Frauen-Kultur-Archiv

Rheinischer Kulturjournalismus
Hulda Pankok Textforum

Die Kunst von heute

Zur Ausstellung der Künstlergruppe: "Das junge Rheinland"

Immer wieder drängt es mich dazu, mich für die holde Kunst einzusetzen, da ich ein Mensch von heute bin. Und da mein Herz gläubig ist, muß es dafür zeugen, denn der Stimmen, die dieser Zeit außer der technischen Tatkraft jede künstlerische Schöpferkraft absprechen wollen, oder wenigstens aber die Notwendigkeit der künstlerischen Werke in unserer Zeit anzweifeln, werden immer mehr. Darum allein ist es vielleicht schon eine Versündigung am Geiste, wenn man sich nicht laut durch Worte dafür einsetzt. Selbst dann, wenn man selbst dem Worte nicht mehr jene Bedeutung beimißt, wie es eine vorhergehende Zeit getan hat. Denn ich weiß, daß meine Worte, selbst dann, wenn sie aus gläubiger Inbrunst dringen möchten, niemals jene suggestive Kraft haben können, wie sie das echte Kunstwerk selbst hat. Auch dann hat, wenn der Einzelne im Oberbewußtsein sich nicht eingestehen will. Denn darüber müssen wir uns doch klar sein, daß das Kunstwerk so schwer sein will wie das Leben selbst, aus dem es kommt. Für den, der es äußerlich anfaßt, ohne Liebe und ohne Versenkung, bleibt es ewig verschlossen. Genau so wie das Leben aber tut es sich dem auf, der sich ihm in Liebe hingibt. Das ist der springende Punkt. Nicht in kritischer Einstellung wird das Publikum dem Kunstwerk nahekommen, sondern nur durch liebevolle Versenkung.

Nur der schöpferische Mensch, nicht der zersetzend negativ eingestellte, wird ein Kunstwerk voll aufnehmen und in sich selbst neu gebären können. Denn die heutige Zeit ist nicht leicht zu fassen. Sie ist nicht von einer Weltanschauung getragen, die nur in einem Stil Form wird. Darum ist es schwer, rein äußerlich sich zu orientieren, denn kein Wegweiser ist da, keine Ismen geben den richtungsgebenden Wink. Der Expressionismus, der notwendig war, um die Form der rein auf äußerliche Eindrücke eingestellten Kunst zu sprengen, hat sich ausgetobt, und es zeigt sich heute nun, wer von den damals revolutionär sich gebärdenden Künstlern nur die revolutionäre Geste hatte oder wer aus dem Blute heraus Fesseln sprengte.

Da der äußere Eindruck einer Kunstausstellung heute ruhiger anmutet, wie zum Beispiel die Jungrheinland-Ausstellung vor sieben Jahren in Düsseldorf, werden Stimmen laut, daß diese Kunst, die heutzutage von den Museumswänden blickt, eigentlich gar keine Berechtigung hat, da sie ganz außerhalb des rasenden Tempos der Zeit stehe. Was sollen uns heute, so heißt es, noch diese Landschaften, Sonnen, Blumen, sanften Frauen, diese Menschenkörper, heute, wo der Hammer regiert, die glühenden Hochöfen und das Auto und das Flugzeug und die Kraft des Sportmanns. Was soll uns diese anscheinend unzeitgemäße Kunst? Diese so fragenden Menschen vergessen, daß ihre Sehnsucht in Wirklichkeit oft zwar nur für Sekunden diesen unzeitgemäßen Elementen wie Sonne und zarten Kindern gehören. Sie erahnen nicht, daß ihr Hetzen ein Betäubungsmittel ist, denn sie haben nichts mehr, woran sie sich halten können. Die Religion ist nicht mehr für jeden eine Stütze und kein Bindungsmittel mehr des ganzen Volkes. Darum die Lautheit und das Rasen unserer Zeit. Nur Wenige haben Kraft, in diesem Tempo und in diesem Wirbel ruhender Pol zu bleiben, an dem wir uns halten können. Wie müßten wir eigentlich diese geistigen Kraftmenschen lieben, die in unserm zeitgemäßen Tun die unzeitgemäßen Güter, die aus vergangenen Jahrhunderten bindend in die kommenden Jahrhunderte weisen, die uns diese Güter erhalten. Wie müßten wir eigentlich diese Menschen lieben, die noch den Glauben sich bewahrt haben an das Unbegrenzte und Unerforschbare, das sich offenbart in Sonne, Mond und Sternen und in jedem Menschengesicht. Welche Liebesquellen graben diese Menschen uns auf, die uns ein Halt zurufen bei unserm unsteten Tun! Wir müßten sie lieben, denn sie, diese schöpferischen Menschen geben uns den Halt wieder, den nur Religion geben kann. Über das Zeitgemäße, das der Mensch hier auf Erden zeitbedingt schafft, weist der Künstler, der aus Blut und Instinkt schafft, auf Ewigkeitswerte, die wir Menschen brauchen wie das tägliche Brot. Er zeigt den Wald, und wir erahnen, was hinter dem Wald ist: eine Unendlichkeit des Raumes Gottes, daß wir erschauern vor dieser Göttlichkeit. Daß wir erschauern in Demut, wie dieser Künstler erschauerte, als in gnadenvoller Stunde er sein Wer schuf. Demütig schuf, fühlend, daß er selbst nur ein ausführendes Werkzeug einer größeren Macht ist. Denken Sie hierbei an Pankok, van Gogh, Munch, Dostojewski. Denken Sie auch an die früheren diesen verwandten, an Hercules Segers, Greco und Grünewald, an die Gotik und an die frühen Christen. Hier zeigt sich der rote Faden, der sich durch die Jahrhunderte zieht, und der beweist, daß diese anscheinend unzeitgemäße Kunst in Wirklichkeit überzeitlich ist.

Neben Werken dieser ekstatischen Menschen stehen solche, die grausig klar uns das Nebeneinander von Natur und Technik zeigen. Kein Bild ist mehr reine Natur. Eine Baggermaschine ragt auf. Ein von Menschen geometrisch genau eingefaßtes Wasserbett zerreißt die Landschaft. Das Grandiose geknebelt! Bösartig legt es sich auf das Gemüt des Beschauers. Ein geistiges, kein äußerliches Erfassen unserer Zeit, des zähen Kampfes, den die Natur mit der Technik führt. Natur – Technik: ein Zwiespalt, der uns zum Beispiel aus den Bildern von Max Ernst in dieser Ausstellung entgegenweht, ein Zwiespalt, der uns Angstträume einjagt und uns beunruhigt, denn die Gottheit liegt tief geknebelt. Man hat Angst. Aber diese Angst soll geboren werden! Das will dieser Künstler. Er gibt uns keinen Halt wie der ekstatische Mensch. Er läßt uns manchmal in dieser Angst ersaufen.

Und neben diesen Dämonisch-ekstatischen und diesen letzteren Zwiespältigen sehen wir den klar Zupackenden, der in seinen Bildern den Fingerabdruck unserer Zeit gibt, es ist der sachliche Mensch, der sagt: so ist es. Seine Bilder sind genau so richtig, wie ein Rechenexempel richtig ist. Wie eine vernunftgemäße logische Antwort sprechen uns die Bilder der Sachlichkeit an. Auch diese Künstler haben ihre persönliche Berechtigung, die Berechtigung ihrer zeitlichen Aussage. Aber der Geist schreit nach Geist, wenn auch die Vernunft zufrieden ist, und wir vermissen bei diesen Bildern das, was hinter dem Vernunfterfaßten unberührt und unerforschlich liegt. Kalt bleiben wir und gefühllos. (In dieser Ausstellung fehlt die Kunst der Sachlichkeit.)

Den Gegenpol zu den Ekstatischen der neben den Zwiespältigen und den Sachlichen besteht, bilden die Menschen, die nicht wie die Ekstatischen aus den Urgründen des Instinktes schaffen, sondern deren Werke ein sinnbar werdendes Blühen des Lebens geben, ohne die Abgründe des dämonischen Menschen. Es sind jene Künstler mit den sinnfälligen Bildern, die gefüllt sind mit dem sinnlich faßbaren Leben. Man kann hier an die französische Malerei denken, die unsern Augen ein Fest ist, ein blühendes Fest von Farben und Formen, ein Fest den Sinnen. Sie sind abseits von den Höhen und Abgründen des ekstatischen Menschen. Denken Sie hier an Liebermann, Manet und den frühen Renoir. In dieser Ausstellung ist H. B. Hundt dieser Art Kunstoffenbarung am nächsten.

Nichts liegt mir natürlich ferner als hier Künstler systematisch einzuteilen. Mir liegt nur daran, ein wenig orientierend über heutige Kunst zu sprechen, um zu zeigen, daß Kunstausstellungen heute ein vielseitiges Gesicht zeigen müssen, genau so vielseitig wie die Zeit selbst. Ich wollte zeigen, wie diese verschiedenen Weltanschauungen nebeneinanderherlaufen, sich ergänzend zu einem Gesamtbild des Suchens und auch schon Gefundenhabens unserer Zeit: Da steht der ekstatisch-dämonische Mensch, der aus den Urgründen des Blutes und Instinktes schafft als einsamer ruhender Pol, an dem wir uns halten können, da steht der Mann mit der ehernen Stirn, der die Kraft in sich hat, den bösen Zwiespalt: Natur – Technik zu gestalten; da steht der Mann mit der sinnenfreudigen Seele und läßt unter seinem Pinsel blühen und daneben steht der Vernunftmensch der Zeit, der sachliche Bilder schafft. Bilder, die unsere Seele kalt lassen in ihrer Seelenlosigkeit. Diese Künstler teilen den Pessimismus unserer Zeit und haben im Grunde den Zweck ihres Berufes verloren. Des Berufes, zu dem die Künstler aller Jahrhunderte berufen waren, dem Geiste zu geben, was des Geistes ist, oder: um ihren Träumen zu trauen, ihren Träumen, die aus Unbewußtem kommen und kraft des Geistes Gestalt gewinnen. Träume – aber nicht kalte Abrechnungen. – Nun habe ich doch Stellung genommen, sogar eine ganz persönliche, die man mir aber verzeihen wird. Denn wieder muß ich betonen, auch dieser Weg war notwendig und führte zu einem Ziel.

Denn der Gedanke der Sachlichkeit hat in der angewandten Kunst, der Architektur, die Zweckbauten macht, tiefste Berechtigung. Da führte uns die Sachlichkeit heraus aus dem verlogenen Ballast des Stuckes und wir erkannten wieder die Schönheit einer ruhigen Front, der geraden Linie. Die Linie einer derartig ruhigen aufgeteilten Häuserwand gibt der Straße Ruhe, drängt sich nicht mehr störend auf. Diese einfachen Linien in den Wohnräumen mit den geradlinigen ruhigen Möbeln geben uns wieder die Ruhe und Weite, die zu innerer Sammlung notwendig ist. Wir werden von diesen Häusern, diesen Möbeln nicht mehr aufgesogen. Wir sind frei von ihnen, keine Sklaven.

Und diese ruhigen einfarbigen Wände können auch wieder Bilder zu den Menschen predigen lassen, frei und ungehemmt. Zwar keine gemütlichen Bilderchen im Goldrahmen, sondern Bilder, die in ihrem geistigen Gehalt (nicht durch äußere Größe natürlich) diese Wände füllen, diese schlichten Räume leben lassen im Geiste seines Bewohners, der das Bild seines eigenen Blutes hineinhängen wird. Es kommt darauf an, wozu er sich persönlich hingezogen fühlt, ob er blutsverwandt ist mit den ekstatischen Künstlern oder ob seine Seele dem sinnenfreudigen, dem zwiespältigen oder dem sachlichen Menschen gehört. Es ist ein Irrtum, wenn selbst in Malerkreisen die Befürchtung auftritt, daß ihre Bilder in sachliche Häuser nicht passen.

Die einfache Geste mit tiefstem Gehalt.

Darum allein brauchen wir schon nicht zu verzweifeln an unserer Zeit, denn in ihr war es möglich, den einfach sachlichen Stil des Bauwerkes zu gestalten. "Die einfache schlichte Geste". Ja, daß wir sie finden konnten, wiederfinden konnten diese einfache Geste, das schon allein kann uns zukunftsfreudig machen. Nicht Armut des Geistes, sondern Demut des Geistes ließ uns die einfache Linie wiederfinden, die einfache Wand, die nach echten Bildern schreit.

Leider haben wir noch keinen sachlichen Museumsbau, verloren und nicht zu Hause so schauen mich immer die Bilder von den viel zu hohen oft reichlich verstuckten Museumswänden an. Sie sind meistens verloren und einsam in diesen Räumen, wie es der Künstler anscheinend selbst im Getriebe der heutigen Welt ist, in einer Welt, in der Luxus war und sein sollte und sie ist doch notwendiges Brot. Des wollen wir eingedenk sein, daß der Leib tot ist ohne Geist.

Solange Menschenherzen lieben, werden Bilder in Räume gehängt. Und gerade der sachliche Bau gibt ihnen den ruhigen Raum, den sie mit ihrem Geiste füllen können. Der sachliche Raum gibt nur die Umrahmung, die jeder mit seinem eigenen Traume füllen muß. Das ist der Stil unserer Zeit: Der sachliche Bau gefüllt mit lebendigen Bildern.

In: Der Schacht. Unpolitisches Wochenblatt für bewußte Kulturarbeit im Ruhrgebiet. 4. Jg. 18. Heft. Januar 1928.

Die unproblematische Frau

Wer den Querschnitt durch unsere Zeit macht, um den regierenden zeitgemäßen Frauentyp herauszukristallisieren, der glaubt ihn am besten zu fassen im Girl und in der Frauenrechtlerin. Und in Wirklichkeit ist die Frauenrechtlerin, sieht man sich nur die organisierten Verbände an, weißhaarig. Sie gehört in ihrem ganzen Gedankengang nicht in unsere Zeit. Das sporttreibende Girl aber ist eine Maske, hinter der sich oft eine tiefempfindende Frauenseele verbirgt. Die Frau von heute, die wesentlich ist, tritt wie zu allen Zeiten mit verschiedenem Äußeren, mit verschiedener Geste auf, aber alle verbindend ist – der vergangenen Frauengeneration konträr – ihre Problemlosigkeit, die erklärbar ist aus der kämpferischen Situation, in die jede Frau hineingesetzt wurde. Denn in Augenblicken, da der Mensch Tiefgehendes erlebt, hört für ihn die gedankliche Auseinandersetzung von Problemen auf, da philosophiert er nicht. – Ein Liebender liest keine Liebesromane, oder höchstens um seinem eigenen Lied zu lauschen, und kein Abenteurer liest Abenteuerromane. Er erlebt sie. Eine Frau, die schafft, die erlebt, wälzt keine Probleme über ihr Geschlecht und seine Möglichkeiten. – Daraus erklärt sich ihre heutige Problemlosigkeit. Denn sie ist wirklich unproblematisch im Gegensatz zur vergangenen Generation, die Vortrupp war für unser Geschlecht. Aus wohlsituierter Bürgerlichkeit heraus kamen alle jene Frauen, deren Namen wir mit verstehender und dankbarer Liebe als unsere Vorkämpferinnen nennen, mit denen uns heute aber weiterhin keine Bande des gemeinsamen Kampfes mehr verknüpfen. Noch einmal: aus wohlsituierter Bürgerlichkeit, die überwunden wurde, kamen jene Frauen, die das Votum der Blaustrümpfigkeit auf sich nahmen, die wie Berserker kämpften für das Kind, für die geistige Freiheit eintraten und sich und ihr Glück für diese Idee opferten. Die heutige wesentliche geistige Frau, von der hier nur die Rede sein kann, kämpft für alle diese Ideen nicht mehr, nicht weil diese Ideen restlos Erfüllung wurden, sondern weil das gedankliche Erbe ihrer Vorkämpferinnen schon eine Blutangelegenheit dieser heutigen Frau wurde. Sie lebt nicht mehr in Gedankenkonstruktionen der Idee, sondern sie erlebt ihre Idee.

Vielleicht ist dieses selbstbewußte, selbstverständliche, problemlose Tun nicht nur erklärbar aus dem sicheren Erbe vergangener Frauengenerationen, sondern noch mehr aus der alles zum Wanken gebrachten Kriegszeit, die alle Länder, ob beteiligt oder unbeteiligt, wach rüttelte. Das Leben des Wohlbehagens – das Leben, das auf Lebensversicherung eingestellt war – wurde vernichtet, und nur der Tapfere, der kräftig sein Gehirn auf diese wechselnden Kurse hier einstellte, oder der Phantast, dessen Blick auf die Sterne sich richtete, behielt einen klaren Kopf. Und diese Bindung: erdhaft und geistig – aus dieser Bindung entstand die wesentliche heutige Frau. Nach Shakespeare geben wir Menschen den Sinn. Nach ihm ist alles sinnlos rätselhaft, nur wir Menschen geben den Dingen den Sinn. Diese aus der Enge des fraulichen Seins herausgerissenen Wesen, die anscheinend ihren Grund verloren, sie gaben mit der Kraft ihrer Wurzeln, die überall Boden faßten, ihrem Dasein einen, nämlich ihren Sinn. Diese selbstverständliche Sinngebung des eigenen Lebens, das bedeutete die geistige Befreiung dieser Frauengeneration.

Diese Frauen, so schien es, kämpften nicht mehr für ihre Schwestern, sie kämpften anscheinend nicht mehr für die Idee, sie taten nichts anderes als ihr eigenes kleines zum Wanken gebrachtes Leben wieder auf sichere Beine zu stellen, um des eigenen Glückes und des Glückes ihrer Geliebten, die doch letzten Endes der tiefste Sinn eines jeden Frauenlebens ist. Und da sie dies taten, ihr kleines Leben aufbauten mit männlicher Tatkraft, da wirkten sie oft wie Männer, und Entsetzen ergriff alle, denen es um unsere Kultur ernst war.

Sie sahen nicht, daß hinter dieser weiblichen Stirn ein zielbewußter Wille am Aufbau einer Welt arbeitete, in der das Frauensein sich erst ganz entfalten konnte.

Um die Gestalt dieser neuen Frau – deren Erkennen Beglückung sein muß für jeden, dem es um die Gestaltung unserer Zeit ernst ist – ganz klar herauszustellen, zeige ich jetzt an wesentlichen Frauentypen aus Frauenromanen, daß diese unproblematische Frau, deren Erscheinen ich als ein Aufbauzeichen unserer Zeit erkennen möchte, da ist. Erkennbar wird all die kommende und gegenwärtige Wesenheit am ersten in der Kunst, die doch der Spiegel einer Zeit ist – das Staubecken, das alle geistigen Niederschläge sammelt!

Eine Frauengestalt, die den aufbauenden Frauentyp darstellt, ist Elsa in dem letzten Roman der Martha Ostenso: "Die tollen Carews". Es ist die Frau, die, ohne es zu wissen, ganz unproblematisch, in ihrer eigenen Welt lebt. Einer Wahrheit, der sie auch um ihrer Liebe willen keinen Zwang antun kann. Es ist nicht mehr die Frau, die still leidet, - auch nicht mehr die Frau, die den Begriff des Opfers kennt, das Resignation zur Folge hat. Nein, es ist die Frau, deren innere Wahrhaftigkeit so stark ist, daß sie von ihr beherrscht wird, daß sie ihr dienen muß. Diese Frau wird von einer inneren Gewalt geleitet und sie ist noch, oder – wenn wir auf die vergangene Generation zurückschauen – vielleicht besser – wieder so instinktsicher, daß sie dieser inneren Gewalt gehorcht. Nichts Sentimentales weht durch das Leben einer derartigen Frau. Nur ein wahrhaftiger Mann hält diese herbe reine Frau aus.

Sonderbar würde unsere vergangene Generation diese Frauengeschichte anmuten, in der eine Frau nicht mehr Spielball von Gefühlen und nicht mehr der passive Teil zu sein scheint, sondern in der sie letzten Endes fast die Verantwortlichkeit für das innere Glück ihrer Familie und der kommenden Generation zu tragen hat. Es ist, als wenn diese Frau wie vor undenklichen Zeiten wieder so etwas wie eine priesterliche Mission zu erfüllen hätte. Die Wahrhaftigkeit einer jeden Geste, die zwischen ihrem Mann und ihr gewechselt wird, die Reinheit des Erlebnisses, das ihr Liebe heißt, ist ihr wichtiger als alles andere auf der Welt. Die äußere Zerrüttung ihrer Lebensverhältnisse, die Elsa erleben muß, alles was in früheren Frauenromanen wichtig zu sein schien, fällt hier im Gedanken- und Gefühlskreis einer derartigen Frau als unwichtig fort oder besser noch, es berührt ihr Wesentliches nicht.

Vielleicht wird dies noch klarer, wenn wir die Frauenreihe betrachten, die uns aus Margarete Kennedys Roman: "Die treue Nymphe", entgegenkommt. Dieser Sangersche Cirkus – wie die englische Aristokratie das Landhaus des Komponisten Sanger taufte – birgt den rührendsten Ausdruck der Frauen, die unsere Zeit hervorbringen konnte. – Da ist die zarte kleine Tessa, die schweigend, unbesiegt und jung starb, die noch im letzten Augenblick, da sie den Tod fühlte, kein Wesens von sich machen konnte – die sich keinen Augenblick ihres Lebens so wichtig vorkam, daß sie andere mit ihrem kleinen Wesen belastete – und der die Ruhe ihres Geliebten wichtiger war als ihre glänzende prachtvolle Schale, die der Onkel ihr bescherte und die der Geliebte in böser Stimmung zerschlug. Als man ihren Geliebten darum schelten wollte, kehrte sie ruhig die Glasscherben auf und wußte so gut, daß ihr Geliebter zu klug und sein Wesen zu tief war, um diese Schale wichtig zu nehmen, und daß es im Leben so wichtig ist, das eigene Herz nicht an äußere Dinge zu hängen, denn eine Schale braucht schon, um zu glänzen, ein Heim, und das durfte sie sich bei ihrem ruhelosen weltabgewandten Geliebten und auch aus der Wahrheit ihrer eigenen Seele, die alles dies als Belastung empfand, gar nicht wünschen. Alles Böse wird in der Atmosphäre dieser kleinen Tessa gut. Und da ist die Frau, die ihr den Geliebten nahm, ohne daß sie oder der Geliebte es wußte; die stolze schöne englische Aristokratin Florence, die aus der Sicherheit ihres bürgerlichen Lebens heraus alles harmonisch zu sehen gewohnt war. Auch sie gehört zu dem neuen Frauentyp. Denn aus ihrer umfassenden Bildung, aus ihrem wohlgeschulten und weitblickenden Gehirn heraus hat sie nicht mehr die Grenzen, die früheren Frauenanschauungen anhafteten. Und ihre Seele flattert voll Sehnsucht heraus aus der Konvention ihrer Gesellschaft nach dem Sangerschen Cirkus hin, in dem eine herbe und frische Luft weht. Sie läßt sich dort fangen, sie liebt und sie liebt in ihrem Mann all die Hemmungslosigkeit, die schöpferische Kraft gegen alle Bindung, wie sie Konvention und Geselligkeit mit sich bringt, instinktiv hat. Aber ihre Liebe möchte dem Manne ihrer Liebe doch auch die Anerkennung und den Lorbeer – den die Gesellschaft auszugeben hat, und der nach ihrem Glauben der künstlerischen Qualität ihres Mannes geziemt – erobern. Wodurch? Durch die einzige Möglichkeit, durch die Geselligkeit, durch die Gesellschaft, in die sie ihren einsamen hemmungslosen Mann hineinziehen will. Sie verpflanzt wilde Blumen in einen künstlichen Garten. Aber die Urkraft ist zu groß. Es gelingt ihr nicht. Sie muß einsehen, daß dieses selbstgewählte Außenseitertum des Sangerschen Cirkus keine Laune, sondern eine Blutangelegenheit ist.

Durch alle heutigen Frauenromane geht diese Erkenntnis, daß jeder Mensch in seinem eigenen Ich befangen ist, daß also jeder Mensch eigentlich gar nicht anders als aus der Erbanlage heraus handeln kann. Darum fehlt diesen Büchern und diesen Frauengestalten alles Moralinsaure und alles Unreine. Wäre uns in Frauenbüchern der vergangenen Generation die wunderhübsche Antonie aus Sangers Cirkus begegnet, die aus ihrem väterlichen Haus entwich, so wäre aus diesem Erlebnis ein dramatischer Konflikt zugunsten der der Frauenpsyche oder ein ungeheuerliches sexuelles Problem entstanden. Hier ist das Problem verschoben und löst sich auf. Es wird problemlos. Und dies ist so wichtig, daß wir dieses Erlebnis näher betrachten müssen. – Antonie liebt ihren häßlichen Mo, was dieser bei der Schönheit Antonies kaum erwarten konnte. Sie liebt ihn und wird ihm, das fühlt man, eines Tages mit aller Reinheit ihres liebenden Herzens gehören. Mo aber begeht die Sünde, diesen Moment der Hingabe zu verpassen und einen durch äußere Umstände (Alkohol) anscheinend für ihn sicheren Augenblick der Selbstauflösung zu nehmen, um sich ihrer Liebe zu erfreuen. Aber er hat nur ihren Körper, nicht ihre liebende Seele besessen, das fühlt dieser Mann, dem viele Frauen begegneten, aber keine so wahrhafte, in ihrer Liebe so grenzenlose wie Antonie. Und diesen Kaufmann Mo befällt nach seiner Tat eine grenzenlose Traurigkeit, denn er kann es nicht glauben, daß es zwischen ihnen wieder gut werden kann, denn sie hat das unheimliche Gesicht der seelenlosen Begierde gesehen, sie, diese gesunde triebhafte Frau, die einen seelenlosen Trieb in sich nicht kannte. Seine Traurigkeit löste aber dieser in sich verkrochenen Frau die Zunge, so dass sie zu ihm gehen konnte. Denn sie erkannte in seiner Traurigkeit seine verschüttete Seele, die ihr gehörte und über die sie in Liebe zu wachen von jetzt ab ihre Berufung sah. So konnte dem ersten fruchtbaren Begegnen Vergessenheit in ihrer Liebe werden. Diese Antonie, die als Geliebte um die Seele ihres Mannes trauert, die sie bei der ersten Umarmung nicht gefühlt hat und die durch ihre keusche Zartheit diesen anscheinend seelisch Verschütteten zu zartesten und reinsten, ersten Liebesgefühlen unbewußt zwingt, ist eine der edelsten Frauengestalten unserer modernen Literatur.

Der Geschlechterhaß, der früher durch alle Bücher wehte, der besonders stark in Frauenbüchern zum Ausdruck kam – der stärksten Ausdruck bei Wedekind fand -, er fehlt in dieser neuen Frauenliteratur. Aufgelöst wird die Verschiedenheit der Gefühle hier stets durch die Liebe der verstehenden Frau.

Wichtig allein ist der heutigen Frau ein Leben, das sie voll und ganz bejahen kann. Nicht passiv, sondern aktiv steht sie ihrem Leben gegenüber, in dem Glauben, daß sie dazu da ist, es fruchtbar zu gestalten. Ein derartig aktives Leben läßt keine Zeit zur Problematik, es hat nur Raum zum tätigen Handeln.

Das sind die Frauen, die ihr Leben gestalteten auf ganz neuer Grundlage, die morgens in aller Frühe singend den Herd scheuern und in Hast das Mittagessen vorbereiten, um dann auf Stunden sich ganz einem Berufe hinzugeben in der stillen Gewißheit ihres häuslichen Glücks, das sie sich gemeinsam mit dem Geliebten schufen. Und dann die Frau, die neben dem ärztlichen oder sonst einem schwierigen Beruf auch noch eigene Kinder in Liebe verwahrt. Die Frauensorgen von früher, der Haushalt, auch er wird besorgt, aber er untersteht ganz der persönlichen Gemütlichkeit der Familie. Er ist kein übergeordneter Selbstzweck mehr. Denn diese im Leben kämpfende Frau kommt mit dergleichen Sehnsucht des stillen Friedens, mit der Sehnsucht nach Gemeinschaft nach Haus wie der Mann und das Kind. Im brausenden Strudel des Lebens wird das Heim die Burg, die Insel, die jeden beschützt, der Aufnahme findet.

Zur Beweiskraft, dass wirklich für die heutige Frau anscheinend eine Problemlosigkeit eingesetzt hat, brauchen wir nicht allein auf unsere Literatur zu schauen, die Frauen schufen. Die verwaisten Frauenverbände selbst geben uns den Beweis. Der Nachwuchs bleibt aus. Nicht zu erklären ist diese Flucht aus der Vergnügungssucht unserer Zeit – diese Sorte Frau war als Kulturträger immer bedeutungslos, sondern sie ist wirklich erklärbar aus der ungeteilten Kraftentfaltung, die heute einer Frau möglich ist und ihr, was wichtig ist - , selbstverständlich wurde. Heute ist, durch die äußeren Verhältnisse bedingt, keine Frau mehr ein Außenseiter, die dem Glück nicht entsagt, wenn die äußeren Verhältnisse des Geliebten ihm keine Ehe ohne wirtschaftliche Unterstützung der Frau gestattet. Nicht mehr wird jener Mann, der eine derartige Frau gefunden hat, als eine Art Verbrecher angesehen, der in eine bürgerliche Familie den Unglückskeil schob. Die Verhältnisse würden heute kaum noch einem Mann ohne Hilfe der Frau gestatten, vor dem Greisenalter zu heiraten. So steht die äußere Lage. – Aber es ist gerade, als wenn diese innere traurige Lage kein sinnloser Zustand wäre. Die Frauen gaben den Sinn! Sie konnten jetzt endlich heraus mit ihrer ganzen Liebesfähigkeit, die sie zu ungeahnten Taten und zu restlosem Verstehen führte. Die unverstandene Nora, die desillusionierte Madame Bovary, die Strindbergsche Frau, die im Geschlechterhaß ihr Heim in Trümmern schlug, sie ist erklärbar nur aus der Triebunsicherheit, welche für die vorhergehende Zeit nicht nur in der Gestaltung des Frauenlebens bezeichnend war. Wie schon vorher gesagt wurde, das ganze Leben einer Frau war vollkommen von traditionellen Überlieferungen, bürgerlichen Vorurteilen und Familienrücksichten eingeengt, so daß für ein eigenes kraftvolles Leben nur selten die innere Freiheit noch blieb. Nicht wie heute ließ sich auch die Frau den Wind um die Nase wehen, fand ihre Weltanschauung und ihre eigene Wahrheit im Lebenskampf, der sie dann eines Tages mit einem Mitkämpfer, einem Kameraden in Liebe verband. Zufälligkeit der Geselligkeit trieb früher die Paare zusammen, die bis zur Ehe, der Konvention gehorchend, nicht die Seele und nicht den Körper des andern in stillen Stunden des Beisammenseins erahnen durften. Auf dieser Ideenlosigkeit einer zweisamen Gemeinschaft baute sich dann eine Ehe auf, die nur noch gerettet werden konnte durch das Kind, das vielleicht eine gemeinsame Idee für beide werden konnte. Aber ein Ganzes, das aufbauend war, ein Kulturfaktor konnte eine derartige Ehe nur selten sein. Meistens konnten die Nerven dieses zwiespältige Leben, das Körper und Geist zu führen hatte, nicht ertragen und die Strindbergsche Tragödie wurde eine Alltäglichkeit. Nicht ohne Grund war das sexuelle Problem und das Eheleben im Vordergrund aller Dichter und Denker. Die ganze Literatur des Naturalismus – von Jäger, Conradt ab bis zu Wedekind – war erfüllt vom sexuellen Problem, das unlöslich schien. Es schien, als wenn die Natur zwischen dem Manne und der Frau wirklich einen unüberwindlichen Zwiespalt geschaffen hätte. Aber der frische und kalte Wind unserer Tage hat diese Probleme verweht. Soll man der russischen Gesandtin Kollontay und ihren Schwestern, die in Dichtung und Prosa ihr Frauenschaffen gestalten – trauen –, so sieht man auch hier, wie das rein frauliche Sein, das immer doch nur durch die Liebe restlos erfüllt wird, auch hier zu letzten eigenen Wahrheiten vorstoßen will.

Es ist so rührend zu lesen, diese neue Frauenliteratur – die wir hier nur so kurz streifen konnten –, die so voll herber keuscher Frische ist, so ganz ohne süßliche Sentimentalität, so ganz ohne Wichtigtuerei und so ganz Sicherheit des Instinkts erahnen läßt. Nicht wie früher eine Auseinandersetzung mit dem Schicksal, keine Anklage an den Mann, der nicht restlos alle Hoffnungen erfüllte – gar kein Geschlechterhaß –, sondern nur ein Lauschen auf das eigene Ich, auf dessen wahrhaftige Lebensgestaltung es den Frauen allein ankommt. Nur die Vergewaltigung der eigenen Lebensidee, nur das Untreuwerden an der eigenen Wahrheit wird von diesen Frauen als Sünde, als Schuld erkannt. Darum die Verantwortung, die diese Frauen in ihrem ganzen Leben im Blute tragen. Sie kennen nicht mehr die Begriffe Opfer und Pflicht, die eine vorhergehende Frauengeneration am reinen Wappenschild verzeichnet hatte. Denn diese Begriffe gingen unter in ihrer blutvollen Wahrheit, der die heutige wesentliche Frau leben muß und leben kann, denn ihre Wahrheit ist im eigenen Lebenskampf gefunden und wird restlos und ohne Überlegungen geliebt. Der Mann, der in dieser Lebensidee, in dieser gefundenen Wahrheit miteinbegriffen ist, der ist beschützt wie Elsas Mann aus Ostenos Roman. Er fühlt im chaotischen Treiben unserer Zeit die innere Harmonie, die Kräfte zum produktiven Schaffen des Mannes frei macht und frei hält. Nicht nur in Frauendichtungen, auch in der Männerliteratur wird die aktive Frau lebendig, die unproblematisch sich einfach im Tun und in der Liebe auslöst. – Man denkt da sofort an des Dichter Gladkow Roman "Zement". Die Frau, die in diesem Roman vor uns lebendig wird, macht uns in ihrer Zielsicherheit fast erschrecken. Sie glaubt an die Gesundung ihres Volkes, die sie als Erbe auch ihrem Kind erkämpfen will. Alles, was sich ihr bei der Realisierung dieser Träume hemmend in den Weg stellt, muß sie niedertreten und zu überwinden suchen, selbst dann, wenn dieser Weg zum Ziel über ihr eigenes zuckendes Herz geht. Es gibt für sie eben nichts anderes als die Mitarbeit an der Realisierung ihres Glaubens, ihrer Wahrheit, die sie erkannt hat. Ein derartiges tatkräftiges und vom Schicksal unüberwindbares weibliches Wesen muß Kraftquellen in sich haben, die grenzenlos sind. Ihr Glaube, für den sie ihr ganzes Leben zeugt, kommt aus religiöser Inbrunst, aus dem Geist und nicht aus dem Gehirn. Das ist das Geheimnis dieser Frauen, die heute manchem Mann so unheimlich wirken, da ihr Kraftmaß so männlich wirkt. Es ist der Geist, der in ihnen mächtig ist, dass sie über ihr von der Natur anscheinend gestecktes Maß hinauswachsen und sich selbst lieber zerstören, als daß sie auch nur einen Schritt von ihrer Wahrheit abrücken. Aber auch diese Selbstzerstörung birgt tiefempfundenes Glück, auch sie bleibt unproblematisch, da sie nicht gewollt, nicht bewußt eintritt, sondern einfach erlebt wird. Das Leben ist schwer und doch ist es in seinem ewigen Kampfe liebenswert. Das ist die große Wahrheit dieser heutigen Menschen, dieser Frauen, die aktiv ins Leben vorstoßen.

In: Der Scheinwerfer. Blätter der städtischen Bühnen Essen. Hg.: Hannes Küpper. 2. Jg., 3. Heft, Essen, Oktober 1928, S. 22-26.

Vom Wesen der Dinge

Im Hause der Vorsitzenden des Verbandes Deutsche Frauenkultur versammelten sich in dieser Woche die Mitglieder zur gemeinschaftlichen Freude an guter Musik, welche die Hausfrau Eleonore Späing zusammen mit ihrer Schwester vermittelte. Weiterhin waren sie zusammengekommen, um den Gedanken zu lauschen und nachzugehen, die Ursula Schulte- Kersmecke, Hagen, in ihrem Vortrag „Vom Wesen der Dinge“ herausstellte.

Es ist für den Vermittler wirklich schwer, ihre Gedanken, die zart hingehaucht mit feinem Stimmchen durch den Raum schwebten, in eine Form zu gießen, die kurz und für alle faßlich ist, so wie es die Zeitungsreportage mit sich bringt.

Wir wollen es versuchen: Sie ging von den Gedanken aus, daß wir uns klar darüber werden müssen, daß dem Wesenhaften in allem Menschlichen heute Gefahr droht. Und da die Dinge vom Menschen gemacht und gebraucht werden, so droht auch ihnen Gefahr, daß sie ihres Wesens beraubt werden. Da wir Frauen soviel mit den Dingen zu tun haben – als Gestalterin, Erhalterin und Verwalterin – „und weil wir ihnen oft verfallen in Sorg’ und Klage einerseits, in Lust und Verlangen andrerseits“, darum ist es so notwendig, daß gerade die Frau das Wesen der Dinge sich vergegenwärtigt, damit diese nicht das Leben beherrschen und die Einheit stören, sondern im Gegenteil das Leben fördern. Denn die Dinge, die zur Erhaltung des Menschen geschaffen wurden, um ihn zur geistigen Arbeit zu befreien und um ihm Sicherheit und Sorglosigkeit zu geben, ist heute verwirrt. Dieser Sinn ist immer mehr zurückgetreten hinter das Ding an sich. Das Haus, das hüten sollte vor Gefahren, damit der Mensch in Ruhe sich freuen könne mit seinen Freunden, sich weiden an ewigen Weisheiten und hinblicken zu den Sternen – die Speisen, die ihn aufbauen sollten zu einem Gefäß für den Geist –, die Geräte, die lebensnotwendige Verrichtungen erleichtern und vereinfachen sollten, – ach, sie fraßen dies eigentliche Leben ja auf!

Es bildete sich so eine Tradition, die glauben machen wollte, der Mensch wäre zur Erhaltung der Dinge da; die Dinge herrschten und erst zu zweit käme das andere: ein Mensch in Not, eine erschütterte Seele. Diktatur der Dinge: Durchlöcherte Seidenstrümpfe halten die Mutter vom Spiel mit dem Kinde ab; das teure Teekleid veranlaßt eine Kürzung des Blindenbeitrags; die Repräsentationssucht, die sich äußert im Pelzmantel und in der Schuhform letzter Mode, zwingt den geistigen Menschen in die Fron, die seinen lahmgewordenen Geist vollends knebelt. Kurzum: es herrschen die Dinge, die unserem Menschentum dienen sollten; sie verloren ihren Sinn. Geld zum Beispiel ist unumgänglich notwendig zur Lebenserhaltung, doch wird es überschätzt, und es hätte uns der Krieg und die Inflation lehren sollen, daß nur der gesichert ist, der außer diesen Schätzen der Erde noch geistige Werte erkennt, die ihm nie genommen werden können. Um Geld zu machen, werden Dinge hergestellt, die die Bedürfnisse der Verbraucher suggestiv steigern und im Grunde nur Begehrlichkeit und Unzufriedenheit züchten. Es ist jetzt soweit gekommen, daß über die Dinge, die man begehrt, das Leben vergessen wird, zu dessen Erhaltung sie eigentlich geschaffen wurden und dem sie dienen sollten. Nicht anders ist es mit dem Ding, das als Mittel zum Ausdruck, zur Verbindung und Auseinandersetzung gezeugt wurde: Luftschiff und Flugzeug, Fernexpress und Auto, Radio und Telephon, Scheckverkehr und Zeitung, Kino und Buch, Kasse und Partei. Die Folge all dieser Erscheinungen sehen wir in der geistigen Verflachung. Es ist einfach nicht mehr möglich, diese Übermenge an Eindrücken zu verarbeiten, und viele verlernen das Leben aus sich selbst.

Wer das wieder fertig brächte, die Dinge, die der Mensch schuf, an den Dingen der Schöpfung, an ihrer Lebendigkeit, an ihrer Ausdruckskraft und Vollkommenheit zu messen, der würde wieder bescheidener werden in der Beurteilung unserer Menschenwerke und ihrer Notwendigkeit für diesen Stern. Würden wir die Dinge wieder einfach sehen, sähen die Dinge der Lebenserhaltung so aus: wir sähen in ihnen ein Stück Brot, ein Lager zur Nacht, ein hütendes Haus, ein Festkleid, eine Schale. Unter diesem Gesichtspunkt tritt zurück, was wir daraus machten, nämlich ein Souper, ein Seidenlager und Pyjama, eine Villa, eine große Abendtoilette, ein Kristallschiff. Alle diese Dinge dienen einem Selbstzweck, der den Menschen beherrscht, der von Repräsentationssucht befallen, die einfache Stellung zu den Dingen verloren hat.

Im Tao-te-king heißt es: „Das Oel in der Lampe verzehrt sich von selbst; der Zimtbaum ist eßbar, darum wird er gefällt.“ Jedermann weiß, wie nützlich es ist, nutzbar zu sein, und keiner weiß, wie nutzbar es ist, nutzlos zu sein im vertieften Sinne dieser Auslegung. Das Ding, das ohne Zweck der Nützlichkeit nichts zu sein hat als Ausdruck des Geistes, trägt am meisten das Gepräge seiner Herkunft: Die Kunst, das Kind des freien Geistes, wird deshalb von den heutigen Menschen nicht erkannt, weil nichts vom Zweckhaften, das heute das Leben beherrscht, darin ist. Hätte das Volk darum wieder Beziehungen zur Kunst, dann hätte es zwangsläufig das richtige Verhältnis zu den zweckhaften Dingen zurück. Nur aus geistigem Erlebnis offenbart sich der Sinn des Lebens. Es ist der Geist, der die Dinge recht macht, wesentlich und wahr. Und was ist der Mensch?

"Ich sei dir eine Wohnung recht,
Ein Stüblein leer und schlicht.
Ach, füll’ mich ganz mit deinem Schein
Du ew’ges Licht."

Nach den letzten Worten des Vortrages brauchten die Zuhörerinnen einige Weile, bis daß sie an den blumengeschmückten Teetischen langsam sich wieder zurückfanden zur Aussprache untereinander.

In: Düsseldorfer Stadt-Anzeiger, 15. März 1931, Nr. 74

Durch die Lupe

Zum Welt-Frauenkongress in Wien vom 27. – 30. Juli 1931

Bedeutet die Rückkehr zu den langen Röcken, zum Federhut und Rüschenkleid nun eine seelische Wandlung der heutigen Frau? Beginnt damit eine produktivere Zeit, die der "wahren" Fraulichkeit entspringt? Oder ist dieser Federhut nur eine Sinnlosigkeit in unserer an Sinnlosem so reichen Zeit?

Aeußerlich betrachtet ist der Federhut eine Sinnlosigkeit, die kluge Frauen nicht mitmachen werden.

Und doch, tiefer gesehen: es fehlt, scheint es -, nur an der Erkenntnis, um die Zusammenhänge hier zu finden. Von den englischen Suffragetten zu der unabhängigen Frau von heute ist der Zeitraum ungefähr 30 Jahre. Und nun geht es nicht weiter. Die Frau merkt, daß es nicht so weitergehen kann, und daß die ewigen Gesetze der Geschlechterbestimmung auf die Dauer nicht ohne verhängnisvollen Schaden für die Frauenwelt unbeachtet gelassen werden kann. Und darum, um zu zeigen, daß man doch noch – bei aller Vermännlichung ein Weibchen geblieben ist, darum stülpt man sich schnell ein Federhütchen auf und wedelt mit Volants und Rüschchen herum.

"Ja, ja, die Wahrheit in der Geschichte der Geschlechter? Nikolaus von Sementowski sagt da ganz richtig: " Von der biblischen Ergebenheit der Frau dem Mann gegenüber, über ihre Isolierbarkeit in der Antike, ihre beinahe zynische Zurückstellung in der Renaissance und schließlich über die oberflächliche Galanterie des Rokoko führte der Weg zur Romantik, zur Anbetung, zum Kulte eines Hölderlin an Diotima." Das war der Höhepunkt. Das Bewußtsein der so vom Manne idealisierten Frau beginnt im 19. Jahrhundert zu erwachen. Sie kommt aus ihrer Enge als "nur anbetungswürdiges Idol" aus der Passivität des Ideals heraus und beginnt auf einmal den Zauber der Aktivität zu begreifen, für die ihr die Taten der Männer als Vorbild dienen. Zunächst ist es eine "geistige Aktivität". Doch bald vertauscht die Frau die begrenzten Bezirke abstrakter Geistigkeit mit Regionen umfassender Wirksamkeit, die bis dahin allein dem Manne vorbehalten waren. Statt Ideologien werden wirkliche soziale Ideen Lebensziele, Schicksale der Frauen. Und schließlich steht sie mitten im öffentlichen Leben, erst im Kampf mit dem Mann als noch nicht "erprobte Konkurrentin", dann aber als ebenbürtige Kraft.

Eines ist jedoch bei dieser Entwicklung offensichtlich, wie rühmlich sie auch sonst sein mag: die Frau hat keinen neuen, nur ihr allein eignen, für den Mann unerfüllbaren oder von ihm bis dahin noch nicht geprägten Ausdruck gefunden. Ueberall war sie seine Schülerin. Sie flüchtete in Ausdrucksformen, die ihm seit jeher geläufig und selbstverständlich waren, weil sie eine Erscheinungsform seines Wesens als Mann darstellten. Es gibt zwar Frauen, die Bücher schreiben, Frauen, die Politik treiben, Entdeckungen innerhalb der Wissenschaft machen usw. – es gibt jedoch keine Frau, die für ihre Eigenart als Frau einen eignen Ausdruck gefunden hätte, soweit er nicht schon ewig dagewesen ist: Gefährtin des Mannes und Mutter zu sein.

Im Hinblick auf diese unvergängliche Bestimmung, die keine Mode, keine Laune und kein noch so starker Wille ändern können, dürfen wir die Entwicklung der Frau in der Geschichte unseres Kulturlebens zwar als eine notwendige Wechselwirkung, niemals aber als ein endgültiges "ideales" Ergebnis der natürlichen Vervollkommnung betrachten. Jede Wechselwirkung ist fruchtbar, aber wie ein Kornfeld, das Jahr um Jahr ausgenutzt wird, einmal aufhört, fruchtbar zu sein, muß auch diese Wechselwirkung sich totlaufen.

Dieses Stadium des Leerlaufs hat die Entwicklung der Frau erreicht die Wechselwirkung hat aufgehört, produktiv zu sein. Die Frau steht vor der Notwendigkeit, in den Zustand ursprünglicher Empfängnisbereitschaft zurückzukehren, um wieder produktiv zu werden nicht aber eine verzerrte Spiegelung des Mannes. Der Mann hat mit Bedauern und Furcht die Emanzipation der Frauen verfolgt, nicht weil er "Konkurrenz" befürchtete, nicht weil er "sich nicht besiegen lassen wollte" nein, er hat sich innerlich dagegen gewehrt, wie einer, der fühlt, daß ihm das Kostbarste und Unentbehrlichste verloren geht. Die Emanzipation der Frau hat das Gegenteil davon erreicht, was sie erstrebte: nicht in Ehrfurcht steht der Mann vor der unabhängigen Frau, sondern wie einer, der der alles verloren hat und darum an nichts mehr glaubt. Der Mann glaubt nicht mehr an die Seelenhaftigkeit der Frau, die der Sehnsucht seiner Seele Zuflucht bedeutet, er glaubt nicht mehr an die Frau als Frau, glaubt nicht mehr an jene silberne Schale, in die er die Lasten seines Leids und die Freuden seiner Taten tragen darf! Er sieht in der Frau heute nur noch ein "physisches Phänomen"! Diese Entwürdigung fühlt die Frau mit dem Instinkt ihrer ewigen Bestimmung."

So spricht ein Mann, und ganz ehrlich, Unrecht kann man ihm kaum geben. Die Frau von heute, die über dem Durchschnitt steht, kämpft dagegen an, nur ein physisches Phänomen zu sein. Sie will ihrer weiblichen Bestimmung nach aufrichtig leben und betreuen und auch ein wenig beschützt wieder sein. Aber kurz gesagt, so etwas wieder "nur" Frau sein! Und das ist gut und wird der Familie neue Kraftquellen erschließen. Denn die Frau, die sich in die Familie zurücksehnt, wird ihr viel mehr uneigennützige Liebe entgegenbringen als die Frau, die sich heraussehnte, als die Frau der vorigen Generation, die mit Neid auf den im Berufsleben stehenden aktiven Manne schaute. Die Sehnsucht nach Mütterlichkeit und engbegrenzter Fraulichkeit ist berechtigt, unberechtigt aber ist der Umweg über Federhut und Volant. Alles Mittel des Männerfangs, die dem Gänschen überlassen bleiben sollten! Die "Weiblichkeit" der heutigen Frau kann sich anders behaupten. Wenn Sementowski glaubt, daß Frauen, die Bücher schreiben, Frauen, die Politik treiben usw., niemals für ihre Eigenart als Frau einen eigenen Ausdruck gefunden hätten, so könnte man das auch positiv ausdeuten: sie haben keinen spezifisch weiblichen Ausdruck gefunden, da sie eine menschliche, das heißt "männlich-weibliche" Einstellung zum Leben hatten. Hoffentlich sind sich die Frauen bei der Umstellung dieser Einheit: "menschlich" bewußt und werden in Mode und Gehabe nicht wieder sklavenartig weibchenhaft. Der Federhut, die Voläntchen und das Getue sind Anzeichen dafür. Echte Frauen sollten einmal darüber nachdenken.

In: Frauen-Beilage der "Gladbach-Rhydter Zeitung", 2. August 1931, Nr. 196

Louise Dumont. Zum Tode der großen Künstlerin

Engel singen:
"Wer immer strebend sich bemüht,
Den können wir erlösen." Faust II.

Als meine Mutter starb, schrieb mir Louise Dumont: "Wer dem Willen seines eingeborenen Gottes folgt – für den ist der Tod gewiß der erste wirkliche Lebens-Feiertag. – Bleiben wir im Sinn unserer Mütter stark, Geliebtes, auch durch den Weltuntergang hindurch." An diese Worte klammern wir uns nun. Was sterblich an Louise Dumont war, haben wir der Erde wiedergegeben. Ihr Bild ist nun schon festgebannt in die Atmosphäre der Heiligen, und wir fühlen sie doch noch als Same, der in die Erde getan wurde, und es ist wie ein Doppelton hier, wie ein Ineinandergeschlungensein von Fern und Nähe, Dasein und Unsichtbarwerden, ein Ineinanderwachsen von Lebenselementen, das uns erschauern läßt. So ist sie wirklich und unwirklich, schwebend, entschwebend, wunderbar und doch wirklich zugleich. Immer schon spürten wir einen Hauch jener Welt, von der sie die Gewißheit in sich trug, als sie noch über diese Erde ging als die große Schauspielerin und weltberühmte Intendantin des Düsseldorfer Schauspielhauses.

Zwischen Louise Dumont und denen, die sich ihr ergaben, handelte es sich um eine ewige Beichte, um eine unlösbare Verbindung zwischen dem Gebundenen und dem Bindenden. Sie selbst ordnete weise und gütig ein, was sich ihr anvertraute. Sie steht nun jenseits aller menschlichen Gefahr, und so darf ich aussagen, wozu mich Liebe und Gewissen drängt: der Ruhm, der ihr zuteil wurde, den fühlte sie nur als Ruhm der Kräfte, die in ihr wirkten. Diesen Kräften gab sie sich bedingungslos hin; aus ihnen holte sie ihre Energien zum Kampf für das Ideal, das vor ihr stand und dem sie unter allen Umständen zum Licht verhelfen wollte. Sie wollte dem Teufel, dem Ungeist, der heute Herrscher unseres Planeten sich dünkt, Boden abgewinnen zum Glücke ihres Volkes, das nicht mehr um die Beseligungen des Geistes weiß, um die man es betrügt. Die Beziehung Luise Dumonts zum deutschen Volk war unmittelbar. Sie fühlte sich als Teilchen dieser Gemeinschaft im Geiste. Die letzten Worte der Sterbenden am Pfingstmontag lauteten: "Möchte doch der Pfingstgeist für unser Volk auf die Erde kommen." Ja, sie hat ein Leben lang um die Seele ihres Volkes gerungen. Beim Theaterspiel ging es ihr auch nie um anderes als um Entscheidungen des Geistes, die auf der Bühne dann das vom äußeren Schein befreite Wesen der Nation beschwören wollten und allezeit, bis in die Todesstunde hinein, in der sie deutlich, aus der Demut ihres ganzen Lebens heraus, "Dein Wille geschehe!" sprach, - trug sie das Schicksal der deutschen Geisteszukunft in ihrem Herzen.

Wenn Louise Dumont Goethe dachte, dann tönte für sie die Stimme des Gottes auf, und sie verkündigte die Freiheit des Geistes. Diese Stimme war stark auch in Louise Dumont. Ihr Geist, der fortgesetzt die größten Probleme trug, der weitgespannt über Grenzen und Normen hi- nausging, der gab dieser Frau die Kraft, alle Gegensätzlichkeiten, auch die der Kirchen, in sich aufzuheben. Sie war zurückgesunken in den Schoß Gottes.

Sie hatte ihr Leben an die Grenzen geführt, wo schon jene großen geistigen Reiche des Himmels und der Hölle beginnen. Wer schon in das ewige Leben hineinwachsen kann hier auf Erden, dem beginnt auch das Leben der Hölle schon hier. Unser Leben ist dann nichts als ein Stück blitzartig durch unser Bewußtsein erhellte Ewigkeit.

"Was ist die Hölle?" fragt Sossima, "ich denke, sie ist der Schmerz darüber, daß man nicht mehr zu lieben vermag. Nur einmal wird im unendlichen Raum, außerhalb von Zeit und Raum, einem geistigen Wesen mit seinem Erscheinen auf der Erde die Fähigkeit verliehen, das zu sagen: ich bin und ich liebe. Nur einmal war ihm ein Augenblick tätiger, lebendiger Liebe und dazu ein Leben hier auf Erden gegeben worden, und mit ihm Zeit und Gelegenheit." Diese Einmaligkeit, Unwandelbarkeit unseres gegebenen Lebens, diese großartige und strenge, vom Menschen alles fordernde Idee der Liebe ist in den Seelen der Menschen unserer Tage wie verlöscht. Louise Dumont aber war es Gewißheit, daß unser ganzes Leben nichts anderes ist als eine Entscheidung zur Ewigkeit, daß wir Menschen von heute alle in einem gewaltigen Drama stehen, das nur durch die Kraft der Liebe, die alle Gegensätzlichkeit in sich auslöscht, von den Völkern überwunden werden kann. Sie wußte, daß diese Liebe nur stark im Geiste werden muß, um dann Form anzunehmen in sichtbarer Wirkung. Darum war ihr Leben ein Dienst am Geiste. Darum vereinigte sie alle Entscheidung auf dieses eine Leben, machte es dadurch reicher, stärker und verantwortungsvoller.

Wie die Natur in unendlicher Fülle in dem Monate ihres Sterbens Form um Form belebt und dann wieder vergehen läßt, so haben auch wir Menschen im Reiche des ewigen Geistes Verschwendung und Überfülle; Seelen um Seelen stehen in Bereitschaft zum Dienst am Geiste, und es braucht nicht mit ihnen gespart zu werden. So nur empfand Louise Dumont sich selbst; sie sparte sich nicht auf. Sie verschwendete sich. Noch in der letzten Zeit ihrer Krankheit wollte sie ihr Spiel im Faust nicht aufgeben und spielte mit Fieber. Vielleicht hat diese künstlerische Besessenheit ihr Ende beschleunigt. Wir können es einfach nicht sofort fassen, wenn ein großer ideenreicher Mensch die Erde verläßt, daß es so sein soll. Denn wir klammern uns an die Form und sehen durch unsere Tränen nicht das Unverlierbare, das uns blieb. Indem wir aber die Einmaligkeit und Verantwortlichkeit des Lebens der Louise Dumont vor Augen führen und auf uns nehmen, erhalten wir Einblick in dieses erhöhte, stärkere, vom Geist durchwehte Leben. Das ist nun schon sichtbare Erfahrung: "An einem Ende der Welt veranlaßt du eine Bewegung, und am anderen Ende der Welt hallet sie wieder." So, und nicht anders muß es gewesen sein, als der Sarg den Boden berührte.

Was in der lebenden Schönheit geschaffen ist, das ist für immer geschaffen. Die Ewigkeit formt sich zwischen den künstlerischen Händen des Künstlers, der würdig ist und stark genug dazu, an der Quelle der Ewigkeit zu schöpfen. Mit diesem Gedanken umfassen wir Louise Dumonts Persönlichkeit, dieser großen Verkünderin der deutschen Sprache. Sie wollte den Rhythmus der Sprache ihres Volkes von der Bühne aus wieder vernehmbar machen. Sie wollte, daß endlich die Deutschen wieder das Wunder ihrer Sprache empfänden, die sich offenbart im Klang eines Goetheschen Satzes. Hier wird das Wort wieder wichtig in der Schwere seines geistigen Gehaltes. Es ist eindeutig und läßt sich nicht drehen und deuteln. Um diese Wahrheit ging es ihr bei der gesetzmäßigen Ausformung des sprachlichen Rhythmus, der in ihren letzten Regiearbeiten "Tasso" und "Faust II" seine Krönung erhielt. Siebzig Jahre mußte sie werden, bis sie ihre Hauptaufgabe: ihre "Lebensaufgabe", den "Faust II" zur Aufführung bringen konnte. Es zeigt Louise Dumonts ganze Demut vor dem großen Kunstwerk, daß sie es erst herausbrachte, als sie glaubte, dafür gerüstet zu sein. Sie wußte nicht, daß das Testament unseres größten deutschen Dichters auch ihre letzte Arbeit sein sollte. Ihre letzte Arbeit, die noch einmal ganz großes Theater war und die Gewissenhaftigkeit deutlich zeigte, mit der man im Düsseldorfer Schauspielhaus an die Aufführung eines überragenden Kunstwerkes ging. Die Aufführung des "Faust II" war eine einmalige Tat, die den Weg noch einmal wies, den Louise Dumont mit ihrem Theater gern ganz eindeutig in jeder Aufführung gezeigt hätte.

"Warum?" so meinte sie einmal im Gespräch, "nicht reinliche Trennung? Wo echte, wahre Kunst gegeben wird, da sollte man seichte, oberflächliche Luftspiele fortlassen. Dafür sollte das Luftspieltheater dann eintreten," und als sie das sagte, da dachte sie wohl an das von ihr und ihrem Gatten Gustav Lindemann in treuer Kameradschaft siebenundzwanzig Jahre geleitete Düsseldorfer Schauspielhaus, das sie gern zu einem Zeittheater in ihrem Sinne gemacht hätte, wenn nicht finanzielle Abhängigkeiten immer wieder den Weg zum Ziel versperrt hätten.

Bis zum Schluß ihres Lebens hat sie aber die Hoffnung nicht aufgegeben. Endlich winkte Erlösung von der wirtschaftlichen Abhängigkeit in den letzten Wochen durch Zusammenschluß des Kölner Schauspielhauses mit dem Düsseldorfer. Planmäßige Bewirtschaftung der zusammengelegten Theater sollte das Schauspielhaus Louise Dumonts unabhängig machen und frei für die Geistestaten unserer Zeit, die wert sind, gesehen zu werden. So hatte Louise Dumont zusammen mit ihrem Gatten und den Freunden des Schauspielhauses es beschlossen. "Das deutsche Theater am Rhein" stand als letzte Vision noch vor Louise Dumont. Sie glaubte an das Wunder bis zuletzt, daß es ihr doch noch gelingen würde, jenes Nationaltheater, von dem Schiller schon träumte, Wirklichkeit werden zu lassen. Es zeigt ihre unerbittliche Wahrheit gegen sich (Vgl. Jahrgang 1930 der Zeitschrift "Deutsche Frauen-Kultur", Seite 4/5 und Seite 295/297; ferner Jahrgang 1932, Seite 62/64.) selbst, ihr großes Verantwortungsgefühl, ihre Gewissenhaftigkeit gegen ihre künstlerische Aufgabe, daß sie nie aufhörte nach Vervollkommnung zu streben.

Vielseitig wie eine weite Landschaft, die Tausendfältiges birgt, war diese Frau. Sie schrieb ein Kochbuch, führte ihren Haushalt mustergültig, und neben ihrer großen Arbeit als Intendantin des Düsseldorfer Schauspielhauses, dem sie Weltgeltung verschaffte, kreisten ihre Gedanken dauernd um das der heutigen Menschheit noch verschlossene Geheimnis: "Wie können wir noch einen Weg zur Gemeinschaft finden?" In ihrem ureigensten Beruf als Theaterleiterin sah sie schon den Weg durch das Ensemblespiel.

Dieses war an allen Bühnen, trotz der vielen überragenden Bühnenkünstler heute, immer schlechter geworden. Man hatte überall, nicht nur beim Theater, sondern in allen Lebensauswirkungen die seelische Macht der Gemeinschaft nicht mehr wichtig genug genommen. Sie suchte nach dieser seelischen Gemeinschaft. Und wenn sie wieder einen Menschen gefunden hatte, der ihr würdig erschien, mitaufzubauen an dieser Gemeinschaft, dann strahlten ihre leuchtenden Augen, und aus ihrem Munde kamen Worte, die heute schon symbolisch sind: "Ein Ring fügt sich zum anderen in meiner goldenen Kette."

An ihrem Grabe auf dem Düsseldorfer Friedhofe bekannten die Frauen durch den Mund ihrer Sprecherin:

Was Louise Dumont jeder einzelnen von uns war, ist ihr eigenstes, sie tief beglückendes Geheimnis.
Was sie allen Frauen war, kann nur im Gelöbnis zum Ausdruck kommen:
Wir wollen versuchen, dem Geiste und dem Geistigen zu dienen in der Treue wie Louise Dumont.
Wir wollen versuchen, eine Persönlichkeit zu werden, in den uns von unserer Natur gesteckten Grenzen, wie Louise Dumont.
Wir wollen versuchen, ein wahrhaftiges, ins Ewige mündende Leben zu führen wie Louise Dumont.

In: Deutsche Frauen-Kultur, hrsg. vom Verband Deutsche Frauenkultur e.V. 36. Jg., Leipzig 1932, Heft 7. Bestand: Frauen-Kultur-Archiv, Düsseldorf

Zum Frieden durch Liebe

Konferenz des Weltfriedensbundes der Mütter und Erzieherinnen

In der der letzten Juniwoche fand in Köln die erste internationale Konferenz des Weltfriedensbundes der Mütter und Erzieherinnen statt, auf der die verschiedensten Länder durch die Sektionsvorsitzenden des Bundes vertreten waren.

Von den in den Sitzungen festgelegten, einstimmig eingenommenen Statuten geben wir hier einen Auszug, der einen Einblick ermöglicht in die Ziele des Bundes:

Artikel 1: Frauen verschiedener Länder, welche den vorliegenden Satzungen zustimmen, haben die Vereinigung gegründet, die den Namen "Weltfriedensbund der Mütter und Erzieherinnen" trägt. Sein Grundsatz ist: "Zum Frieden durch Liebe."

Sein Sitz ist Paris (gegenwärtig 12 rue Guy de la Brosse Ve). Der Weltfriedensbund umfaßt so viele nationale Sektionen, als es Länder mit Mitgliedergruppen gibt, die den nachstehenden Bestimmungen entsprechen:

Artikel 2: Die Mitglieder des Bundes verpflichten sich: a) ihre Kinder oder Zöglinge in einem Geist des Wohlwollens und der Brüderlichkeit gegen alle Fremden zu erziehen und in ihnen die Instinkte der Gewalttätigkeit und der Grausamkeit zu überwinden. b) Mit tätiger Sympathie Menschen und Einrichtungen zu unterstützen, die für die Herstellung des Friedens arbeiten. Seine Tätigkeit bleibt unabhängig von politischen Parteien und vollzieht sich unter unbedingter Achtung aller religiösen Überzeugungen. Beiträge werden nicht erhoben. Die Regelung der freiwilligen Spenden bleibt den einzelnen Sektionen der Länder überlassen.

Artikel 3: Der Weltfriedensbund verwirklicht sein Ziel durch a) Veröffentlichungen, Verteilung und Verkauf durch Broschüren, Flugblättern, Postkarten, die seinem Zweck entsprechen. b) Veranstaltungen von Vorträgen, Reisen, Tagungen und alle Art von Kundgebungen, die dem Friedensgedanken und der Völkerverständigung dienen, sei es allein oder in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen.

Artikel 4: Jede nationale Sektion wird geleitet durch einen unabhängigen Vorstand, der sich nach Annahme der obigen Bestimmungen selbständig konstituiert und die Propagandatätigkeit nach eigenen Ansichten und nach den besonderen Bedürfnissen des Landes organisiert.

Artikel 5: Der internationale leitende Rat wählt aus seinen Mitgliedern eine erste und eine zweite Generalsekretärin, eine erste und zweite Schatzmeisterin und vier Besitzerinnen. Es obliegt ihnen die Hauptleitung des Weltfriedensbundes zwischen den Tagungen und die Ausführungen der Beschlüsse des leitenden Rates. Er vereinigt sich jedes Jahr einmal an einem Ort, der bei jeder Tagung für das folgende Jahr vorausbestimmt wird. Internationale Tagungen finden je nach Bedarf, aber mindestens alle zwei Jahre statt.

Artikel 6: Bei allen seinen Entschließungen geschieht die Abstimmung durch mündliche oder schriftliche Übereinkunft. Die Französin Frau Eidenschenk-Patin, die Begründerin der Liga der Mütter, wurde von der Gesamtheit als Generalsekretärin auf Lebenszeit gewählt, gleichzeitig ist sie dann selbstverständlich noch Generalsekretärin des Bundes in Frankreich. Es wurde so bestimmt, daß die Generalsekretärin eines Landes gleichzeitig auch Delegierte ist, also in den internationalen Rat kommt. Für Deutschland fiel die Wahl auf Frau Hallgarten (München); ihre Adjutantin, ebenfalls stimmberechtigt, wurde auf allgemeinen Wunsch Dr. Marie Stegmann (Dresden). Für Holland nahm Gräfin van Heerdt die Wahl an. Alle drei Frauen hatten sich schon um die Sache der Friedensbewegung verdient gemacht.

Leider müssen wir uns hier kurz fassen und können nur Tatsachenmaterial im Auszug geben. Wir behalten uns aber vor, in einer der nächsten Beilagen ausführlicher noch auf den Friedensgedanken, wie ihn die Frauen dieser Kölner Tagung herausstellten, einzugehen.

Im Kunstverein sprachen die Delegierten nun zur Öffentlichkeit. Die Rede der Frau Constanze Hallgarten, der Generalsekretärin für Deutschland, enthielt folgende Gedanken: Frauen aus den verschiedensten Ländern haben die internationale Liga der Mütter und Erzieherinnen geschlossen, die 1929 durch Französinnen ins Leben gerufen wurde. In Frankreich zählt der Bund schon über 60000 Frauen, in Deutschland, wo er erst ein Jahr besteht, etwa 7000. Diese Zahl wächst täglich. In unserer Zeit höchster materieller Not und tiefster seelischer Verzweiflung wird es den Frauen klar, daß mit den alten Methoden und mit den zum Abgrund führenden Anschauungen aufgeräumt werden muß. Wie rasch die Entwicklung vor sich gegangen ist, beweist die Tatsache, daß auf der ersten Haager Friedenskonferenz im Jahre 1899 nur eine Frau, Berta von Suttner, vertreten war, während 1932 Vertreterinnen von 56 Ländern im Namen von 45 Millionen Frauen ihre Kundgebungen zur Abrüstungs-Konferenz in Genf vorlegten. Die Rednerin wies sodann auf die Möglichkeiten eines neues Weltkrieges hin und schilderte das daraus erwachsende Geschehen: Gasangriffe, Flugzeugüberfälle, Giftbomben und dergleichen Schrecken. Sie schloß diesen Teil ihrer Ausführungen mit den Worten: "Wir haben es viel zu lange geduldet, daß die Errungenschaften der Technik, die genialen Erfindungen auf dem Gebiete der Chemie, der Naturwissenschaften dazu mißbraucht werden, Vernichtungsmittel herzustellen, um sich gegenseitig zu töten.

Sodann sprach sie von der natürlichen und menschlichen engen Verbundenheit der Nationen, die sich aus kleinen, nationalen Unterschieden unüberwindliche Schranken schaffe. Um die Frauen aufzuklären, und um den Willen zum Frieden zu stärken, habe sich der Weltfriedensbund nun zusammengeschlossen. Hauptziel sei die Erziehung der Kinder im Sinne einer neuen Ethik mit dem Willen zur Güte und Gerechtigkeit.

Als Zweite sprach Frau van Heerdt (Holland). In enthusiastischen Worten rief sie: "Auch wir holländischen Frauen nahmen mit Begeisterung den völkerversöhnenden Gedanken der Mme. Eidenschenk-Patin auf. Er gab unserem Frauenwirken in der holländischen Liga für den Völkerbund einen neuen Inhalt, nach dem wir lange gesucht hatten.

Nachdem wir nun prominente Persönlichkeiten des öffentlichen, sozialen und internationalen Lebens in unseren Reihen haben, die zum Teil der Genfer Delegation angehören, können wir auf die beste Hilfe unserer Regierung rechnen. Es ist notwendig, daß wir den Friedensgedanken vor allem schon in die Kinderherzen in den Elementarschulen pflanzen.

Daß der Friedensgedanke so schnell eine so große Anhängerschaft fand, ist dem großen Vorteil zu verdanken, den wir Holländer vor den am Krieg e beteiligten Völkern voraus hatten, da wir nicht erst die Gefühle des Hasses hinwegräumen mußten, um zu den Gefühlen des Friedens zu gelangen. Die Einmütigkeit der Friedensgesinnung in Holland gab sich dadurch kund, daß unser Aufruf für die Genfer Abrüstungskonferenz die überwältigende Zahl von 2 ½ Millionen Unterschriften ergab. Dies bedeutet für Holland 50 Prozent Unterschriften aller Erwachsenen."

Als letzte sprach dann Madame Eidenschenk-Patin selbst. Sie führte aus: "Der Weltfriedensbund der Mütter und Erzieherinnen wurde gegründet, um gegen das schlimmste Übel der Menschheit, den Krieg. zu kämpfen, Zweierlei Mittel gibt es dazu, eines auf lange Sicht: eine Jugenderziehung in allen Ländern, die zu friedlichen Zielen führt, die die Instinkte der Gewalttätigkeit, der Grausamkeit und der Herrschsucht überwindet, die den Tätigkeitstrieb auf menschliche Ziele richtet und, kurz gesagt, die Kräfte, die die Menschheit bisher auf die Zerstörung richtete, für das Gute anwendet. Mittel von direkter Wirkung sind: die Schaffung einer öffentlichen Meinung durch Flugblätter, Vorträge usw. Die größte Schwierigkeit zu Herstellung des Friedens liegt darin, daß die Völker sich nicht kennen: sie werden in Frankreich durch eine, im Dienst der Großindustrie und der Rüstungsindustrie stehende Presse falsch unterrichtet.

Nach den deutschen Wahlen im September 1930 erhob sich eine große Hetze in der französischen nationalen Presse, Briand wurde tatsächlich überschüttet mit Beschimpfungen und Anschuldigungen. Er dachte daran, sich zurückzuziehen. Der Weltfriedensbund griff ein; in einer Auflage von 52000 Exemplaren wurde nun eine an Briand adressierte Postkarte in Umlauf gebracht, die zu Zehntausenden mit zustimmenden Unterschriften versehen am Quai d’Orsay eingingen. Sie versicherte den Minister der Dankbarkeit des Volkes für seine Friedensworte und bat ihn, auf den eingeschlagenen Wegen weiterzugehen. Briand hat in einem Vortrag bekannt, daß er durch diese Aktion der Liga sehr gestärkt worden ist in seinem Glauben an die Friedensliebe des französischen Volkes. Er sagte von den Unterzeichnungen dieser Karte: das ist das wahre Frankreich, für dieses Frankreich werde ich arbeiten. Diese Aktion brachte der Liga einen Zuwachs von etwa 30000 Mitgliedern."

Ein paar zahlen sollen hier noch sprechen, die von der Französin angegeben wurden. 80 Prozent der Steuern gibt Frankreich für Rüstungszwecke aus, 20 Prozent für die Wohlfahrt. Diese Zahlen sprechen Bände. Es ist wirklich an der Zeit, daß die Frauen die Initiative ergreifen und laut und deutlich in allen Ländern sagen, daß die Zeit des Friedens beginnen muß, wenn nicht Europa zugrunde gehen soll.

In: "Frauen-Beilage" zum Düsseldorfer Stadt-Anzeiger, 3. Juli 1932, Nr. 183

Mahner und Vorbild: Der Wandsbecker Bote

Zu der neuen Biographie Urban Roedl:
Matthias Claudius: "Sein Weg und seine Welt" (Kurt Wolff-Verlag Berlin)

Herder äußerte sich einmal über den Herausgeber des Wandsbecker Boten: "Das Beste, was ich von neuen Schriften gelesen, sind Blätter und fast nur Reihen von meinem Freunde Claudius, ohne Gelehrsamkeit und fast ohne Inhalt, aber für gewisse Silbersaiten des Herzens, die so selten gerührt werden."

Aber gerade dafür war in der damaligen Zeit – Claudius wurde 1740 geboren – wenig oder gar kein Verständnis vorhanden. Darum wurde der Schriftleiter der in literarischen Kreisen geschätzten Zeitschrift "Der Wandsbecker Bote" auch in der öffentlichen Kritik zuerst sehr mißhandelt. "Die Kritiker würden es nicht getan haben, wenn sie in die Zukunft gesehen hätten", spöttelt Herder, der bei seiner im Grunde ganz anders gearteten Wesensart doch die Herzensreinheit des Wandsbecker Boten erkannte.

In ihm ist der christliche Glaube noch eine reine Herzenssache und eine unangreifbare Gewißheit. Darum gibt es für ihn darüber einfach keine Problematik. Ewig gültig und unantastbar ist für ihn das Religiöse. Dieses Ursprüngliche und Lautere in der Gesinnung des Claudius hat auch Lessing rückhaltlos anerkannt. Und der viel jüngere Matthias erwiderte diese Zuneigung durch restlose Bewunderung für den Dichter der "Minna von Barnhelm" und für den Verfasser des "Laokoon". Er erkennt auch die überlegene Klugheit dieses Kritikers an, ja, er verehrt direkt diese Lessingsche Persönlichkeit – aber seine problematische Einstellung zu religiösen Fragen schmerzt ihn tief. Wohl sieht er ein, daß die alten religiösen Formen von den Herrschenden zum Teil nur hochgehalten wurden des eigenen Vorteils willen. Dieses Unwahre mußte auch nach seiner Meinung bekämpft werden, aber doch nur durch die Wiederherstellung des Menschen - als Ebenbild Gottes.

Diese Beziehung wieder herausstellen, darin sah Claudius seinen schriftstellerischen Beruf. Seine Meisterschaft der Form ermöglichte ihm, sich auch dem Ungelehrten verständlich zu machen und seine Ursprünglichkeit und seinen Humor walten zu lassen, und selbst von den erhabensten und heiligsten Dingen redete er so erdennah und prunklos feierlich wie keiner sonst in seiner an großen Geistern nicht armen Zeit. Selbstverständlich erwuchsen ihm dadurch auch Feinde und Widersacher, denn nicht alle erkannten den Wert von philosophischen Betrachtungen, die ohne persönlichen Zank waren, und die Güte einer Lyrik, die ohne Pikanterie war.

"Was für ein sonderbarer Parteigänger ist das", so sagt der Biograph, "der es mit den Gelehrten und freien Geistern hält und zugleich aller Zweifelsucht das Wort Christi als letzte Wahrheit entgegensetzt; der den Geisterseher Swedenborg vor den überlegenen Skeptikern in Schutz nimmt und den Weg zwischen der Skylla der religiösen Schwärmerei und der Charybdis der Dogmatik mitten durch – leicht und zugleich schwerer als die berufene Nordwestpassage – sucht. Das Vaterländische und alles Deutsche begrüßt und besingt er und hält sich doch vorsichtig abseits von den neuen Barden, in denen das Wort "Deutsch" eine Fieberwallung erzeugt."

So sagt sein Biograph – und wahrlich, er hätte sich keinen Besseren selbst aussuchen können. Hier hält verantwortungsvolle Liebe Wache über jede Aussage, die gewichtig ist für das Werk und das Leben des Dichters, das hier so rein vermittelt wird. Und dieses Leben war nicht leicht, denn Claudius nahm seinen Glauben zu ernst und seine Liebe zu heilig, um es sich damit hienieden wohnlich einzurichten. Wer aus ganzem Herzen ja sagen möchte, der wird in dieser Welt der Halbheiten um so öfter aus voller Seele nein sagen müssen; "und je heiliger ihm seine Wahrheit ist und je inniger er sie liebt und bewahrt, umso kämpferischer wird er sich gegen alles und alle stellen...", wenn diese Wahrheit ihm bedroht erscheint. Es lohnt sich schon, das Leben dieses Kämpfers unter der Leitung Urban Roedls kennenzulernen. Es gibt eine hoffnungsvolle tiefinnerliche Bereicherung.

In: Neue Post, 28.03.1934, Nr. 12

Herrgott von Bentheim

Ich erinnere mich, daß man in meiner Kinderzeit im westfälischen Elternhaus „Herrgott von Bentheim“ ausrief, wenn man nicht weiterkonnte und mit irgendetwas in eine Sackgasse geraten war. Eigentlich wirkte der Ausruf immer mehr wie ein Fluch als wie ein Anruf des Himmlischen. Als Kind habe ich nicht gefragt. Ich fühlte nur, daß der Herrgott von Bentheim im Leben der Erwachsenen eine große Rolle spielte. Nun ich erwachsen bin und eine Reise mich nach Bentheim führt, suche ich selbstverständlich nach dem Herrgott. Ich finde ihn, den Herrgott meiner Kindheit, im Schloßgarten unter Kastanienbäumen, die ihre Zweige wie das Dachgewölbe eines Domes über ihn zusammenschlagen. Es ist eine der wenigen noch erhaltenen frühchristlichen Darstellungen des Gekreuzigten, eine in ihrer Einfachheit ganz große Auffassung. Ein Künstler, der uns begeistern und edler und größer macht, muß zuerst selbst ein einfaches und großes Herz besitzen. Darum war es wohl richtig, daß ich auf meine Frage nach dem Künstler als Antwort die Geschichte eines Herzens erhielt.

Die Legende erzählt, daß zur Zeit Mittelkinds der Schloßherr von Bentheim ein tapferer Streiter war auf Seiten der Sachsen gegen die anrückenden Franken, die durch Anlage von festen Stützpunkten und durch Errichtung von Bistümern das Land zwangsweise christianisieren wollten. Unter den christlichen Gefangenen, die der Schloßherr machte, befand sich einer namens Theodor, ein Künstler, der auf Bitten der Tochter des Fürsten von Bentheim in der Burg allerhand Verzierungen anzubringen hatte. Bei diesen künstlerischen Arbeiten lernte das Schloßfräulein den Feind ihres Vaters kennen. Aus ihrer Liebe zur Kunst erwuchs eine tiefe Zuneigung zum Künstler. Sie verhalf ihm zur Flucht. Aber da alle Wege abgesperrt waren, versteckte er sich im Bentheimer Urwald. Die heidnische Opferstätte wurde des Christen Zuflucht, und der Opferstein wurde in des Künstlers Händen zum Stoff für den Herrgott von Bentheim. Aus dem heidnischen Opferstein formte er des Erlösers gütiges Antlitz.

Das ist die Geschichte, die man sich heute noch in der Bentheimer Gegend erzählt. Und man versäumt niemals, nach der Erzählung zu bemerken, daß das Kruzifix tatsächlich im Bentheimer Urwald gefunden und wie man sich das sonst erklären sollte, daß es dorthin gekommen sei.

Niemand wird das aufklären. Doch wer durch den Wald geht, der versteht einen Künstler, der hier in seiner Einsamkeit schaffen mußte. Wie schön und ursprünglich ist heute noch dieser Wald, wie eine große Seele ist er bezaubernd in seiner Mannigfaltigkeit und in seinem lieblichen Schweigen. Wie ehedem hört man nur Laute der Natur: ein Vogelflattern, das Knabbern von Eichhörnchen, das Knacken von Zweigen, über die Rehe und Hirsche leichtfüßig hinwegspringen. Fichten und Buchen, die altersschwach ein wilder Sturm umknickte, liegen bemoost im Weg, überwachsen von zahlreicher Nachkommenschaft, die auf dem Boden ihrer toten Baumahnern herrlich gedeiht. Immer wieder überwächst die Baumjugend die leer gewordenen Stellen, so daß trotz der uralten zusammengewachsenen und verknoteten Heinbuchen der Eindruck einer jungfräulichen Wildnis bleibt. Diese lebendige und doch leidenschaftslose Natur, in der alles nach seinem Gesetz blüht, reift und sich vollendet, ist ein Wirklichkeit gewordenes Gleichnis von der Kraft dessen, der dies alles erschafft und erhält.

Menschen, die in einer ursprünglichen Landschaft wohnen wie die Bentheimer Grafschafter, sind schlicht und einfach. Die Abgeschlossenheit und die dadurch notwendig gewordene Nachbarhilfe hat die Bentheimer Landbewohner zu einer tatkräftigen Nächstenliebe erzogen. Nachbartreue in Freud und Leid ist im Lande Wittekinds und des Herrgotts von Bentheim keine vergangene Sitte. Sie wird in Ehren gehalten wie die schwarze und weißumrandete pompöse Ohrenmütze mit wippender Straußenfeder, die Großmutter trägt, wenn sie am Sonntag den Herrgott besuchen geht.

In: Mittag, 05.11.1936

Grabrede für Mutter Ey. September 1947

Wie ein Wunder war dieses Leben, das nun ausgelöscht ist. In unserer Zeit war es ein Geschenk aus der Ewigkeit. Darum ging es wie ein Erschrecken durch uns alte Freunde, als wir erfuhren, dass Johanna Ey gestorben sei, denn wir haben heute nicht mehr zu viele Menschen, die auf so einfache und natürliche Weise sich für das Ewige einsetzen wie diese Künstlermutter.In einer Zeit, in der das Menschenbild so ganz und gar zerstört ist, hat sie es ungetrübt bewahrt für eine um neue Wege ringende Jugend, die nach dem Krieg zum Schrecken aller braven Bürger die alten Formen zerbrach und eigenen Gesetzen folgte.

Johanna Ey kam nicht durch die Wissenschaft, ja noch nicht einmal über das Erlebnis der Kunst zu ihrem Beruf als Kunsthändlerin, zu dem sie wahrhaftig ohne ihr Zutun wie durch Gnadenwahl gerufen wurde.

Sie kam, ein ungebrochenes Menschenkind, dazu, weil sie in den jungen Künstlern, die in ihrem kleinen Kaffeestübchen verkehrten, die "besseren Menschen" erkannte, wie sie sich selbst einmal mir gegenüber ausdrückte.

Wenn sie ihre geliebte Kaffeemühle drehte, lauschte sie den Gesprächen der jungen Maler und Bildhauer, und in ihrer weiblichen intuitiven Art erfasste sie die künstlerischen Probleme, die zur Debatte standen. Sie erlebte mit ihren Lieblingen die Schöpferfreuden und Depressionen, sie empörte sich mit ihnen gegen die kleinlichen Behörden und ihre Verbote, und ohne dass sie selbst merkte, wie es dazu kam, war sie der Mittelpunkt des revolutionären Künstlerkreises. Ihr Schaufenster wurde zum Eckstein, an dem sich die Vorübergehenden stießen. Selbst die Polizei rückte des öfteren an, und Mutter Ey wurde zur Kämpferin für die künstlerische Freiheit.

1920 war es, da kam ich als junge Journalistin nach Düsseldorf, und ich erinnere noch genau an meine erste Bekanntschaft mit dem Ey. Ich stand in einer empörten Menschenmenge, die sich vor dem Fenster angesammelt hatte. Dort im Schaufenster stand eine Kreuzigung, die nach Polizeibefehl von dort verschwinden sollte. Eine kleine dicke, aber sehr lebendige Frau wehrte sich mit beredten Worten, bis ein bärtiger Hüne aus der Tür trat und mit einer ritterlichen, aber entschiedenen Bewegung die kleine quicklebendige Frau beiseite schob und die Verteidigung des Bildes begann. Er erklärte, wieso eine Kreuzigung unmöglich in der gewohnten Gebhardtschen Art gemalt werden könne. Er streckte seine linke Handfläche vor mir aus und wies mit seiner rechten Hand darauf und sagte: "solche Nägel hat man ihm durch die Hand getrieben, solche Nägel ..." Und von dem Gesicht der Frau, die den erklärenden Hünen begeistert, und von der Vorstellung des grausigen Bildes zugleich entsetzt, anstarrte, ging eine solche Hingabe aus, dass auch in mir Flammen der Empörung aufstiegen und unser aller Rebellentum uns damals sofort vereinte.

Das heißt, vor ungefähr 8 Tagen, als ich Mutter Ey zum letzten Mal besuchte, gestand sie mir, dass sie mich in der ersten Zeit gehaßt habe, weil sie fürchtete, daß ich das Herz der Künstler stähle oder wenigstens eines Künstlers – bis sie erkannt habe, dass die Liebe nicht abnimmt, je mehr man von ihr fordert, und dass ihr nichts verloren ging, als das Herz ihres jungen Malerfreundes aufzublühen begann.

Mit so viel Liebe sah sie mich bei ihrem Bekenntnis an, und ich sehe noch ihren Finger auf Otto Pankok hinweisen, mit dem sie so gerne lachte und sich neckte. Denn auch das verband diese Frau mit dem wahren Künstler, dass sie wie dieser jedem Pathos abhold war und ihre Gefühle gern hinter Lachen und Spaßmachen versteckte.

Gert Wollheim war ihr am nächsten, war er doch am gefährdetsten, was diese mütterliche Frau bald erkannt hatte. Sie wusste, wer Wollheim war, das hinter seinem rauen Wesen ein kindlicher, empfindsamer Mensch verborgen war. Daß hinter seinem Gelächter über die Spießbürger Tränen der Einsamkeit standen. Wie gut sie diese Tragik verstand, sollte ich eines Tages erfahren.

Ich hatte Wollheim im Hofgarten getroffen, seinen Spazierstock geschultert, kam er mir entgegen. Er tritt auf mich zu, wie einer, der ein Regiment führt, dachte ich. Und seltsamerweise begrüßte er mich mit den Worten: "Ich bin ein General, und hinter mir folgen alle meine Soldaten." Hinter ihm war niemand. Trotzdem es ein Witz sein sollte, überlief es mich eiskalt. Irgendeine Verzweiflung spürte ich aus seinem Worte. Ich begleitete ihn zum Ey, und Wollheim erzählte spaßhaft sein kleines Erlebnis mit mir und führte seine gespensterhafte Wachparade vor Frau Ey im Zimmer vor. Ich sah Mutter Ey an, und unsere Augen trafen sich in schwesterlichem Verständnis für den traurigen Possenreiter, und schon nahm sie den Kochlöffel, mit dem sie gerade ihre Suppe gerührt hatte, schulterte ihn und stellte sich hinter Wollheim als der ersten Rekrut.

Und wie so oft stand sie so allein hinter dem einsam Ringenden mit ihrer naiven Hingabe und zugleich so zähen Kraft, wenn es galt, etwas für ihre Lieblinge durchzusetzen, die sich täglich bei ihr versammelten. Wir wollen zum Gedächtnis von Mutter Ey die Gestalten zurückholen, die aus allen Künstlerkreisen zu ihr fanden, denn nicht nur Maler und Bildhauer, auch Presse und Theater suchten hier Anregung in Gesprächen. Vor meinem geistigen Auge ersteht der Schauspieler Hannemann, der stets begeisterte, der freiheitliche Gesänge Walt Whitmans in den Raum brüllte, mit gesträubtem Haar und wild fuchtelnden Händen und in der Ecke sitzt Richard Dornseiff und bringt einen neuen Gast zum Erschrecken. Er schlägt mit einem Schlüssel an sein Glasauge, das ihm der Krieg einbrachte. Der junge Quedenfeld deklamiert seinen ertrunkenen Dichterfreund Heym:

Nachtwandlern gleich. gejagt vom Entsetzen der Träume,
Die seufzend sich stoßen mit blinder Hand,
Also schwankten wir in des Herbstes verschwindende Bäume.

Der Zeichenlehrer Rilke aber setzte diesen auflösenden Versen seine wohlgesetzte Kritik entgegen, die er zur Freude von Mutter Ey auch noch dann fortsetze, als keiner mehr zuhörte, das Interesse sich vielmehr dem neuen Weltgefühl des Vaters Quedenfeld zugewandt hatte. In Gedanken versunken, als stiller, aber von Mutter Ey geliebter Sohn, saß Matthias Barz am Tisch und trank seinen Kaffee, neben ihm, immer voller Streiche und Einfälle, Karl Schwesig, während ein Lied der Carmen verriet, daß Männe Hundt im Anmarsch war.

Gert Schreiner und die Griese, wie sie allgemein genannt wurde, und Wollheims Braut, die Pianistin Lene Stein. Die Schauspieler Karl Kyser, der Getreue, und Ferdinand Classen, der mit Johanna und allen ihren Freunden einen Wildwestfilm drehte, die Drillhaases, Dr. Markan, Konrad Biermann und Anton Brüning, Otto Dix, Max Ernst, Hein Heckroth, Theo Sprüngli und das Ehepaar Pudlich. Dann der Spanier Surreda, der Johanna Ey nach Mallorca entführte.

Sie alle waren immer in Bereitschaft mitzubauen an dieser oft so zufälligen und dennoch durch Johanna Ey zusammengefassten Gemeinschaft, die oft nichts verband als die sprühende Jugend, die sich geliebt und verstanden wußte von dieser Frau. Immer wird sie uns so gegenwärtig bleiben.

Wenn man sie besuchte, erzählte sie aus jener Vergangenheit, der großen Zeit ihres Lebens, das sich damals so restlos erfüllen durfte, daß jene Zeit für sie aus der Ewigkeit ausgeschnitten schien.

Liebevoll von ihren Kindern betreut, besaß sie die Geduld und die Ergebenheit, auch die Beschwernisse des Alters und des letzten Abstiegs auf sich zu nehmen.

Raum und Zeit spielten keine Rolle mehr in ihren letzten Jahren so gegenwärtig stand sie in der Vergangenheit und in der Verbindung mit ihren Malern, und in liebender Verbundenheit in der Ewigkeit.

Quelle: Typoskript, Pankok-Archiv, Haus Esselt.

Deutsche Frauenpartei

Die im März 1951 gegründete "Deutsche Frauenpartei" trat in diesen Tagen in einem Düsseldorfer Presseempfang an die Öffentlichkeit. In ihren einführenden Worten betonte die Vorsitzende, Hulda Pankok, dass die Partei nicht aus einer Gegnerschaft zu den Männern entstanden sei. Die Frauen hätten nur die Gefahren der einseitigen Männerpolitik in unserer Zeit erkannt und sich verpflichtet gefühlt, das männliche Denken und Handeln mit den aus weiblicher Schau kommenden Gedanken und Taten zu ergänzen. Die Frauen hoffen, durch ihren freundlichen Einfluss die Politik wieder zu vermenschlichen, den Geist der Toleranz, der freundlichen Beziehungen dort wirksam zu machen, wo die Meinungen aufeinanderprallen, nämlich im Parlament.

Die Frauenorganisationen, die bis jetzt gebildet wurden, konnten sich durch die geringe Vertretung im Parlament mit ihren Wünschen kaum durchsetzen, außerdem waren die weiblichen Abgeordneten von ihrer Partei abhängig. Die bestehenden Parteien haben bis jetzt 39 weibliche Abgeordnete bei 379 männlichen Abgeordneten zugelassen. Da über die Hälfte der Wähler weiblich ist, schien es den Frauen kein unbilliges Verlangen, durch eine eigene Partei das Parlament in einem maßvolleren Verhältnis mit Frauen, besonders mit erfahrenen Müttern zu besetzen. Die Frauen erstreben durch ihre Partei den inner- und außenpolitischen Frieden. Sie sind der Meinung, dass die Politik, welcher der weibliche Einfluss fehlt, leichter Gefahr läuft, sich in Theorien zu verlieren und in starre Systeme. Da aber kein System unfehlbar sein kann, kann man die Politik dann schließlich doch nur mit Gewalt oder mit einem geistigen Terror aufrecht erhalten. Wenigstens für eine gewisse Zeit. Die Frauen erhoffen nun, dass sie die doktrinären Männer zu den sachlichen und einfachen Notwendigkeiten zurückführen, ohne dass sie dabei die Werte, Fähigkeiten und Erfolge der politischen Männer verkennen.

Ziel der Frauenpartei ist die direkte Mitarbeit an allen Tagesfragen in den Parlamenten. Zur Erreichung dieses Ziels sollen Frauenpersönlichkeiten aus allen Volksschichten und Berufen, die ihre Fähigkeit zur politischen Mitarbeit bewiesen haben, zur Wahl gestellt werden. Die Frauen Partei steht auf demokratischer Grundlage und erstrebt einen gerechten sozialen Ausgleich. Sie erstrebt nicht die Macht im Staat, sondern sie will an erster Stelle an der innenpolitischen Befriedung unseres Landes ausgleichend mithelfen. Die Frauen Partei lehnt die übliche Partei-Disziplin und den Fraktionszwang ab. Sie ist an keine Weltanschauung gebunden und verpflichtet auch zu keiner weltanschaulichen Festlegung, sondern nur zu fraulich-mütterlicher Verhaltungsweise bei allen Entscheidungen. Oberstes Gesetz ist gegen niemand zu sein und weder durch Wort noch Tat Unfrieden und Hass gegen Einzelpersonen oder Gruppen von Menschen zu verbreiten. Stellungnahmen zu Geschehnissen dürfen nur in unantastbarer sachlicher Form vorgebracht werden. Das Misstrauen, das heute unser öffentliches Leben vergiftet, will die Frauenpartei überwinden durch eine offene und klare Politik. Die Vertreterinnen der Frauenpartei sind darum nur ihrem Gewissen und den Wählern gegenüber verantwortlich.

Die Frauen Partei setzt sich für die Verwirklichung eines wahren Friedens durch Abrüstung, Gleichberechtigung und Freiheit aller Völker ein. Sie setzt sich für die soziale Sicherheit jedes Menschen ein.

  1. Durch Arbeit und Verdienstmöglichkeit jedes Arbeitsfähigen.
  2. Durch staatsbürgerliche Versorgung jedes Hilfsbedürftigen.

Die Frauenpartei fordert persönliche Freiheit jedes Menschen durch Gesetze, die jeden Missbrauch persönlicher und staatlicher Macht zur Unterdrückung eines Menschen durch andere Menschen unmöglich macht. Vorschläge werden durch die Partei ausgearbeitet, welche Massnahmen zur Verwirklichung dieser Forderungen im bügerl. Recht, im Arbeits-, Wohn-, Schul-, Straf-, und Wirtschaftsrecht durchzuführen sind, um den Schutz zu gewährleisten.

Kommissionen sollen gebildet werden, die bei Wirtschaftsplänen mitarbeiten. Der größte Teil des Volksvermögens geht durch die Hände der Frauen, die als Betreuerinnen der Familie und des Haushalts doch die zahlreichsten Konsumentinnen sind. Ihre praktischen Erfahrungen sollen bei der Lösung von wirtschaftlichen und Ernährungsproblemen nicht mehr unberücksichtigt bleiben. Die Frauen, die mit den Wirtschaftskrisen in unmittelbarer Beziehung stehen und sie täglich im kleinen meistern müssen, könnten nach Meinung der Frauenpartei auch auf die Finanzpolitik im besten Sinne einwirken. Die Beratung der einzelnen Ressorts durch Frauen soll die Hauptaufgabe der Frauen Partei sein.

Die Partei-Organisation besteht aus dem Bundesvorstand und den einzelnen Ortgruppenvorständen, die in steter Fühlung mit ihren Mitgliedern und interessierten Frauen alle gestellten Aufgaben durchsprechen. In den einzelnen Orten werden öffentliche Sprechstunden abgehalten und Informationsabende eingerichtet. Größere Vorträge werben für die "Deutsche Frauenpartei."

Quelle: Undatiertes Typoskript, Pankok-Archiv, Haus Esselt

Paula Becker-Modersohn

Eine große Künstlerin und ein vorbildlicher Mensch

Die Freunde von Paula Becker-Modersohn erinnern sich noch des Tages, an dem in der Böttcherstraße in Bremen das Paula-Becker-Modersohn-Haus eröffnet wurde, welches das Lebenswerk dieser Künstlerin aus allen Schaffensperioden zeigte. Es war ein großes Fest mit klugen Reden, mit gutem Essen und perlendem Sekt und mit all dem äußeren Glanz, der von schönen geputzten Damen und von schwarzbefrackten Herren auszugehen pflegt, die sich hier versammelt hatten, um einer genialen Frau nach dem Tode die Ehre zu erweisen, die ihr im Leben versagt blieb. Es wollte der festliche Tumult so gar nicht zu den stillen Bildern passen. Die Freunde von Paula Becker-Modersohn saßen abseits, beunruhigt und verwirrt da, bis plötzlich einer unter ihnen laut sagte: „Das ist die Welt!“ Diesen Ausspruch hatte die hier gefeierte Künstlerin getan, wenn sie mit der lauten Welt nicht fertig wurde und diese ihr unverständlich blieb. Dann konnte sie auf eine so nachsichtige und liebevolle Art sagen: „Das ist die Welt!“ Und selbst diese Welt, die sich ihr verschloß, hörte sie nicht auf zu lieben. Sie blieb eine ehrfürchtige Tochter, die in ihren Briefen immer wieder die Eltern bat, Geduld mit ihr zu haben, die darunter litt, daß sie ihre Lieben durch ihre Bilder nicht erfreuen konnte, sondern sie erschrecken mußte. Sie war traurig darüber, doch vermochte niemand und nichts diese Frau von ihrem Weg abzubringen. Sie ging ihn still, anspruchslos und zielsicher. Sie selbst schrieb in ihr Tagebuch: „Man tut eben, was man kann und legt sich dann schlafen. Und auf diese Weise geschieht es, daß man eines Tages etwas geleistet hat.“

Zu der Ablehnung ihrer Kunst von seiten ihrer Angehörigen, welche die sorgende Liebe aber nicht minderte, kam noch die vollkommene Ablehnung der Öffentlichkeit. Bei ihrer ersten Ausstellung in der Bremer Kunsthalle im Jahre 1899 verzeichnete sie in ihrem Tagebuch, daß die Presse „alles in Grund und Boden donnert“. Sie schrieb weiterhin, daß sie davon derart mitgenommen war, daß sie in der Nacht von einem Alptraum befallen wurde: „Das war ein fürchterlicher Kater, der seinen langen Schwanz um meinen Hals gewickelt hatte und meine Seele schier erdrosselte.“

Was war der Grund, daß ihre stille Kunst die Seele der andern in Aufruhr brachte und sie so erschreckte? Verstehen kann man diese Schockwirkung nur, wenn man bedenkt, wie es zu dieser Zeit im Kunstleben aussah. Das Bürgertum, aus dem sie entwuchs, fühlte sich noch in einer gesellschaftlichen Ordnung geborgen. Es wollte keine Beunruhigung der Seele. Die Porträtkunst suchte den äußeren Menschen mit aller Delikatesse ästhetisch im Bilde einzufangen. Selbst der von Paula Becker-Modersohn geschätzte Worpsweder Maler Mackensen machte, ihrer Ansicht nach, aus den Heidebauern und den Tagelöhnerkindern Genrebilder. Gerade das wollte sie nicht: Sie suchte die große Einfachheit der Form. Darum liebte sie die Kunst Millets. Hier sah sie verwirklicht, was sie auf eigene Weise darzustellen versuchte. Sie suchte nach „großer biblischer Einfachheit“. Das war es, was sie in Gegensatz setzte zur herkömmlichen Kunst jener Tage, die gefällig, lieblich und ansprechbar sein sollte. „Anton von Werners Glanzlichter auf den Stiefeln liegen uns alle im Blut“, meinte sie selbst. Und da sie den Glanzlichtern entsagte, wurden die Angehörigen unsicher und begannen an ihrem Talent zu zweifeln. Als Sicherheit für die Zukunft verlangte darum der Vater von ihr das Lehrerinnenexamen. Sie tat ihm den Gefallen; übte aber nach dem Examen den Lehrerinnenberuf nicht aus. Ihr Vater, der in großer sorgender Liebe an der Tochter hing, gab schließlich ihren verzweifelten Bitten nach und ermöglichte ihr noch eine künstlerische Ausbildung in Berlin und später in Paris. Wie freute sie sich über die „kindliche Empfänglichkeit der Franzosen, die sich auch in der Kunst zeigt“. Sie erkannte Verwandtes beim Anblick großer Kunst im Louvre. Sie fühlte den Mut wachsen und freute sich an der Anbetung der Natur in den Meisterwerken, aus denen ihr so etwas wie eine Bestätigung ihres künstlerischen Wollens erwachsen sollte. Sie suchte nun, wie sie sich ausdrückte, „das sanfte Vibrieren der Dinge auszudrücken“. Paris sollte immer wieder ihre Zufluchtsstätte werden, wenn sie Anregung suchte oder aber Ruhe zur Konzentration. Beides gab diese große Stadt: Anregung und die Möglichkeit, sich darin zu isolieren.

Das Wesen der Landschaft, das Charakteristische der Menschen wollte sie im Bilde ausdrücken. In welch großartiger Weise ihr das gelungen ist, das wissen wir heute. Sie selbst bekannte einmal: „Die Stärke, mit der ein Gegenstand erfaßt wird, das ist die Schönheit in der Kunst. Ist es auch nicht so in der Liebe?“ Und nun sollte sie die Liebe nicht halten können, weil die Kunst keinen neben sich dulden wollte.

Und doch wurde ihr die Einsamkeit nicht leicht. Sie hatte ein Verlangen nach Nähe und Wärme, und ihre Tagebuchnotizen zeigen, wie schmerzlich sie das kleinste Nichtverstehen empfand. Und es ist aus ihren Werken ebenso wie aus ihren Worten zu erkennen, daß die später bedrohte Ehe mit dem Maler Otto Modersohn in Worpswede – wohin sie gezogen war, um die Bauern zu malen – eine große Bereicherung ihres Lebens war. So schrieb sie von Paris an ihren Mann: „Als Mädchen war ich innerlich jubelnd und erwartungsvoll, nun als Frau bin ich auch voller Erwartungen, aber sie sind stiller und ernster. Ich glaube, es sind jetzt nur ihrer zwei ganz bestimmte: meine Kunst und meine Familie.“ Dennoch war sie auf Dauer untauglich für die Zweisamkeit einer Ehe, die sie nicht zur Konzentration kommen ließ, so daß sie Worpswede immer wieder verließ, um in Paris ganz ihrer Malerei zu leben. Otto Modersohn, selbst Künstler, hatte das Schicksalhafte in dieser Flucht seiner Frau begriffen, sonst wäre der feinfühlige Mann nicht nach Paris gefahren, um sie zu beschwören, nach Worpswede zurückzukehren, das zu ihr gehörte, das ihr die Modelle lieferte, die sie so liebte: die bäuerlichen Frauen und die Tagelöhnerkinder und die Landschaft. Sie gab nach, sie wollte die Liebe festhalten und sie ging mit nach Worpswede zurück, wo sie am 2. November 1907 einem gesunden Mädchen das Leben gab. Niemand von ihrer Umgebung ahnte, daß sie wenige Tage später, am 21. November, sterben mußte. Eben hatte sie noch glücklich ausgerufen: „Ach, wie freue ich mich! wie freue ich mich!“, da sank sie zusammen, und sterbend flüsterte sie noch „Wie schade.“

Die Welt nahm vom Tod dieser Frau wenig Notiz. Aber einer sang ihr das leidenschaftliche Requiem, Rainer Maria Rilke:

Denn das verstandest Du: die vollen Früchte,
die legtest Du auf Schalen vor Dich hin
und wogst mit Farben ihre Schwere auf,
Und so wie Früchte sahst Du auch die Fraun
und sahst die Kinder so, von innen her
geschrieben in die Formen ihres Daseins.
Und sahst dich selbst zuletzt als eine Frucht,
nahmst Dich heraus aus Deinen Kleidern, trugst
Dich vor den Spiegel, ließest Dich hinein
bis auf Dein Schauen; das blieb groß davor
und sagte nicht: das bin ich; nein: dies ist.
So ohne Neugier war zuletzt Dein Schauen
und so besitzlos, von so wahrer Armut,
daß es Dich selbst nicht mehr begehrte: heilig.

In: Die Frau im Mittag, Nr. 16, 20. Januar 1954

Lebendige Liebe formt die Sprache

Frauenlyrik seit 1900/ Verse, die vom "bösen Bann" erlösen

Durch ihre Natur ist die Frau der Erde verhaftet. Und es ist darum nicht schwer zu erraten, warum ein Teil der Dichterinnen nicht mehr die eigene Liebe, den Eros, besingt, sondern daß einige Frauen nach zwei Kriegen, nach Verfolgung und Bedrohung durch Atombomben, zu Sibyllen und Kassandren wurden. Gerade ihre Gedichte atmen am stärksten die Liebe zur geschändeten Natur und zur gefährdeten Welt.

"Unter dem sapphischen Mond" lautet der Titel eines neuen Piperbändchens, das von Oda Schaefer herausgegeben und in einem Nachwort gedeutet wurde. Es umfaßt mit ausgewählten Gedichten die deutsche Frauenlyrik seit 1900. Über dreißig Dichterinnen wurden berücksichtigt. Trotz dieser großen Zahl ist aber die künstlerische Qualität dabei immer gewahrt worden. Es wird nicht leichtfallen, eine Auswahl zeitgenössischer männlicher Lyrik von gleichem Rang zusammenzustellen.

Diese Verse beweisen, daß die künstlerische Tradition hier bis heute erhalten blieb und daß die Frauen darum berechtigt sind, sich auf Sappho zu berufen. Diese erste Lyrikerin des europäischen Raumes kann den Mond, den stillen Gefährten der Nacht, nicht sehnsüchtiger gesucht und angerufen haben als diese Dichterinnen unseres Jahrhunderts. Sie verloren nicht den Zusammenhang mit den Urphänomenen wie Natur, Liebe, Geburt und Tod. Und nur weil sie sich als Geschöpf Gottes spürten, entgingen sie jener unfruchtbaren Verzweiflung, die heute die Geistessubstanz zu zerstören droht. In der Sprache dieser Dichterinnen ist noch die göttliche Spur, die Liebe, die das Geheimnis durchleuchtet, ohne es preiszugeben, und die das Unhörbare hörbar zu machen versteht.

Wenn die Liebe in der Sprache fehlt, dann kann kein schöpferischer Akt erfolgen. Diese zarten Lieder stellen sich der Auflösung hindernd entgegen. "Das tödlich Bedrohte flieht in den Vers und erlöst sich dort vom bösen Bann", deutet Oda Schaefer diesen wunderbaren Vorgang. Bis zur Selbstaufgabe steigert sich die Liebe bei Else Lasker- Schüler, als sie vereinsamte:

Wenn es an mein Haus pochte,War es mein eigenes Herz.
Das hängt an jedem Türpfosten,
Auch an deiner Tür.

Und Martha Saalfeld bekennt: "Das Herz des Vogels ist geängstigt und das Herz des Dichters..."

Überall lauert Betrug und überall lauern Gefahren. Welche Tragödien verbergen sich hinter den Gedichten der Gertrud Kolmar, die auf dem Wege nach Auschwitz verschollen blieb. Else Lasker-Schüler starb enttäuscht in Jerusalem, das ihrer Vorstellung von einer alttestamentarischen heiligen Stadt nicht standhalten konnte. Elisabeth Langgässer wurde als Halbjüdin verfolgt, erlag einer Nervenkrankheit, der sie jahrelang, im geheimen arbeitend, ihre Dichtung entgegengesetzt hatte. Ricarda Huch mußte dem Zusammenbuch ihrer humanen Lebensart zusehen. Regina Ullmann flüchtete über die Dächer der Nebenhäuser vor den Verfolgern, das Klirren ihrer alten Hinterglasbilder in den Ohren, zu Max Picard in die Schweiz. Die zarte Poetin Emmy Ball-Hennings eröffnete nach dem ersten Weltkrieg mit ihrem Mann Hugo Ball das Cabaret Voltaire in Zürich, wo sie versuchten, aus den geistigen Trümmern die Bausteinchen zu picken und mühsam wieder zu einem neuen soliden Geistesbau aufeinanderzusetzen. Hermann Hesse war einer ihrer großen Verehrer. Für die damalige suchende und um geistige Werte ringende Jugend gab dieses Ehepaar wesentliche Ziele und Leitbilder.

Das ist der Sinn der Kunst, daß sie uns bilde und uns den Weg zu uns selbst weise. Wie stark geht diese Kraft gerade von den ganz persönlichen Gedichten der Cläre Goll aus. Sie lebt einsam in New York. Seit Ivan Goll starb, ist ihre Sonne erloschen. Ihre Gedichte waren sehnsüchtige Tränen, die dahinfließen, um den Schmerz über das Vergängliche zu lösen, der unser aller Schmerz ist.

Die Sprache hat die wunderbare Macht, eine geistige Gemeinschaft zu bilden. Wer danach sehnsüchtig ist, der kann sie in diesem Lyrikband finden, der noch viele Schätze enthält, die wir hier nicht alle sichtbar machen konnten.

In: Der Mittag, 26. Juni 1957

Der künstlerische Auftrag

Man hat den Künstler den Genius genannt. Dieser Name bezeichnet das Überpersönliche, Überindividuelle, und das unbeirrbare Bereitsein eines Menschen, den ihm schicksalhaft zugefallenen künstlerischen Auftrag anzunehmen. Er kann sich ihm nicht entziehen. Sein Ergriffensein hängt ab von einer Macht, die nicht im persönlichen Belieben steht, die sich schenkt oder versagt, die einen auserwählt oder verwirft, nach einem geheimen Gesetz, vor dem unser Wille und die Willkür des Einzelnen hinschmilzt.

Der Künstler ist an seinen Auftrag gefesselt. Wenn wir diesen festlegen wollen, so können wir das nur mit der Aufzählung einzelner Aufgaben: Das Unfaßbare festzuhalten im Bild, für andere zu gestalten, was in diesen sonst ungeformt bliebe und sie sehend zu machen für das wirkliche Leben, das in unserer Zeit so gefährdet ist.

Mut zum Guten

Auf diese Gefahren hinzuweisen ist eine der dringendsten Aufgaben des Künstlers unserer Tage. Jeder weiß wohl, daß eine gute Welt besser ist als eine schlechte, aber beweisen läßt sich dies schwer in einer Zeit wie der unseren, die von Gegensätzen und niederen Leidenschaften erfüllt ist und die eine gemeinsame Untersuchung der fehlerhaften weltlichen Einrichtungen nicht zuläßt. Hier aber bleibt dem Künstler die Möglichkeit, überzeugend auf den Besucher seines Werkes einzuwirken durch Vermittlung des Gefühls, daß er nicht allein ist mit seiner Sehnsucht nach einer besseren Welt. Und damit stärkt und weckt er den Mut zum Guten!

Mut zum Guten! Ja, die Kunst ist abhängig von mutigen Menschen, die ihren Auftrag verantwortungsvoll ausführen und die das Abenteuer riskieren und sich in neu zu erobernde geistige Gebiete begeben, wenn es notwendig wird. Es ist ein Irrtum zu glauben, man könnte sich aus dem üppigen Stilgarten, der sich heute vor uns ausbreitet, eine passende Stilart aussuchen. Diese künstlichen, nicht künstlerischen Blümchen werden keine Früchte des Geistes hervorbringen, an denen unsere Enkel und Urenkel unsere Zeit erkennen können.

Unvergänglichste aller Ausdrucksformen

Jahrtausende haben die Menschen in der Kunst ihre höchsten Empfindungen ausgedrückt. Darum ist sie die unvergänglichste aller Ausdrucksformen. An ihr vermag sich der Mensch über gewesene Epochen und Völker zu orientieren. Sie hat völkerverbindende Kraft in ihrer weiten Ausstrahlung.

Ich selbst durfte das am Ende des letzten Krieges erleben, als die amerikanischen Truppen in unser Eifeldörfchen einzogen, in das uns der Krieg verschlagen hatte. Als Otto Pankok dem verantwortlichen Offizier die bei uns versteckten Verfolgten anvertrauen wollte, da breitete dieser seine Arme aus, um ihn herzlich zu begrüßen und rief: „Pankok, Sie hier?!“ Es war ein kunstinteressierter Amerikaner, der Pankoks Werk liebte. Für uns war dieses Ende des Hitlerdramas ein kleines Wunder. Auch das Eifeldörfchen stand nun unter dem Schutz des Geistes, der aus Pankoks Kunst spricht.

Verantwortung des Künstlers

Die Kultur ist abhängig von der Gemeinschaft der in Ehrfurcht Verbundenen. Darum ist das Erlebnis der Kunst den Menschen so dienlich wie das Erlebnis der Nächstenliebe. Vor einem echten Kunstwerk spüren sie wieder das Gefühl der tiefsten Verbundenheit, die Hölderlin in die dichterischen Worte faßte: „und alle Gedanken schwinden vor dem Bilde der ewig einigen Welt.“

Der künstlerisch empfindende Mensch bewahrt die Verantwortung der Gesamtheit gegenüber, denn er trägt die Last der Mitverantwortung für die Früchte, deren Saat er mitaussät.

Darum muß er oft zum Unruhestifter werden, wenn er die Welt durch die „Großen“ dieser Erde gefährdet sieht, wie das im Augenblick in Vietnam geschieht. Gefahren ziehen aber nicht nur durch die mörderischen technischen Erfindungen immer wieder auf, sondern auch durch die von bösen Interessen gespeiste Verteufelung, der Menschen ausgesetzt sind, die anders denken, fühlen, andere Hautfarben haben und den einen Gott auf verschiedenen Wegen suchen. Ihr Anwalt muß der Künstler sein. Denn was ihn zum Unruhstifter macht und ihn zur Verantwortung dem Leben gegenüber zwingt, das ist seine ungeteilte Liebe, die der ganzen Schöpfung gehört. Sie bestimmt seine Existenz. Darum ist der heutigen Kunst ein Auftrag gegeben, der darin besteht, den ewigen und unantastbaren Werk des Menschen erkennen zu lassen und mit ihm seine Welt, die gefährdete Natur und die bedrohte Landschaft. Denn die Menschen haben sich die Erde und den Himmel untertan gemacht ohne die Liebe, die sie allein befähigen könnte, die ungeheuerlichen großen technischen Errungenschaften zu meistern und segensreich für alle zu nutzen. Das Erschreckende, das wir nun erleben, ist das wachsende Verzagen vieler Menschen, die an ein Entrinnen nicht mehr glauben und in Angst vor kommendem Unheil leben. Angst aber kann ein Riegel werden vor dem Leid der anderen, das so groß geworden ist, daß man sich verschließen möchte. Diese Erfahrung machten wir in der Hitlerzeit.

Geduld behalten

Darum ist es so wichtig, daß die geistigen Menschen nicht aufhören, vor den Folgen der Lieblosigkeit zu warnen, die unsere Welt wie eine Krankheit befallen hat. Vielleicht haben wir den Höhepunkt der Fieberträume von Macht und Gewalt schon hinter uns. Es dürfte doch nicht verwunderlich sein, wenn die Völker endlich aufwachten nach den vielen erfolglosen Versuchen, mit kriegerischen Mitteln eine Ordnung auf Unfreiheit anderer aufzubauen.

Noch wissen wir nicht, ob die Liebe an Intensität zunimmt und ob sie eines Tages, den wir noch erleben möchten, ans Licht dringt wie der Samen, der in der dunklen Erde verborgen ruht und plötzlich zu sprießen beginnt. Wir müssen Geduld behalten und durchhalten.

In: Frau und Frieden. Monatsschrift für politisch interessierte Frauen, 16. Jg., Juni 1967, S. 11

Else Lasker-Schüler

Vortrag gehalten am 19. April 1969 in Haus Esselt

Else Lasker-Schüler war meine Freundin. Den Altersunterschied haben wir nie empfunden. Sie starb im März 1945 in Jerusalem. Im Februar dieses Jahres gedachten wir ihres 100. Geburtstages. Böse konnte sie werden, wenn sie im Gespräch nach ihrem Alter gefragt wurde. Ewig war sie und ohne Anfang und Ende, wie sie selbst behauptete, geboren als Prinz Jussuf von Theben und nur wie durch Zauberei vom Orient fort in die Wiege vom Architekten Schüler in Wuppertal gelegt, wo sie sich dann aber so wohl fühlte, daß es kaum schönere bekennerische Worte gibt wie jene, die Else Laker-Schüler für ihre guten Eltern fand. Spielte sie als Kind mit bunten Knöpfen aus den Fabriken ihrer Wuppertaler Heimat, so war es später das Spiel mit dem Wort, mit dem sie auf eine fascinierende Art jonglierte.

Leicht war das Wort für sie, wie ein Federball und es scheint oft so, als würfe sie es hinaus in die Welt, ohne festgesetztes Ziel, in der Erwartung, daß es doch irgendwo haften bleibe, auf einem Ding, das sich danach sehnt, mit im Rhythmus der Laskerschen Dichtung aufgenommen zu werden. Ihrer beweglichen Fantasie entwuchsen farbenprächtige Bilder, Blüten eines Zweiges der Semiten. Träumerisch und voller Schwermut ließ sie mitempfinden, was ihre Ahnen schon gelitten haben.

Aus vielen Tönen setzt sich dieses Lebenskonzept zusammen. Einer der Hauptakkorde aber bildete in ihrem Leben das tiefe Erlebnis, das ihr zuteil wurde durch die Bekanntschaft mit dem westfälischen Dichter Peter Hille, von dem die Wartefrau der Dichterin anläßlich seines ersten Besuches die treffende Schilderung gab: "Ein Mann aus dem alten Testament ist hier gewesen...".

Als Else Lasker-Schüler später die Freundin von Otto Pankok wurde, schenkte sie ihm eines Tages einen wunderschönen roten Kamm als Zeichen ihrer Liebe. Sie meinte aber bei der Überreichung des Geschenks, daß sie denselben Kamm ihrem Geliebten Peter Hille verehrt habe – doch hätte Peter Hille noch einen großartigeren Bart gehabt. Da wirkte Pankoks Bart wie Lametta.

Wer in meinen Alter ein Leben beschreibt, das in freundschaftlicher Beziehung zum eigenen stand, rührt an ein Stück Sage: Menschen, die an uns vorübergingen und eine gestaltete Welt, die wir noch mit Augen schauten, ist nicht mehr. Ohne ein Erinnern, das so schön mit dem Wörtchen Innerlichkeit zusammenhängt, wäre unser Leben wie auf Sand gebaut. Die Spuren des Lebens sind heute schnell verweht, da ein Ereignis das andere jagt und fast keinem mehr Dauer gewährt wird, wenn nicht unser Herz wie Wachs wäre, das die Abdrücke unserer seelischen Erlebnisse festhält. Mein Bild, das ich von der Freundin bewahre, ist farbenreich. Sie selbst nannte sich den Prinzen Jussuf von Theben, so fremd fand sie sich oft in der Welt, in der sie lebte, so hingegeben dem geheimnisvollen orientalischen Geist, aus dem sie zu schaffen glaubte. Und dennoch, wie liebte sie die Wuppertaler Heimat, in der die Mutter und der Vater Schüler diese fremdartige Blüte pflegten und hegten. Und dankbar sind wir der Dichterin, welche unsere deutsche Sprache durch ihre Arbeit bereicherte.

Der kleine Prinz von Theben spielte in seiner Geburtsstadt Wuppertal gern mit den Knöpfchen und Bändern aus der heimatlichen Industrie, mit den großen und kleinen blauen, grünen, lila, roten, gelben und weißen Knöpfen. Sie legte Knopf an Knopf, je 4 oder 5 – so erzählte sie mirin ebenmäßige Reihen und führte dann das kleine Fingerchen über die Knopfreihen der abgeteilten Knopfstrophen. Wenn sie dann durch die Unregelmäßigkeit der Knopfgrößen mit der Fingerspitze stolperte oder gar mit dem ganzen Finger abglitt, schrie sie laut auf, genau wie sie sich später verletzt fühlte durch einen Vokal oder Konsonanten, der Störungen im Maß oder Gehör undefiniert verursachte. Aber einer der herrlichsten Knöpfe, so erzählte sie, durfte überall liegen, wo er wollte; er war aus Jett, besät mit goldenen Sternlein, und die Kleine staunte ihn an und konnte seine Schönheit kaum fassen. Er war das Himmelreich ihrer Knöpfe und sie ehrte ihn mit dem kostbaren Namen: Josef von Ägypten.

So werden Dichter geboren, so wachsen sie in ihre Mission hinein, spielend und unbewußt. Sie meinte einmal: So oft neckt man mich mit einem Ausdruck, der sich immer wiederholt in meinen Gedichten. Es ist wahrscheinlich der sternbesäte Knopf.

Else Lasker-Schüler erzählte auch so schön aus ihrer Kindheit, daß die Mutter mit ihr das geheimnisvolle Spiel des Einwortsagens geübt. Die Mutter sagte "Tinte" und das Kind sagte "Flinte" oder "Paul" und "Saul". Als ihr Bruder einmal auf "hoch"="Koch" reimte, da war sie außer sich geraten vor Wut über solchen dumpfen Schall der Paarung. Zwei Jahre zählte das Kind, als es den falschen Reim schmerzlich empfand. Mit vier Jahren lernte sie zum Zeitvertreib bei der Gouvernante schreiben. Jedem Buchstaben malte sie ein Tuch um den Hals, da er fror, wie sie glaubte, denn es war Winter. Fünfjährig begann sie zu dichten. Die Mutter fand die kleinen bekritzelten Papierflocken, die aus den Kleidertäschchen fielen, wenn sie die Knöpfchen daraus hervorholte.

Als wir einander zum ersten Mal bei Louise Dumont begegneten, sagte ich ein paar Begrüßungsworte zu ihr. Daraufhin schloß sie mich herzlich in die Arme und rief: "Sie ist aus Westfalen. Ich höre es an ihrer Aussprache, sie kommt aus Westfalen. Ich liebe die Westfalen. Das sind großzügige Menschen. Sie backen die Reibekuchen mit Butter und nicht mit dem fiesen Öl."

Aus dieser ersten Begegnung sollte dann eine tiefe und treue Freundschaft werden. Wie freute sie sich jedesmal, wenn sie mich dabei ertappte, daß ich in den westfälischen Tonfall geraten war und westfälische Ausdrücke brauchte. Stolz erzählte sie gern von dem kleinen westfälischen Städtchen Hexen-Gäsecke, in dem ihr Großvater wohnte, den sie den Wunderrabbi nannte und den sie sehr verehrte. Des Bischofs Lavater Freund war er. Wie schön erzählte die Dichterin von diesem Wunderrabbi, der jeden Abend mit dem Bischof zusammentraf, im Gastzimmer des "Goldenen Halbmond", der nicht abnahm und auch nicht zunahm, genau wie das freundschaftliche Bündnis, das die beiden Hohepriester unverändert vereinigte bis zu ihrem Tod. Von ihrem Rabbiner-Großvater geht in Westfalen die Legende, daß er sein Herz habe aus der Brust nehmen können, was er nach kühlen staatlichen Konferenzen zu tun pflegte, um den Zeiger des roten Zifferblattes wieder nach Gottosten zu stellen.

Ich denke hier an ein Erlebnis, das ich zwischendurch erzählen will. Es war ein bedeutungsvoller Tag in Berlin zu Ende gegangen. Die Vorarbeiten zur Aufführung ihres Schauspiels "Joseph und seine Brüder" hatten Else Lasker-Schüler und mich gemeinsam beschäftigt und wir wollten am Spätnachmittag im Romanischen Café noch ein paar Theaterfreunde treffen. (Das Manuskript "Joseph und seine Brüder" ist bis heute noch nicht wiedergefunden worden.)

Es war damals kurz vor dem verhängnisvollen 30. Januar, der Hitler an die Macht bringen sollte. Aber noch durften wir hoffen, daß ihr Schauspiel "Joseph und seine Brüder" im Berliner Staatstheater uraufgeführt werden könnte. Else Lasker-Schüler war wie berauscht vor Glück. Sie wollte am liebsten selbst den Joseph spielen. Und die alte Frau mit ihren schlanken Gliedern hatte sich so in die Rolle hineinversetzt, daß sie alles um sich her vergaß, das Caféhausmilieu, ihr Alter, und wie ihr Jüngling Joseph nur noch in Versen sprach. Der Theaterdirektor, die Schauspieler, die Dichter und Maler und andere Gäste hörten zu. Wie in einen magischen Kreis gebannt, lauschten wir ihr. Ich sehe noch das zarte Köpfchen vor mir mit dem entrückten Ausdruck des schmerzerfüllten Sehers, der noch so jung die Freveltat an sich geschehen lassen muß.

"Die fremden Männer aber ketteten des Jakobs Sohn,
Bis ihm die Hände drohten, mit dem Eisen zu verrosten."

Als sie damals diese Worte gesprochen hatte, wurde der Kummer zu überwältigend. Als ihre Tränen auf das Marmortischchen tropften, da hatte die anfängliche Schauspielerei ein Ende, und, wie plötzlich erwachend, drückte sie den Theaterfreunden die Hand, klopfte dem vertrauten Kellner liebevoll auf die Schulter und verließ fluchtartig mit mir das Café.

Dann gingen wir still durch die Straßen Berlins, zu ihrem Hotel, dem Sachsenhof, in dem sie Unterkunft gesucht hatte seit dem Tode ihres einzigen Sohnes. Seit diesem Tag hatte sie nicht mehr allein wohnen mögen; sie mußte Menschen neben, unter und über sich haben. Und sie begann ein Leben in Hotels und Caféhäusern.

An jenem Abend in Berlin kamen wir uns sehr nahe. Sie fühlte sich geborgen in meiner Liebe und zeigte es mir. Sie sprach von sich, ihrem Erlebnis, das sie ein Jahr vor dem Tode ihres begabten Malersohnes hatte. Sie hatte damals ein Gesicht – so erzählte sie – König David saß in ihrem Zimmer, in später Abendstunde. Er trug ein schwarzes Gewand und einen schwarzen Turban. Seine Augen waren wie Asche. Er verharrte lange Zeit, neben ihr sitzend. Und sie meinte damals, ungeheuerlichen Erlebnissen gehen ungeheuerliche Ouverturen voran.

Seltsame entrückte Stunden erlebten wir damals zusammen in dem Hotelzimmer. Sie wollte mir ein Herzensgeschenk zuteil werden lassen. In den Hotelmöbeln verstreut waren einige Dinge, die sie mitgebracht hatte und die so ganz zu ihr gehörten und die dem Raum das Persönliche gaben. Und zu diesen Dingen gehörte des Großpapa-Rabbis Ohrensessel. Und auf diesem Sessel durfte ich an jenem denkwürdigen Abend sitzen und das Wunder an mir geschehen lassen wie Else Lasker-Schüler es sich so sehnlichst wünschte, daß meine Seele zusammenschrumpfen sollte, um Platz zu machen für die Seele des großen Juden. Mit Tränen der Rührung saß sie vor mir mit ihrem dampfenden Tee und sah mich mit unendlicher Liebe an, die ich still und demütig auf dem großgeblümten Sammet saß und so bereit war, wenigstens für Augenblicke – wie die Dichterin es ersehnte von der überirdischen Weisheit des ehrwürdigen Rabbis zu kosten, von jener Weisheit, die da lehrt: " Gott schuf die Erde, indem Er sich zusammenzog und damit Raum für sie gewann." Else Lasker-Schüler erzählte auch einen Traum, den sie nie vergessen konnte. Darin fragte Gott sie: Gefällt dir meine Welt? Dann will ich sie dir schenken. Seitdem, so behauptete sie, gehöre ihr die Welt, und seitdem hatte sie grenzenlos damit zu tun, sie anzublicken.

"Mir hilft kein Sträuben; der strenge Frost holt mich, aber auch der tyrannische Sturm, genau wie der holde Julivogel in die Aula der Welt." Das war ihre Weltanschauung, wenn sie schreibt: "Es ist ja alles Ebenbild Gottes und darum sollte man sich vorsehen in der Welt, etwas zu beflecken überall möchte ja von der Gottesseele einströmen und vermag sich doch nur in den klaren Stellen wiederspiegeln. Vielleicht begehe ich eine Indiskretion, da ich das Geheimnis des Menschen und seiner Welt verrate. Der Leib ist nur Illusion. Und auch den Körper der Welt erdichtete die erste Menschenseele. Aber wenn du einmal ein Erdbeben verspüren solltest, ein vorübergehender Zweifel der Seele an ihrer Weltillusion, denke an mich und verschlingt dich auch der Erdleib, um dich nach Augenblicken wieder auszuspeien. – So erklärt sich auch das Wunder der Fakire, überhaupt aller Heiligen, des Balchem und der anderen Wunderrabbis, die durch Enthaltsamkeit den bezwungenen Leib zu entbrennen vermochten." Schwer trug die Dichterin an der Dissonanz ihrer Zeit. Ja, es kam der Tag, an dem sie im Gedenken an den schweren Lebensweg ihres geliebten Dichterfreundes Peter Hiller klagte: "Der Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande, Abendlande!" Und wie haben Peter Hille und Else Lasker-Schüler in der Zeit der bürgerlichen Müdigkeit erfrischend auf den deutschen Geist gewirkt. Else Lasker-Schüler war eine der Ersten, welche die naturalistische Fessel sprengte und wieder in eine geistige, mystische Welt führte. Ihre Sprache war von einer Innerlichkeit, die nur behutsam die Schleier hob von den Dingen, die sie besang und von den Gedanken, die sie ausdeutete.

Bei ihren Freunden feierte sie das große gute Menschenherz. Ich lese ihr Gedicht an Franz Werfel, den auch ich und auch Otto Pankok sehr geliebt haben. Ein Porträt Werfels von Otto Pankok besitzt das theaterwissenschaftliche Institut in Köln/Wahn. Else Lasker-Schüler schreibt über ihn:

Ein entzückender Schuljunge ist er.
Lauter Lehrer spuken in seinem Lockenkopf.

Sein Name ist so mutwillig:
Franz Werfel.

Immer schreib ich ihm Briefe,
Die er mit Klecksen beantwortet.
Aber wir lieben ihn alle
Seines zarten, zärtlichen Herzens wegen.

Sein Herz hat Echo,
Pocht verwundert.
Und fromm werden seine Lippen
Im Gedicht.

Manches trägt einen staubigen Turban.
Er ist Enkel seiner eigenen Verse.

Doch auf seiner Lippe
Ist eine Nachtigall gemalt.

Mein Garten singt,
Wenn er ihn verläßt.

Freude streut seine Stimme
Über den Weg.

Wie oft bei unserem Zusammensein träumte die Dichterin von einer Reise in das gelobte Land; doch sollten die Freunde sie begleiten. Und als die Lage in unserem Land immer schwieriger wurde, da schrieb sie mir, ich müßte die Zeitung in Palästina herausgeben und Otto Pankok würde dort viele Modelle und herrliche Motive finden. Sie konnte sich Palästina nur vorstellen wie eine Provinz der alten Welt, zu der sie gehörte. Ganz losgelöst vom Deutschland ihrer Freunde war ein Leben für sie zuerst noch unvorstellbar. Diese Reise nach Jerusalem war ein schöner Traum seit Kindertagen, mehr eine Dichtung ihrer Fantasie. Als die Last und der Druck der Gewalt immer schwerer wurde, schrieb sie mir, daß sie nur mit mir hinwollte.

Mit einem stillen Menschen will ich wandern
Über die Berge meiner Heimat,
Schluchzend über Schluchten,
Über hingestreckte Lüfte.

Überall beugen sich die Zedern
Und streuen Blüten.
Aber meine Schulter hängt herab
Von der Last des Flügels.

Suche ewige stille Hände:
Mit meiner Heimat will ich wandern.

Und dann kam der furchtbare Tag, an dem fanatische Schriftsteller in ihrem Massenund Rassenwahn die größte Dichterin Deutschlands vor ihrem Hotel in Berlin niederschlugen. Die Nichtsahnende hatte ihr Hotel verlassen, um eine Besorgung zu machen. Das Grauen packte sie. Nur mit dem Geld, das zufällig in ihrer Tasche war, floh sie, ohne in ihr Hotel zurückzukehren, ohne einen Koffer zu packen. Ihr Geld reichte für eine Fahrkarte zur Schweiz. In Zürich angekommen, wandte sie sich an keinen Menschen um Hilfe. Für sich selbst konnte sie schwer etwas unternehmen. Sie schlief unter einem ihrer geliebten Bäume. Ihre armen zarten Hände erfroren bald. Dort fand sie ein Polizist schlafend, auf einer Bank im Park mitten in der kalten Nacht. Der Mann der Ordnung verhaftete sie, und ausgefragt, erfuhr man die tragische Geschichte. Einer der höheren Polizeibeamten kannte ihren Namen, wußte etwas über diese Frau, deren Gedichte schon in den Lesebüchern und Gedichtbänden des Auslands aufgenommen waren.

Hinter meinen Augen stehen Wasser,
die muß ich alle weinen.

Immer möchte ich auffliegen,
Mit den Zugvögeln fort;

Buntatmen mit den Winden
in der großen Luft.

O, ich bin so traurig...
Das Gesicht im Mond weiß es.

Die Geschichte der Else Lasker-Schüler wurde in der Schweiz bekannt und es regten sich helfende Hände. Morgenfeiern wurden von dem Schauspieler Ernst Ginsberg veranstaltet und in literarischen Vereinen Leseabende eingerichtet. Ein großes Kaufhaus in Zürich erlaubte ihr, ohne Zahlung alles im Geschäft zu holen, was sie brauchte. Doch machte sie selten Gebrauch davon. Nur wenn ein Freund sie besuchte, erinnerte sie sich des großzügigen Geschenks und holte auf einem ihrer Bons ein Tüchlein oder ein Kämmchen zur Erinnerung. Für andere nahm sie die Gunst gern einmal wahr, an sich selbst zu denken wurde ihr schwer.

Damals schrieb sie mir: "Der von Angst verdunkelte Mensch gerät aus dem Gleichgewicht. Wer diese Urqual erlebte, weiß, wie die Erde litt, als ihr der Paradiesesschein – die Liebe – vom Haupte glitt." Wenn ich auch von jetzt ab lange Zeit von ihr getrennt blieb, so durfte ich sie doch durch ihre Briefe auf ihrem Stationsweg begleiten. Meine Briefe waren ihr ein Trost.

Bevor der Überfall in Berlin passierte, hatte sie noch zwischen Hoffnung und Verzweiflung geschwankt. So schreibt sie noch am 6.11.32: "...Ich hoffe, bald nach Düsseldorf zu kommen – von Darmstadt aus wo um Weihnachten mein Schauspiel gespielt wird: ‚Arthur Aronymus und sein Vater‘meines 12-jährigen Papas Jugendzeit in seiner westfälischen Heimat: HexenGäsecke."Doch der Brief endete schon mit den Worten: "Ich bin sehr niedergeschlagen immerdar und immerzu. Kommen Sie nach Berlin?"- Nach Weihnachten kamen schon die ersten bösen dämonischen Anzeichen. Traurig teilte sie mir mit: "Mein Schauspiel wegen verschoben." Hitler ersetzte sie durch einen Gedankenstrich. "Auch Darmstadt. Köln wollte meine Wupper aufführen. Bitte fragen Sie, ob es wird! Ich bin verzweifelt!-" Und ich konnte nicht helfen. Kein Theaterdirektor traute sich mehr an eines ihrer Werke.

Und dann begann die überstürzte Emigration. Schließlich, nach bangem Warten, der erste Brief aus Zürich: "Hospiz Augustinerhof. Meine liebste, verehrteste Hulda Pankok, nur die Verzweiflung, wie man überhaupt bestehen kann und die Zurückgebliebenen, ist schuld, daß ich Ihnen, Sie Liebe, nicht schrieb. Und – aberes beginnt sich zu machen und aber, wie geht es Ihnen und dem lieben Mann mit dem Bart? Beinahe wäre ich nun nach Düsseldorf gereist. Kommen Sie doch hierher, wir reisen dann nach Locarno oder Ascona. Bald kann ich es. Dort ist es billiger und wir sind unter uns. Herr Intendant Lindemann darf aber nicht alleine bleiben, er muß mitkommen. Wir alle sind sehr lieb zu ihm. Wie würde er sich nach Ihnen sehnen und dem Bartmaler! Ich war so unglücklich und so zerfetzt und verhungert innen und außen, aber nun ist es viel besser! Und ich habe nur Sehnsucht – da außerdem hier sehr kühlin die Sonne zu reisen, unter schönen Bäumen zu sitzen und bei den Blumen. Ich habe hier in Zürich beständig großes Leid um meinen geliebten Jungen. Zürich war seine Lieblingsstadt in der Schweiz und alles trägt darum, da mir alles dunkel, einen bangen Schattenschleier. Ich bitte Sie, liebste Hulda Pankok, schreiben Sie mir sehr bald und grüßen Sie den Maler und lieben Intendanten. Die ganze Welt eine Finsternis. Darum zündete ich den Stern an. Darum sind uns die Propheten gekommen und Jesus von Nazareth und die vielen Menschen weinten und Dichter dichteten Heiligengedichte. Später im Herbst kommt mit mir nach Palästina! Es soll wunderbar dort sein, oder soll ich vorher dorthin ziehen und Euch, meine Lieben, am Rhein schreiben? Wir wollen dort alle Theater spielen, eine wunderbare liebreiche Truppe immer das heilige Land durchziehen! Und nun alles Liebe; ich weine fast ..... Und es sprach mal der Maler Gert Wollheim so schön von Ihnen beiden. Wissen Sie, wie es ihm geht und ob er weiter kann? Alles Liebe und Schöne und alles was Treue ist. Ihre Else Lasker-Schüler.:" Nirgendwo ist mehr Ruhe und Sicherheit. Doch noch ist es hier für uns ab und zu möglich, ein wahres Wort zu veröffentlichen. Wenn es gelang, schickte man es ins Ausland an die emigrierten Freunde. Wir erhofften immer noch, mit unseren geistigen Mitteln etwas erreichen zu können.

Der zweite Brief aus der Emigration von Else Lasker-Schüler lautete darum: "Ich danke Ihnen für den Essay. Könnten wir uns doch bald wieder begegnen. Kommen Sie doch mit dem Mann im Bart nach dem Tessin. Dort ist Eden und wir sprechen mit den Blumen und pflücken uns Brot und allerlei von den Bäumen. Wohnen zwar nicht auf den Beeten, aber – sehr, sehr möglich in netten reinen Räumen und das Silber fällt dazu mittags von oben. Ich sage am 27.6. hier aus meinen Dichtungen. Da habe ich dann genug kommen noch zwei Zeichnungen für Holland dazu, (sie malte auch) um zwei Monate zu bleiben und ich schreib sofort. Und Herr Lindemann kommt auch. Nie vergeß ich seinen Faust. Näheres: Ich hatte beide Hände halb erfroren und voll von Rissen, da ich ja erste Tage am See, unter einem Baume versteckt, schlief: Konnte garnicht schreiben, denn immer schlimmer wurde es... Immer in Liebe für Sie beide und immer in Treue und immer wir Drei in Liebe und Treue für Louisens liebsten Intendanten und treuesten Begleiter." (Es ist Louise Dumont und Gustav Lindemann gemeint.) Euer sehr, sehr trauriger Prinz Jussuf von Theben." Darunter stand noch: "Was sind alle Schätze der Welt und wäre die Liebe nicht."

Die weiteren Schreiben zeigen ihr wachsendes Heimweh. Und doch darf niemand von uns sie zurückholen. Dort ist geschützter. Pläne werden von uns gemacht, sie zu besuchen.

Einer der nächsten Briefe enthielt nur dieses Gedicht:

Wir beide
Der Abend weht Sehnen aus Blütensüße,
Und auf den Bergen brennt wie Silberdiamant der Reif,
Und Engelköpfchen gucken überm Himmelstreif,
Und wir beide sind im Paradiese.

Und uns gehört das ganze bunte Leben,
Das blaue große Bilderbuch mit Sternen!
Mit Wolkentieren, die sich jagen in den Fernen
Und hei! die Kreiselwinde, die uns drehn und heben!

Der liebe Gott träumt seinen Kindertraum
Vom Paradies von seinen zwei Gespielen,
Und große Blumen sehn uns an von Dornenstielen...
Die düstre Erde hing noch grün am Baum.

Als dieses Gedicht gekommen war, wußte ich, wir mußten zu ihr. Sie war, allein gelassen, am Ende ihrer Kraft. Sie sehnte sich nach den Gespielen. Nach Überwindung vieler Schwierigkeiten haben wir dann endlich die Möglichkeit, in die Schweiz zu fahren. Als wir uns Ascona nähern, wo sie inzwischen wegen des dortigen Kabaretts, in dem sie Gedichte lesen konnte, hingezogen ist, schreibt sie ungeduldige Karten über Max Picard in Gentilino, wo sie uns vermutet: "Meine Liebe. Freue mich so, Sie sind hier mit dem Mann im Bart. Wo sehen wir uns? Ich kann nicht über Lugano fahren. Ich kann des Schmerzes wegen nicht über Lugano. (Hier starb ihr Sohn.) Bitte kommen Sie bald hierher. Ich hatte einen Vortrag im Theater. Bitte schreibt, wann Sie kommen, damit ich da bin. Euer armer Prinz Jussuf von Theben einer der vielen." Und dann folgten Eilkarten, eine nach der anderen und erreichten uns in Gentilino, immer derselbe Ruf: "Kommet zu Jussuf!"

Und wir trafen sie in Ascona. Vor einem der von ihr so sehr geliebten Cafés saßen wir und sahen ergriffen in das müde Gesicht und auf die lieben Hände, die der Frost auf der Flucht so krank gemacht hatte. Jetzt schnitten sie mit kindlichem Eifer reizvolle Muster in eine Papierserviette, die eine junge Italienerin zu den Spaghettis gebracht hatte. Das zierliche Papierdeckchen sollte sehr viel später meine kleine Tochter trösten, wenn der Abschied sich nähern würde. Da drehte sie das Papierdeckchen um einen Mohrenkopf, der mit auf die Reise geschickt wurde. Jedem von uns wollte sie noch gern etwas Liebes bereiten in ihrer gottverlassenen Armut. Und wir mußten sie einsam zurücklassen. Wir konnten nur noch eins, die Freunde in der Schweiz um Hilfe bitten.

Da saßen nun wir Einsamen, mit unserem Herzen voller Liebe, die auf Erden heimatlos geworden waren, in der südlichen Sonne und wärmten uns einander, sprachen von unseren Hoffnungen, die nicht erlöschen wollten, daß wir eines Tages wieder in unserem Deutschland vereinigt sein würden, in dem Deutschland, in dem wir so schön zusammen Theater gespielt hatten und in dem Otto Pankok so viele Porträts von seinen Freunden geschaffen hatte, die nun zum großen Teil so Schweres durchzumachen hatten durch den Ungeist, der zur Macht gekommen war.

Ich sehe den liebevollen Blick wieder vor mir, mit dem Else Lasker-Schüler mich ansah, als sie sich daran erinnerte, wie vorsichtig ich ihr Schauspielmanuskript für die Bühne zusammenzustreichen pflegte und wie sie mir einmal einen Kuß gab, als sie so einen Strich sah, von dem sie behauptete, daß er ganz leise das Herz für neue Ideen öffnete, während andere Bearbeiter ihrer Bühnenstücke ihr das Herz zerrissen hätten. In diesen Tagen sind diese liebevollen Worte ihrer Zustimmung wie ein Streicheln, das mich trösten soll.

Nach unserem Besuch in Ascona kam dieser Brief: "Es ist alles so schwer, sich über Wasser zu halten, abends sinken einem die Augen zu. Ich habe mich so gefreut, Sie alle hier zu haben, auch die kleine Hulda. (So nannte sie unsere Tochter Eva.) Ich bin nach Alexandrien eingeladen und wenn die Griechische Familie mir das Geld schickt, reise ich dann weiter, für drei Monate zunächst. Ich bin noch recht kaputt. Wie geht es Ihnen und dem Manne mit dem Barte? Immer denke ich an Deutschland, das ich so liebe! Geht es Ihnen auch noch gut!?" Unten auf der Seite zeichnete sie ein Vögelchen, dabei steht geschrieben "bin ich!". Trotz dieser bösen Erfahrungen war es uns damals nicht möglich, zu glauben, daß diese Unnatur Bestand haben sollte. Else Lasker-Schüler träumte noch von den goldenen Türmen der heiligen Stadt, die ihr vorerst Obdach geben sollte. Wir rieten ihr damals zu, die Reise nach Israel zu wagen. Glaubten wir doch, daß es gut sei, viel Raum zwischen unserer bösen Welt und ihr zu wissen.

Kurz nach unserem letzten Zusammensein zog sie nach Israel, wo sie fern von uns starb. Mein Freund Dr. Gabriel Cohen erzählte mir, wie Else Lasker-Schüler sich im irdischen Jerusalem eine Traumwelt aufbaute: eine Welt, in der sie Juden und Araber versöhnen wollte, in der für alle armen Kinder der Stadt, jüdische und arabische, Schlafund Badezimmer eingerichtet und Bänke aufgestellt werden sollten. Auch verlangte ihr Aktionsprogramm – das sie in vielen Gesprächen entwickelte und das man nach ihrem Tode aufgeschrieben fand – mehr Essen für die Kinder. Punkt 6 ihres Programmes lautete: "So lange noch ein Kind hungert, verzichtet Gott auf jede Synagoge". Weiter verlangte sie mehr Fürsorge für die lasttragenden Esel. "Man spreche mit einflußreichen Priestern" heißt es in ihrem Vermächtnis. Weiter verlangte sie die Untersuchung der Lungen der kleinen Zeitungsausrufer.

Ja, sie war eine Fantastin, die trotz aller düsteren Erfahrungen sich nicht den Glauben nehmen ließ, daß die Liebe ihren eigenen Untergang übersteht, daß sie immer wieder aufersteht.

Ich suche allerlanden eine Stadt,
Die einen Engel vor der Pforte hat.
Ich trage seinen großen Flügel
Gebrochen schwer am Schulterblatt
Und in der Stirne seinen Stern als Siegel.
Und wandle immer in der Nacht...
Ich habe Liebe in die Welt gebracht,
Daß blau zu blühen jedes Herz vermag,
Und hab‘ ein Leben müde mich gemacht,
In Gott gehüllt den dunklen Atemschlag.
O Gott, schließ um mich deinen Mantel fest,
Ich weiß, ich bin im Kugelglas der Rest,
Und wenn der letzte Mensch die Welt vergießt,
Du mich nicht wieder aus der Allmacht läßt
Und sich ein neuer Erdball um mich schließt.

Quelle: Typoskript, Pankok-Archiv, Haus Esselt.

Gespräch: Hulda Pankok mit Rudolf Schröder

Ansage: Hier ist die Deutsche Welle. – . Manche von Ihnen, liebe Zuhörer, kennen gewiss schon unsere Zeitgenossin Hulda Pankok: – als Journalistin, Kunstkritikerin, Verlegerin und als Gattin des verstorbenen berühmten Malers Otto Pankok, die aufs Engste mit dem Geistes- und Kulturleben unserer Zeit vermittelnd und schöpferisch tätig verbunden ist. Rudolf Schröder besuchte Hulda Pankok in ihrem Hause Esselt bei Wesel am Niederrhein, um ein Gespräch mit ihr zu führen.

Fenster und Türen des schönen einstigen Herrenhauses standen weit geöffnet, als der Gast das Haus betrat. Im Flur waren Hühner, prächtige Hähne, Puter, ja, Pfauen versammelt. Sie waren gleichsam als Mitbewohner dieses samt den anliegenden Scheunen zu einem Künstler- und Atelierhaus umgewandelten Gebäudes näher getreten, um von der Hausherrin, Hulda Pankok, zur gewohnten Zeit ihre Mahlzeiten gereicht zu bekommen. Man begegnet, wie man sieht, in diesem Haus einer Ordnung, die durch die Anwesenheit einer gewissen Unordnung erst wirklich „in Ordnung“ ist, echter Atmosphäre also und dies überall in der ganzen Behausung. Ja, man spürte sofort: hier war man „zuhause“, „behaust“ und kein Flüchtling und Fremdling. Hulda Pankok, fast 75, mit schneeweißem Haar und doch „frisch wie eine Rose im Tau“, wie Gerhart Hauptmann einmal Käthe Kollwitz gekennzeichnet hatte, Hulda Pankok führte den Gast über eine alte, melodisch krachende, ja, unter den Tritten seufzende Holztreppe in ihr Arbeitszimmer. Es ist bis an die Decken angefüllt mit Büchern, mit Bildern, vor allem Kohlezeichnungen und Holzschnitten ihres 1966 verstorbenen Mannes, Otto Pankok, des einstigen Professors an der Kunstakademie Düsseldorf und zugleich des Malers der Zigeuner, die ihn ihren „Molari“, ihren Maler nennen. Im ganzen Raum summte und brummte es vor Poesie wie in einem blühenden Brombeerbusch. Der riesige Schreibtisch von Hulda Pankok trug wahre Gebirge von Büchern, Zeitungen, Zeitschriften, Manuskripten, Briefen aus aller Welt. Der liebe Gott mochte wissen, wie in diesem scheinbar chaotischen Durcheinander zurechtzufinden war, aber: er war anwesend. Mit sicherer Hand griff Hulda Pankok, geborene Droste, Westfalenkind, geboren Anno 1895 als Lehrerstochter in Bochum nach der Frage, woran sie unter anderem zur Zeit arbeite, in die doch offenbar wohlgeordnete Unordnung auf ihrem Schreibtisch, zog ein Manuskript hervor und sagte:

Ich arbeite zur Zeit an einem Vortrag über Else Lasker-Schüler. Sie war meine Freundin. Den Altersunterschied haben wir nie empfunden. Sie starb im März 1945 in Jerusalem. Im Februar dieses Jahres gedachten wir ihres hundertsten Geburtstages. Als wir einander zum ersten Mal begegneten, sagte ich ein paar Begrüßungsworte zu ihr. Daraufhin schloss sie mich herzlich in die Arme und rief: „Sie ist aus Westfalen. Ich höre es an ihrer Aussprache. Sie kommt aus Westfalen. Ich liebe die Westfalen. Das sind großzügige Menschen. Sie backen die Reibekuchen mit Butter und nicht mit dem fiesen Öl“.

Aus dieser ersten Begegnung sollte dann eine tiefe und treue Freundschaft werden. Wie freute sie sich jedes Mal, wenn sie mich dabei ertappte, dass ich in den westfälischen Tonfall geraten war und westfälische Ausdrücke gebrauchte. Stolz erzählte sie gern von dem kleinen westfälischen Städtchen Geseke, in dem ihr Großvater wohnte, den sie den Wunderrabbi nannte und den sie sehr verehrte. Des Bischofs Lavater Freund war er. Wie schön erzählte die Dichterin von diesem Wunderrabbi, der jeden Abend mit dem Bischof zusammentraf, im Gastzimmer des „Goldenen Halbmond“, der nicht abnahm und auch nicht zunahm, genau wie das freundschaftliche Bündnis, das die beiden Hohepriester unverändert vereinigte bis zu ihrem Tode.

Frau Pankok, - ich sah in der Scheune drüben, die Sie zu dieser wunderbaren Ausstellung ausgebaut haben, unter anderen unfassbar vielen Werken Ihres Mannes einen Holzschnitt. Er stellt den großen russischen Dichter Graf Leo Tolstoi dar. Wie ist dieses Werk wohl zustande gekommen?

Ja, mein Mann liebte die Dichtung Tolstois und auch seine Haltung zum Leben.

Und aus dieser Liebe…

Und aus dieser Liebe ist dieses Bild entstanden.

Stimmt es, was ich gehört habe, Frau Pankok, dass sie indirekt auch Kontakt mit Mitarbeitern Tolstois bekommen haben?

Ja, wir begegneten dem letzten Sekretär von Tolstoi, Herrn Bulgakow. Es war ein wunderbarer Mensch, und auch er hat einen Holzschnitt Tolstois mit nach Jasnaja Poljana genommen und das Bild hängt nun in dem Museum Tolstois.

Zu den großen und bedeutenden Frauen, denen Sie, Frau Pankok, begegnet sind, zählte auch, soviel ich weiß, Louise Dumont, die große Schauspielerin und Begründerin des Düsseldorfer Schauspielhauses.

Ja, – sie war meine Duzfreundin. Ich hatte sie ganz besonders lieb. Ich musste bei jeder Generalprobe dabei sein. Sie behauptete, sie wäre ja vom Schein und ich vom Sein.

Frau Pankok, Sie haben unter anderen auch ein Buch über Jugoslawien geschrieben. Wie ist das zustande gekommen?

Ja, diese Geschichte ist einfach märchenhaft. Ich bekam eines Tages eine Einladung nach Jugoslawien von den Frauen dieses Landes und ich kannte keine Frau dort und war erstaunt. So ging ich zum Konsulat und fragte nach, wie diese Zusammenhänge denn wären. Da wurde mir gesagt, dass alles, was mir die Gestapo Böses angekreidet hätte, mir von den Frauen Jugoslawiens positiv gewertet würde. Sie hätten alles gesammelt, was ich in der Hitlerzeit geschrieben hätte. Ich war erstaunt und ging etwas träumerisch nach Hause. Dort besprach ich alles mit meinem Mann und entschloss mich, zu fahren. An der Grenze erwartete mich eine Dame, die sah aus, als sei sie aus einem alten Biedermeierbild herausgestiegen mit einem riesengroßen Strauß und sie begrüßte mich mit den Worten: ‚Die Frauen Jugoslawiens begrüßen Sie und hoffen, dass Sie sich hier wohlfühlen.‘ Sie gehörte zur dortigen deutschen Abteilung des Rundfunks. Sie sprach fabelhaft deutsch und als wir nun herauskamen aus dem Bahnhof, stand da ein Auto mit rotem Leder bezogen. Das Land war damals, – es war 1950 – noch sehr arm, doch der Wagen war ganz voller Blumen, wie eine Hochzeitskutsche. Ich sagte zu ihr: ‚Nein, ich steige nicht ein, denn ich bin doch kein Hochstapler, ich kann Ihnen in keiner Weise mal dienlich sein, ich gehöre keiner Partei an, ich nicht gehöre der Regierung an, ich bin eine reine Individualistin und, was soll ich schon tun?‘ Darauf sagte die jugoslawische Dame: ‚Ja, diese Individualistin haben wir ja eingeladen, die immer das tut, was sie für richtig hält‘. Ich sagte: ‚Dann darf ich ja einsteigen.‘ Und so begannen wir die Fahrt. Die Dame fragte mich, was ich nun sehen wolle. Nun, ich kam in ein fremdes Land und ich sagte, mich würde alles interessieren. So besuchten wir zuerst das Haus des Dichters Prešeren, der zur Zeit Hölderlins gelebt und auch ein ähnliches Schicksal mit seiner Diotima wie Hölderlin gehabt hatte. Wir fuhren durch eine blühende Landschaft zu dem Dichterhaus. Nun, auf diese Weise ist mein Jugoslawienbuch entstanden. Ich hatte eigentlich vor, nur vierzehn Tage zu bleiben, aber es sind sechs Wochen geworden. Ich konnte mich gar nicht trennen, so wunderbar war das Land und so prachtvoll waren auch die Menschen, denen ich begegnete.

Frau Pankok, Sie sind auch Verlegerin?

Ja, nach dem Krieg habe ich einen Verlag aufgemacht, in der Hoffnung, dass ich den Menschen Bücher geben könnte, die sie notwendig brauchten. Wir haben Kunstbücher herausgegeben von Künstlern, die durch die Hitlerzeit gar nicht sichtbar geworden waren oder sogar verfolgt. Dann habe ich unter anderem die Novelle von Goethe herausgegeben. Da hatte Louise Dumont mir eines Tages gesagt: ‚Wenn ich ein Millionär wäre, dann würde ich in millionenfacher Auflage diese Novelle herausbringen, damit jeder Mensch in Deutschland dieses kleine Werkchen liest. Ich habe diesen Wunsch zwar nicht in millionenfacher Ausführung, aber eben doch in ein paar tausendfacher Auflage erfüllt. Zu den besonders erfolgreichen Büchern gehört das Buch „Deutsche Holzschneider“ und die „Zigeuner“ von meinem Mann. Wahrscheinlich hatte dieses Buch so großen Erfolg, weil man nach einer so herzlosen Zeit froh war, so ein liebenswertes Buch in die Hände zu bekommen. Das Hauptthema meines Mannes war ja der Mensch.

Frau Pankok, wir sind damit bei Ihrem Mann, den großen Pan, wie man ihn genannt hat. Die Zigeuner nannten ihn ihren „Molari“, ihren Maler, und er wurde vor allem von den Armen verehrt und in einer Weise geschätzt, wie ich das eigentlich bei keinem anderen Maler unserer Zeit erlebt habe.

Ja, das war seine Freude an der Ursprünglichkeit, des Menschen, so wie er auch an der ursprünglichen Landschaft eine ganz besondere Freude hatte, die noch nicht zerstört war, diese Naivität der Zigeuner, vor allem der Zigeunerkinder, die brachten ihn dazu, ein Bild nach dem andern zu schaffen. Er war immer so vergnügt, wenn er mit den Kindern zusammen war. Übrigens kommt für das Jahr 1970 ein Kalender im Piscator-Verlag heraus, der nur Zigeunerkinder zeigt. Ich glaube, dass er vielen Menschen Freude machen wird.

Zigeunerkinder, die Ihr Mann gezeichnet hat?

Ja, Zigeunerkinder von meinem Mann!

Ihr Mann hat ein Werk herausgebracht „Stern und Blume“. Ich besitze es leider nicht mehr und in diesem Buch sollen nach meiner Erinnerung zehn Gebote für Maler enthalten sein. Wie verhält es sich damit?

Ja, das stimmt. Er hat zehn Gebote herausgegeben. Soll ich sie vorlesen?

Ich bitte darum…

„Du sollst den Kitsch riskieren“, heißt das erste Gebot. Das zweite: „Du sollst nicht für Ausstellungen malen“; das dritte: „Du sollst einen Baum für wichtiger halten als eine Erfindung von Picasso; viertens: „Du sollst dich vor dem persönlichen Stil hüten; fünftens: „Du sollst nur deinen Träumen trauen“; sechstens: „Du sollst deine schlechten Bilder schnell vergessen“; siebentens: „Du sollst deine guten Bilder nicht anbeten“; achtens: „Du sollst vor jedem Bild, das du malst, das Gefühl haben, es wäre dein erstes“; das neunte Gebot: „Du sollst krass ablehnen, was dir nicht passt, und wäre es Rembrandt oder Chagall“; das zehnte Gebot: „Du sollst das Publikum nicht für dümmer halten als dich selbst“.

Ich finde diese zehn Gebote für Maler sind unerhört aktuell. Was meinen Sie dazu?

Ja, ich glaube, das sind Gebote, die eigentlich immer gültig sind.

Frau Pankok, Sie haben – schon der Schreibtisch hier beweist es – offenbar ein riesiges Arbeitsprogramm noch zu bewältigen. Was ist Ihrer Meinung nach darunter das Vordringlichste?

Ja, nachdem wir nun diesen Ausstellungsraum im früheren Atelier meines Mannes fertiggestellt haben und viele Leute – manchmal zweihundert Menschen am Sonntag – hier uns besuchen, da habe ich begonnen, die Aufzeichnungen meines Mannes zu ordnen und zu bearbeiten, mit Anmerkungen zu versehen und auch Hinweise zu geben, die notwendig wären. Dann wollen wir ein Archiv aufbauen, dabei hilft mir Herr Archivrat Schmitz vom Landschaftsverband mit allen seinen Erfahrungen und wir wollen sehen, dass wir die Briefe ordnen, die Fotos und Bilder und, dass eine wissenschaftliche Ordnung hineinkommt.

Frau Pankok, ich habe mir sagen lassen, dass diese ständige Ausstellung in der ehemaligen Scheune beziehungsweise dem früheren Atelier Ihres Mannes besonders stark besucht wird von der Jugend?

Ja, auch viele Jugendliche kommen und haben sich hier schon manchmal angesiedelt und gehen den ganzen Tag nicht fort. Sie spazieren mal durch den Wald, kehren zurück und sehen sich wieder ein einzelnes Bild an, – also so, wie wir es gern haben, dass die Kunst wirklich den Menschen noch bis ins Innerste zum Erlebnis wird.

ABSAGE: Rudolf Schröder führte dieses Gespräch mit Hulda Pankok.

Manuskript der Deutschen Welle, Deutsches Programm Kultur, Sendung vom 7. August 1969, Aufnahme vom 5. August 1969. Bd.-Nr.: A-181 328-69.

Otto Pankok

Gedanken zur letzten Ausstellung 1935 im Westfälischen Kunstverein in Münster 1981

Heute ist es kaum vorstellbar, welcher Mut 1935 dazu gehörte, Otto Pankoks „Passionszyklus“ von 60 Bildern auszustellen. Mit der Ausstellung „Die Westfront 1933“ in Essen wurde die Verfolgung eingeleitet, unterstützt durch Hetzartikel der Nazizeitung „Das Schwarze Korps“.

Pankoks Passionsbilder wurden abgehängt und zuerst nicht durch Bilder anderer Künstler ersetzt. Die leeren Stellen sollten die Künstlerkollegen vor unüberlegten Handlungen warnen.

Wohl war sich Otto Pankok über seinen geringen Einfluss klar und über seinen einsamen Posten, dennoch wollte er seinen Widerstand nicht aufgeben. Er schrieb darum an den Reichsleiter Alfred Rosenberg:

Sehr geehrter Herr Rosenberg,

Einer Ihrer Mitarbeiter in der Reichsleitung des Kampfbundes für deutsche Kultur, Herr Dr. Eckart, war in diesen Tagen in Essen, um die aufgehängten Bilder vor der Eröffnung der Ausstellung „Westfront 1933“ zu begutachten. Auf Befehl des Herrn Dr. Eckart wurden meine Bilder aus der Ausstellung entfernt:

  1. Einzug in Jerusalem.
  2. Christus in Gethsemane.
  3. Christus wird gegeisselt.
  4. Kreuzabnahme.
  5. Pieta.

Dieses Vorgehen gegen meine aus reinem Herzen entstandenen Werke könnte ein Vergehen gegen einen Maler sein. Es ist aber mehr. Ich bin mir mit allen Menschen, die meinen Zyklus sahen, bewußt, daß in diesen Bildern eine Tradition aus der reinen und schönsten deutschen Vergangenheit wieder auflebte. Wenn diese meine Bilder das Licht des Tages scheuen müssen, dann muß auch die große Vergangenheit ausgelöscht werden, dann muß das Volk vor Cranach, Dürer, Grünewald und Konrad Witz geschützt werden. Dann sind die Dome und Museen zu schließen.

An die Stelle meiner Christusbilder ersuchte mich Herr Dr. Eckart Landschaften zu hängen. Dieses Ansinnen zeigte mir, daß es ihm darauf ankam, das Bild der Ausstellung zu verharmlosen, den Anblick großen, ewigen Geschehens auszumerzen zugunsten angenehmer Lyrik. Ich bin aber des Glaubens, daß es ein Irrweg ist, wenn ein Künstler inmitten einer Zeit voll ungeheurer Aktivität und ungeahnten Geschehens, sich privaten lyrischen Gefühlen hingibt, und diese Dinge im Volk weitergibt, ihm damit sagend, daß die Kunst abseits vom Leben und von den geschichtlichen Vorgängen steht, daß sie harmloses Spiel sei und nicht der Extrakt der Zeit, wie sie es in Jahrtausenden vor uns gewesen ist.

Sollen sich die Künstler weiterhin vor dem deutschen Spießer beugen und ihre Lebensarbeit darin sehen, ihm seine Kleinbürgerwohnung mit hübschen Stillleben und Sonnenuntergängen zu dekorieren, so ist Herr Dr. Eckart auf dem richtigen Wege gewesen. Sieht man in der Kunst aber einen Niederschlag des großen Lebens und der großen Ideen der Zeit, sollen in ihr die Mitlebenden sich selbst, ihre Freuden und Leiden, Klärung und Tröstung finden, so geschah hier Unrecht und Sünde gegen den Geist der Kunst, und gegen das Volk.

Mit vorzüglicher Hochachtung, Otto Pankok

Der Erfolg dieses Briefes war der Ausschluß aus vielen künstlerischen Gemeinschaften. Die staatlichen Museen wurden schon überwacht. Pankok fand keinen Raum mehr, wo er sein Werk zeigen konnte.

Doch in dieser Situation meldete sich zu Pankoks Überraschung Professor Wackernagel vom Westfälischen Kunstverein in Münster und Dr. Kruse, Direktor des Museums in Mülheim-Ruhr. Sie teilten ihm mit, daß sie noch eine Ausstellung wagen wollten.

Inzwischen hatte auch der Verleger Kiepenheuer, Berlin, sich bemüht, vom damals noch bestehenden christlichen Kunstdienst die Druckerlaubnis zu erhalten. Sie wurde ihm für das Passionsbuch zugesichert, verbunden mit einer finanziellen Hilfe.

Ich fuhr nach Berlin zu Stephan Hirzel, welcher für den Kunstdienst zuständig war. Er rief sofort seine Mitarbeiter zusammen, die von dem Buch begeistert waren. Diese Phantasten waren davon überzeugt, daß sie im christlichen Raum noch zuständig seien. –

Der Kunstverein in Münster verwirklichte jetzt auch die Pankok-Ausstellung und stärkte damit den Mut der Künstler und erlöste sie für kurze Zeit aus der zunehmenden Resignation.

Die nachfolgende Mülheimer Ausstellung wurde sofort geschlossen, so daß die Ausstellung in Münster die letzte Möglichkeit war für Otto Pankok, durch seine Kunst die Menschen anzusprechen. Zehn Jahre, bis 1945, mußte er verstummen.

Inzwischen hatte Kiepenheuer den Druck des Passionsbuches begonnen. Pater Friedrich Muckermann, einer der mutigsten Männer des Widerstandes und ein aufgeschlossener Gelehrter, hatte die Einführung zum Buch übernommen. Doch noch bevor der Text gedruckt war, mußte er emigrieren. Pankok übernahm das Vorwort selbst und damit die alleinige Verantwortung für das Buch.

Das Vorwort begann: „Als die Sonne in dem schwarzen Meer erlosch und kein Stern am Himmel aufging, als die Wolken schwer niederfielen auf die Erde und des Donners Zorn aufbrach, da zitterte ich in der Finsternis. Da ward meine Harfe Klage und meine Pfeife Weinen.“

Und diese Traurigkeit war berechtigt. Das Buch erschien und es wurde sofort verboten. Man hatte gemerkt, welche gefährliche Waffe gegen das Böse dieses Buch zu werden drohte – das von Hand zu Hand weitergeleitet und überall diskutiert wurde.

Die Zeichnungen waren inzwischen in die Schweiz gebracht – nicht in guter Absicht, wie ein Schweizer Maler-Architekt Otto Pankok vorgelogen hatte. Doch eine verantwortungsvolle, verschwiegene Schweizer Kriminalpolizei jagte dem Dieb die Zeichnungen wieder ab und rettete damit die Passionsbilder – ein kleines Wunder.

Einen geringen Teil der Bücher rettete der Drucker Peter Marliani. Er trug in aller Heimlichkeit die Passionsbücher zum Landeshaus in Düsseldorf, wo er der Druckerei vorstand. Mit der Begründung, über die Drucksachen wachen zu müssen, schlief er auf den Büchern, die sein Bett füllten.

Pater Friedrich Muckermann schrieb über Pankoks Passionswerk: „Weltgeschichte ist es in der Tragik, die immer wieder Folterkammern bereithalten wird für die Söhne Gottes, Weltgeschichte, die immer wieder die satanischen Kräfte ins Feld führen wird gegen die göttlichen, Weltgeschichte, die den Erfolg ihrer brutalen Gewalten in Händen hält, und in der doch siegreich bleibt der Mensch der Passion, der aus dem Abgrund der Geschöpflichkeit wieder zum Kind des Schöpfers erhobene, der im Leiden wiedergeborene. – Aber auf dieser Erde wird dieser Sieg immer nur innerlich bleiben; denn noch hat der Fürst der Welt seine Stunde.“

Und Otto Pankok sagt: „Das ist der Schlüssel zur Kunst; die Starken müssen unten gehen, denn sie sind dazu da, die Welt zu tragen“.

In: Westfalen, 59. Bd., Münster: 1981, S. 136-137

Huldigung für Hulda Pankok

Die Mitstreiterin Otto Pankoks wurde 90 Jahre alt

Als Hulda Pankok zur Feier ihres 90. Geburtstages im Düsseldorfer Stadtmuseum ans Rednerpult trat, wurde es mäuschenstill im großen Saal. Auch die Neunzigjährige hatte nichts von der kaum zu definierenden Ausstrahlung ihrer Persönlichkeit verloren. Die kleinen Episoden, die sie zwanglos aus ihrem Leben an der Seite ihres Mannes Otto Pankok erzählte, das ohne Bruch doch zugleich auch ganz ihr eigenes war, sind Hinweise auf eine Gemeinsamkeit im Geist und Schaffen, bei der Geben und Nehmen sich auf den Waagschalen austauschten. „Ich habe nicht in seinem Schatten, sondern in seinem Licht gestanden“ – wer das sagt als Frau, muß sehr stark sein, sicher in sich ruhend, wie Hulda Pankok.

So sind Menschen, „die noch ganz bei sich selbst sind“, wie sie der Maler, Zeichner und Graphiker, der Bildhauer und Schriftsteller, der Düsseldorfer Akademieprofessor Otto Pankok liebte und überall suchte und fand: bei den Zigeunern im Düsseldorfer Heinefeld, mit denen er jahrelang lebte, den einfachen Menschen in den noch nicht zivilisationskranken Landstrichen Europas, den Fischern, Hirten, Handwerkern, Tagelöhnern in Jugoslawien, der Bretagne, Spanien und anderswo; den Juden, den Verfolgten der Nazidiktatur, zu denen auch Otto und Hulda Pankok gehörten. In Wort und Werk haben beide die Botschaft der Humanität unter die Menschen getragen. Aber nicht nur das: sie haben sie auch gelebt, haben danach gehandelt und dafür gelitten. Leben und Werk waren eins.

Immer wenn man auch heute nach Haus Esselt kommt, jenem ganz der Natur anheim gegebenen, mit ihr verwachsenen, noblen und schlicht bäuerlichen alten Herrensitz bei Hünxe-Drevenack, wo Otto Pankok mit Frau und Tochter Eva, der Malerin, seit seiner Pensionierung 1958 bis zu seinem Tod 1966 lebte, fühlt man sich geborgen. Alles kommt da, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, ins rechte Lot. „Bei uns werden die Menschen alle wieder natürlich, und jeder kann so sein wie er ist – er braucht keine Maske.“ Dieses Wort Hulda Pankoks zitierte Carl Lauterbach, der alte, treue Freund der Familie, in seinem Festvortrag.

Ja, so ist es. Hulda und Otto Pankoks Vermächtnis ihrer Gemeinsamkeit lebt weiter, wird bewahrt und gepflegt im Otto-Pankok-Museum, das seine Witwe und Tochter mit Hilfe der Otto-Pankok-Gesellschaft 1968 in einem Wirtschaftsgebäude von Haus Esselt, dem ehemaligen Atelier des Künstlers, eröffneten. Es wurde 1977 in eine Stiftung an das Land Nordrhein-Westfalen eingebracht. Jährlich kommen viele Tausende von Menschen in dieses Refugium, aus allen Himmelsrichtungen und über Grenzen hinweg. Sie empfinden das Heilende in diesem Stückchen Welt, in dem man die so verblüffend einfache Formel für die Lösung kompliziertester Spannungen und Probleme individueller oder auch gesellschaftlicher, politischer Art gefunden hat: Menschlichkeit. Hier ist sie nicht nur Phrase, sondern Lebensbedürfnis.

Die Kraft, das zu wollen und zu schaffen, kam dem Künstler und Menschen Otto Pankok und der einstigen Journalistin und Feuilletonistin, der Schriftstellerin und späteren Gründerin und Inhaberin des Düsseldorfer Drei-Eulen-Verlages Hulda Pankok, aus einem leidenschaftlichen und tiefen Einssein mit der Natur, die auch im Wesen des Menschen, seinen Leiden und Freuden, seinem Schicksal wirksam ist. Lange bevor diese Erkenntnis wieder zum Allgemeingut geworden ist, hat Otto Pankok in Werk und Wort auf ihre drohende fortschreitende Zerstörung und ihre notwendige, dem Leben dienende Bewährung hingewiesen. Keine Idylle ist da gemeint, auch kein Wildwuchs, kein Chaos, sondern ein Einswerden von Natur und Humanität. „Kein Gesetz, auch das beste nicht, kann die Liebe ersetzen“, hat Otto Pankok einmal gesagt.

Hulda Pankok, als Tochter eines Lehrers aus Passion und einer Theaterkritikerin am 20. Februar 1895 in Bochum geboren, jüngere Schwester des späteren Düsseldorfer Verlegers und Begründers der Zeitung „Der Mittag“, hat ihren Mann nach ihrer Ausbildung als Bibliothekarin, nach Studien in Literatur, Kunst, Philosophie und Nationalökonomie in Düsseldorf kennengelernt und 1921 geheiratet. Sie teilte Pankoks frühe wilde Jahre als engagierter Mitbegründer des Jungen Rheinland, war selbst als Theaterkritikerin im Düsseldorfer Kulturleben aktiv, schrieb auch über Frauenfragen. Bis zu seinem Verbot 1934 gehörte sie dem Vorstand des Bundes der Mütter und Erzieherinnen an, der sich für Völkerverständigung und Schüleraustausch über die Grenzen hinweg einsetzte.

Hulda und Otto Pankok wurden zum Mittelpunkt eines lebenslangen großen Freundeskreises. Carl Lauterbach erinnerte sich an die Geburtstagsfeste im Haus an der Brend’amourstraße 65 in Oberkassel, wo sich auch Louise Dumont, Gustav Lindemann, Herbert Eulenberg, die Bildhauerin Eva Brinkmann, der Komponist Karl-Ludwig Müller (der Gedichte Otto Pankoks vertonte), der Radierer Werner von Scheidt und seine Frau, die Dichterin Martha Saalfeld, trafen; Theo Champion auch, Werner Gilles, der Schul- und Jugendfreund Pankoks, oder Hannes Küpper aus Essen, der Herausgeber des „Scheinwerfer“.

Als die goldenen zwanziger Jahre in die braunen dreißiger mündeten, gerieten auch Otto Pankok und seine Frau in die Mühlen der Zeit. Hulda Pankok wurde 1936 das Reden und 1938 jede schriftstellerische Tätigkeit verboten. Die damals verfemte, nahezu 60 Kohlebilder umfassende „Passion“ Otto Pankoks haben Hulda und Eva Pankok im vergangenen Jahr der Stadt Düsseldorf als Dauerleihgabe gestiftet. Sie wird im wiedereröffneten Kunstmuseum in einem eigenen Raum ständig ausgestellt: auch sie eine aus dem Leid der Verfolgung geborene, erschütternde Mahnung zur Menschlichkeit. Der Freundeskreis des Stadtmuseums übergab anläßlich des Geburtstagsempfangs Pankoks Kohlezeichnung „Die scheidende Jüdin“. Gleichzeitig konnte Dr. Manfred Droste, der Neffe der Jubilarin, den ersten Band „Die Holzschnitte“ des im Droste-Verlag erscheinenden kompletten Werkverzeichnisses Pankoks vorstellen.

Yvonne Friedrichs
In: Das Tor, Heft 4/ 1985, 51. Jg., S. 20, 22.

Hulda Pankoks Lebensweg

Am 20. Februar 1895 wurde sie als sechstes Kind der Theaterkritikerin Julie Droste (geb. Sassenberg) und des Lehrers Wilhelm Droste in Bochum geboren. In Sölde verbrachte Hulda ihre Ferien beim Großvater Sassenberg, der Bergwerksdirektor war. In Bochum besuchte sie die Höhere Töchterschule und schloss diese mit dem Abitur ab. Ab 1913 besuchte sie in Bonn eine Hauswirtschaftsschule. Im Anschluss daran ließ sie sich in Essen zur Bibliothekarin ausbilden. Die 1. Anstellung erhielt sie in Essen; in Bochum richtete sie die erste Kinderbibliothek ein. Nach Kriegsende studierte sie für kurze Zeit in Jena Kunstgeschichte und Literatur.

Hulda Droste ging 1919 nach Düsseldorf und arbeitete als Kulturjournalistin in der von ihrem Bruder Heinrich Droste herausgegebenen Düsseldorfer Zeitung, ebenso im Mittag, der seit Mai 1920 im Droste-Verlag erschien. 1920 bekam sie Kontakt zur Avantgarde-Kunstgalerie von Johanna Ey und lernte dort u. a. den Maler und Zeichner Otto Pankok kennen, Mitglied der Gruppe Das Junge Rheinland (s. die Darstellung ihrer 1. Begegnung in Die Kunst von heute von 1928 in diesem Text-Forum). Hulda Droste und Otto Pankok heirateten 1921; sie arbeitete weiter als Journalistin. Nach der Geburt der Tochter Eva 1925 erfolgte der Umzug in das Haus in der Brend’amourstraße 65 in Düsseldorf-Oberkasssel, das zu einem künstlerischen Zentrum der Stadt wurde. Hier trafen sich u.a. die Lyrikerin Martha Saalfeld, der Grafiker Werner vom Scheidt, die Theaterleiter Louise Dumont und Gustav Lindemann, die Bildhauerin Eva Brinkmann und das Schriftstellerehepaar Herbert und Hedda Eulenberg.

Der journalistische Wirkungskreis Hulda Pankoks erweiterte sich auf die Frauenbeilagen des Düsseldorf Stadt-Anzeigers und der Gladbach-Rheydter Zeitung, auf den Schacht. Westdeutsche Wochenschrift für Kunst, Wissenschaft und Volksbildung und auf den Scheinwerfer. Blätter der städtischen Bühnen Essen. Als freie Mitarbeiterin war sie auch beim Westdeutschen Rundfunk tätig. 1929 folgte sie den Spuren El Grecos in Spanien und schrieb 12 Rundfunkbeiträge über ihre Kunstreise, die sie zusammen mit Otto Pankok unternahm.

1931 entwickelte Hulda Pankok für den Mittag die Kulturbeilage Geistiges Leben und steuerte in den folgenden Jahren eine Fülle von Buchbesprechungen bei, Darstellungen zum zeitgenössischen Theater und kulturphilosophische Essays, die von einer wertkonservativen und zugleich liberalen Grundhaltung geprägt waren. In den Anfangsjahren des Dritten Reichs wich sie auf historische und frauenspezifische Themen aus, bei denen sie ihre Grundüberzeugungen verdeckt zum Ausdruck brachte.

Seit 1936 unterlag Otto Pankok einem strikten Ausstellungsverbot. 1937 erhielt Hulda Pankok Schreibverbot, das sie jedoch umging, indem sie unter dem Pseudonym Anna Sasse und Henriette Reiser schrieb. Von ihrem Bruder erhielt sie für den Droste Verlag Lektoratsaufträge. Nach einer nur knapp abgewendeten Verhaftung Otto Pankos durch die Gestapo, zogen die Pankoks 1938 nach Bokeloh ins Emsland. 1941 zogen sie sich in die Eifel zurück, zunächst nach Iversheim und 1942 nach Pesch, wo ihr Domizil einige Flüchtlinge beherbergte. Die Befreiung durch die Amerikaner wurde zu einem Freudenfest.

Mit der Gründung des Drei Eulen Verlags im März 1946 verfolgte Hulda Pankok mehrere Ziele. Nach der Zeit der intellektuellen Leere und Verrohung während der Nazi-Herrschaft wollte sie dem ausgehungerten deutschen Lesepublikum neue Horizonte eröffnen durch die Übersetzung ausländischer Literatur. Im Dritten Reich verbotenen Autorinnen und Autoren gab sie eine Stimme und das im Untergrund entstandene Werk verfemter Maler und Grafiker dokumentierte sie in Bildbänden und Mappen. Ein weiterer von ihr ausgebauter Bereich war die Pflege des klassischen deutschen Erbes von Kant über Goethe, Heine bis zu Mörike.

Das zerstörte Haus in der Brend’amourstraße konnte 1947 wieder bezogen werden. Im gleichen Jahr hielt Hulda Pankok bei der Beerdigung von Mutter Ey, der frühen Förderin von Otto Pankok, eine viel beachtete Grabrede (s. die Rede in diesem Text-Forum). 1949 legte die Verlegerin das kleine Unternehmen still, da es bedingt durch die Währungsreform und durch das Nachlassen des Lesehungers zu wirtschaftlichen Engpässen gekommen war.

Sie engagierte sich Anfang der 50er Jahre vehement gegen die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik und beteiligte sich 1951 an der Gründung der „Deutsche Frauenpartei“, deren Vorsitzende sie wurde (s. ihre Darstellung in diesem Text-Forum). Da die Wirkung dieser Partei sehr eingeschränkt war, wählte sie sich ab 1953 mit der von Helene Wessel und Gustav Heinemann gegründeten „Deutschen Volkspartei“ eine neue Heimat für ihr politisches Engagement.

An der Aussöhnung zwischen dem damaligen Jugoslawien und der vormaligen Besatzungsmacht Deutschland hatte Hulda Pankok wesentlichen Anteil. Auf Grund ihrer antifaschistischen Haltung wurde sie offiziell von der Ministerin für soziale Angelegenheiten Vida Tomšič eingeladen als erste Vertreterin Deutschlands. Hulda und Otto Pankok fuhren in den 50er Jahren mehrfach nach Jugoslawien zu den neuen Freunden. Über ihre Erlebnisse in Jugoslawien schrieb sie einen Reisebericht, Jugoslawische Erlebnisse (1961), in dem sie besonders die Integrationsleistung des jugoslawischen Staates bezüglich seiner vielen Ethnien hervorhob.

Nach dem Ende von Otto Pankoks Professur an der Düsseldorfer Kunstakademie zog man 1958 nach Drevenack in das „Haus Esselt“. 1966 starb Otto Pankok nach schwerer Krankheit. Zwei Jahre später gelang es Hulda Pankok und ihrer Tochter Eva das Otto-Pankok-Museum zu eröffnen, wo sie regelmäßig Besuchergruppen durch die Dauerausstellung führte und themenbezogene Sonderausstellungen erarbeitete.

An der Veranstaltung im Düsseldorfer Stadtmuseum zu ihren 90. Geburtstag konnte Hulda Pankok im Februar 1985 noch teilnehmen. Am 8. September starb sie.

© Ariane Neuhaus-Koch, Frauen-Kultur-Archiv