Gerda Kaltwasser Textforum
Literatur
Altern – ein bohrender Abschiedsschmerz
Arno Schmidts nachgelassener Roman „Julia, oder die Gemälde“ - Tippfehler oder Verschreiber aus Absicht?
Prinzessin Julia tritt aus einem Gemälde im großen Saal des Bückeburger Schlosses. Sie, ein Nymphchen, eine Lolita, tritt damit in das Leben, wird Ziel sehnsüchtiger Gedanken und Gefühle eines 65jährigen Schriftstellers namens Leonhard Ihering, könnte auch heißen: Arno Schmidt.
„Julia, oder die Gemälde“ ist der Titel des nachgelassenen, unvollendeten Werkes von Arno Schmidt, der Anfang Juni 1979 im Alter von 66 Jahren gestorben ist. Die Arno Schmidt Stiftung hat das Werk im Haffmans Verlag veröffentlicht (100 Seiten, Personenverzeichnis, Planskizze, DM 130,-, Vertrieb über 2001-Versand) im Großformat als unkorrigiertes Schreibmaschinenmanuskript, wie Schmidt es über 100 DIN-A-3 Seiten hinterlassen hat. Also auch mit Fehlern, die dem Leser das zusätzliche Vergnügen verschaffen, herauszurätseln, ob ein beabsichtigter Verschreiber des Autors vorliegt, der dieses Vexiermittel liebt, oder ob er tatsächlich unbeabsichtigt danebengetippt hat. Unbeabsichtigt gewiß auf Seite 74, wo zweimal ein „daß“ als „das“ getippt steht – Genugtuung für einen Redakteur, dem im Zeitalter der neuen Technik (der Journalist als sein eigener Setzer und Korrektor) ein solcher Vertipper sofort als mangelnde Kenntnis in der Orthographie angelastet wird.
Kaum erschienen, hat das Buch höchst widersprüchliche Urteile ausgelöst, ganz abgesehen vom Streit über die Herausgaberechte zwischen Haffmans Verlag und dem Verlag S. Fischer, in dem die meisten Schmidt-Werke, vor allem die Taschenbücher, herausgekommen sind.
Die einen sind enttäuscht vom immer bitterer und besserwisserischer werdenden Ton des Schriftstellers, von seiner Neigung zu einer Art Alters-Lüsternheit. Andere zollen dem immer noch verblüffenden Universalgeist, dem „Gehirntier“, vorsichtige Hochachtung. Viele sind verwundert, in Arno Schmidt, dem Mann der Mathematik, der pedantischen Genauigkeit, der Detailbesessenheit, einen Romantiker zu entdecken, einen, der nicht nur seinem Hang zu gefürchteter Ironie freien Lauf läßt, wie sie den Romantikern eigen ist, sondern einer, der auch nach romantischer Art ein bißchen spinnt(isiert).
Doch erstaunen kann das nur jene, die Arno Schmidt „gekettet an Daten und Namen“ sahen, wie der Titel eines literaturwissenschaftlichen Werkes über ihn lautet. Wer ihn vorbehaltlos gelesen hat, geriet immer schon ins Jubeln über eine bis ins Weltall blühende Phantasie, die etwa aus „KAFF, auch Mare Crisium“ mehr machte als einen beim Eintritt ins Raumfahrtzeitalter genau berechneten kritischen Roman. Und wer die dankenswerterweise vom 2001-Verlag herausgegebenen, von Arno Schmidt entdeckten „Haidnischen Alterthümer“ gelesen hat, dem mußte sich Schmidt als gar nicht einmal „heimlicher“ Romantiker offenbaren. Die literarische Romantik als Nährboden der Science Fiction, auch das ist eine Entdeckung Arno Schmidts (Ludwig Tieck: „Die Vogelscheuche“, Johann Karl Wezel: „Belphegor“).
Er macht es anfangs mit „Julia“ seinen Lesern nicht leicht. Tatsächlich ist er, der immer seine Stacheln gegen zuviel Öffentlichkeit gesträubt hat, zuletzt gallenbitter in seiner Bargfelder Abgeschiedenheit geworden. Und wo man beim Lesen lachen möchte, wird ein sarkastisches Krächzen draus. Das nicht ohne Selbstgefallen ausgebreitete enzyklopädische Wissen, das auch Entlegenstes umfaßt, läßt den normal Wissenden zurückschrecken vor dem Schmidt-Berg. Und wie schafft er es, zum Donnerwetter, in seinen Büchern immer wieder eine menschliche Gesellschaft aufzutreiben, die seinem Wissen halbwegs gewachsen ist, selbst wenn es sich im Gruppenbild der weniger handelnden als redenden Personen um die Rollenträger des alltäglichen Mittelmaßes handelt?
Doch plötzlich, nach Abwehr, nach Verärgerung über scheinbare Menschen- und Zukunftsverachtung, wirkt der alte Schmidt-Zauber, wird der Leser in den Sog eines Denk- und Fühlprozesses gezogen, der ihn nicht mehr losläßt. Er entwirrt immer leichter das kunstvolle Gespinst aus Realität und Überwirklichkeit, platter Sex entwickelt sich zu wehmütiger Erotik, immer wieder schimmert für den, der gerade am Anfang des Alters steht, die Erkenntnis durch, daß Altern wohl wirklich ein bohrender Abschiedsschmerz ist, mit dem Arno Schmidt bewußt gekämpft hat, wohl wissend, daß jeder in diesem Kampf unterliegen muß.
Deshalb haben gewiß jene nicht Recht, die ihm vorwerfen, in „Julia“ mehr als in allen früheren Büchern das Ende der Menschheit, zumindest ihrer Kultur, akzeptiert zu haben.
Gewiß, da gibt es Sätze wie „Gott iss nischt heilig“, oder „Nichts kann man machen – gar nichts“. Aber dagegen steht ein ganz selbstverständliches Denken in die Zukunft in 1000 Jahren. Ihering-Schmidt: „Gewiß; nach dem Tode eines Schriftstellers entstehen zunächst immer erst einmal Leer-Stellen, blinde Flecke, die langsam nachrücken, manchmal auch nicht – wann wird man wohl erkennen, daß SCHILLING einer der größten deutschen Humoristen gewesen ist und gleichzeitig voll unschätzbarster Zeitbilder: in tausend Jahren wird man ihn brauchen wie LUKIAN!“
Oder wie endzeitlich ist der Satz auf Seite 88: „Es ist so gut wie alles noch zu leisten?“ So schreibt keiner, der wirklich das Ende für gekommen hält. Wer das behauptet, auf den trifft auch ein Zitat aus „Julia“ zu, er ist nämlich „altklug, ohne klug gewesen zu sein“.
Bei allem Abschiedskampf ist es also doch der alte Arno Schmidt, der Mann, der das Radioprogramm so gut kennt wie seinen geliebten Cooper und alle Fehler in der zuverlässigsten Logarithmen-Tafel. Der Mann, der nicht nur einen sitzengebliebenen Primaner zu einem Mathematikbesessenen macht, sondern auch seine Leser dazu treibt, nach über 30 Jahren die Raum- und Zahlenlehre der Oberprima (heute Sekundarstufe II) nebst Logarithmentafel wieder in die Hand zu nehmen und die arg zerfledderte Qual von damals mit neuen Augen zu betrachten.
Dann der Beimwortnehmer Schmidt. Wie hüpft der sprungbereite Geist bei der Schöpfung „Mekka-Liese“ oder dem „Millionarren“. Gar nichts Besonderes ist das, aber erst, wenn’s einer erfunden hat.
Jene Kritiker, für die das Einsortieren in Kästchen das Wichtigste ist und die Arno Schmidt gern ins linke Kästchen sortierten, kriegen auch gleich noch einen Satz vorgesetzt, der nicht ins Kästchen paßt: „Mit diesem Mangel an Nuancen wirkt ihr grauenhaft.“ Gemeint ist die Deutsche Demokratische Republik, aber anziehen kann sich’s, wer mag.
All das, Weltschau und Weisheit, Resignation und Rückschau, sind verpackt in eine vordergründig einfache Geschichte. Ein paar Leute, Weltkind Ihering in der Mitten, finden sich zufällig in einem kleinen Hotel in einem Ort, der „eine Art Bückeburg“ ist, im Sommer 1979, zur Ferienzeit. Zu den real existierenden Personen kommen die zum Leben erweckten Schloßbewohner, Julia vor allem, aber auch der belesene Kastellan, der eigentlich eine Durchlaucht ist, dann die Traumgestalt „1001“ mit ihrem Väterchen, dem Bootsführer auf dem Steinhuder Meer.
Verpackt aber auch in ein Schreibmaschinen-Skript, das in sich selbst Rätsel aufgibt. Wie macht der das? So fragt sich der Schreibmaschinen-Malträtierer, der Mühe genug hat, ein einigermaßen lesbares Maschinen-Skript vorzulegen. Langzeilen eng, Langzeilen mit Zwischenräumen. Kurzzeilen als Pakete rechts und links eingefügt, noch kurzzeiligere dazwischen. Die Ebenen des Denkens und Handelns, des Redens und Schilderns schieben sich übereinander, ineinander, jede Seite zeigt eine äußerst vielseitige Kameraführung, die alles gegenwärtig macht, ohne den Leser von eigener Mit-Arbeit zu befreien. Freilich: „Die Leute weigern sich einfach, aus irgend etwas eine Lehre zu ziehen.“
Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post am Wochenende. Geist und Leben, 9. April 1983
Schreiben und Reisen über die Abgründe
Autor Hanns Heinz Ewers
Düsseldorf ist dabei, seine Literaturtradition wiederzuentdecken. Das gilt seit gut zwei Jahrzehnten für Düsseldorfs unbestritten größten Sohn, Heinrich Heine: das gilt für eine fast exotische literarische Blüte - für den Groteskenautor Hermann-Harry Schmitz -, und das gilt für einen Mann, der zu den meistgedruckten deutschsprachigen Autoren unseres Jahrhunderts gehört. Mit seiner Biographie ist eine Liste aus dem „Who is who?“ von Thomas Mann bis Adolf Hitler verbunden; sein berühmtestes Werk, „Alraune“, ist in 25 Sprachen übersetzt und wird noch heute gedruckt: Hanns Heinz Ewers.
Ihm galt die Dissertation des jungen Wissenschaftlers Wilfried Kugel, die soeben, vollkommen überarbeitet und mit Forschungsergebnissen bis ins Jahr 1992 aktualisiert, im Düsseldorfer Grupello Verlag erschienen ist (560 Seiten, reicher Bildteil, 42 Mark). Die Stadt Düsseldorf und das Land Nordrhein-Westfalen leisteten Hilfe.
Hanns Heinz Ewers - das war doch der... Ganz richtig, das war der mit dem Buch über den Hitlerjungen Horst Wessel: der, dessen Buch „Reiter in deutscher Nacht“ über den Widerstand gegen die französische Besatzung nach dem Ersten Weltkrieg der Autor mit Widmung dem „Führer“ Adolf Hitler geschenkt hatte; der mit Franz von Papen bekannt war und schon vor 1933 Parteigenosse (PG) wurde; der sich als PG zu seinen jüdischen Freunden bekannte und für ein Heine-Denkmal in Düsseldorf einsetzte.
Ein Mann also in seinem Widerspruch, welcher über den Tod fortdauerte, als ihm im Grabstein auf dem Nordfriedhof ein falsches Todesjahr eingemeißelt wurde. Hanns Heinz Ewers, Freund übrigens von Hermann-Harry Schmitz, lebte von 1871 bis 1943.
Erforscher Wilfried Kugel, der gestern, unterstützt vom stellvertretenden Kulturamtsleiter Klaus Lehmann, die Arbeit „Der Unverantwortliche – das Leben des Hanns-Heinz Ewers“ im „Malkasten“ vorstellte, ist in Düsseldorf bekannt. Vor einigen Jahren besorgte er die Wiederherstellung des Ewers-Films „Der Student von Prag“ für das Düsseldorfer Filminstitut. Dabei wurde die Bedeutung des Schriftstellers für die Geschichte der Filmkunst deutlich. Er hatte das erste Buch eigens für den Film geschrieben, hatte Bühnenschauspieler - wie den „Studenten“ Paul Wegener - überzeugt, daß Filmschauspiel eine achtenswerte Kunst sei.
Ein Jahr arbeitete Kugel im Heinrich-Heine-Institut, wo Ewers’ Nachlaß aufbewahrt wird. In ihm finden sich unter anderem Satiren des Schriftstellers auf die Nazis, denen er schon bald zum Horror geworden war. Sie belegten ihn mit Schreib- und Veröffentlichungsverbot bis an sein Lebensende.
Mit dem Ergebnis, daß sein wechsel- und rätselvolles Leben lange unaufgeklärt blieb, sein Werk in Deutschland fast vergessen wurde, während es in Frankreich und den USA bekannt und beliebt ist. Hierzulande freilich steigen inzwischen die Preise für Ewers-Werke im antiquarischen Buchhandel.
Kugels Ewers-Interesse hatte im Berlin der siebziger Jahre auf dem Sperrmüll begonnen, mit einem zerlesenen Band der „Alraune“. Das war die „Alraune“, die in den fünfziger Jahren noch einmal verfilmt worden war mit Hildegard Knef, Erich von Stroheim und Karlheinz Böhm. Kugel las sich fest und las immer mehr, bis aus dem Lesehunger Forschungshunger wurde. Der führte in Archive bis nach Washington, wo des „Führers“ Bibliothek aufbewahrt wird. Und in Berlin kam es zu Kugels aufsehenerregenden Studien über den Reichstagsbrand. Auch der hatte kurioserweise etwas mit Ewers zu tun.
Der Forscher versuchte, die Psyche des Autors zu ergründen, der früh mit Drogen wie Haschisch, Meskalin, später mit Morphium experimentierte; der die Abgründe der menschlichen Seele beschrieb und dabei oft genug selbst über den Abgründen wandelte - von der Sucht bis hin zu phantastischer geheimdienstlicher Tätigkeit im Kaiserreich. Ewers schrieb, er reiste, und das sowohl in wörtlicher wie übertragener Bedeutung.
Düsseldorf kann sich in den kommenden Wochen auf vielfältige Art dem Autor Hanns Heinz Ewers nähern. Seine „Alraune“ wird in neuer Fassung vom „Off-Theater“ auf die Bühne gebracht; Kugel gestaltet eine Ausstellung mit Reprints aus dem Heine-Institut im Literatur-Café der Stadtwerke, die ab 2. November zu sehen sein wird. Dort zeigt auch der Düsseldorfer Graphiker und Holzschneider Wolfgang E. Herbst eine Holzschnitt-Serie, die er auf Anregung der Stadtwerke zur „Alraune“ geschaffen hat. Im kommenden Jahr wird bibliophil die „Alraune“ nachgedruckt, und das ZDF arbeitet an der Fernseh-Fassung eines Texts mit dem Titel „Die Spinne“.
Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 21. Oktober 1992
Mann ohne Seilschaften
Francisco Tanzer: Sein Nachlass ist ein Vorlass
Seilschaften sind wichtig, nicht nur in der Politik und nicht nur, wenn es um Karriere geht. Auch für so Abseitiges wie Kunst und Kultur sind Seilschaften wichtig.
Einer, der es geschafft hat, auf Seilschaften verzichten zu können, ist der 79jährige Österreicher Francisco Tanzer, der seit Jahrzehnten in Düsseldorf lebt, als erfolgreicher Industrie-Geschäftsmann finanziell unabhängig wurde, Tennis spielt, den Sulky seines Trabers lenkt, Gedichte und Prosa schreibt. Seine Prosa ist in kleinen Verlagen erschienen, wird aber von Literaturkennern leidenschaftlich gerühmt. Seine Gedichte haben Komponisten in aller Welt angeregt; John Cage, Edison Denissow, Alfred Schnittke und Sofia Gubajdulina sind nur einige Namen. Gestern stand Francisco Tanzer im Mittelpunkt des Salons von Alexander Nitzberg im „Schnabelewopski“.
Es ist der Auftakt zu einem Abschied. Aus Wien kamen Dr. Volker Kaukoreit von der Nationalbibliothek und Dr. Josef Gmeiner von der Musiksammlung Gmeiner, um Tanzers Nachlass nach Wien heimzuholen. Da ein so beeindruckend lebendiger Mensch wie Tanzer aber noch nichts nachlassen kann, sprechen die Beteiligten von einem „Vorlass“. Die Wortprägung kennzeichnet den ironisch gefärbten Humor Tanzers, der 1938 mit den Eltern vor den Nazis aus Wien fliehen musste und als amerikanischer Offizier nach Europa zurückkehrte. Erst spät begann er zu schreiben. Das meiste in Düsseldorf.
Es fällt schwer, beim Blick in dieses herzliche Skeptikergesicht von Beruf oder gar Berufung zu sprechen. Da scheint einer zu schreiben, wie der Vogel singt. Heute wissen wir, dass kein Vogel singt um des Singens willen. Im Falle Tanzer: Wenn ein eigenes Werk seinem heutigen Qualitätsbegriff nicht mehr entspricht, wird es aus dem Verkehr gezogen, wird es neu geschrieben; oder es wird einem Alexander Nitzberg in die Hand gegeben, dass der ein Opernlibretto daraus filtert.
Im nächsten Jahr wird Tanzer 80, dann findet in Ulm die Uraufführung der Oper „Die Befreiung“ mit der Musik des Österreichers Herbert Lauermann statt. Dann wird auch im Grupello Verlag ein Band mit Tanzers Gedichten erscheinen. In Wien ist ein Konzertzyklus mit Tanzer-Liedern geplant.
Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 6. Juni 2000
Der Junge mit den blutigen Schuhen
Schriftsteller Dieter Forte wird 65 Jahre alt
Heute vollendet ein Schriftsteller das 65. Lebensjahr, der Dramen, Romane, Hörspiele, Fernsehspiele und Essays geschrieben hat, der von Kritikern im sogenannten deutschen Sprachraum, also auch in der Schweiz, wo er seit Jahrzehnten lebt, wegen einer ungewöhnlichen Sprachkultur gelobt wird, der aber als Person unspektakulär geblieben ist. Sein Name ist nicht etwa ein Geheimtipp, aber auch nicht in aller Munde: Dieter Forte. Im vorigen Jahr bekam er den Bremer Literaturpreis für sein Lebenswerk, vor allem für die Romantrilogie mit den Titeln „Das Muster“, „Der Junge mit den blutigen Schuhen“ und „In der Erinnerung“. Schon 1992 war er mit dem Basler Literaturpreis ausgezeichnet worden.
In seinem Werk findet sich immer wieder Kurzprosa, die sich den bekannten Kategorien zu entziehen scheint. Sie vermittelt die Bekanntschaft mit einem auf resigniert nachdenkliche Art angriffslustigen Dieter Forte; „Finita La Musica“ zum Beispiel oder „Notiz zu Büchner“ oder der Versuch über die österreichische Krimifigur Kottan.
In den siebziger Jahren war Forte als Autorenname immer wieder in Theaterrezensionen zu finden. Heftig diskutiert wurde über „Martin Luther & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung“, über „Kaspar Hausers Tod“ und „Der Artist im Moment seines Absturzes“. Keine rauschhafte Theaterkost war das und geradezu das Gegenteil vom damals aktuellen absurden Theater. Aber in den Bühnenwerken kündigte sich schon an, was im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts Fortes zentrales Thema wurde: den Menschen verstehen, indem wir begreifen, in welcher Welt der großen und der kleinen, alltäglichen Geschichte er so wurde, wie er ist. Das heißt aber auch, zu verstehen, warum immer wieder die Menschen verschiedene Wege gehen, auch wenn sie im selben Krieg, im selben Frieden, sogar an derselben Straße aufwachsen.
Diese Straße findet sich in Düsseldorf, in Fortes Geburtsstadt. Dieter Forte, dessen Lebens- und Schreibwelt das von humanistischer Tradition bestimmte Europa ist, Dieter Forte also ein lokaler, vielleicht sogar ein Heimat-Schriftsteller? Die Tatsache, dass er die bedeutendste Ehrung, welche die Stadt zu vergeben hat, den Heinrich-Heine-Preis, bisher nicht bekam, stützt nicht den Verdacht lokaler Enge, denn der Heine-Preis ist kein Literaturpreis, auch wenn ihn Schriftsteller wie Carl Zuckmayer und Hans Magnus Enzensberger bekommen haben.
Keinen materiellen, aber einen hohen ideellen Wert in der literarischen Welt hat die Heinrich-Heine-Ehrengabe, die die Düsseldorfer Heine-Gesellschaft vergibt. Sie würde einen Schriftsteller auszeichnen, der es nicht nötig hat, sich durch Modernismen bei den Jungen, durch Derbheiten bei den Stammtischen anzubiedern, der aber mit keiner Zeile ein biederer Schreiber ist, vielmehr einer, der von sich und seinen Lesern alles fordert, detailbesessen, ohne redselig zu sein, mit ironischer Distanz zu den aufsteigenden, mit ironischer Zuneigung zu den ausgleitenden Gestalten seiner Romane – eben ein wirklicher Erzähler.
Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Feuilleton, 14. Juni 2000
Reif für die "Insel"
Ein Abend über den Schelm Albert Vigoleis Thelen
Auf einer Wolke schweben Hermann Harry Schmitz (HHS), Heinrich Böll und Albert Vigoleis Thelen (AVT). Sie packen sich an den Händen, tanzen im Kreis herum und singen wie die sieben Geißlein im Märchen: „Der Wolf ist tot, der Wolf ist tot.“ Auf der Wolke nebenan sitzt Heinrich Heine und weiß nicht, ob er mitlachen oder mitmachen soll. Jedenfalls ist er nicht der Wolf, über dessen Tod die drei toten rheinischen Dichter und dann auch der vierte, größte, Heinrich Heine, lachen. Der tote Wolf ist die Gruppe 47.
Die hatte damals, zu Anfang der fünfziger Jahre, mehrheitlich das altertümliche Deutsch des 50-jährigen Emigranten Albert Thelen mit dem seltsamen zweiten Vornamen Vigoleis abqualifiziert. Bestsellerautor ist er, der 1989 im Alter von 86 Jahren starb, nicht geworden, wohl aber Geheimtipp, Kultautor vieler Mallorca-Reisender.
Seine „Insel des zweiten Gesichts“ wurde von Thomas Mann, angeblich auch von Adenauer geschätzt. In den siebziger Jahren entdeckte den gebürtigen Süchtelner die RP-Literaturkritikerin Lore Schaumann wieder. Und jetzt erlebten seine „Insel“ rund fünf Dutzend Thelen-Freunde und solche, die es bestimmt werden, im Heinrich-Heine-Institut.
RP-Feuilletonredakteur Lothar Schröder, der einen großen Teil seines Studiums Thelen gewidmet hat, sorgte für Einblicke in und Anmerkungen zur 900 Seiten starken „Insel“. Die Rezitatorin Ursula Jung rezitierte und ließ dabei innige Verbundenheit mit dem Text erkennen.
Thelen, der von allen literarischen Moden unabhängig schreibende Zeitbeobachter, gehört nach Meinung Schröders – und wer wird die nicht nach dem auf anderthalb Stunden eingedampften AVT teilen – zu den begnadeten schreibenden Schelmen (wie Böll und HHS) – was nicht zu „schelmisch“ verkleinert werden sollte. Dazu hatte der Niederrheiner, den es Ende der Zwanziger nach Mallorca verschlug, auch keinen Grund.
Übrigens nächtigte er damals in Valldemosa auf einer Matratze, auf der zuvor die üppige Düsseldorfer Kunsthändlerin Johanna Ey geschlafen hatte; die Matratze der 100 Jahre früher dort geschlafen haben sollenden französischen Schriftstellerin, Chopin- und Heine-Freundin George Sand verschmähte er. Nach Nazideutschland wollte er nicht zurückkehren, vor Francos wie vor Hitlers Häschern musste er mit Ehefrau Beatrice durch halb Europa fliehen. Und als er schließlich in die Heimat zurückkam, wurde er von den jüngeren Schreibgenossen als hoffnungslos altmodisch, um nicht zu sagen als alters-schwatzhaft beiseitegeschoben.
Die Fülle eines fast neunzigjährigen Lebens in einem Jahrhundert, das nur aus Umbrüchen bestand, wurde von dem rheinisch ungehorsamen Katholiken Albert Vigoleis vor allem in seiner „Insel“, aber auch in wunderbaren Gedichten gedeutet. Lothar Schröder wiederum schaffte es, uns auf den Gipfel des Bergriesen Thelen heraufzuziehen, ohne dass wir außer Atem kamen; ein kundiger Führer und ein Schelm dazu. Denn er lässt uns mit dem Hinweis allein, dass Schelm Thelen auch mal lügt, wenn es seiner Meinung nach der Wahrheitsfindung dient.
Und es bleibt noch viel zu tun, die 15 000 in aller Welt verstreuten Thelen-Briefe zu sammeln und zu sichten, so wie es immer noch mit der „Insel“ in der Hand auf der Insel den Schelmen AVT wiederzuentdecken gilt.
Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 30. November 2000
Harfen vom Wunderland der Dichtung
Rose Ausländer mit einer Ausstellung im Gerhart-Hauptmann-Haus gewürdigt / Czernowitz bis Düsseldorf
Harfenistin Gertrude Schaffer wartete geduldig, bis auch die letzten Gäste der Ausstellungseröffnung im Gerhart-Hauptmann-Haus zum 100. Geburtstag der Dichterin Rose Ausländer mit einer Sitzgelegenheit versorgt waren.
Dann tropften im steten Fluss Melodien aus dem Wunderland deutschsprachiger Dichtung, aus der Bukowina, einst östliches Österreich, ins Ohr - Einstimmung in eineinhalb Stunden Verzauberung, begleitet von Wehmut über unvorstellbare Verfolgung und den Verlust von geistigem Kapital, verursacht durch Menschen, die ebenfalls Deutsch sprachen und ihren Stolz auf deutsche Dichtung zur todbringenden Arroganz trieben.
Rose Ausländer, geboren als Rosalie Scherzer am 11. Mai 1901 in Czernowitz in der Bukowina, gestorben im Nelly-Sachs-Altenheim der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf am 3. Januar 1988 und hier auf dem jüdischen Friedhof im Nordfriedhof beerdigt, hat trotz ihres durch Verfolgung und Vertreibung unsteten Lebens ein unfassbar großes dichterisches Werk hinterlassen.
Ebenso unfassbar groß ist die Sammlung an Briefen, Zeugnissen mit Noten zwischen „lobenswert“ und „vorzüglich“, außerdem Bücher, die sie jahrzehntelang begleiteten. Helmut Braun, unermüdlicher „Wanderprediger für Rose Ausländer“, Berater in ihren letzten dreizehn Lebensjahren, Herausgeber, Nachlassverwalter, soweit das Schriftstellerische nicht hier im Heine-Institut gepflegt wird -, Braun also hat alles in Rahmen und Vitrinen geordnet und mußte dabei mit dem „Luxusproblem der Auslese“ fertig werden, ein Problem, das in bescheidenerem Maße auch der Ausstellungsbesucher hat. Deshalb nur ein kleines anekdotisches Appetithäppchen: Zu sehen ist auch eine Hölderlin-Ausgabe mit Hitlerbild.
Das folgende Ergebnis der Forschung geht übers Anekdotische hinaus: Die tiefgehende Wandlung der Dichterin vom traditionellen Reim zum freien Versmaß geht nicht auf den Einfluss ihres Landsmanns Paul Celan zurück, sondern entwickelte sich in New York - zu Celans Überraschung
Aber was ist solche Theorie gegen das gesprochene Wort? Edith Silbermann - sie hat mit ihrem Mann Alphons Rose Ausländer geholfen, sich in Düsseldorf niederzulassen -, Edith Silbermann las Rose Ausländer, las das Gedicht vom „Mutterland Wort“ und jenes, das der Geburtstagsausstellung den Titel gab „Mit meinem Seidenkoffer reise ich in die Welt“. Reine Lyrik ist das, Melodie und konzentrierte Arbeit an der Sprache, zugleich Beweis dafür, daß vollendete Lyrik nicht nur persönlich, sondern auch zeitbezogen und im weitesten Sinn politisch sein kann.
Zu Rose Ausländers 100. Geburtstag wird die Ausstellung dann in Czernowitz eröffnet, dazu bietet die Rose-Ausländer-Gesellschaft eine Reise an. Zuvor aber wird in der Ausstellung, die auch ein Porträt der Dichterin und Zeichnungen zu deren Gedichten von der 90-jährigen Düsseldorfer Malerin Marianne Mangold-Nienhaus zeigt, Rolfrafael Schröer am 19. Januar um 19 Uhr Dichter um Rose Ausländer vorstellen: Paul Celan, Alfred Margul-Sperber und Alfred Kittner, der ebenfalls seine letzten Lebensjahre in Düsseldorf verbracht hat.
Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 13. Januar 2001