deutschländern. Keine Rede davon, als Dechant Werner Moonen nach dem lateinischen Hochamt in St. Maximilian im Namen von Museumschef Dr. Wieland Koenig zur Geburtstagsfeier ins Museum einlud. Es war so überfüllt, dass Koenig gleich den vierten Bauabschnitt anmahnte.

Streitlustiger Festvortrag

Oberbürgermeisterin Marlies Smeets hörte die Botschaft wohl, dachte aber an die leeren Kassen. Sie würdigte die Öffnung des einstigen Stadtgeschichtlichen Museums unter Dr. Koenig zur Gegenwart, zur streitbaren Auseinandersetzung. Die lieferte in seinem Festvortrag Professor Dr. Gerd Krumeich von der Heine-Universität. Er ironisierte die „nationale Kraftmeierei“ im Nach-Bismarck-Reich und machte ganz nebenbei deutlich, wie verknüpft mit Weltpolitik und Biertischpolitik schon das damalige Düsseldorf war. Da schlossen sich nämlich die Stammtische der Künstler und der Industriellen zu einem „Vereinigten Stammtisch“ beim Altbier zusammen.

Gar nicht stammtischmäßig, sondern stilgerecht mit „Hoheit“ begrüßte Dr. Werner Alberg, der die Festausstellung eingerichtet hatte, den Prinzen Georg Friedrich von Preußen, Chef des Hauses Hohenzollern. Schließlich geht das bürgerliche Stadtmuseum auf Anregungen und Stiftungen des Preußenprinzen Georg zurück, der 1826 im Schloß Jägerhof geboren wurde. Preußische Gegenwart wiederum verkörperte Professor Dr. Jochen Giersberg, Generaldirektor der Stiftung Preußischer Schlösser und Gärten. Ganz rheinisch hingegen Professor Helmut Hentrich, Ehrenbürger und Mäzen der Stadt. Oder auch ein anderer Ehrenbürger, er starb in dieser Woche, Dr. Konrad Henkel. Dessen Familie repräsentierte die Galeristin Hete Hünermann, Schwester von Gabriele Henkel.

Herren in dunklem Anzug, Damen mit mutigen Hütern begaben sich alsdann in den Garten, wo Schlössers Alt strömte, Teller mit Flönz lockten. Keiner ließ sich von den Kriegerdenkmälern stören, die Johannes Galert in Lothringen fotografiert hatte, Denkmäler aus einer Zeit, als die Wacht am Rhein brauste wie Donnerhall. Unter den Nazis wurde daraus im Stadtmuseum eine „Germanenschau“. Alles nur Geschichte? Aber man darf sie nicht vergessen.

Gerda Kaltwasser In: Rheinische Post. Düsseldorfer Stadtpost, 3. Mai 1999

Muß der Skulpturenpark wieder umziehen?

Kunst und Kultur am Albertus-See zwischen Schießstraße und Heerdter Lohweg

HEERDT Anfangs wunderten sich die linksrheinischen Düsseldorfer, dann nahmen sie das geschlossene Tor des Skulpturenparks am Albertus-See zwischen Schießstraße und Heerdter Lohweg als unabänderlich hin. Schließlich ist der Skulpturenpark eine private Anlage neben der öffentlichen, beides zusammen aber ergibt den Reiz dieser Kunstlandschaft – Kunst in doppeltem Sinne; einmal, weil der vom Seestern in Niederkassel hierher verlagerte Skulpturenpark die Besucher mit moderner Landschaft in der Natur bekannt macht, zum anderen, weil diese Natur hier erst in den letzen beiden Jahrzehnten von Menschen geschaffen wurde.

Der Geheimtip

Seitdem ist die Idylle hier ein Geheimtip vor allem der Heerdter, Löricker und Niederkasseler. Gern gehen sie hier zu jeder Jahreszeit spazieren, freuen sich auch über die Kunst, die ihnen hier so selbstverständlich vorkommt, sozusagen „wie gewachsen“.

Seit der Hortenkonzern im Kaufhofkonzern aufging und dieser wiederum von der Metro erworben wurde, ist es gespenstisch still in den fast neuen Verwaltungsgebäuden und der Skulpturenpark wurde geschlossen, nachdem der mit der Aufsicht Betraute den Ruhestand erreicht hatte.

Zur Erinnerung: Im Juni 1982 wurde in der Grünanlage, die das Horten-Veraltungsgebäude am Seestern umgab, das Projekt Skulpturenpark verwirklicht, eine zunächst fast unbeabsichtigte mäzenatische Tat, weil ein leitender Kopf in der Hauptverwaltung meinte, daß sich moderne Bildhauerwerke hier im Grünen gut machen würden. Es wurden, nach Beratung mit professionellen Kennern aus der Kunst- und Journalistenszene, Künstler zur Teilnahme aufgefordert. Das Ergebnis hatte ein gewaltiges Echo. Nach einigen Jahren aber wurden dem Mäzen die Folgekosten einer auf Wechsel angelegten Skulpturenschau zu hoch, die Werke der Ausstellung „Standpunkte – Blickpunkte“ blieben, mit dem Geld für einen Wechsel wurden Stipendien für junge Künstler finanziert.

Als Horten seinen Standort Seestern Anfang der neunziger Jahre aufgab und zum Albertus-See umzog, zog die Idee Skulpturenpark mit. Jetzt sieht es so aus, als ob sie im aufreibenden Wandel hin zum globalen Markt auch im konzentrierten Einzelhandel auf der Strecke bleiben könnte. Der Bezirksvorsteher für die linksrheinischen Stadtteile, Wolfgang Kamper, hat vor einiger Zeit das ständig verschlossene Tor des Skulpturenparks wie so viele andere Bürger mit Kopfschütteln registriert. Die Versuche, Auskunft über die Zukunftsplanung zu erhalten, brachten nicht viel, jedenfalls nicht viel Ermutigendes. „Es sieht so aus, als wolle man die ganze Anlage mit den Verwaltungsgebäuden verkaufen, möglicherweise muß der Skulpturenpark dann umziehen.“ Vielleicht zum Stammsitz der Metro in Grafenberg? An eine Öffnung ist jedenfalls nicht gedacht, der Park und die Kunstwerke müssten restauriert, eine ständige Aufsicht müsste eingerichtet werden.

In: Rheinische Post. Stadteilnachrichten. Linksrheinisch, 29. Juni 1999

Filmdosen voller Geschichte

Bekanntes aus Vorkriegs- und Kriegszeiten / Hunderte halfen

Die Düsseldorfer lassen sich doch nicht nur durch große Namen und Glitzerveranstaltungen - sogenannte Events - ins Museum locken. Zu hunderten strömten Düsseldorfer und „ausgewanderte“ Düsseldorfer ins Filmmuseum, als es darum ging, Bekanntes auf Streifen aus Vorkriegs- und Kriegszeiten wiederzuerkennen. Am 19. Oktober wird alles noch mal gezeigt, damit auch die zur Erforschung Düsseldorfer Geschichte beitragen können, die jetzt traurig gehen mußten, weil kein Platz mehr war.

Neu erleben

Ein Glücksfall ist dieser Fund von acht rostigen Filmdosen im Magazin des Museums. Selbst Josephine Honermann, Fachfrau für diese Dinge, und Thomas Bernhardt von der Düsseldorfer Geschichtswerkstatt haben noch nicht alles gesehen. Zum Ende dieses und zum Anfang des nächsten Jahrhunderts wird die Stadt ein Stück ihrer jüngeren Geschichte neu und bildhaft erleben können.

Jetzt wurde der Inhalt einer Filmdose gezeigt, ein Film aus den dreißiger Jahren, der andere aus dem Bombenkrieg. Die Zuschauer wurden aufgefordert, ihre Erkenntnisse und Vermutungen in den Raum zu rufen. War damit das Chaos programmiert, würden sich die Besserwisser in die Haare kriegen, würde manchem beim Anblick rauchender Trümmer, entstellter Leichen schlecht werden?

Nichts dergleichen, einige Besucher überzeugten bald durch genaue Sachkenntnis. Erstaunlich, wie viele Daten allein an den Straßenbahntypen der Rheinbahn festzumachen sind. Je länger alle zusahen, desto genauere Erinnerungen kehrten zurück. Sicher, es gab strittige Punkte, da wurde ein im Bombenhagel stehen gebliebener Kirchturm gleich drei verschiedenen Kirchen, schließlich aber der richtigen, zugeordnet. Als auf dem Film aus den dreißiger Jahren – vielmehr von 1940, da half die Rheinbahn weiter – die Zielangabe „Adolf-Hitler-Platz“ auftauchte, ging Gemurmel, aber kein freundliches, los. Das Personal auf den Bombenangriffsfilmen wurde so charakterisiert: „Die mit den Händen in den Taschen sind die Goldfasanen“, das waren Parteibonzen in Uniform. Bald war auch klar, daß der größte Teil des Filmmaterials von Amts wegen entstanden sein mußte: „Filmen durften nur Ritterkreuzträger und die Gaufilmstelle.“ Für den Normaldüsseldorfer galt „fotografieren und filmen verboten“.

Alle sind gespannt

Viel Wissen wurde gesammelt, neue Bekanntschaften wurden geschlossen, alte belebt und private Sammlungen von Düsseldorfer Bürgern zugänglich gemacht. Die Veranstalter, darunter die neue Direktorin des Filmmuseums, Dr. Sabine Lenk, und die Gäste waren begeistert, manch einer war aufgewühlt oder mußte den Kloß im Hals mit einem Becher Kaffee runterspülen. Und alle sind gespannt, was die anderen rostigen Filmdosen offenbaren werden.

Gerda Kaltwasser In: Rheinische Post. Düsseldorfer Stadtpost, 19. August 1999

Ein Künstler, Preuße und Exzentriker

„Arte“ ehrt Gustaf Gründgens am 16. November mit einem Themenabend

Er starb vor 36 Jahren, 63 Jahre alt, eine Legende für die, die ihn gekannt, erlebt haben, nur noch Legende für die meisten noch lebenden Deutschen: Gustaf Gründgens. Und weil es schwierig ist, Legenden zum Leben zu erwecken, wird ein Begriff gebraucht, den heute alle verstehen. Der Schauspieler, Regisseur und Theaterleiter Gustaf Gründgens war das, was wir heute einen Medienstar nennen.

„Der erste Medienstar“, sagt Regisseurin Petra Haffter, und wenn sie es sagt, ist das kein Klischee: so wenig wie der Film „Ich tret‘ aus meinem Traum heraus“, den sie für den deutsch-französischen Fernseh-Kulturkanal „Arte“ zum 100. Geburtstag von Gustaf Gründgens gedreht hat. Verantwortlicher Redakteur ist Wolfgang Bergmann. Haffter und Bergmann – junge Leute in der Fernsehproduktion: für beide war Gründgens eine Legende. Jetzt ist er eine Gestalt voller Leben, auch voller Rätsel geworden. Und das wird er für jeden, der Gelegenheit hat, den Film zu sehen.

Die Gelegenheit hatten geladene Gäste im Düsseldorfer Theatermuseum, das mit seiner bedeutenden Gründgens-Sammlung das „Arte“-Projekt unterstützt hat und wo gegenwärtig mit der Ausstellung „Gustaf Gründgens – Ansichten eines Schauspielers, Bilder einer Legende“ der gebürtige Düsseldorfer zum 100. Geburtstag geehrt wird.

Gründgens, das war der Mann, der in den zwanziger Jahren aus der jungen rheinischen Provinzgroßstadt Düsseldorf in die brodelnde Hauptstadt Berlin kam, mit kaum zu bändigendem Ehrgeiz. Aber den hatten andere auch, und sie hatten auch schon Erfolg.

Gründgens wollte mehr – und bekam es. Die politischen Umstände spielten dabei keine geringe Rolle. Der spätere Reichsmarschall Hermann Göring schützte und beförderte ihn bis zum Generalintendanten des Preußischen Staatstheaters. Eine gefährliche Protektion, denn dadurch wurde Gründgens zum möglichen Opfer des Reichs-Propagandaministers und Göring-Hassers Joseph Goebbels. Gründgens wußte, dass er auf einem Seil über dem Abgrund tanzte. Er wurde als Kulturbotschafter der Nazis missbraucht, bot mit Juden verheirateten Bühnenkünstlern Schutz und rettete einigen, so dem Sänger Ernst Busch, das Leben.

Er war auch, neben dem Tennisspieler Gottfried von Cramm, der prominenteste Schwule im deutschen Nazi-Reich. Andere Homosexuelle mußten den rosa Winkel tragen. Gründgens, der Exzentriker mit preußischem Pflichtbewußtsein, feierte sich und die Schauspielkunst in der Rolle des Oberzynikers Mephisto, in der des zerrissenen Königssohnes Hamlet. Er sang vom „großen Glück des kleinen Glücks“, tanzte als Leinwandstar auf dem Vulkan, machte sich im Krieg bei der Truppenbetreuung rar, wurde nach Kriegsende von den Sowjets ins Lager geschickt. Dann folgten neue künstlerische Triumphe; in der Heimatstadt Düsseldorf, in Hamburg. Verehrung, Liebe für den Künstler und Menschen bezeugen Lola Müthel, Hanne Hiob, Marianne Hoppe, Elisabeth Flickenschildt, Antje Weisgerber, Will Quadflieg, Heinz Reincke.

Nachdem Gründgens von der Last und dem „Übermut der Ämter“ befreit zu einer Weltreise aufgebrochen war, um „vielleicht noch etwas Neues zu entdecken“, starb er in Manila. Wer ihn kannte, glaubte nicht an Selbstmord.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. 12. November 1999

Neue Zeichnungen vom alten Schloss

Mit niederländischem Stammbaum Carl Theodors

700 Jahre gab es in Düsseldorf ein Residenzschloss, seit 100 Jahren gibt es davon nur noch den Schlossturm. Vor 125 Jahren wurde in Düsseldorf als erstes städtisches Museum das Stadtmuseum gegründet, 1874. Damals standen von dem im März 1872 ausgebrannten Schloss außer dem Turm noch die Mauern.

Manche Düsseldorfer hätten sie gern wieder mit höfischem Leben gefüllt gesehen, auch im fernen Berlin war man nicht abgeneigt. Aber die Stimmen, die eine neue Düsseldorfer Rheinfront forderten, waren lauter, ihnen standen die öden Mauern im Weg. 1898 war bis auf den Turm alles weggekarrt.

Aber der Schloss-Gedanke lebt wieder auf, nicht zuletzt dank des Museums-Jubiläums, das derzeit mit einem abwechslungsreichen, kostbaren Bilderbogen gefeiert wird, einer Ausstellung über Düsseldorf als Residenzstadt, in der das Schloss eine zentrale Rolle spielt.

Schon das zweite Buch

Gerade rechtzeitig vor Ablauf des Jubiläumsjahres ist das Buch „Burg und Schloß Düsseldorf“ erschienen, und zwar im Zusammenwirken mit dem Jülicher Geschichtsverein und dem Stadtgeschichtlichen Museum Jülich. Autoren sind der Düsseldorfer Architekt und Festungsforscher Dr. Edmund Spohr und der Kunsthistoriker Hatto Küffner.

Zur Erinnerung: Die Residenzstadt Düsseldorf ist hervorgegangen aus den vereinigten Herzogtümern Jülich, Kleve und Berg. Für Edmund Spohr ist das die Keimzelle des Landes Nordrhein-Westfalen, das 1946 entstand, Düsseldorf als frühere Residenzstadt ist also folgerichtig Landeshauptstadt.

Das neue Schloss-Buch ist das zweite im Jubiläumsjahr des Museums. Schon vor zwei Monaten ist eins im Droste-Verlag erschienen. Naturgemäß gleichen viele Bilder einander, kann man etliche Namen, keineswegs nur historische, parallel lesen. Und auch der Begriff einer Residenzstadt ist für einen Residenzstadt-Forscher wie Professor Wilhelm Janssen nicht eindeutig festgelegt, sondern Objekt weiterer Forschung.

Carl Theodor im Juni

Doch davon sollte sich der interessierte und ein wenig vorinformierte Laie nicht beirren lassen. Beide Bücher haben ihre Verdienste; über Fehler dürfen die Fachleute streiten; oft werden lateinische Begriffe über Generationen und Jahrhunderte hinweg falsch gedeutet. Und wenn in einem Bildtext das Ständehaus aus der Friedrichstadt mal eben an die Rheinfront versetzt wird, darf man das nicht für bare Münze nehmen.

Blättern wir also unvoreingenommen und wissbegierig in dem Buch mit seinen vielen exakten Karten, auf den neuesten Stand gebrachten Architekturzeichnungen wie die Rekonstruktion eines Umbauentwurfs von Domenico Martinelli von 1699; mit seinen Beweisen für eine reiche kulturelle Vergangenheit, die in Düsseldorf, anders als in Köln, immer wieder vergessen wird.

Anlass zum Erinnern gibt es ebenfalls immer wieder, so im Juni 2000, wenn aus Mannheim, der Residenz des Kurfürsten Carl Theodor, die große Ausstellung zu dessen 200. Todesjahr 1799 nach Düsseldorf kommt. Leckerbissen für Familienforscher: Das neue Schloss-Buch enthält die komplette niederländische Genealogie des Herrschers.

Edmund Spohr und Hatto Küffner: „Burg und Schloß Düsseldorf“, 208 Seiten, 300 Abbildungen, ISBN 3-933969-05-0, 54,80 Mark]

Gerda Kaltwasser In: Rheinische Post. Düsseldorfer Stadtpost, 8. Dezember 1999

Wagner am Rhein

Theatermuseum: Ausstellung mit Musik

"Bayreuth am Niederrhein“ – dieser griffige Titel wird die Wagnerfreunde, wird die Opernfreunde insgesamt wohl in Scharen ins Theatermuseum am Hofgarten locken. Sie sollten sich nicht dadurch abschrecken lassen, dass diese Verlockung der Stadt das Geld für einen reich bebilderten Katalog nicht wert war. Der knappe Ausstellungsetat gibt so etwas nicht her. Zum Glück springt die Rheinoper mit ihrem farbigen Heft in die Bresche; darin finden sich auch das Begleitprogramm und andere wichtige Informationen.

„Bayreuth am Niederrhein“ – der Titel ist Programm. Schon am 18. Januar 1853 erlebten die Düsseldorfer ihren ersten Wagner im Stadttheater. „Der Tannhäuser“ wurde gegeben, damals noch im Theater am Marktplatz neben dem Rathaus. Denn das Stadttheater, das viele ältere Düsseldorfer noch in Erinnerung haben und das an der Stelle der heutigen Rheinoper stand, wurde erst 20 Jahre später gebaut. Damals, 1853, konnte der Opernfreund ein Textbuch zum Preis von drei Silbergroschen erstehen.

Glanzvolle Erinnerungen

Vom ersten Düsseldorfer Wagner gibt es nur noch einen Ankündigungszettel, von späteren Aufführungen sind ergiebigere Dokumente erhalten, Porträts von Sängerinnen und Sängern, von Bühnenbildern und Kostümen, Besetzungslisten, Zeitungskritiken. Und aus der Nachkriegszeit viele Kostüme, die wie auch viele Namen Erinnerungen wecken: Helmuth Fehn, Martha Mödl, Hans Hopf, Ilse Hollweg, René Kollo, Astrid Varnay. Sie alle und noch viele andere haben Rollen in Wagneropern in Düsseldorf und Duisburg am Rhein sowie in Bayreuth gesungen.

„Wabert Ihre Lohe noch?“

Dr. Winrich Meiszies, Leiter des Theatermuseums, ist begeistert von der Zusammenarbeit mit der Deutschen Oper am Rhein. Versteht sich, dass die Ausstellung, die in Düsseldorf bis 21. Mai gezeigt wird, nach Duisburg weiterreist.Es lohnt sich, die Zeit für Vergleiche zu nehmen. Auffallend die Wandlungen der Ausstattung, des Bühnenbilds, selbst bei Inszenierungen, die bloß ein Jahrzehnt auseinander liegen.

Im Museum gibt es nicht nur etwas zu sehen, es gibt auch etwas zu hören: Ausschnitte aus Wagnerproduktionen der Rheinoper können im Vortragssaal in Ruhe genossen werden. Das Begleitprogramm macht unter anderem mit dem unbekannten Wagner bekannt und fragt kabarettistisch „Wabert Ihre Lohe noch?“ Heute um 19.30 Uhr ist Eröffnung.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 14. April 2000

Mann ohne Seilschaften

Francisco Tanzer: Sein Nachlass ist ein Vorlass

Seilschaften sind wichtig, nicht nur in der Politik und nicht nur, wenn es um Karriere geht. Auch für so Abseitiges wie Kunst und Kultur sind Seilschaften wichtig.

Einer, der es geschafft hat, auf Seilschaften verzichten zu können, ist der 79jährige Österreicher Francisco Tanzer, der seit Jahrzehnten in Düsseldorf lebt, als erfolgreicher Industrie-Geschäftsmann finanziell unabhängig wurde, Tennis spielt, den Sulky seines Trabers lenkt, Gedichte und Prosa schreibt. Seine Prosa ist in kleinen Verlagen erschienen, wird aber von Literaturkennern leidenschaftlich gerühmt. Seine Gedichte haben Komponisten in aller Welt angeregt; John Cage, Edison Denissow, Alfred Schnittke und Sofia Gubajdulina sind nur einige Namen. Gestern stand Francisco Tanzer im Mittelpunkt des Salons von Alexander Nitzberg im „Schnabelewopski“.

Es ist der Auftakt zu einem Abschied. Aus Wien kamen Dr. Volker Kaukoreit von der Nationalbibliothek und Dr. Josef Gmeiner von der Musiksammlung Gmeiner, um Tanzers Nachlass nach Wien heimzuholen. Da ein so beeindruckend lebendiger Mensch wie Tanzer aber noch nichts nachlassen kann, sprechen die Beteiligten von einem „Vorlass“. Die Wortprägung kennzeichnet den ironisch gefärbten Humor Tanzers, der 1938 mit den Eltern vor den Nazis aus Wien fliehen musste und als amerikanischer Offizier nach Europa zurückkehrte. Erst spät begann er zu schreiben. Das meiste in Düsseldorf.

Es fällt schwer, beim Blick in dieses herzliche Skeptikergesicht von Beruf oder gar Berufung zu sprechen. Da scheint einer zu schreiben, wie der Vogel singt. Heute wissen wir, dass kein Vogel singt um des Singens willen. Im Falle Tanzer: Wenn ein eigenes Werk seinem heutigen Qualitätsbegriff nicht mehr entspricht, wird es aus dem Verkehr gezogen, wird es neu geschrieben; oder es wird einem Alexander Nitzberg in die Hand gegeben, dass der ein Opernlibretto daraus filtert.

Im nächsten Jahr wird Tanzer 80, dann findet in Ulm die Uraufführung der Oper „Die Befreiung“ mit der Musik des Österreichers Herbert Lauermann statt. Dann wird auch im Grupello Verlag ein Band mit Tanzers Gedichten erscheinen. In Wien ist ein Konzertzyklus mit Tanzer-Liedern geplant.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 6. Juni 2000

Der Junge mit den blutigen Schuhen

Schriftsteller Dieter Forte wird 65 Jahre alt

Heute vollendet ein Schriftsteller das 65. Lebensjahr, der Dramen, Romane, Hörspiele, Fernsehspiele und Essays geschrieben hat, der von Kritikern im sogenannten deutschen Sprachraum, also auch in der Schweiz, wo er seit Jahrzehnten lebt, wegen einer ungewöhnlichen Sprachkultur gelobt wird, der aber als Person unspektakulär geblieben ist. Sein Name ist nicht etwa ein Geheimtipp, aber auch nicht in aller Munde: Dieter Forte. Im vorigen Jahr bekam er den Bremer Literaturpreis für sein Lebenswerk, vor allem für die Romantrilogie mit den Titeln „Das Muster“, „Der Junge mit den blutigen Schuhen“ und „In der Erinnerung“. Schon 1992 war er mit dem Basler Literaturpreis ausgezeichnet worden.

In seinem Werk findet sich immer wieder Kurzprosa, die sich den bekannten Kategorien zu entziehen scheint. Sie vermittelt die Bekanntschaft mit einem auf resigniert nachdenkliche Art angriffslustigen Dieter Forte; „Finita La Musica“ zum Beispiel oder „Notiz zu Büchner“ oder der Versuch über die österreichische Krimifigur Kottan.

In den siebziger Jahren war Forte als Autorenname immer wieder in Theaterrezensionen zu finden. Heftig diskutiert wurde über „Martin Luther & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung“, über „Kaspar Hausers Tod“ und „Der Artist im Moment seines Absturzes“. Keine rauschhafte Theaterkost war das und geradezu das Gegenteil vom damals aktuellen absurden Theater. Aber in den Bühnenwerken kündigte sich schon an, was im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts Fortes zentrales Thema wurde: den Menschen verstehen, indem wir begreifen, in welcher Welt der großen und der kleinen, alltäglichen Geschichte er so wurde, wie er ist. Das heißt aber auch, zu verstehen, warum immer wieder die Menschen verschiedene Wege gehen, auch wenn sie im selben Krieg, im selben Frieden, sogar an derselben Straße aufwachsen.

Diese Straße findet sich in Düsseldorf, in Fortes Geburtsstadt. Dieter Forte, dessen Lebens- und Schreibwelt das von humanistischer Tradition bestimmte Europa ist, Dieter Forte also ein lokaler, vielleicht sogar ein Heimat-Schriftsteller? Die Tatsache, dass er die bedeutendste Ehrung, welche die Stadt zu vergeben hat, den Heinrich-Heine-Preis, bisher nicht bekam, stützt nicht den Verdacht lokaler Enge, denn der Heine-Preis ist kein Literaturpreis, auch wenn ihn Schriftsteller wie Carl Zuckmayer und Hans Magnus Enzensberger bekommen haben.

Keinen materiellen, aber einen hohen ideellen Wert in der literarischen Welt hat die Heinrich-Heine-Ehrengabe, die die Düsseldorfer Heine-Gesellschaft vergibt. Sie würde einen Schriftsteller auszeichnen, der es nicht nötig hat, sich durch Modernismen bei den Jungen, durch Derbheiten bei den Stammtischen anzubiedern, der aber mit keiner Zeile ein biederer Schreiber ist, vielmehr einer, der von sich und seinen Lesern alles fordert, detailbesessen, ohne redselig zu sein, mit ironischer Distanz zu den aufsteigenden, mit ironischer Zuneigung zu den ausgleitenden Gestalten seiner Romane – eben ein wirklicher Erzähler.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Feuilleton, 14. Juni 2000

Das Kruzifix hängt nun in St. Andreas

Werk Professor Beckers war fast 30 Jahre verschwunden

„Ein Kruzifix von Professor Friedrich Becker in St. Andreas?“ So wunderte sich ein kunst- und kirchenerfahrener Düsseldorfer. „Sie erkennen das?“ So wunderte sich wiederum ein weißgekleideter Dominikanermönch, als er auf das Werk angesprochen wurde.

Von einem Wunder soll nicht die Rede sein, wohl von einem Glück, das allerdings der 1997 kurz vor dem 75. Geburtstag gestorbene Künstler nichts mehr erfahren hat. Becker hatte die Oberbürgermeisterkette geschaffen, die Garather Sonnenräder, den heiteren Radschläger, dessen Denkmal die Rheinische Post der Stadt schenkte und am Osteingang der Schadow Arkaden aufstellen ließ.

Bis zu seinem Lebensende hat er nach dem Kruzifix gesucht, das er 1960 für das Dominikanerkloster an der Herzogstraße entworfen und geschaffen hatte: Einen zwei Meter hohen Corpus aus Silberblech, befestigt auf einem Kreuz mit roter Emailleglasur von Professor Lily Schultz.

Wo war’s nur? Wo?

Sicher war nur, es musste irgendwo sein. Aber wo? Witwe Hildegard Becker setzte die Suche fort, auch in Walberberg, Stammsitz der Dominikaner. Und sie wurde schließlich fündig, in einer versteckten Ecke entdeckte sie das Kruzifix, schwarz angelaufen, rundum restaurierungsbedürftig.

Jetzt kehrte es zurück nach Düsseldorf, so still, wie es vor über 25 Jahren die Stadt verlassen hatte. Monika und Hans Petrovic, Goldschmiede beide und vor 40 Jahren Studenten Friedrich Beckers, nahmen im Atelier im Hof des Schumann-Wohnhauses an der Bilker Straße den Corpus vom Kreuz und zerlegten ihn in seine Einzelteile. Dann begann für jedes Teil ein wiederholtes Tauchbad in mit Wasser verdünnter Schwefelsäure. Hans Petrovic erinnerte sich an den alten Handwerkerspruch: „Erst das Wasser, dann die Säure, sonst passiert das Ungeheure.“ Die Badewannen für die kleineren Teile und das große Mittelstück bastelte er selbst, klopfte mit vorsichtigen Schlägen die Beulen heraus, restaurierte ebenso vorsichtig die rote Emaille, denn jedes bisschen Feuer zuviel macht aus Rot Schwarz.

Ein Symbol des Heils

Nicht ohne Rührung arbeiteten Monika und Hans Petrovic am Werk ihres Lehrers, das nun einen Ehrenplatz in der Stadtkirche der Dominikaner, in St. Andreas bekommen hat. Und das Symbol des Heils, das Friedrich Becker dieser christlichen Leichendarstellung mitgegeben hat, ist so zu unbeabsichtigter Bedeutung gelangt: Die Blutstropfen der Nagelung in den Handflächen und auf den Füßen sind nicht rot wie Blut, sondern grün wie die Hoffnung.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Stadtpost, 16. August 2000

Udo Lindenberg – frisch gestrichelt

Herma Körding zeichnete „Düsseldorfer Köpfe“
Das Buch wurde gestern im Rathaus vorgestellt

Wenn Herma Körding ins Theater geht oder irgendwo in Düsseldorf mit Mann und Freunden bei einem Glas Wein sitzt, zieht sie aus der Handtasche nicht, wie sonst bei Frauen üblich, diskret einen Taschenspiegel, sondern einen Skizzenblock und einen Zeichenstift Nr. 6. Gestern im Rathaus allerdings nicht, und das tat ihr auch gleich leid, denn die Journalisten hatten viele Fragen zu ihrem soeben dem Düsseldorfer Oberbürgermeister Joachim Erwin überreichten Buch „Düsseldorfer Köpfe“. Und sie, die Journalisten, redeten lebhaft und gestenreich. So etwas liebt die Malerin Herma Körding, die zehn Jahre lang unterwegs „Düsseldorfer Köpfe“ gezeichnet und zu Hause aquarelliert hat. „Ein Düsseldorfer Panoptikum“ nannte es Verleger Bruno Kehrein, in dessen GrupelloVerlag das Buch erschienen ist. Wer es durchblättert, wird ihm auch darin recht geben, dass „dieses Buch sehr düsseldorferisch“ ist. Es zeige das Talent der Düsseldorfer, sich in Szene zu setzen.

Düsseldorfer Köpfe also, natürlich mit dem Oberbürgermeister, natürlich mit Bruder Matthäus, natürlich mit Kunstakademiedirektor Markus Lüpertz, natürlich mit . . . Wieso eigentlich „natürlich“? Düsseldorfer Köpfe sind doch nicht nur die echten oder die Möchtegern-Promis. Und so findet sich der Kellner ebenso wie der Braumeister, findet sich ein anonymes Frauenterzett, finden sich Ballettratten, Vereinsbosse und der eigene Ehemann unter den Düsseldorfer Köpfen. Auch Udo Lindenberg; der ein Düsseldorfer? Herma Körding hat ihn in Hamburg im Hotel getroffen und artig gefragt, ob sie ihn zeichnen dürfe. Während der Stift übers Papier eilte, erkundigte sich Udo nach Markus Lüpertz, nach dem Schicksal des „Malkastens“.

Herma Körding war in ihrem Element, die Künstlerin, die gern vom „Zweikampf zwischen Maler und Modell“ spricht, war jahrelang einzige Frau im Malkasten-Vorstand gewesen. So wurde Udo Lindenberg ein Düsseldorfer Kopf.

Die Malerin, die in Karlsruhe, Paris und Düsseldorf studiert hat, und deren helle, forschende Augen für die Ernsthaftigkeit ihres Wortes bürgen, dass äußere Porträtähnlichkeit erst an zweiter Stelle ihrer künstlerischen Arbeit stehe, ist auch in handwerklicher Hinsicht ein Phänomen. Ihre sichere Hand beherrscht den Zeichenstift wie die leicht verlaufende Aquarellfarbe, aber sie rahmt ihre Köpfe auch eigenhändig.

150 von über 500 000 Düsseldorfer Köpfen: „Gefragt wurde keiner, aber eine Auswahl musste getroffen werden. Das war nicht einfach“, heißt es im Vorwort.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post., 31. Oktober 2000

Reif für die "Insel"

Ein Abend über den Schelm Albert Vigoleis Thelen

Auf einer Wolke schweben Hermann Harry Schmitz (HHS), Heinrich Böll und Albert Vigoleis Thelen (AVT). Sie packen sich an den Händen, tanzen im Kreis herum und singen wie die sieben Geißlein im Märchen: „Der Wolf ist tot, der Wolf ist tot.“ Auf der Wolke nebenan sitzt Heinrich Heine und weiß nicht, ob er mitlachen oder mitmachen soll. Jedenfalls ist er nicht der Wolf, über dessen Tod die drei toten rheinischen Dichter und dann auch der vierte, größte, Heinrich Heine, lachen. Der tote Wolf ist die Gruppe 47.

Die hatte damals, zu Anfang der fünfziger Jahre, mehrheitlich das altertümliche Deutsch des 50-jährigen Emigranten Albert Thelen mit dem seltsamen zweiten Vornamen Vigoleis abqualifiziert. Bestsellerautor ist er, der 1989 im Alter von 86 Jahren starb, nicht geworden, wohl aber Geheimtipp, Kultautor vieler Mallorca-Reisender.

Seine „Insel des zweiten Gesichts“ wurde von Thomas Mann, angeblich auch von Adenauer geschätzt. In den siebziger Jahren entdeckte den gebürtigen Süchtelner die RP-Literaturkritikerin Lore Schaumann wieder. Und jetzt erlebten seine „Insel“ rund fünf Dutzend Thelen-Freunde und solche, die es bestimmt werden, im Heinrich-Heine-Institut.

RP-Feuilletonredakteur Lothar Schröder, der einen großen Teil seines Studiums Thelen gewidmet hat, sorgte für Einblicke in und Anmerkungen zur 900 Seiten starken „Insel“. Die Rezitatorin Ursula Jung rezitierte und ließ dabei innige Verbundenheit mit dem Text erkennen.

Thelen, der von allen literarischen Moden unabhängig schreibende Zeitbeobachter, gehört nach Meinung Schröders – und wer wird die nicht nach dem auf anderthalb Stunden eingedampften AVT teilen – zu den begnadeten schreibenden Schelmen (wie Böll und HHS) – was nicht zu „schelmisch“ verkleinert werden sollte. Dazu hatte der Niederrheiner, den es Ende der Zwanziger nach Mallorca verschlug, auch keinen Grund.

Übrigens nächtigte er damals in Valldemosa auf einer Matratze, auf der zuvor die üppige Düsseldorfer Kunsthändlerin Johanna Ey geschlafen hatte; die Matratze der 100 Jahre früher dort geschlafen haben sollenden französischen Schriftstellerin, Chopin- und Heine-Freundin George Sand verschmähte er. Nach Nazideutschland wollte er nicht zurückkehren, vor Francos wie vor Hitlers Häschern musste er mit Ehefrau Beatrice durch halb Europa fliehen. Und als er schließlich in die Heimat zurückkam, wurde er von den jüngeren Schreibgenossen als hoffnungslos altmodisch, um nicht zu sagen als alters-schwatzhaft beiseitegeschoben.

Die Fülle eines fast neunzigjährigen Lebens in einem Jahrhundert, das nur aus Umbrüchen bestand, wurde von dem rheinisch ungehorsamen Katholiken Albert Vigoleis vor allem in seiner „Insel“, aber auch in wunderbaren Gedichten gedeutet. Lothar Schröder wiederum schaffte es, uns auf den Gipfel des Bergriesen Thelen heraufzuziehen, ohne dass wir außer Atem kamen; ein kundiger Führer und ein Schelm dazu. Denn er lässt uns mit dem Hinweis allein, dass Schelm Thelen auch mal lügt, wenn es seiner Meinung nach der Wahrheitsfindung dient.

Und es bleibt noch viel zu tun, die 15 000 in aller Welt verstreuten Thelen-Briefe zu sammeln und zu sichten, so wie es immer noch mit der „Insel“ in der Hand auf der Insel den Schelmen AVT wiederzuentdecken gilt.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 30. November 2000

Harfen vom Wunderland der Dichtung

Rose Ausländer mit einer Ausstellung im Gerhart-Hauptmann-Haus gewürdigt / Czernowitz bis Düsseldorf

Harfenistin Gertrude Schaffer wartete geduldig, bis auch die letzten Gäste der Ausstellungseröffnung im Gerhart-Hauptmann-Haus zum 100. Geburtstag der Dichterin Rose Ausländer mit einer Sitzgelegenheit versorgt waren.

Dann tropften im steten Fluss Melodien aus dem Wunderland deutschsprachiger Dichtung, aus der Bukowina, einst östliches Österreich, ins Ohr - Einstimmung in eineinhalb Stunden Verzauberung, begleitet von Wehmut über unvorstellbare Verfolgung und den Verlust von geistigem Kapital, verursacht durch Menschen, die ebenfalls Deutsch sprachen und ihren Stolz auf deutsche Dichtung zur todbringenden Arroganz trieben.

Rose Ausländer, geboren als Rosalie Scherzer am 11. Mai 1901 in Czernowitz in der Bukowina, gestorben im Nelly-Sachs-Altenheim der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf am 3. Januar 1988 und hier auf dem jüdischen Friedhof im Nordfriedhof beerdigt, hat trotz ihres durch Verfolgung und Vertreibung unsteten Lebens ein unfassbar großes dichterisches Werk hinterlassen.

Ebenso unfassbar groß ist die Sammlung an Briefen, Zeugnissen mit Noten zwischen „lobenswert“ und „vorzüglich“, außerdem Bücher, die sie jahrzehntelang begleiteten. Helmut Braun, unermüdlicher „Wanderprediger für Rose Ausländer“, Berater in ihren letzten dreizehn Lebensjahren, Herausgeber, Nachlassverwalter, soweit das Schriftstellerische nicht hier im Heine-Institut gepflegt wird -, Braun also hat alles in Rahmen und Vitrinen geordnet und mußte dabei mit dem „Luxusproblem der Auslese“ fertig werden, ein Problem, das in bescheidenerem Maße auch der Ausstellungsbesucher hat. Deshalb nur ein kleines anekdotisches Appetithäppchen: Zu sehen ist auch eine Hölderlin-Ausgabe mit Hitlerbild.

Das folgende Ergebnis der Forschung geht übers Anekdotische hinaus: Die tiefgehende Wandlung der Dichterin vom traditionellen Reim zum freien Versmaß geht nicht auf den Einfluss ihres Landsmanns Paul Celan zurück, sondern entwickelte sich in New York - zu Celans Überraschung

Aber was ist solche Theorie gegen das gesprochene Wort? Edith Silbermann - sie hat mit ihrem Mann Alphons Rose Ausländer geholfen, sich in Düsseldorf niederzulassen -, Edith Silbermann las Rose Ausländer, las das Gedicht vom „Mutterland Wort“ und jenes, das der Geburtstagsausstellung den Titel gab „Mit meinem Seidenkoffer reise ich in die Welt“. Reine Lyrik ist das, Melodie und konzentrierte Arbeit an der Sprache, zugleich Beweis dafür, daß vollendete Lyrik nicht nur persönlich, sondern auch zeitbezogen und im weitesten Sinn politisch sein kann.

Zu Rose Ausländers 100. Geburtstag wird die Ausstellung dann in Czernowitz eröffnet, dazu bietet die Rose-Ausländer-Gesellschaft eine Reise an. Zuvor aber wird in der Ausstellung, die auch ein Porträt der Dichterin und Zeichnungen zu deren Gedichten von der 90-jährigen Düsseldorfer Malerin Marianne Mangold-Nienhaus zeigt, Rolfrafael Schröer am 19. Januar um 19 Uhr Dichter um Rose Ausländer vorstellen: Paul Celan, Alfred Margul-Sperber und Alfred Kittner, der ebenfalls seine letzten Lebensjahre in Düsseldorf verbracht hat.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 13. Januar 2001

Jetzt singen wir alle den "Song of the Rhineland"

Kurt-Weill-Abend im Theatermuseum

Da es sich um Musik handelt, könnte man von einem Dreiklang singen, nämlich von dreimal Kurt Weill (1900–1950) in Düsseldorf: Im Großen Haus steht Weills Dreigroschenoper (Text Bert Brecht) auf dem Spielplan, über kleinere Bühnen kreuz und quer durch Düsseldorf tingeln Helga Mangold und Olaf Cless mit ihrem bejubelten Weill-Programm „Sprich leise, wenn du Liebe sagst“ und im Theatermuseum waren Torsten Enge (Vortrag in Wort und Lied) und Michael Collins (Klavier) mit dem Weill-Abend „Nur keine Noblesse…“ zu Gast. Davon soll hier die Rede sein.

Das Jahr 2000 war Weill-Jahr. Der Widerhall des 100. Geburtstags des deutschen Komponisten Kurt Weill war in den USA groß, dort gilt er seit der Emigration als „American composer“ (September Song); in Deutschland war er allenfalls mäßig. Vielleicht, weil wir die musikalisch so schlagkräftige Parole „Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm“ meinen, verwirklicht zu haben. Oder verzeihen wir dem jüdischen Emigranten nicht, dass er Amerikas Kriegseintritt unterstützte, dass er von einem Parisaufenthalt nicht zurückkehrte, weil ihn die Nazis enteignet hatten?

Kurt Weill und die Deutschen, das ist eine so schwierige Geschichte wie Kurt Weill und Bertolt Brecht, wie Kurt Weill und die zweimal angetraute Ehefrau Karoline Blamauer, bekannter als Seeräuberjenny oder als Lotte Lenya. Kurt Weill und die Politik aber ist ein noch weiteres Feld. Der Mann der Noten, der Schönberg- und Humperdinck-Schüler, der als Komponist Alban Berg ebenbürtig gewertet wurde, er drückte musikalisch mit zögerlichen Zwischentönen aus, was dem Schriftsteller Brecht so plakativ aus der Feder kam.

Torsten Enge hat seinen Weill studiert, nicht nur musikalisch als Sänger, sprechtechnisch als Rezitator, auch bei Erforschung des Lebens- und Schaffenslaufs. Die Beispiele waren klug gewählt, die Zwischentexte erinnerten sehr an die ermüdenden Erläuterungen zur E-Musik im WDR-3-Dampfradio. Highlights, im Zusammenhang mit dem deutschen american composer Kurt Weill darf man den Begriff mal gebrauchen, waren das Sabbatgebet, das Weill 1946 für seinen Vater, einen jüdischen Kantor komponiert hat, das Schickelgruberlied, das den Menschenschlächter Hitler so klein und gemein machte, wie er es verdient hat und der „Song of the Rhineland“, der unsere Nationalhymne werden müsste. Er wäre ein glanzvoller Schlusspunkt des Abends gewesen – auch rechtzeitig aufhören ist eine Kunst.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 30. November 2001

Im Aufzug an der Wand hoch

Ausstellung zum 95. Geburtstag Trude Dinnendahl-Bennings

Kaiserswerth. Am 9. Februar wurde sie 95, aber wer die zierliche Person mit den lebhaften Augen und den Lachfältchen sieht, sagt: „95 ist doch kein Alter.“ Sie heißt Trude Dinnendahl-Benning und stammt aus Rheinhausen. Seit 1957 wohnt sie in Kaiserswerth, und es gibt weit und breit keine neu ausgestattete Kirche oder ein Kloster, wo nicht Dinnendahl-Bennings in Glas, Textilien oder Mosaik zu bewundern sind. Wer einen Gesamteindruck gewinnen will, hat dazu im Museum des Kaiserswerther Bürgervereins Gelegenheit.

Reden wir nicht davon, dass die Künstlerin allein stand mit vier kleinen Kindern. Auch nicht davon, dass sie selbst beide Eltern früh verlor. Dass sie trotz ihrer Fertigkeit im Zeichnen und Malen nicht Kunst studieren durfte, sondern Lehrerin wurde – Gewerbelehrerin.

Ein bisschen Glückskind war sie also auch, schon früh traf sie den genialen Franz Marc, der ihr Talent erkannte. Und als sie in Köln endlich eine künstlerische Berufsausbildung bei dem berühmten Johan Thorn-Prikker (von ihm stammen die Mosaiken im Ehrenhof) beginnen wollte, musste die berufserfahrene Trude erst noch einmal eine Aufnahmeprüfung am Institut bestehen. Hinauf zum angestrebten Lehr-Meister schaffte sie es dann mit einem Sprung.

Zupacken – das bestimmte ihr Leben. Als sie Wandbehänge für das Kloster Marienthal entwerfen durfte, gab sie eine Stelle als Leiterin einer Paramentenwerkstatt auf. Als sie sechs Meter hohe Wandbehänge nach eigenen Entwürfen ausführen musste, fuhr sie ein einem „Aufzug“ immer an der Wand hoch, zog Goldfäden, stickte mit Seide und Perlen. Sie schuf ein drei Meter hohes, mit Mosaiken versehenes Turmkreuz in Gold, farbige Kirchenfenster, stellte aus in Wien, Rom, Amsterdam, Basel. Sie war eine der bekanntesten deutschen Künstlerinnen in den 60ern und 70ern, fand neue Formen für kirchliche Kunst und war doch auch eine der Unbekanntesten. Denn bis heute hat religiöse Kunst in Deutschland keinen hohen Stellenwert.

Dinnendahl-Benning ist trotzdem ihren Weg gegangen. Als vor Jahren ein Sturz, dann eine Operation ihr die Schaffensfreude zu nehmen drohten, überraschte sie ihr Sohn Johannes mit Pastellstiften und Acrylfarben – seitdem malt sie kleine Formate. Aber wie gesagt: 95 ist kein Alter.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Stadteilnachrichten Düsseldorf-Nord, 12. März 2002

Meditieren, blumige Harmonie genießen

Zur Euroga 2002: Ausstellung Japanische Blumenkunst im Hetjens-Museum

Es begann in den fünfziger Jahren als Aufbruch in eine fremde Kultur. Die Achse Berlin-Rom-Tokio zur Hitlerzeit hatte da nicht viel gebracht. Mitte der Fünfziger aber wurde im Kunstmuseum am Ehrenhof eine japanische Tee-Zeremonie zelebriert, gab es im Hetjens-Museum, damals noch Abteilung des Kunstmuseums, eine erste Begegnung mit Ikebana, der Kunst des Pflanzensteckens in kunst- oder sonst wie anspruchsvollen Gefäßen. Origami, die Kunst des Papierfaltens, bezauberte, papierene Koi-Karpfen hingen wie Mobiles in den Fenstern, und japanische Schriftzeichen auf Schachbrettmuster hingen als Grafik an den Wänden.

Dann kam der Niedergang. Origami wanderte in Kindergärten und Grundschulen ab, Ikebana in die Volkshochschulen, die Teezeremonie wurde als fischiger, grüner Teeaufguss missverstanden, Papierkarpfen waren fürs Kinderzimmer und die Schriftzeichen als Grafik-Ersatz wurden saurer Kitsch genannt.

Dann kam vor 30 Jahren die Engländerin Georgie Davidson nach Düsseldorf und eröffnete hier einen Zweig ihrer Internationalen Ikebana-Schule. Seitdem ist Ikebana im Rheinland mehr als häusliche Pflanzendekoration mit fernöstlichem Touch. Zum 30-jährigen Bestehen des Düsseldorfer Ikebana-Zweigs wurde gestern im Hetjens-Museum eine Jubiläumsausstellung eröffnet, in der sich Ikebana als wahrhafte Kunst präsentiert, Kunst nicht denkbar ohne Meditation, und zufällig auch ein Beitrag zur Euroga 2002.

Georgie Davidson, 83 Jahre alt, Großmutter, mit gepflegtem weißen Haar die typische Lady, dirigierte gestern Mittag noch eine Schar aufgeregt hin und her flatternder englischer und deutscher Schülerinnen; fotografierende Ehemänner und ein einziger männlicher Schüler wirkten ziemlich exotisch. Dabei war bis vor 100 Jahren Ikebana, damals schon mit 500-jähriger Tradition, in Japan reine Männersache. Um so mehr spricht es für die Ikebana-Meisterin Davidson, dass die Ausstellung von der Japan-Foundation unterstützt wird. Japaner/-innen findet man allerdings in der Schule nicht.

Das Hetjens-Museum, Deutsches Keramikmuseum, ist der Ikebana-Kunst seit Jahrzehnten verbunden und das, obwohl die Meisterwerke der Keramik für die Dienerinnen der Alt-Äste, Jung-Artischocken, Lilien, Rosen, Strelizien und Bananenblätter nicht mehr als Container sind. Im Lauf der Jahrhunderte haben sich Schulen und Stile herausgebildet. Da ist zum Beispiel Morimono. Hauptbestandteil sind Früchte, dazu wenige Blüten, noch lieber Blätter; diese Schaustücke können in Glas- oder Keramik-Arbeiten angeordnet werden, auf Lackschalen, sogar auf Papier.

Vieles wirkt auf uns, die wir in der abendländischen Kultur- und Begriffswelt aufgewachsen sind, symbolisch, manches auch nahe am Deco-Pop, Begriffe, die zum Verständnis so wenig taugen, wie wir jemals den Gehalt von „Meditation“ voll ermessen können. Da bleibt uns ein wunderbarer Ausweg: sich hineinfallen lassen in die Harmonie von Ikebana. Auge und Nase, Herz und Hirn werden glücklich.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 4. Mai 2002