Frauen-Kultur-Archiv

Gerda Kaltwasser Textforum
Soziales

Keine Wohnung an Homosexuelle?

Es fehlt vor allem an Information

Interviews zu einem Vorurteil

In dem zur dritten Lesung anstehenden Entwurf zur Strafrechtsreform soll es, nach dem Willen seiner Verfasser, weiterhin einen Paragraphen geben, der homosexuelle Beziehung mit männlichen Jugendlichen und Heranwachsenden bis21 Jahre unter Strafe stellt. Nach Meinung der Homosexuellen-Verbände in der Bundesrepublik verstößt diese Regelung gegen den im Grundgesetz verankerten Gleichheitsgrundsatz. Um diese Ansicht einer breiteren Öffentlichkeit bekanntzumachen und gleichzeitig die Meinung der Bevölkerung zum Thema Homosexualität zu erkunden, hatte die Homosexuelle Interessengemeinschaft Düsseldorf (HID) Informationsstände errichte, Flugblätter verteilt undKurzinterviews mit Passanten an der Schadowstraße auf Tonband aufgenommen.

Im Fragenkatalog hieß es: „Meinen Sie, daß Homosexualität bestraft werden sollte?“- Würden Sie einem homosexuellen Paar eine Wohnung vermieten?“- „Würden Sie etwas dagegen haben, daß ein homosexueller Lehrer ihren Sohn unterrichtet und wenn ja, haben Sie auch etwas dagegen, daß ein heterosexueller Lehrer Ihre Tochter unterrichtet?“ Jugendliche wurden auch gefragt, ob sie an der Schule Sexualkunde-Unterricht haben, ob überhaupt mit dem Lehrer ein Gespräch über Aspekte der Sexualität stattfinde.

Das Ergebnis, das beim HID an Hand der Tonbandaufnahmen überprüft werden kann, erstaunte auch die Interviewer, die nicht ohne innere Hemmungen zum ersten Mal in dieser Form an die Öffentlichkeit gegangen waren. Von wenigen Ausnahmen abgesehen sprachen sich die befragten Hausfrauen, Geschäftsleute, Rentner, Schüler, kurz eine zufällig ausgewählte Gruppe von Interviewten gegen jegliche strafrechtliche Verfolgung der Homosexuellen aus, gingen also einen Schritt weiter, als der Gesetzgeber dies zu tun beabsichtigt. Unter den wenigen entgegengesetzten Antworten lautete eine (bezeichnende?): „Ich war nie ein Nazi, aber so ein kleiner Hitler, der täte der Bundesrepublik gut. Ins Zuchthaus gehört ihr, alle.“

Bei den weniger allgemein gehaltenen Fragen entspannen sich oft lebhafte Diskussionen. Eine Wohnung an ein homosexuelles Paar vermieten? Außer dem spontanen „Warum nicht?“ oder „Aber ja!“ gab es Zögern, bei dem deutlich die Frage, was wohl die Nachbarn sagen würden, mitschwang. Verblüffung herrschte, wenn der Interviewer fragte, ob die Gefährdung, die der Befragte in einem homosexuellen Lehrer seines Sohnes sieht, nicht auch dort vorhanden sei, wo ein heterosexueller Lehrer die Tochter unterrichte. Darüber hatten viele noch nicht nachgedacht.

Ganz allgemein ergab sich, daß Frauen vorurteilsfreier zum Thema Homosexualität stehen als Männer. Das zeigte sich auch in den Unterschriftslisten – neben Studenten sprachen sich hauptsächlich Frauen für Straffreiheit der gleichgeschlechtlichen Beziehungen aus. Immer wieder wurde bei der Befragung der Mangel an Kenntnis der Situation und Probleme Homosexueller in unserer Gesellschaft deutlich, und nicht selten hieß es. „Wenn ich mehr darüber wüsste, würde ich auf die Fragen vielleicht anders antworten.“

Bemerkenswertes Nebenergebnis der Befragung: Schüler und Schülerinnen, aber auch Heranwachsende, die vor kurzem die Schule verlassen haben, erklärten übereinstimmend, daß es in ihren Schulen keinen Sexualkundeunterricht gebe, daß über Probleme der Sexualität zwar die Schüler untereinander, nur selten aber mit den Lehrern sprechen.

Von unserem Redaktionsmitglied Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post, 2. Mai 1973

Ratlos vor dem "Anderssein"

Beratungsstelle für Homosexuelle in Düsseldorf

Wie anders darf man sein, ohne aufzufallen? Eine homosexuelle Frau – landläufig „lesbisch“ genannt – hat in unserer Gesellschaft meist nur üble Nachrede riskiert. Es gab und gibt keine Strafverfolgung. Es gab und gibt keine Strafverfolgung. Die Neigung zum gleichen Geschlecht gilt bei der Frau in unserer Gesellschaft als „permissiv“ –man kann’s vergessen. Eine solche Neigung hat ja keine katastrophalen Folgen. Und wen interessiert schon, daß es eine homosexuelle Frau, wie der homosexuelle Mann, sehr viel schwerer hat, einen Partner für das Leben, für das Zusammenleben zu finden?

Die Eltern denken sich meist nichts dabei, wenn ihre Tochter mit Freundlinnen und mit Männern kaum Umgang hat. Ein Mädchen, das keinen Mann zum Freund hat, kann auch kein unerwünschtes Kind bekommen. Das Thema gehört, wie jede Familienberatungsstelle bestätigen kann, seit Erfindung der Pille noch nicht zu den Akten einer überlebten Vergangenheit.

Es ist kein Wunder, daß die Beratungsstelle für Homosexuelle, die es seit dem vergangenen Jahr in Düsseldorf gibt, nur selbten von Frauen angerufen wird. Obwohl die Probleme gleichgeschlechtlicher Neigung bei Frauen nicht geringer sind als bei Männern. Die Beratungsstelle (Telefon 0211 / 353591) beschäftigt sich mit sexual-soziologischen Fragen. Sie wurde von Rolf Gindorf ins Leben gerufen, der 1972 in Düsseldorf die Gesellschaft zur Förderung Sozialwissenschaftlicher Sexualforschung gründete und später das Institut zur Lebens- und Sozialberatung. Die Gesellschaft beschäftigt sich nicht nur mit der Erforschung der Homosexualität. Vor wenigen Tagen hielt sie – wie gemeldet – in Königswinter einen wissenschaftlichen Kongreß über „Sexualität und Gewalt“ ab, bei dem es unter anderem um das Thema der Gewalt gegen Frauen ging: zum Beispiel, aber nicht nur, in der Ehe.

Erfahrungen in Beratungsstellen von „Pro Familia“, Erfahrungen aber auch, die Pfarrer Dr. Hans-Georg Wiedemann und andere Mitarbeiter der Düsseldorfer Telefonseelsorge gemacht haben, ließ die Gesellschaft zur Förderung Sozialwissenschaftlicher Sexualforschung (GFSS)zu dem Schluß kommen, daß Homosexuellen eine eigene Beratungsmöglichkeit geboten werden müsse. Anders als zum Beispiel in den Vereinigten Staaten, wo zumindest in einer breiten bürgerlichen Schicht der Gang zum Psychiater oder Psychotherapeuten nicht ungewöhnlich ist, tut sich der Bundesbürger auch dann schwer, mit seinen Problemen zu einer Beratungsstelle zu gehen, wenn er im Rahmen der gesellschaftlich anerkannten Formen der Sexualität Probleme hat. Wieviel mehr jene anderen, die nicht „normal“ sind.

Wer seine Schwellenangst überwunden hat, erlebt dann oft neue, eher bedrückende als hilfreiche Gespräche. Gerät er nicht durch Zufall an einen Schicksalsgenossen, eine Schicksalsgenossin, wird er auch bei Ärzten, Sozialpsychologen, Pfarrern, Therapeuten oft große Wissenslücken in einem Bereich der menschlichen Entwicklung feststellen, der, wenn nicht dumme Witze, dann peinlich behutsames Darüberhinweggehen provoziert.

Die Mitarbeiter der Beratungsstelle berichten, daß in keinem einzigen Fall der Beratungssuchenden Sexualität im Vordergrund gestanden habe, vielmehr eine Ratlosigkeit, die sich aus dem ergebe, was man „andersartig“ nennt. Nach dem Telefongespräch, das sich lange hinziehen kann, wird ein persönliches Gespräch vereinbart. Meist bleibt es nicht bei einmaligem Gespräch. Es haben sich Gespräche in Wochen- oder Monatsabständen empfohlen. Die Gesprächspartner kommen wieder, oft über 100, 200 Kilometer Entfernung, denn die Düsseldorfer Einrichtung ist bisher die einzige in der Bundesrepublik.

Die Homosexuellen-Beratungsstelle sieht sich einem Problem gegenüber, das auch anderen sozialpsychologischen Beratungsstellen immer wieder zu schaffen macht. Ihre Klientel besteht aus Angehörigen des Mittelstandes. Sie erreicht nicht jene Bevölkerungsschichten, in denen es der Mensch nicht gelernt hat, sich und die ungelösten Fragen, die ihn quälen, die sein Verhalten in der Gemeinschaft beeinflussen, auszudrücken.

In diesen, den sogenannten „unteren Schichten“ der Bevölkerung ist das Unverständnis weit größer als in der Mittel- oder Oberschicht., wo in den vergangenen Jahren, man kann fast genau sagen seit Änderung der Homosexuellen-Paragraphen 175 und 175a im Jahre 1969 im Strafgesetzbuch, sich eine Haltung achselzuckender Duldung durchsetzt. Je geringer der Bildungsstand, desto stärker der psychische und physische Druck auf den Homosexuellen, desto schwieriger auch für ihn, mit seiner Andersartigkeit fertigzuwerden.

Die Gesellschaft insgesamt ist aber auch noch weit davon entfernt, homosexuelle Liebe und Lebensgemeinschaften als gleichberechtet neben anderen Arten des Zusammenlebens anzuerkennen. Noch gibt es Schwierigkeiten am Arbeitsplatz, die über gelegentliches Frotzeln durch Kollegen hinausgehen. Noch gibt es Vermieter, die zwei Männern, die eine Wohnung mieten wollen, das Wohnrecht verweigern oder ihnen kündigen. Bei Straftaten, in die Homosexuelle verwickelt sind, spricht die Polizei gleich von „einschlägigen Kreisen“. Treffpunkte der Homosexuellen sind häufiger als andere Gaststätten Ziel von Razzien.

Solcher Druck ist trotzdem von geringerer Bedeutung als die ganz persönlichen Probleme. Oft erkennen Eheleute erst im Verlauf etlicher Ehejahren, daß er oder sie gleichgeschlechtliche Neigungen haben. Nicht immer sind die Ehepartner dann ohne fremde Hilfe zu Aussprache und Erkennen des Problems fähig. Gindorf weiß von Fällen, in denen Männer erst im Alter von 50 Jahren in der Lage waren, den Eltern klarzumachen, daß sie homosexuell waren.

Die GFSS drängt daher auf eine Sexualaufklärung für Kinder und Jugendliche, in der das Thema Homosexualität nicht ausgespart wird. Spätestens in den weiterführenden Schulen, ganz besonders auch in den Berufsschulen, müßten Jungen und Mädchen über das Wesen gleichgeschlechtlicher Neigungen aufgeklärt werden, um Missverständnisse und Unverständnis abzubauen, aber auch, um den betroffenen JugendlichenHilfen zu geben, sich über den eigenen Zustand Klarheit zu verschaffen. Pastor Wiedemann spricht über das Thema Homosexualität im Konfirmandenunterricht und mit den Eltern der Konfirmanden. Zu diesem Zweck wurde von der GFSS auch eine Kurzinformation für Eltern veröffentlicht.

Über Bedeutung und Umfang der Aufklärungsarbeit muß nicht diskutiert werden. Es wird auf Grund von Umfragen angenommen, daß 13 Prozent der männlichen Bevölkerung homosexuell veranlagt ist. Über die Zahl homosexueller Frauen gibt es keine halbwegs zutreffenden Zahlen.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post, 10. März 1979

Hörgeschädigte

Sie sind allein unter Hörenden. Sie finden kaum Berufe. Sie brauchen Geduld und Zuwendung

Es gibt in Düsseldorf sieben Gehörlosenverbände. 670 Gehörlose sind „amtlich erfasst“. 670 Gehörlose sind „amtlich erfasst“. Die tatsächliche Zahl liegt sehr viel höher, da vielfach Eltern lange zu verbergen suchen, daß ihr Kind taub – und damit meist auch stumm – ist. Frühe Förderung aber ist hier, wie bei allen anderen Arten der Behinderung, wichtig. Die Gehörlosen leiden sehr unter ihrer Isolation, sie sind „allein unter Hörenden“, die oft ihre starke Behinderung kaum wahrnehmen, sich über die Konsequenzen nicht klar sind. Vielleicht liegt es daran, daß die Gehörlosen von den „tauben Ohren der Stadtväter“ sprachen, als Vertreter des Stadtverbandes der Gehörlosen ins RP-Pressehaus in Heerdt kamen. Wie wenig sie beachtet werden, zeigt die Tatsache, daß auch bei der vom Sozialamt in der AOK-Zentrale an der Kasernenstraße eingerichteten Behindertenberatung niemand auf Beratung von Gehörlosen eingestellt ist. Bei so wenig Interesse im lokalen bereich wundert es kaum, daß die Gehörlosen auch bundweit wenig Beachtung finden mit ihren Forderungen. Wichtige Forderung, und wahrscheinlich kaum auf Ablehnung durch die Hörenden stoßend, ist die nach schriftlicher Untertitelung der Nachtrichtensendungen im Fernsehen. Dafür findet heute, am Samstag, eine Unterschriftensammlung an einem Informationsstand im Fußgängerbereich Schadowstraße statt.

Die Spatzen streiten sich laut am Futterhaus. In der Kurve kreischen die Bremsen der Straßenbahn. In der kleinen Dorfkirche spielt ein Feriengast die Orgel. Das sind Geräusche, kaum wahrgenommen. Allenfalls das Orgelspiel, wenn ein Könner am Werk ist, lässt aufhorchen. Aufhorchen? Für Gehörlose, speziell für solche, die taub sind von Geburt an, ist dies ein Begriff ohne Bedeutung. Werals normal Hörender sich einmal für kurze Zeit klarmacht, wie stark er von dem abhängig ist, was seine Ohren wahrnehmen und als Information ans Gehirn weitergeben, als lebenswichtige Information oft, der wird erschrecken vor der Vorstellung, nicht hören zu können. Und er wird sich wundern, daß in diesem so strapazierten „Internationalen Jahr der Behinderten“ kaum von Hörgeschädigten die Rede gewesen ist.

Es ist wichtig, über Hilfen nachzusinnen, nicht über Hilfen aus der Technik. Die sind so teuer, daß ein Hörgeschädigter sie sich nicht leisten kann, so zum Beispiel die vor einigen Jahren entwickelten Schreibtelefone oder das Videotextgerät zum Farbfernseher. Das Hörgerät ist nur bei bestimmten Schädigungen des Gehörs wirksam.

„Niemand“, so klagen die Betroffenen, „ist auf unsere Probleme eingestellt. Am Arbeitsplatz entstehen Mißverständnisse, bei Behörden nimmt sich niemand die Zeit, Anordnungen, Vorschriften zu erklären.“ Hinzu kommt bei den meisten eine starke Sprachbehinderung. „Meist werden wir für blöd gehalten, weil wir nicht schnell genug verstehen.“

Obwohl bei Gehörlosen Begabungen und Talente ganz dem Bevölkerungsdurchschnitt entsprechen, stehen ihnen nur wenige Berufe offen, etwa der des Zahntechnikers. Es gibt kaum Aufstiegs-, kaum Weiterbildungsmöglichkeiten. In Düsseldorf ist es bis heute nicht gelungen, wenigstens einen festangestellten Gehörlesendolmetscher oder eine Gehörlosendolmetscherin für die Ämter bereitzustellen. Im Gespräch war einmal der Vorschlag, einen Mitarbeiter des Sozialamtes als Gehörlosendolmetscher ausbilden zu lassen. Aber dafür war kein Geld vorhanden. Es gibt auch in Düsseldorf und schon in vielen anderen Städten, einen Treffpunkt oder ein Informationszentrum für Gehörlose. „Uns wird gesagt, wir sollten uns integrieren. Integrieren Sie sich mal, wenn sie akustisch von der Welt abgeschnitten sind. Zunächst ist es für uns wichtiger, daß wir uns gegenseitig auch fördern können. Es fehlt in Düsseldorf eine höhere Person, die sich für die Gehörlosen einsetzt.“

Hinzu kommt, daß es in der Bundesrepublik die Gebärdensprache, mit der sich Gehörlose verständigen können, lange Zeit als veraltet, unmodern galt, sogar bei Gehörlosen selbst. Alles Heil wurde von der Technik erwartet. Übrigens ganz im Gegensatz zu den so technikbessenen Vereinigten Staaten. In Deutschland können angehende Gehörlosenlehrer diese Gebärdensprache nicht einmal gründlich erlernen. Erst kürzlich wurde in Münster ein Kursus für Sozialarbeiter eingerichtet.

Am Schwierigsten wird es für die Gehörlosen, wenn es um stark abstrakte Begriffe geht, etwa bei Steuererklärungen. Sie können in der Gebärdensprache nicht Wort für Wort übersetzt werden, der Gehörlosendolmetscher muß sie vielmehr selbst vorher begreifen, ehe er sie durch Handzeichen einem Gehörlosen verständlich machen kann.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Stadtpost, 12. Dezember 1981

Erbliche Ataxien

Wachen Geistes in den körperlichen Verfall

Krankheit, Leiden, Behinderung, Tod – Begriffe, die wir mit Schmerzen, schwerbehandelbaren Krankheiten, vor allem mit vielen Tumordiagnosen verbinden. Mit Krankheiten, die zum Tode führen. Wer denkt daran, daß es Leiden fast ohne Schmerzen gibt, die auch nicht zum Tode führen, die geistige Fähigkeiten nicht oder kaum einschränken, aber irgendwann eine völlige körperliche Hinfälligkeit zur Folge haben – die einen geistig gesunden Menschen zum schweren Pflegefall machen?

Aber diese Krankheiten gibt es. Zu ihnen gehört die vielfältige Gruppe der hereditären Ataxien. Hereditär bedeutet erblich; eine Ataxie isteine Störung des geordneten Zusammenwirkens der für eine Bewegung erforderlichen Muskeln. Die Fähigkeit dazu ist in den Zellen des Kleinhirns angelegt. Wenn sich dort Zellen zurückbilden, spricht der Mediziner von einer Atrophie, der Mensch ist nicht mehr in der Lage, seine Bewegungen zu koordinieren. Ein Beispiel von vielen: Wenn sich im Kleinhirn jene Zellen zurückbilden, in denen die Gleichgewichtsinformationen anderer Organe, so der Augen und Ohren, in Blitzesschnelle koordiniert werden, kann der Mensch das Gleichgewicht nicht mehr halten. Er fällt, obwohl die einzelnen Organe ungehindert richtige Informationen ans Kleinhirn senden. Meist treten erste Symptome ererbter Ataxien im dritten und vierten Lebensjahrzehnt auf, in Einzelfällen schon bei Kindern, häufig auch nach dem 60. Lebensjahr. Die Krankheit ist selbst bei Medizinern nicht allgemein bekannt, die Zahl der falschen Diagnosen deshalb nach wie vor hoch.

Der Neurologie ist es auf dem Gebiet der Kleinhirnforschung, in der sich auch der Düsseldorfer Mediziner Georg Auburger an der Heinrich-Heine-Universität spezialisiert hat, in den letzten Jahren gelungen, eine Anzahl von Genen zu orten, die für bestimmte Formen von Ataxien verantwortlich sind. So gibt es Formen, die nur in Japan auftreten, andere, in Europa häufige, sind in Japan unbekannt. Aber weder ist es gelungen, einen Grund für die Apoptose, das heißt für das von der Zelle selbst ausgelöste Absterben (Zell-Selbstmord) im Kleinhirn zu finden, noch dafür, daß in einigen wenigen Fällen und scheinbar grundlos die negative Entwicklung stoppt.

Zuverlässige Therapien gibt es kaum, immerhin kann Physiotherapie Symptome lindern, etwa die Greiffähigkeit der Hände oder die Gangsicherheit verbessern. Übungen mit Hanteln verlangsamen den Abbau der Muskulatur, Sprachtherapie kann Sprechstörungen erträglicher machen.

Das Gebiet der Pharmazie jedoch ist vor allem Experimentierfeld. „Jeder neue Fall einer Heredoataxie macht den Mediziner zum Pionier“, sagte ein auf Kleinhirnerkrankungen spezialisierter Neurologe, der bis vor wenigen Jahren an der Düsseldorfer Uniklinik arbeitete. Daran hat sich bis heute nichts wirklich geändert.

Geändert hat sich die Sprache der Wissenschaft. Bezeichnungen wie „Typ Holmes“ oder „Nonne-Marie“ gehen auf die Erstbeschreiber der Krankheitserscheinungen zurück, ebenso wie die Friedreichsche Ataxie oder Machado-Joseph. Im Zeitalter der molekularen Diagnosen und der Gentechnik einigte man sich auf Kürzel und Numerierung wie SCA1 bis SCA7, DRPLA, EA1 und EA2.

Die Betroffenen sind meist bereit zu Experimenten, etwa zum Ausprobieren von Medikamenten, die zur Behandlung von Parkinson oder Multipler Sklerose entwickelt wurden. Aber jede Behandlung ist ein Versuch mit ungewissem Ausgang. Darauf weisen Neurologen wie der Privatdozent Harald Hefter von der Neurologie der Heine-Uni ihre Patienten mit Nachdruck hin. Diese entwickeln die innere Haltung der skeptischen Hoffnung, daß bei ihnen das eine oder andere Medikament zu einer langsameren Verschlechterung beitragen könnte.

Daß aus der skeptischen Hoffnung nicht der tiefe Fall in die Hoffnungslosigkeit wird, dazu hilft die Deutsche Heredo-Ataxie-Gesellschaft – unter anderem mit einer vierteljährlich erscheindenden Mitgliederzeitschrift, in der Kranke und ihre Angehörigen medizinisch-fachliche Informationen und praktische Alltagshilfe finden.

Sie finden dort aber auch die Auseinandersetzung mit medizinsozialen und medizinethischen Problemen, die so entlegen nicht sind, wie die Begriffe vermuten lassen. Trotz aller sonstigen Unsicherheiten: Die Erblichkeit ist erschreckend sicher (von den erworbenen Ataxien ist hier nicht die Rede) und kann inzwischen eindeutig nachgewiesen werden. Also stellt sich bei Ehepartnern die Frage nach den Risiken einer Elternschaft mit allen Konsequenzen. Auch die Diskussion darüber, ob in Zukunft solcherart „erblich Belastete“ entweder mit höheren Krankenkassenbeiträgen belegt werden können oder eine Versicherung abgelehnt werden darf, hat bereits begonnen.

In der Deutschen Heredo-Ataxie-Gesellschaft (DHAG) sind etwa 800 Erkrankte und ihre Angehörigen organisiert (in der vergleichbaren Vereinigung der USA, der NAF, National Ataxia Foundation, sind es 8000). Die Zahl der Erkrankten ist aber hier wie dort erheblich höher. Die DHAG hat ihren Sitz in 70188 Stuttgart, Haußmannstraße 6.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post., 15. Mai 1999