Frauen-Kultur-Archiv

Hulda Pankok Textforum
Texte 1928-1936

Die Kunst von heute

Zur Ausstellung der Künstlergruppe: "Das junge Rheinland"

Immer wieder drängt es mich dazu, mich für die holde Kunst einzusetzen, da ich ein Mensch von heute bin. Und da mein Herz gläubig ist, muß es dafür zeugen, denn der Stimmen, die dieser Zeit außer der technischen Tatkraft jede künstlerische Schöpferkraft absprechen wollen, oder wenigstens aber die Notwendigkeit der künstlerischen Werke in unserer Zeit anzweifeln, werden immer mehr. Darum allein ist es vielleicht schon eine Versündigung am Geiste, wenn man sich nicht laut durch Worte dafür einsetzt. Selbst dann, wenn man selbst dem Worte nicht mehr jene Bedeutung beimißt, wie es eine vorhergehende Zeit getan hat. Denn ich weiß, daß meine Worte, selbst dann, wenn sie aus gläubiger Inbrunst dringen möchten, niemals jene suggestive Kraft haben können, wie sie das echte Kunstwerk selbst hat. Auch dann hat, wenn der Einzelne im Oberbewußtsein sich nicht eingestehen will. Denn darüber müssen wir uns doch klar sein, daß das Kunstwerk so schwer sein will wie das Leben selbst, aus dem es kommt. Für den, der es äußerlich anfaßt, ohne Liebe und ohne Versenkung, bleibt es ewig verschlossen. Genau so wie das Leben aber tut es sich dem auf, der sich ihm in Liebe hingibt. Das ist der springende Punkt. Nicht in kritischer Einstellung wird das Publikum dem Kunstwerk nahekommen, sondern nur durch liebevolle Versenkung.

Nur der schöpferische Mensch, nicht der zersetzend negativ eingestellte, wird ein Kunstwerk voll aufnehmen und in sich selbst neu gebären können. Denn die heutige Zeit ist nicht leicht zu fassen. Sie ist nicht von einer Weltanschauung getragen, die nur in einem Stil Form wird. Darum ist es schwer, rein äußerlich sich zu orientieren, denn kein Wegweiser ist da, keine Ismen geben den richtungsgebenden Wink. Der Expressionismus, der notwendig war, um die Form der rein auf äußerliche Eindrücke eingestellten Kunst zu sprengen, hat sich ausgetobt, und es zeigt sich heute nun, wer von den damals revolutionär sich gebärdenden Künstlern nur die revolutionäre Geste hatte oder wer aus dem Blute heraus Fesseln sprengte.

Da der äußere Eindruck einer Kunstausstellung heute ruhiger anmutet, wie zum Beispiel die Jungrheinland-Ausstellung vor sieben Jahren in Düsseldorf, werden Stimmen laut, daß diese Kunst, die heutzutage von den Museumswänden blickt, eigentlich gar keine Berechtigung hat, da sie ganz außerhalb des rasenden Tempos der Zeit stehe. Was sollen uns heute, so heißt es, noch diese Landschaften, Sonnen, Blumen, sanften Frauen, diese Menschenkörper, heute, wo der Hammer regiert, die glühenden Hochöfen und das Auto und das Flugzeug und die Kraft des Sportmanns. Was soll uns diese anscheinend unzeitgemäße Kunst? Diese so fragenden Menschen vergessen, daß ihre Sehnsucht in Wirklichkeit oft zwar nur für Sekunden diesen unzeitgemäßen Elementen wie Sonne und zarten Kindern gehören. Sie erahnen nicht, daß ihr Hetzen ein Betäubungsmittel ist, denn sie haben nichts mehr, woran sie sich halten können. Die Religion ist nicht mehr für jeden eine Stütze und kein Bindungsmittel mehr des ganzen Volkes. Darum die Lautheit und das Rasen unserer Zeit. Nur Wenige haben Kraft, in diesem Tempo und in diesem Wirbel ruhender Pol zu bleiben, an dem wir uns halten können. Wie müßten wir eigentlich diese geistigen Kraftmenschen lieben, die in unserm zeitgemäßen Tun die unzeitgemäßen Güter, die aus vergangenen Jahrhunderten bindend in die kommenden Jahrhunderte weisen, die uns diese Güter erhalten. Wie müßten wir eigentlich diese Menschen lieben, die noch den Glauben sich bewahrt haben an das Unbegrenzte und Unerforschbare, das sich offenbart in Sonne, Mond und Sternen und in jedem Menschengesicht. Welche Liebesquellen graben diese Menschen uns auf, die uns ein Halt zurufen bei unserm unsteten Tun! Wir müßten sie lieben, denn sie, diese schöpferischen Menschen geben uns den Halt wieder, den nur Religion geben kann. Über das Zeitgemäße, das der Mensch hier auf Erden zeitbedingt schafft, weist der Künstler, der aus Blut und Instinkt schafft, auf Ewigkeitswerte, die wir Menschen brauchen wie das tägliche Brot. Er zeigt den Wald, und wir erahnen, was hinter dem Wald ist: eine Unendlichkeit des Raumes Gottes, daß wir erschauern vor dieser Göttlichkeit. Daß wir erschauern in Demut, wie dieser Künstler erschauerte, als in gnadenvoller Stunde er sein Wer schuf. Demütig schuf, fühlend, daß er selbst nur ein ausführendes Werkzeug einer größeren Macht ist. Denken Sie hierbei an Pankok, van Gogh, Munch, Dostojewski. Denken Sie auch an die früheren diesen verwandten, an Hercules Segers, Greco und Grünewald, an die Gotik und an die frühen Christen. Hier zeigt sich der rote Faden, der sich durch die Jahrhunderte zieht, und der beweist, daß diese anscheinend unzeitgemäße Kunst in Wirklichkeit überzeitlich ist.

Neben Werken dieser ekstatischen Menschen stehen solche, die grausig klar uns das Nebeneinander von Natur und Technik zeigen. Kein Bild ist mehr reine Natur. Eine Baggermaschine ragt auf. Ein von Menschen geometrisch genau eingefaßtes Wasserbett zerreißt die Landschaft. Das Grandiose geknebelt! Bösartig legt es sich auf das Gemüt des Beschauers. Ein geistiges, kein äußerliches Erfassen unserer Zeit, des zähen Kampfes, den die Natur mit der Technik führt. Natur – Technik: ein Zwiespalt, der uns zum Beispiel aus den Bildern von Max Ernst in dieser Ausstellung entgegenweht, ein Zwiespalt, der uns Angstträume einjagt und uns beunruhigt, denn die Gottheit liegt tief geknebelt. Man hat Angst. Aber diese Angst soll geboren werden! Das will dieser Künstler. Er gibt uns keinen Halt wie der ekstatische Mensch. Er läßt uns manchmal in dieser Angst ersaufen.

Und neben diesen Dämonisch-ekstatischen und diesen letzteren Zwiespältigen sehen wir den klar Zupackenden, der in seinen Bildern den Fingerabdruck unserer Zeit gibt, es ist der sachliche Mensch, der sagt: so ist es. Seine Bilder sind genau so richtig, wie ein Rechenexempel richtig ist. Wie eine vernunftgemäße logische Antwort sprechen uns die Bilder der Sachlichkeit an. Auch diese Künstler haben ihre persönliche Berechtigung, die Berechtigung ihrer zeitlichen Aussage. Aber der Geist schreit nach Geist, wenn auch die Vernunft zufrieden ist, und wir vermissen bei diesen Bildern das, was hinter dem Vernunfterfaßten unberührt und unerforschlich liegt. Kalt bleiben wir und gefühllos. (In dieser Ausstellung fehlt die Kunst der Sachlichkeit.)

Den Gegenpol zu den Ekstatischen der neben den Zwiespältigen und den Sachlichen besteht, bilden die Menschen, die nicht wie die Ekstatischen aus den Urgründen des Instinktes schaffen, sondern deren Werke ein sinnbar werdendes Blühen des Lebens geben, ohne die Abgründe des dämonischen Menschen. Es sind jene Künstler mit den sinnfälligen Bildern, die gefüllt sind mit dem sinnlich faßbaren Leben. Man kann hier an die französische Malerei denken, die unsern Augen ein Fest ist, ein blühendes Fest von Farben und Formen, ein Fest den Sinnen. Sie sind abseits von den Höhen und Abgründen des ekstatischen Menschen. Denken Sie hier an Liebermann, Manet und den frühen Renoir. In dieser Ausstellung ist H. B. Hundt dieser Art Kunstoffenbarung am nächsten.

Nichts liegt mir natürlich ferner als hier Künstler systematisch einzuteilen. Mir liegt nur daran, ein wenig orientierend über heutige Kunst zu sprechen, um zu zeigen, daß Kunstausstellungen heute ein vielseitiges Gesicht zeigen müssen, genau so vielseitig wie die Zeit selbst. Ich wollte zeigen, wie diese verschiedenen Weltanschauungen nebeneinanderherlaufen, sich ergänzend zu einem Gesamtbild des Suchens und auch schon Gefundenhabens unserer Zeit: Da steht der ekstatisch-dämonische Mensch, der aus den Urgründen des Blutes und Instinktes schafft als einsamer ruhender Pol, an dem wir uns halten können, da steht der Mann mit der ehernen Stirn, der die Kraft in sich hat, den bösen Zwiespalt: Natur – Technik zu gestalten; da steht der Mann mit der sinnenfreudigen Seele und läßt unter seinem Pinsel blühen und daneben steht der Vernunftmensch der Zeit, der sachliche Bilder schafft. Bilder, die unsere Seele kalt lassen in ihrer Seelenlosigkeit. Diese Künstler teilen den Pessimismus unserer Zeit und haben im Grunde den Zweck ihres Berufes verloren. Des Berufes, zu dem die Künstler aller Jahrhunderte berufen waren, dem Geiste zu geben, was des Geistes ist, oder: um ihren Träumen zu trauen, ihren Träumen, die aus Unbewußtem kommen und kraft des Geistes Gestalt gewinnen. Träume – aber nicht kalte Abrechnungen. – Nun habe ich doch Stellung genommen, sogar eine ganz persönliche, die man mir aber verzeihen wird. Denn wieder muß ich betonen, auch dieser Weg war notwendig und führte zu einem Ziel.

Denn der Gedanke der Sachlichkeit hat in der angewandten Kunst, der Architektur, die Zweckbauten macht, tiefste Berechtigung. Da führte uns die Sachlichkeit heraus aus dem verlogenen Ballast des Stuckes und wir erkannten wieder die Schönheit einer ruhigen Front, der geraden Linie. Die Linie einer derartig ruhigen aufgeteilten Häuserwand gibt der Straße Ruhe, drängt sich nicht mehr störend auf. Diese einfachen Linien in den Wohnräumen mit den geradlinigen ruhigen Möbeln geben uns wieder die Ruhe und Weite, die zu innerer Sammlung notwendig ist. Wir werden von diesen Häusern, diesen Möbeln nicht mehr aufgesogen. Wir sind frei von ihnen, keine Sklaven.

Und diese ruhigen einfarbigen Wände können auch wieder Bilder zu den Menschen predigen lassen, frei und ungehemmt. Zwar keine gemütlichen Bilderchen im Goldrahmen, sondern Bilder, die in ihrem geistigen Gehalt (nicht durch äußere Größe natürlich) diese Wände füllen, diese schlichten Räume leben lassen im Geiste seines Bewohners, der das Bild seines eigenen Blutes hineinhängen wird. Es kommt darauf an, wozu er sich persönlich hingezogen fühlt, ob er blutsverwandt ist mit den ekstatischen Künstlern oder ob seine Seele dem sinnenfreudigen, dem zwiespältigen oder dem sachlichen Menschen gehört. Es ist ein Irrtum, wenn selbst in Malerkreisen die Befürchtung auftritt, daß ihre Bilder in sachliche Häuser nicht passen.

Die einfache Geste mit tiefstem Gehalt.

Darum allein brauchen wir schon nicht zu verzweifeln an unserer Zeit, denn in ihr war es möglich, den einfach sachlichen Stil des Bauwerkes zu gestalten. "Die einfache schlichte Geste". Ja, daß wir sie finden konnten, wiederfinden konnten diese einfache Geste, das schon allein kann uns zukunftsfreudig machen. Nicht Armut des Geistes, sondern Demut des Geistes ließ uns die einfache Linie wiederfinden, die einfache Wand, die nach echten Bildern schreit.

Leider haben wir noch keinen sachlichen Museumsbau, verloren und nicht zu Hause so schauen mich immer die Bilder von den viel zu hohen oft reichlich verstuckten Museumswänden an. Sie sind meistens verloren und einsam in diesen Räumen, wie es der Künstler anscheinend selbst im Getriebe der heutigen Welt ist, in einer Welt, in der Luxus war und sein sollte und sie ist doch notwendiges Brot. Des wollen wir eingedenk sein, daß der Leib tot ist ohne Geist.

Solange Menschenherzen lieben, werden Bilder in Räume gehängt. Und gerade der sachliche Bau gibt ihnen den ruhigen Raum, den sie mit ihrem Geiste füllen können. Der sachliche Raum gibt nur die Umrahmung, die jeder mit seinem eigenen Traume füllen muß. Das ist der Stil unserer Zeit: Der sachliche Bau gefüllt mit lebendigen Bildern.

In: Der Schacht. Unpolitisches Wochenblatt für bewußte Kulturarbeit im Ruhrgebiet. 4. Jg. 18. Heft. Januar 1928.

Die unproblematische Frau

Wer den Querschnitt durch unsere Zeit macht, um den regierenden zeitgemäßen Frauentyp herauszukristallisieren, der glaubt ihn am besten zu fassen im Girl und in der Frauenrechtlerin. Und in Wirklichkeit ist die Frauenrechtlerin, sieht man sich nur die organisierten Verbände an, weißhaarig. Sie gehört in ihrem ganzen Gedankengang nicht in unsere Zeit. Das sporttreibende Girl aber ist eine Maske, hinter der sich oft eine tiefempfindende Frauenseele verbirgt. Die Frau von heute, die wesentlich ist, tritt wie zu allen Zeiten mit verschiedenem Äußeren, mit verschiedener Geste auf, aber alle verbindend ist – der vergangenen Frauengeneration konträr – ihre Problemlosigkeit, die erklärbar ist aus der kämpferischen Situation, in die jede Frau hineingesetzt wurde. Denn in Augenblicken, da der Mensch Tiefgehendes erlebt, hört für ihn die gedankliche Auseinandersetzung von Problemen auf, da philosophiert er nicht. – Ein Liebender liest keine Liebesromane, oder höchstens um seinem eigenen Lied zu lauschen, und kein Abenteurer liest Abenteuerromane. Er erlebt sie. Eine Frau, die schafft, die erlebt, wälzt keine Probleme über ihr Geschlecht und seine Möglichkeiten. – Daraus erklärt sich ihre heutige Problemlosigkeit. Denn sie ist wirklich unproblematisch im Gegensatz zur vergangenen Generation, die Vortrupp war für unser Geschlecht. Aus wohlsituierter Bürgerlichkeit heraus kamen alle jene Frauen, deren Namen wir mit verstehender und dankbarer Liebe als unsere Vorkämpferinnen nennen, mit denen uns heute aber weiterhin keine Bande des gemeinsamen Kampfes mehr verknüpfen. Noch einmal: aus wohlsituierter Bürgerlichkeit, die überwunden wurde, kamen jene Frauen, die das Votum der Blaustrümpfigkeit auf sich nahmen, die wie Berserker kämpften für das Kind, für die geistige Freiheit eintraten und sich und ihr Glück für diese Idee opferten. Die heutige wesentliche geistige Frau, von der hier nur die Rede sein kann, kämpft für alle diese Ideen nicht mehr, nicht weil diese Ideen restlos Erfüllung wurden, sondern weil das gedankliche Erbe ihrer Vorkämpferinnen schon eine Blutangelegenheit dieser heutigen Frau wurde. Sie lebt nicht mehr in Gedankenkonstruktionen der Idee, sondern sie erlebt ihre Idee.

Vielleicht ist dieses selbstbewußte, selbstverständliche, problemlose Tun nicht nur erklärbar aus dem sicheren Erbe vergangener Frauengenerationen, sondern noch mehr aus der alles zum Wanken gebrachten Kriegszeit, die alle Länder, ob beteiligt oder unbeteiligt, wach rüttelte. Das Leben des Wohlbehagens – das Leben, das auf Lebensversicherung eingestellt war – wurde vernichtet, und nur der Tapfere, der kräftig sein Gehirn auf diese wechselnden Kurse hier einstellte, oder der Phantast, dessen Blick auf die Sterne sich richtete, behielt einen klaren Kopf. Und diese Bindung: erdhaft und geistig – aus dieser Bindung entstand die wesentliche heutige Frau. Nach Shakespeare geben wir Menschen den Sinn. Nach ihm ist alles sinnlos rätselhaft, nur wir Menschen geben den Dingen den Sinn. Diese aus der Enge des fraulichen Seins herausgerissenen Wesen, die anscheinend ihren Grund verloren, sie gaben mit der Kraft ihrer Wurzeln, die überall Boden faßten, ihrem Dasein einen, nämlich ihren Sinn. Diese selbstverständliche Sinngebung des eigenen Lebens, das bedeutete die geistige Befreiung dieser Frauengeneration.

Diese Frauen, so schien es, kämpften nicht mehr für ihre Schwestern, sie kämpften anscheinend nicht mehr für die Idee, sie taten nichts anderes als ihr eigenes kleines zum Wanken gebrachtes Leben wieder auf sichere Beine zu stellen, um des eigenen Glückes und des Glückes ihrer Geliebten, die doch letzten Endes der tiefste Sinn eines jeden Frauenlebens ist. Und da sie dies taten, ihr kleines Leben aufbauten mit männlicher Tatkraft, da wirkten sie oft wie Männer, und Entsetzen ergriff alle, denen es um unsere Kultur ernst war.

Sie sahen nicht, daß hinter dieser weiblichen Stirn ein zielbewußter Wille am Aufbau einer Welt arbeitete, in der das Frauensein sich erst ganz entfalten konnte.

Um die Gestalt dieser neuen Frau – deren Erkennen Beglückung sein muß für jeden, dem es um die Gestaltung unserer Zeit ernst ist – ganz klar herauszustellen, zeige ich jetzt an wesentlichen Frauentypen aus Frauenromanen, daß diese unproblematische Frau, deren Erscheinen ich als ein Aufbauzeichen unserer Zeit erkennen möchte, da ist. Erkennbar wird all die kommende und gegenwärtige Wesenheit am ersten in der Kunst, die doch der Spiegel einer Zeit ist – das Staubecken, das alle geistigen Niederschläge sammelt!

Eine Frauengestalt, die den aufbauenden Frauentyp darstellt, ist Elsa in dem letzten Roman der Martha Ostenso: "Die tollen Carews". Es ist die Frau, die, ohne es zu wissen, ganz unproblematisch, in ihrer eigenen Welt lebt. Einer Wahrheit, der sie auch um ihrer Liebe willen keinen Zwang antun kann. Es ist nicht mehr die Frau, die still leidet, - auch nicht mehr die Frau, die den Begriff des Opfers kennt, das Resignation zur Folge hat. Nein, es ist die Frau, deren innere Wahrhaftigkeit so stark ist, daß sie von ihr beherrscht wird, daß sie ihr dienen muß. Diese Frau wird von einer inneren Gewalt geleitet und sie ist noch, oder – wenn wir auf die vergangene Generation zurückschauen – vielleicht besser – wieder so instinktsicher, daß sie dieser inneren Gewalt gehorcht. Nichts Sentimentales weht durch das Leben einer derartigen Frau. Nur ein wahrhaftiger Mann hält diese herbe reine Frau aus.

Sonderbar würde unsere vergangene Generation diese Frauengeschichte anmuten, in der eine Frau nicht mehr Spielball von Gefühlen und nicht mehr der passive Teil zu sein scheint, sondern in der sie letzten Endes fast die Verantwortlichkeit für das innere Glück ihrer Familie und der kommenden Generation zu tragen hat. Es ist, als wenn diese Frau wie vor undenklichen Zeiten wieder so etwas wie eine priesterliche Mission zu erfüllen hätte. Die Wahrhaftigkeit einer jeden Geste, die zwischen ihrem Mann und ihr gewechselt wird, die Reinheit des Erlebnisses, das ihr Liebe heißt, ist ihr wichtiger als alles andere auf der Welt. Die äußere Zerrüttung ihrer Lebensverhältnisse, die Elsa erleben muß, alles was in früheren Frauenromanen wichtig zu sein schien, fällt hier im Gedanken- und Gefühlskreis einer derartigen Frau als unwichtig fort oder besser noch, es berührt ihr Wesentliches nicht.

Vielleicht wird dies noch klarer, wenn wir die Frauenreihe betrachten, die uns aus Margarete Kennedys Roman: "Die treue Nymphe", entgegenkommt. Dieser Sangersche Cirkus – wie die englische Aristokratie das Landhaus des Komponisten Sanger taufte – birgt den rührendsten Ausdruck der Frauen, die unsere Zeit hervorbringen konnte. – Da ist die zarte kleine Tessa, die schweigend, unbesiegt und jung starb, die noch im letzten Augenblick, da sie den Tod fühlte, kein Wesens von sich machen konnte – die sich keinen Augenblick ihres Lebens so wichtig vorkam, daß sie andere mit ihrem kleinen Wesen belastete – und der die Ruhe ihres Geliebten wichtiger war als ihre glänzende prachtvolle Schale, die der Onkel ihr bescherte und die der Geliebte in böser Stimmung zerschlug. Als man ihren Geliebten darum schelten wollte, kehrte sie ruhig die Glasscherben auf und wußte so gut, daß ihr Geliebter zu klug und sein Wesen zu tief war, um diese Schale wichtig zu nehmen, und daß es im Leben so wichtig ist, das eigene Herz nicht an äußere Dinge zu hängen, denn eine Schale braucht schon, um zu glänzen, ein Heim, und das durfte sie sich bei ihrem ruhelosen weltabgewandten Geliebten und auch aus der Wahrheit ihrer eigenen Seele, die alles dies als Belastung empfand, gar nicht wünschen. Alles Böse wird in der Atmosphäre dieser kleinen Tessa gut. Und da ist die Frau, die ihr den Geliebten nahm, ohne daß sie oder der Geliebte es wußte; die stolze schöne englische Aristokratin Florence, die aus der Sicherheit ihres bürgerlichen Lebens heraus alles harmonisch zu sehen gewohnt war. Auch sie gehört zu dem neuen Frauentyp. Denn aus ihrer umfassenden Bildung, aus ihrem wohlgeschulten und weitblickenden Gehirn heraus hat sie nicht mehr die Grenzen, die früheren Frauenanschauungen anhafteten. Und ihre Seele flattert voll Sehnsucht heraus aus der Konvention ihrer Gesellschaft nach dem Sangerschen Cirkus hin, in dem eine herbe und frische Luft weht. Sie läßt sich dort fangen, sie liebt und sie liebt in ihrem Mann all die Hemmungslosigkeit, die schöpferische Kraft gegen alle Bindung, wie sie Konvention und Geselligkeit mit sich bringt, instinktiv hat. Aber ihre Liebe möchte dem Manne ihrer Liebe doch auch die Anerkennung und den Lorbeer – den die Gesellschaft auszugeben hat, und der nach ihrem Glauben der künstlerischen Qualität ihres Mannes geziemt – erobern. Wodurch? Durch die einzige Möglichkeit, durch die Geselligkeit, durch die Gesellschaft, in die sie ihren einsamen hemmungslosen Mann hineinziehen will. Sie verpflanzt wilde Blumen in einen künstlichen Garten. Aber die Urkraft ist zu groß. Es gelingt ihr nicht. Sie muß einsehen, daß dieses selbstgewählte Außenseitertum des Sangerschen Cirkus keine Laune, sondern eine Blutangelegenheit ist.

Durch alle heutigen Frauenromane geht diese Erkenntnis, daß jeder Mensch in seinem eigenen Ich befangen ist, daß also jeder Mensch eigentlich gar nicht anders als aus der Erbanlage heraus handeln kann. Darum fehlt diesen Büchern und diesen Frauengestalten alles Moralinsaure und alles Unreine. Wäre uns in Frauenbüchern der vergangenen Generation die wunderhübsche Antonie aus Sangers Cirkus begegnet, die aus ihrem väterlichen Haus entwich, so wäre aus diesem Erlebnis ein dramatischer Konflikt zugunsten der der Frauenpsyche oder ein ungeheuerliches sexuelles Problem entstanden. Hier ist das Problem verschoben und löst sich auf. Es wird problemlos. Und dies ist so wichtig, daß wir dieses Erlebnis näher betrachten müssen. – Antonie liebt ihren häßlichen Mo, was dieser bei der Schönheit Antonies kaum erwarten konnte. Sie liebt ihn und wird ihm, das fühlt man, eines Tages mit aller Reinheit ihres liebenden Herzens gehören. Mo aber begeht die Sünde, diesen Moment der Hingabe zu verpassen und einen durch äußere Umstände (Alkohol) anscheinend für ihn sicheren Augenblick der Selbstauflösung zu nehmen, um sich ihrer Liebe zu erfreuen. Aber er hat nur ihren Körper, nicht ihre liebende Seele besessen, das fühlt dieser Mann, dem viele Frauen begegneten, aber keine so wahrhafte, in ihrer Liebe so grenzenlose wie Antonie. Und diesen Kaufmann Mo befällt nach seiner Tat eine grenzenlose Traurigkeit, denn er kann es nicht glauben, daß es zwischen ihnen wieder gut werden kann, denn sie hat das unheimliche Gesicht der seelenlosen Begierde gesehen, sie, diese gesunde triebhafte Frau, die einen seelenlosen Trieb in sich nicht kannte. Seine Traurigkeit löste aber dieser in sich verkrochenen Frau die Zunge, so dass sie zu ihm gehen konnte. Denn sie erkannte in seiner Traurigkeit seine verschüttete Seele, die ihr gehörte und über die sie in Liebe zu wachen von jetzt ab ihre Berufung sah. So konnte dem ersten fruchtbaren Begegnen Vergessenheit in ihrer Liebe werden. Diese Antonie, die als Geliebte um die Seele ihres Mannes trauert, die sie bei der ersten Umarmung nicht gefühlt hat und die durch ihre keusche Zartheit diesen anscheinend seelisch Verschütteten zu zartesten und reinsten, ersten Liebesgefühlen unbewußt zwingt, ist eine der edelsten Frauengestalten unserer modernen Literatur.

Der Geschlechterhaß, der früher durch alle Bücher wehte, der besonders stark in Frauenbüchern zum Ausdruck kam – der stärksten Ausdruck bei Wedekind fand -, er fehlt in dieser neuen Frauenliteratur. Aufgelöst wird die Verschiedenheit der Gefühle hier stets durch die Liebe der verstehenden Frau.

Wichtig allein ist der heutigen Frau ein Leben, das sie voll und ganz bejahen kann. Nicht passiv, sondern aktiv steht sie ihrem Leben gegenüber, in dem Glauben, daß sie dazu da ist, es fruchtbar zu gestalten. Ein derartig aktives Leben läßt keine Zeit zur Problematik, es hat nur Raum zum tätigen Handeln.

Das sind die Frauen, die ihr Leben gestalteten auf ganz neuer Grundlage, die morgens in aller Frühe singend den Herd scheuern und in Hast das Mittagessen vorbereiten, um dann auf Stunden sich ganz einem Berufe hinzugeben in der stillen Gewißheit ihres häuslichen Glücks, das sie sich gemeinsam mit dem Geliebten schufen. Und dann die Frau, die neben dem ärztlichen oder sonst einem schwierigen Beruf auch noch eigene Kinder in Liebe verwahrt. Die Frauensorgen von früher, der Haushalt, auch er wird besorgt, aber er untersteht ganz der persönlichen Gemütlichkeit der Familie. Er ist kein übergeordneter Selbstzweck mehr. Denn diese im Leben kämpfende Frau kommt mit dergleichen Sehnsucht des stillen Friedens, mit der Sehnsucht nach Gemeinschaft nach Haus wie der Mann und das Kind. Im brausenden Strudel des Lebens wird das Heim die Burg, die Insel, die jeden beschützt, der Aufnahme findet.

Zur Beweiskraft, dass wirklich für die heutige Frau anscheinend eine Problemlosigkeit eingesetzt hat, brauchen wir nicht allein auf unsere Literatur zu schauen, die Frauen schufen. Die verwaisten Frauenverbände selbst geben uns den Beweis. Der Nachwuchs bleibt aus. Nicht zu erklären ist diese Flucht aus der Vergnügungssucht unserer Zeit – diese Sorte Frau war als Kulturträger immer bedeutungslos, sondern sie ist wirklich erklärbar aus der ungeteilten Kraftentfaltung, die heute einer Frau möglich ist und ihr, was wichtig ist - , selbstverständlich wurde. Heute ist, durch die äußeren Verhältnisse bedingt, keine Frau mehr ein Außenseiter, die dem Glück nicht entsagt, wenn die äußeren Verhältnisse des Geliebten ihm keine Ehe ohne wirtschaftliche Unterstützung der Frau gestattet. Nicht mehr wird jener Mann, der eine derartige Frau gefunden hat, als eine Art Verbrecher angesehen, der in eine bürgerliche Familie den Unglückskeil schob. Die Verhältnisse würden heute kaum noch einem Mann ohne Hilfe der Frau gestatten, vor dem Greisenalter zu heiraten. So steht die äußere Lage. – Aber es ist gerade, als wenn diese innere traurige Lage kein sinnloser Zustand wäre. Die Frauen gaben den Sinn! Sie konnten jetzt endlich heraus mit ihrer ganzen Liebesfähigkeit, die sie zu ungeahnten Taten und zu restlosem Verstehen führte. Die unverstandene Nora, die desillusionierte Madame Bovary, die Strindbergsche Frau, die im Geschlechterhaß ihr Heim in Trümmern schlug, sie ist erklärbar nur aus der Triebunsicherheit, welche für die vorhergehende Zeit nicht nur in der Gestaltung des Frauenlebens bezeichnend war. Wie schon vorher gesagt wurde, das ganze Leben einer Frau war vollkommen von traditionellen Überlieferungen, bürgerlichen Vorurteilen und Familienrücksichten eingeengt, so daß für ein eigenes kraftvolles Leben nur selten die innere Freiheit noch blieb. Nicht wie heute ließ sich auch die Frau den Wind um die Nase wehen, fand ihre Weltanschauung und ihre eigene Wahrheit im Lebenskampf, der sie dann eines Tages mit einem Mitkämpfer, einem Kameraden in Liebe verband. Zufälligkeit der Geselligkeit trieb früher die Paare zusammen, die bis zur Ehe, der Konvention gehorchend, nicht die Seele und nicht den Körper des andern in stillen Stunden des Beisammenseins erahnen durften. Auf dieser Ideenlosigkeit einer zweisamen Gemeinschaft baute sich dann eine Ehe auf, die nur noch gerettet werden konnte durch das Kind, das vielleicht eine gemeinsame Idee für beide werden konnte. Aber ein Ganzes, das aufbauend war, ein Kulturfaktor konnte eine derartige Ehe nur selten sein. Meistens konnten die Nerven dieses zwiespältige Leben, das Körper und Geist zu führen hatte, nicht ertragen und die Strindbergsche Tragödie wurde eine Alltäglichkeit. Nicht ohne Grund war das sexuelle Problem und das Eheleben im Vordergrund aller Dichter und Denker. Die ganze Literatur des Naturalismus – von Jäger, Conradt ab bis zu Wedekind – war erfüllt vom sexuellen Problem, das unlöslich schien. Es schien, als wenn die Natur zwischen dem Manne und der Frau wirklich einen unüberwindlichen Zwiespalt geschaffen hätte. Aber der frische und kalte Wind unserer Tage hat diese Probleme verweht. Soll man der russischen Gesandtin Kollontay und ihren Schwestern, die in Dichtung und Prosa ihr Frauenschaffen gestalten – trauen –, so sieht man auch hier, wie das rein frauliche Sein, das immer doch nur durch die Liebe restlos erfüllt wird, auch hier zu letzten eigenen Wahrheiten vorstoßen will.

Es ist so rührend zu lesen, diese neue Frauenliteratur – die wir hier nur so kurz streifen konnten –, die so voll herber keuscher Frische ist, so ganz ohne süßliche Sentimentalität, so ganz ohne Wichtigtuerei und so ganz Sicherheit des Instinkts erahnen läßt. Nicht wie früher eine Auseinandersetzung mit dem Schicksal, keine Anklage an den Mann, der nicht restlos alle Hoffnungen erfüllte – gar kein Geschlechterhaß –, sondern nur ein Lauschen auf das eigene Ich, auf dessen wahrhaftige Lebensgestaltung es den Frauen allein ankommt. Nur die Vergewaltigung der eigenen Lebensidee, nur das Untreuwerden an der eigenen Wahrheit wird von diesen Frauen als Sünde, als Schuld erkannt. Darum die Verantwortung, die diese Frauen in ihrem ganzen Leben im Blute tragen. Sie kennen nicht mehr die Begriffe Opfer und Pflicht, die eine vorhergehende Frauengeneration am reinen Wappenschild verzeichnet hatte. Denn diese Begriffe gingen unter in ihrer blutvollen Wahrheit, der die heutige wesentliche Frau leben muß und leben kann, denn ihre Wahrheit ist im eigenen Lebenskampf gefunden und wird restlos und ohne Überlegungen geliebt. Der Mann, der in dieser Lebensidee, in dieser gefundenen Wahrheit miteinbegriffen ist, der ist beschützt wie Elsas Mann aus Ostenos Roman. Er fühlt im chaotischen Treiben unserer Zeit die innere Harmonie, die Kräfte zum produktiven Schaffen des Mannes frei macht und frei hält. Nicht nur in Frauendichtungen, auch in der Männerliteratur wird die aktive Frau lebendig, die unproblematisch sich einfach im Tun und in der Liebe auslöst. – Man denkt da sofort an des Dichter Gladkow Roman "Zement". Die Frau, die in diesem Roman vor uns lebendig wird, macht uns in ihrer Zielsicherheit fast erschrecken. Sie glaubt an die Gesundung ihres Volkes, die sie als Erbe auch ihrem Kind erkämpfen will. Alles, was sich ihr bei der Realisierung dieser Träume hemmend in den Weg stellt, muß sie niedertreten und zu überwinden suchen, selbst dann, wenn dieser Weg zum Ziel über ihr eigenes zuckendes Herz geht. Es gibt für sie eben nichts anderes als die Mitarbeit an der Realisierung ihres Glaubens, ihrer Wahrheit, die sie erkannt hat. Ein derartiges tatkräftiges und vom Schicksal unüberwindbares weibliches Wesen muß Kraftquellen in sich haben, die grenzenlos sind. Ihr Glaube, für den sie ihr ganzes Leben zeugt, kommt aus religiöser Inbrunst, aus dem Geist und nicht aus dem Gehirn. Das ist das Geheimnis dieser Frauen, die heute manchem Mann so unheimlich wirken, da ihr Kraftmaß so männlich wirkt. Es ist der Geist, der in ihnen mächtig ist, dass sie über ihr von der Natur anscheinend gestecktes Maß hinauswachsen und sich selbst lieber zerstören, als daß sie auch nur einen Schritt von ihrer Wahrheit abrücken. Aber auch diese Selbstzerstörung birgt tiefempfundenes Glück, auch sie bleibt unproblematisch, da sie nicht gewollt, nicht bewußt eintritt, sondern einfach erlebt wird. Das Leben ist schwer und doch ist es in seinem ewigen Kampfe liebenswert. Das ist die große Wahrheit dieser heutigen Menschen, dieser Frauen, die aktiv ins Leben vorstoßen.

In: Der Scheinwerfer. Blätter der städtischen Bühnen Essen. Hg.: Hannes Küpper. 2. Jg., 3. Heft, Essen, Oktober 1928, S. 22-26.

Vom Wesen der Dinge

Im Hause der Vorsitzenden des Verbandes Deutsche Frauenkultur versammelten sich in dieser Woche die Mitglieder zur gemeinschaftlichen Freude an guter Musik, welche die Hausfrau Eleonore Späing zusammen mit ihrer Schwester vermittelte. Weiterhin waren sie zusammengekommen, um den Gedanken zu lauschen und nachzugehen, die Ursula Schulte- Kersmecke, Hagen, in ihrem Vortrag „Vom Wesen der Dinge“ herausstellte.

Es ist für den Vermittler wirklich schwer, ihre Gedanken, die zart hingehaucht mit feinem Stimmchen durch den Raum schwebten, in eine Form zu gießen, die kurz und für alle faßlich ist, so wie es die Zeitungsreportage mit sich bringt.

Wir wollen es versuchen: Sie ging von den Gedanken aus, daß wir uns klar darüber werden müssen, daß dem Wesenhaften in allem Menschlichen heute Gefahr droht. Und da die Dinge vom Menschen gemacht und gebraucht werden, so droht auch ihnen Gefahr, daß sie ihres Wesens beraubt werden. Da wir Frauen soviel mit den Dingen zu tun haben – als Gestalterin, Erhalterin und Verwalterin – „und weil wir ihnen oft verfallen in Sorg’ und Klage einerseits, in Lust und Verlangen andrerseits“, darum ist es so notwendig, daß gerade die Frau das Wesen der Dinge sich vergegenwärtigt, damit diese nicht das Leben beherrschen und die Einheit stören, sondern im Gegenteil das Leben fördern. Denn die Dinge, die zur Erhaltung des Menschen geschaffen wurden, um ihn zur geistigen Arbeit zu befreien und um ihm Sicherheit und Sorglosigkeit zu geben, ist heute verwirrt. Dieser Sinn ist immer mehr zurückgetreten hinter das Ding an sich. Das Haus, das hüten sollte vor Gefahren, damit der Mensch in Ruhe sich freuen könne mit seinen Freunden, sich weiden an ewigen Weisheiten und hinblicken zu den Sternen – die Speisen, die ihn aufbauen sollten zu einem Gefäß für den Geist –, die Geräte, die lebensnotwendige Verrichtungen erleichtern und vereinfachen sollten, – ach, sie fraßen dies eigentliche Leben ja auf!

Es bildete sich so eine Tradition, die glauben machen wollte, der Mensch wäre zur Erhaltung der Dinge da; die Dinge herrschten und erst zu zweit käme das andere: ein Mensch in Not, eine erschütterte Seele. Diktatur der Dinge: Durchlöcherte Seidenstrümpfe halten die Mutter vom Spiel mit dem Kinde ab; das teure Teekleid veranlaßt eine Kürzung des Blindenbeitrags; die Repräsentationssucht, die sich äußert im Pelzmantel und in der Schuhform letzter Mode, zwingt den geistigen Menschen in die Fron, die seinen lahmgewordenen Geist vollends knebelt. Kurzum: es herrschen die Dinge, die unserem Menschentum dienen sollten; sie verloren ihren Sinn. Geld zum Beispiel ist unumgänglich notwendig zur Lebenserhaltung, doch wird es überschätzt, und es hätte uns der Krieg und die Inflation lehren sollen, daß nur der gesichert ist, der außer diesen Schätzen der Erde noch geistige Werte erkennt, die ihm nie genommen werden können. Um Geld zu machen, werden Dinge hergestellt, die die Bedürfnisse der Verbraucher suggestiv steigern und im Grunde nur Begehrlichkeit und Unzufriedenheit züchten. Es ist jetzt soweit gekommen, daß über die Dinge, die man begehrt, das Leben vergessen wird, zu dessen Erhaltung sie eigentlich geschaffen wurden und dem sie dienen sollten. Nicht anders ist es mit dem Ding, das als Mittel zum Ausdruck, zur Verbindung und Auseinandersetzung gezeugt wurde: Luftschiff und Flugzeug, Fernexpress und Auto, Radio und Telephon, Scheckverkehr und Zeitung, Kino und Buch, Kasse und Partei. Die Folge all dieser Erscheinungen sehen wir in der geistigen Verflachung. Es ist einfach nicht mehr möglich, diese Übermenge an Eindrücken zu verarbeiten, und viele verlernen das Leben aus sich selbst.

Wer das wieder fertig brächte, die Dinge, die der Mensch schuf, an den Dingen der Schöpfung, an ihrer Lebendigkeit, an ihrer Ausdruckskraft und Vollkommenheit zu messen, der würde wieder bescheidener werden in der Beurteilung unserer Menschenwerke und ihrer Notwendigkeit für diesen Stern. Würden wir die Dinge wieder einfach sehen, sähen die Dinge der Lebenserhaltung so aus: wir sähen in ihnen ein Stück Brot, ein Lager zur Nacht, ein hütendes Haus, ein Festkleid, eine Schale. Unter diesem Gesichtspunkt tritt zurück, was wir daraus machten, nämlich ein Souper, ein Seidenlager und Pyjama, eine Villa, eine große Abendtoilette, ein Kristallschiff. Alle diese Dinge dienen einem Selbstzweck, der den Menschen beherrscht, der von Repräsentationssucht befallen, die einfache Stellung zu den Dingen verloren hat.

Im Tao-te-king heißt es: „Das Oel in der Lampe verzehrt sich von selbst; der Zimtbaum ist eßbar, darum wird er gefällt.“ Jedermann weiß, wie nützlich es ist, nutzbar zu sein, und keiner weiß, wie nutzbar es ist, nutzlos zu sein im vertieften Sinne dieser Auslegung. Das Ding, das ohne Zweck der Nützlichkeit nichts zu sein hat als Ausdruck des Geistes, trägt am meisten das Gepräge seiner Herkunft: Die Kunst, das Kind des freien Geistes, wird deshalb von den heutigen Menschen nicht erkannt, weil nichts vom Zweckhaften, das heute das Leben beherrscht, darin ist. Hätte das Volk darum wieder Beziehungen zur Kunst, dann hätte es zwangsläufig das richtige Verhältnis zu den zweckhaften Dingen zurück. Nur aus geistigem Erlebnis offenbart sich der Sinn des Lebens. Es ist der Geist, der die Dinge recht macht, wesentlich und wahr. Und was ist der Mensch?

"Ich sei dir eine Wohnung recht,
Ein Stüblein leer und schlicht.
Ach, füll’ mich ganz mit deinem Schein
Du ew’ges Licht."

Nach den letzten Worten des Vortrages brauchten die Zuhörerinnen einige Weile, bis daß sie an den blumengeschmückten Teetischen langsam sich wieder zurückfanden zur Aussprache untereinander.

In: Düsseldorfer Stadt-Anzeiger, 15. März 1931, Nr. 74

Durch die Lupe

Zum Welt-Frauenkongress in Wien vom 27. – 30. Juli 1931

Bedeutet die Rückkehr zu den langen Röcken, zum Federhut und Rüschenkleid nun eine seelische Wandlung der heutigen Frau? Beginnt damit eine produktivere Zeit, die der "wahren" Fraulichkeit entspringt? Oder ist dieser Federhut nur eine Sinnlosigkeit in unserer an Sinnlosem so reichen Zeit?

Aeußerlich betrachtet ist der Federhut eine Sinnlosigkeit, die kluge Frauen nicht mitmachen werden.

Und doch, tiefer gesehen: es fehlt, scheint es -, nur an der Erkenntnis, um die Zusammenhänge hier zu finden. Von den englischen Suffragetten zu der unabhängigen Frau von heute ist der Zeitraum ungefähr 30 Jahre. Und nun geht es nicht weiter. Die Frau merkt, daß es nicht so weitergehen kann, und daß die ewigen Gesetze der Geschlechterbestimmung auf die Dauer nicht ohne verhängnisvollen Schaden für die Frauenwelt unbeachtet gelassen werden kann. Und darum, um zu zeigen, daß man doch noch – bei aller Vermännlichung ein Weibchen geblieben ist, darum stülpt man sich schnell ein Federhütchen auf und wedelt mit Volants und Rüschchen herum.

"Ja, ja, die Wahrheit in der Geschichte der Geschlechter? Nikolaus von Sementowski sagt da ganz richtig: " Von der biblischen Ergebenheit der Frau dem Mann gegenüber, über ihre Isolierbarkeit in der Antike, ihre beinahe zynische Zurückstellung in der Renaissance und schließlich über die oberflächliche Galanterie des Rokoko führte der Weg zur Romantik, zur Anbetung, zum Kulte eines Hölderlin an Diotima." Das war der Höhepunkt. Das Bewußtsein der so vom Manne idealisierten Frau beginnt im 19. Jahrhundert zu erwachen. Sie kommt aus ihrer Enge als "nur anbetungswürdiges Idol" aus der Passivität des Ideals heraus und beginnt auf einmal den Zauber der Aktivität zu begreifen, für die ihr die Taten der Männer als Vorbild dienen. Zunächst ist es eine "geistige Aktivität". Doch bald vertauscht die Frau die begrenzten Bezirke abstrakter Geistigkeit mit Regionen umfassender Wirksamkeit, die bis dahin allein dem Manne vorbehalten waren. Statt Ideologien werden wirkliche soziale Ideen Lebensziele, Schicksale der Frauen. Und schließlich steht sie mitten im öffentlichen Leben, erst im Kampf mit dem Mann als noch nicht "erprobte Konkurrentin", dann aber als ebenbürtige Kraft.

Eines ist jedoch bei dieser Entwicklung offensichtlich, wie rühmlich sie auch sonst sein mag: die Frau hat keinen neuen, nur ihr allein eignen, für den Mann unerfüllbaren oder von ihm bis dahin noch nicht geprägten Ausdruck gefunden. Ueberall war sie seine Schülerin. Sie flüchtete in Ausdrucksformen, die ihm seit jeher geläufig und selbstverständlich waren, weil sie eine Erscheinungsform seines Wesens als Mann darstellten. Es gibt zwar Frauen, die Bücher schreiben, Frauen, die Politik treiben, Entdeckungen innerhalb der Wissenschaft machen usw. – es gibt jedoch keine Frau, die für ihre Eigenart als Frau einen eignen Ausdruck gefunden hätte, soweit er nicht schon ewig dagewesen ist: Gefährtin des Mannes und Mutter zu sein.

Im Hinblick auf diese unvergängliche Bestimmung, die keine Mode, keine Laune und kein noch so starker Wille ändern können, dürfen wir die Entwicklung der Frau in der Geschichte unseres Kulturlebens zwar als eine notwendige Wechselwirkung, niemals aber als ein endgültiges "ideales" Ergebnis der natürlichen Vervollkommnung betrachten. Jede Wechselwirkung ist fruchtbar, aber wie ein Kornfeld, das Jahr um Jahr ausgenutzt wird, einmal aufhört, fruchtbar zu sein, muß auch diese Wechselwirkung sich totlaufen.

Dieses Stadium des Leerlaufs hat die Entwicklung der Frau erreicht die Wechselwirkung hat aufgehört, produktiv zu sein. Die Frau steht vor der Notwendigkeit, in den Zustand ursprünglicher Empfängnisbereitschaft zurückzukehren, um wieder produktiv zu werden nicht aber eine verzerrte Spiegelung des Mannes. Der Mann hat mit Bedauern und Furcht die Emanzipation der Frauen verfolgt, nicht weil er "Konkurrenz" befürchtete, nicht weil er "sich nicht besiegen lassen wollte" nein, er hat sich innerlich dagegen gewehrt, wie einer, der fühlt, daß ihm das Kostbarste und Unentbehrlichste verloren geht. Die Emanzipation der Frau hat das Gegenteil davon erreicht, was sie erstrebte: nicht in Ehrfurcht steht der Mann vor der unabhängigen Frau, sondern wie einer, der der alles verloren hat und darum an nichts mehr glaubt. Der Mann glaubt nicht mehr an die Seelenhaftigkeit der Frau, die der Sehnsucht seiner Seele Zuflucht bedeutet, er glaubt nicht mehr an die Frau als Frau, glaubt nicht mehr an jene silberne Schale, in die er die Lasten seines Leids und die Freuden seiner Taten tragen darf! Er sieht in der Frau heute nur noch ein "physisches Phänomen"! Diese Entwürdigung fühlt die Frau mit dem Instinkt ihrer ewigen Bestimmung."

So spricht ein Mann, und ganz ehrlich, Unrecht kann man ihm kaum geben. Die Frau von heute, die über dem Durchschnitt steht, kämpft dagegen an, nur ein physisches Phänomen zu sein. Sie will ihrer weiblichen Bestimmung nach aufrichtig leben und betreuen und auch ein wenig beschützt wieder sein. Aber kurz gesagt, so etwas wieder "nur" Frau sein! Und das ist gut und wird der Familie neue Kraftquellen erschließen. Denn die Frau, die sich in die Familie zurücksehnt, wird ihr viel mehr uneigennützige Liebe entgegenbringen als die Frau, die sich heraussehnte, als die Frau der vorigen Generation, die mit Neid auf den im Berufsleben stehenden aktiven Manne schaute. Die Sehnsucht nach Mütterlichkeit und engbegrenzter Fraulichkeit ist berechtigt, unberechtigt aber ist der Umweg über Federhut und Volant. Alles Mittel des Männerfangs, die dem Gänschen überlassen bleiben sollten! Die "Weiblichkeit" der heutigen Frau kann sich anders behaupten. Wenn Sementowski glaubt, daß Frauen, die Bücher schreiben, Frauen, die Politik treiben usw., niemals für ihre Eigenart als Frau einen eigenen Ausdruck gefunden hätten, so könnte man das auch positiv ausdeuten: sie haben keinen spezifisch weiblichen Ausdruck gefunden, da sie eine menschliche, das heißt "männlich-weibliche" Einstellung zum Leben hatten. Hoffentlich sind sich die Frauen bei der Umstellung dieser Einheit: "menschlich" bewußt und werden in Mode und Gehabe nicht wieder sklavenartig weibchenhaft. Der Federhut, die Voläntchen und das Getue sind Anzeichen dafür. Echte Frauen sollten einmal darüber nachdenken.

In: Frauen-Beilage der "Gladbach-Rhydter Zeitung", 2. August 1931, Nr. 196

Louise Dumont. Zum Tode der großen Künstlerin

Engel singen:
"Wer immer strebend sich bemüht,
Den können wir erlösen." Faust II.

Als meine Mutter starb, schrieb mir Louise Dumont: "Wer dem Willen seines eingeborenen Gottes folgt – für den ist der Tod gewiß der erste wirkliche Lebens-Feiertag. – Bleiben wir im Sinn unserer Mütter stark, Geliebtes, auch durch den Weltuntergang hindurch." An diese Worte klammern wir uns nun. Was sterblich an Louise Dumont war, haben wir der Erde wiedergegeben. Ihr Bild ist nun schon festgebannt in die Atmosphäre der Heiligen, und wir fühlen sie doch noch als Same, der in die Erde getan wurde, und es ist wie ein Doppelton hier, wie ein Ineinandergeschlungensein von Fern und Nähe, Dasein und Unsichtbarwerden, ein Ineinanderwachsen von Lebenselementen, das uns erschauern läßt. So ist sie wirklich und unwirklich, schwebend, entschwebend, wunderbar und doch wirklich zugleich. Immer schon spürten wir einen Hauch jener Welt, von der sie die Gewißheit in sich trug, als sie noch über diese Erde ging als die große Schauspielerin und weltberühmte Intendantin des Düsseldorfer Schauspielhauses.

Zwischen Louise Dumont und denen, die sich ihr ergaben, handelte es sich um eine ewige Beichte, um eine unlösbare Verbindung zwischen dem Gebundenen und dem Bindenden. Sie selbst ordnete weise und gütig ein, was sich ihr anvertraute. Sie steht nun jenseits aller menschlichen Gefahr, und so darf ich aussagen, wozu mich Liebe und Gewissen drängt: der Ruhm, der ihr zuteil wurde, den fühlte sie nur als Ruhm der Kräfte, die in ihr wirkten. Diesen Kräften gab sie sich bedingungslos hin; aus ihnen holte sie ihre Energien zum Kampf für das Ideal, das vor ihr stand und dem sie unter allen Umständen zum Licht verhelfen wollte. Sie wollte dem Teufel, dem Ungeist, der heute Herrscher unseres Planeten sich dünkt, Boden abgewinnen zum Glücke ihres Volkes, das nicht mehr um die Beseligungen des Geistes weiß, um die man es betrügt. Die Beziehung Luise Dumonts zum deutschen Volk war unmittelbar. Sie fühlte sich als Teilchen dieser Gemeinschaft im Geiste. Die letzten Worte der Sterbenden am Pfingstmontag lauteten: "Möchte doch der Pfingstgeist für unser Volk auf die Erde kommen." Ja, sie hat ein Leben lang um die Seele ihres Volkes gerungen. Beim Theaterspiel ging es ihr auch nie um anderes als um Entscheidungen des Geistes, die auf der Bühne dann das vom äußeren Schein befreite Wesen der Nation beschwören wollten und allezeit, bis in die Todesstunde hinein, in der sie deutlich, aus der Demut ihres ganzen Lebens heraus, "Dein Wille geschehe!" sprach, - trug sie das Schicksal der deutschen Geisteszukunft in ihrem Herzen.

Wenn Louise Dumont Goethe dachte, dann tönte für sie die Stimme des Gottes auf, und sie verkündigte die Freiheit des Geistes. Diese Stimme war stark auch in Louise Dumont. Ihr Geist, der fortgesetzt die größten Probleme trug, der weitgespannt über Grenzen und Normen hi- nausging, der gab dieser Frau die Kraft, alle Gegensätzlichkeiten, auch die der Kirchen, in sich aufzuheben. Sie war zurückgesunken in den Schoß Gottes.

Sie hatte ihr Leben an die Grenzen geführt, wo schon jene großen geistigen Reiche des Himmels und der Hölle beginnen. Wer schon in das ewige Leben hineinwachsen kann hier auf Erden, dem beginnt auch das Leben der Hölle schon hier. Unser Leben ist dann nichts als ein Stück blitzartig durch unser Bewußtsein erhellte Ewigkeit.

"Was ist die Hölle?" fragt Sossima, "ich denke, sie ist der Schmerz darüber, daß man nicht mehr zu lieben vermag. Nur einmal wird im unendlichen Raum, außerhalb von Zeit und Raum, einem geistigen Wesen mit seinem Erscheinen auf der Erde die Fähigkeit verliehen, das zu sagen: ich bin und ich liebe. Nur einmal war ihm ein Augenblick tätiger, lebendiger Liebe und dazu ein Leben hier auf Erden gegeben worden, und mit ihm Zeit und Gelegenheit." Diese Einmaligkeit, Unwandelbarkeit unseres gegebenen Lebens, diese großartige und strenge, vom Menschen alles fordernde Idee der Liebe ist in den Seelen der Menschen unserer Tage wie verlöscht. Louise Dumont aber war es Gewißheit, daß unser ganzes Leben nichts anderes ist als eine Entscheidung zur Ewigkeit, daß wir Menschen von heute alle in einem gewaltigen Drama stehen, das nur durch die Kraft der Liebe, die alle Gegensätzlichkeit in sich auslöscht, von den Völkern überwunden werden kann. Sie wußte, daß diese Liebe nur stark im Geiste werden muß, um dann Form anzunehmen in sichtbarer Wirkung. Darum war ihr Leben ein Dienst am Geiste. Darum vereinigte sie alle Entscheidung auf dieses eine Leben, machte es dadurch reicher, stärker und verantwortungsvoller.

Wie die Natur in unendlicher Fülle in dem Monate ihres Sterbens Form um Form belebt und dann wieder vergehen läßt, so haben auch wir Menschen im Reiche des ewigen Geistes Verschwendung und Überfülle; Seelen um Seelen stehen in Bereitschaft zum Dienst am Geiste, und es braucht nicht mit ihnen gespart zu werden. So nur empfand Louise Dumont sich selbst; sie sparte sich nicht auf. Sie verschwendete sich. Noch in der letzten Zeit ihrer Krankheit wollte sie ihr Spiel im Faust nicht aufgeben und spielte mit Fieber. Vielleicht hat diese künstlerische Besessenheit ihr Ende beschleunigt. Wir können es einfach nicht sofort fassen, wenn ein großer ideenreicher Mensch die Erde verläßt, daß es so sein soll. Denn wir klammern uns an die Form und sehen durch unsere Tränen nicht das Unverlierbare, das uns blieb. Indem wir aber die Einmaligkeit und Verantwortlichkeit des Lebens der Louise Dumont vor Augen führen und auf uns nehmen, erhalten wir Einblick in dieses erhöhte, stärkere, vom Geist durchwehte Leben. Das ist nun schon sichtbare Erfahrung: "An einem Ende der Welt veranlaßt du eine Bewegung, und am anderen Ende der Welt hallet sie wieder." So, und nicht anders muß es gewesen sein, als der Sarg den Boden berührte.

Was in der lebenden Schönheit geschaffen ist, das ist für immer geschaffen. Die Ewigkeit formt sich zwischen den künstlerischen Händen des Künstlers, der würdig ist und stark genug dazu, an der Quelle der Ewigkeit zu schöpfen. Mit diesem Gedanken umfassen wir Louise Dumonts Persönlichkeit, dieser großen Verkünderin der deutschen Sprache. Sie wollte den Rhythmus der Sprache ihres Volkes von der Bühne aus wieder vernehmbar machen. Sie wollte, daß endlich die Deutschen wieder das Wunder ihrer Sprache empfänden, die sich offenbart im Klang eines Goetheschen Satzes. Hier wird das Wort wieder wichtig in der Schwere seines geistigen Gehaltes. Es ist eindeutig und läßt sich nicht drehen und deuteln. Um diese Wahrheit ging es ihr bei der gesetzmäßigen Ausformung des sprachlichen Rhythmus, der in ihren letzten Regiearbeiten "Tasso" und "Faust II" seine Krönung erhielt. Siebzig Jahre mußte sie werden, bis sie ihre Hauptaufgabe: ihre "Lebensaufgabe", den "Faust II" zur Aufführung bringen konnte. Es zeigt Louise Dumonts ganze Demut vor dem großen Kunstwerk, daß sie es erst herausbrachte, als sie glaubte, dafür gerüstet zu sein. Sie wußte nicht, daß das Testament unseres größten deutschen Dichters auch ihre letzte Arbeit sein sollte. Ihre letzte Arbeit, die noch einmal ganz großes Theater war und die Gewissenhaftigkeit deutlich zeigte, mit der man im Düsseldorfer Schauspielhaus an die Aufführung eines überragenden Kunstwerkes ging. Die Aufführung des "Faust II" war eine einmalige Tat, die den Weg noch einmal wies, den Louise Dumont mit ihrem Theater gern ganz eindeutig in jeder Aufführung gezeigt hätte.

"Warum?" so meinte sie einmal im Gespräch, "nicht reinliche Trennung? Wo echte, wahre Kunst gegeben wird, da sollte man seichte, oberflächliche Luftspiele fortlassen. Dafür sollte das Luftspieltheater dann eintreten," und als sie das sagte, da dachte sie wohl an das von ihr und ihrem Gatten Gustav Lindemann in treuer Kameradschaft siebenundzwanzig Jahre geleitete Düsseldorfer Schauspielhaus, das sie gern zu einem Zeittheater in ihrem Sinne gemacht hätte, wenn nicht finanzielle Abhängigkeiten immer wieder den Weg zum Ziel versperrt hätten.

Bis zum Schluß ihres Lebens hat sie aber die Hoffnung nicht aufgegeben. Endlich winkte Erlösung von der wirtschaftlichen Abhängigkeit in den letzten Wochen durch Zusammenschluß des Kölner Schauspielhauses mit dem Düsseldorfer. Planmäßige Bewirtschaftung der zusammengelegten Theater sollte das Schauspielhaus Louise Dumonts unabhängig machen und frei für die Geistestaten unserer Zeit, die wert sind, gesehen zu werden. So hatte Louise Dumont zusammen mit ihrem Gatten und den Freunden des Schauspielhauses es beschlossen. "Das deutsche Theater am Rhein" stand als letzte Vision noch vor Louise Dumont. Sie glaubte an das Wunder bis zuletzt, daß es ihr doch noch gelingen würde, jenes Nationaltheater, von dem Schiller schon träumte, Wirklichkeit werden zu lassen. Es zeigt ihre unerbittliche Wahrheit gegen sich (Vgl. Jahrgang 1930 der Zeitschrift "Deutsche Frauen-Kultur", Seite 4/5 und Seite 295/297; ferner Jahrgang 1932, Seite 62/64.) selbst, ihr großes Verantwortungsgefühl, ihre Gewissenhaftigkeit gegen ihre künstlerische Aufgabe, daß sie nie aufhörte nach Vervollkommnung zu streben.

Vielseitig wie eine weite Landschaft, die Tausendfältiges birgt, war diese Frau. Sie schrieb ein Kochbuch, führte ihren Haushalt mustergültig, und neben ihrer großen Arbeit als Intendantin des Düsseldorfer Schauspielhauses, dem sie Weltgeltung verschaffte, kreisten ihre Gedanken dauernd um das der heutigen Menschheit noch verschlossene Geheimnis: "Wie können wir noch einen Weg zur Gemeinschaft finden?" In ihrem ureigensten Beruf als Theaterleiterin sah sie schon den Weg durch das Ensemblespiel.

Dieses war an allen Bühnen, trotz der vielen überragenden Bühnenkünstler heute, immer schlechter geworden. Man hatte überall, nicht nur beim Theater, sondern in allen Lebensauswirkungen die seelische Macht der Gemeinschaft nicht mehr wichtig genug genommen. Sie suchte nach dieser seelischen Gemeinschaft. Und wenn sie wieder einen Menschen gefunden hatte, der ihr würdig erschien, mitaufzubauen an dieser Gemeinschaft, dann strahlten ihre leuchtenden Augen, und aus ihrem Munde kamen Worte, die heute schon symbolisch sind: "Ein Ring fügt sich zum anderen in meiner goldenen Kette."

An ihrem Grabe auf dem Düsseldorfer Friedhofe bekannten die Frauen durch den Mund ihrer Sprecherin:

Was Louise Dumont jeder einzelnen von uns war, ist ihr eigenstes, sie tief beglückendes Geheimnis.
Was sie allen Frauen war, kann nur im Gelöbnis zum Ausdruck kommen:
Wir wollen versuchen, dem Geiste und dem Geistigen zu dienen in der Treue wie Louise Dumont.
Wir wollen versuchen, eine Persönlichkeit zu werden, in den uns von unserer Natur gesteckten Grenzen, wie Louise Dumont.
Wir wollen versuchen, ein wahrhaftiges, ins Ewige mündende Leben zu führen wie Louise Dumont.

In: Deutsche Frauen-Kultur, hrsg. vom Verband Deutsche Frauenkultur e.V. 36. Jg., Leipzig 1932, Heft 7. Bestand: Frauen-Kultur-Archiv, Düsseldorf

Zum Frieden durch Liebe

Konferenz des Weltfriedensbundes der Mütter und Erzieherinnen

In der der letzten Juniwoche fand in Köln die erste internationale Konferenz des Weltfriedensbundes der Mütter und Erzieherinnen statt, auf der die verschiedensten Länder durch die Sektionsvorsitzenden des Bundes vertreten waren.

Von den in den Sitzungen festgelegten, einstimmig eingenommenen Statuten geben wir hier einen Auszug, der einen Einblick ermöglicht in die Ziele des Bundes:

Artikel 1: Frauen verschiedener Länder, welche den vorliegenden Satzungen zustimmen, haben die Vereinigung gegründet, die den Namen "Weltfriedensbund der Mütter und Erzieherinnen" trägt. Sein Grundsatz ist: "Zum Frieden durch Liebe."

Sein Sitz ist Paris (gegenwärtig 12 rue Guy de la Brosse Ve). Der Weltfriedensbund umfaßt so viele nationale Sektionen, als es Länder mit Mitgliedergruppen gibt, die den nachstehenden Bestimmungen entsprechen:

Artikel 2: Die Mitglieder des Bundes verpflichten sich: a) ihre Kinder oder Zöglinge in einem Geist des Wohlwollens und der Brüderlichkeit gegen alle Fremden zu erziehen und in ihnen die Instinkte der Gewalttätigkeit und der Grausamkeit zu überwinden. b) Mit tätiger Sympathie Menschen und Einrichtungen zu unterstützen, die für die Herstellung des Friedens arbeiten. Seine Tätigkeit bleibt unabhängig von politischen Parteien und vollzieht sich unter unbedingter Achtung aller religiösen Überzeugungen. Beiträge werden nicht erhoben. Die Regelung der freiwilligen Spenden bleibt den einzelnen Sektionen der Länder überlassen.

Artikel 3: Der Weltfriedensbund verwirklicht sein Ziel durch a) Veröffentlichungen, Verteilung und Verkauf durch Broschüren, Flugblättern, Postkarten, die seinem Zweck entsprechen. b) Veranstaltungen von Vorträgen, Reisen, Tagungen und alle Art von Kundgebungen, die dem Friedensgedanken und der Völkerverständigung dienen, sei es allein oder in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen.

Artikel 4: Jede nationale Sektion wird geleitet durch einen unabhängigen Vorstand, der sich nach Annahme der obigen Bestimmungen selbständig konstituiert und die Propagandatätigkeit nach eigenen Ansichten und nach den besonderen Bedürfnissen des Landes organisiert.

Artikel 5: Der internationale leitende Rat wählt aus seinen Mitgliedern eine erste und eine zweite Generalsekretärin, eine erste und zweite Schatzmeisterin und vier Besitzerinnen. Es obliegt ihnen die Hauptleitung des Weltfriedensbundes zwischen den Tagungen und die Ausführungen der Beschlüsse des leitenden Rates. Er vereinigt sich jedes Jahr einmal an einem Ort, der bei jeder Tagung für das folgende Jahr vorausbestimmt wird. Internationale Tagungen finden je nach Bedarf, aber mindestens alle zwei Jahre statt.

Artikel 6: Bei allen seinen Entschließungen geschieht die Abstimmung durch mündliche oder schriftliche Übereinkunft. Die Französin Frau Eidenschenk-Patin, die Begründerin der Liga der Mütter, wurde von der Gesamtheit als Generalsekretärin auf Lebenszeit gewählt, gleichzeitig ist sie dann selbstverständlich noch Generalsekretärin des Bundes in Frankreich. Es wurde so bestimmt, daß die Generalsekretärin eines Landes gleichzeitig auch Delegierte ist, also in den internationalen Rat kommt. Für Deutschland fiel die Wahl auf Frau Hallgarten (München); ihre Adjutantin, ebenfalls stimmberechtigt, wurde auf allgemeinen Wunsch Dr. Marie Stegmann (Dresden). Für Holland nahm Gräfin van Heerdt die Wahl an. Alle drei Frauen hatten sich schon um die Sache der Friedensbewegung verdient gemacht.

Leider müssen wir uns hier kurz fassen und können nur Tatsachenmaterial im Auszug geben. Wir behalten uns aber vor, in einer der nächsten Beilagen ausführlicher noch auf den Friedensgedanken, wie ihn die Frauen dieser Kölner Tagung herausstellten, einzugehen.

Im Kunstverein sprachen die Delegierten nun zur Öffentlichkeit. Die Rede der Frau Constanze Hallgarten, der Generalsekretärin für Deutschland, enthielt folgende Gedanken: Frauen aus den verschiedensten Ländern haben die internationale Liga der Mütter und Erzieherinnen geschlossen, die 1929 durch Französinnen ins Leben gerufen wurde. In Frankreich zählt der Bund schon über 60000 Frauen, in Deutschland, wo er erst ein Jahr besteht, etwa 7000. Diese Zahl wächst täglich. In unserer Zeit höchster materieller Not und tiefster seelischer Verzweiflung wird es den Frauen klar, daß mit den alten Methoden und mit den zum Abgrund führenden Anschauungen aufgeräumt werden muß. Wie rasch die Entwicklung vor sich gegangen ist, beweist die Tatsache, daß auf der ersten Haager Friedenskonferenz im Jahre 1899 nur eine Frau, Berta von Suttner, vertreten war, während 1932 Vertreterinnen von 56 Ländern im Namen von 45 Millionen Frauen ihre Kundgebungen zur Abrüstungs-Konferenz in Genf vorlegten. Die Rednerin wies sodann auf die Möglichkeiten eines neues Weltkrieges hin und schilderte das daraus erwachsende Geschehen: Gasangriffe, Flugzeugüberfälle, Giftbomben und dergleichen Schrecken. Sie schloß diesen Teil ihrer Ausführungen mit den Worten: "Wir haben es viel zu lange geduldet, daß die Errungenschaften der Technik, die genialen Erfindungen auf dem Gebiete der Chemie, der Naturwissenschaften dazu mißbraucht werden, Vernichtungsmittel herzustellen, um sich gegenseitig zu töten.

Sodann sprach sie von der natürlichen und menschlichen engen Verbundenheit der Nationen, die sich aus kleinen, nationalen Unterschieden unüberwindliche Schranken schaffe. Um die Frauen aufzuklären, und um den Willen zum Frieden zu stärken, habe sich der Weltfriedensbund nun zusammengeschlossen. Hauptziel sei die Erziehung der Kinder im Sinne einer neuen Ethik mit dem Willen zur Güte und Gerechtigkeit.

Als Zweite sprach Frau van Heerdt (Holland). In enthusiastischen Worten rief sie: "Auch wir holländischen Frauen nahmen mit Begeisterung den völkerversöhnenden Gedanken der Mme. Eidenschenk-Patin auf. Er gab unserem Frauenwirken in der holländischen Liga für den Völkerbund einen neuen Inhalt, nach dem wir lange gesucht hatten.

Nachdem wir nun prominente Persönlichkeiten des öffentlichen, sozialen und internationalen Lebens in unseren Reihen haben, die zum Teil der Genfer Delegation angehören, können wir auf die beste Hilfe unserer Regierung rechnen. Es ist notwendig, daß wir den Friedensgedanken vor allem schon in die Kinderherzen in den Elementarschulen pflanzen.

Daß der Friedensgedanke so schnell eine so große Anhängerschaft fand, ist dem großen Vorteil zu verdanken, den wir Holländer vor den am Krieg e beteiligten Völkern voraus hatten, da wir nicht erst die Gefühle des Hasses hinwegräumen mußten, um zu den Gefühlen des Friedens zu gelangen. Die Einmütigkeit der Friedensgesinnung in Holland gab sich dadurch kund, daß unser Aufruf für die Genfer Abrüstungskonferenz die überwältigende Zahl von 2 ½ Millionen Unterschriften ergab. Dies bedeutet für Holland 50 Prozent Unterschriften aller Erwachsenen."

Als letzte sprach dann Madame Eidenschenk-Patin selbst. Sie führte aus: "Der Weltfriedensbund der Mütter und Erzieherinnen wurde gegründet, um gegen das schlimmste Übel der Menschheit, den Krieg. zu kämpfen, Zweierlei Mittel gibt es dazu, eines auf lange Sicht: eine Jugenderziehung in allen Ländern, die zu friedlichen Zielen führt, die die Instinkte der Gewalttätigkeit, der Grausamkeit und der Herrschsucht überwindet, die den Tätigkeitstrieb auf menschliche Ziele richtet und, kurz gesagt, die Kräfte, die die Menschheit bisher auf die Zerstörung richtete, für das Gute anwendet. Mittel von direkter Wirkung sind: die Schaffung einer öffentlichen Meinung durch Flugblätter, Vorträge usw. Die größte Schwierigkeit zu Herstellung des Friedens liegt darin, daß die Völker sich nicht kennen: sie werden in Frankreich durch eine, im Dienst der Großindustrie und der Rüstungsindustrie stehende Presse falsch unterrichtet.

Nach den deutschen Wahlen im September 1930 erhob sich eine große Hetze in der französischen nationalen Presse, Briand wurde tatsächlich überschüttet mit Beschimpfungen und Anschuldigungen. Er dachte daran, sich zurückzuziehen. Der Weltfriedensbund griff ein; in einer Auflage von 52000 Exemplaren wurde nun eine an Briand adressierte Postkarte in Umlauf gebracht, die zu Zehntausenden mit zustimmenden Unterschriften versehen am Quai d’Orsay eingingen. Sie versicherte den Minister der Dankbarkeit des Volkes für seine Friedensworte und bat ihn, auf den eingeschlagenen Wegen weiterzugehen. Briand hat in einem Vortrag bekannt, daß er durch diese Aktion der Liga sehr gestärkt worden ist in seinem Glauben an die Friedensliebe des französischen Volkes. Er sagte von den Unterzeichnungen dieser Karte: das ist das wahre Frankreich, für dieses Frankreich werde ich arbeiten. Diese Aktion brachte der Liga einen Zuwachs von etwa 30000 Mitgliedern."

Ein paar zahlen sollen hier noch sprechen, die von der Französin angegeben wurden. 80 Prozent der Steuern gibt Frankreich für Rüstungszwecke aus, 20 Prozent für die Wohlfahrt. Diese Zahlen sprechen Bände. Es ist wirklich an der Zeit, daß die Frauen die Initiative ergreifen und laut und deutlich in allen Ländern sagen, daß die Zeit des Friedens beginnen muß, wenn nicht Europa zugrunde gehen soll.

In: "Frauen-Beilage" zum Düsseldorfer Stadt-Anzeiger, 3. Juli 1932, Nr. 183

Mahner und Vorbild: Der Wandsbecker Bote

Zu der neuen Biographie Urban Roedl:
Matthias Claudius: "Sein Weg und seine Welt" (Kurt Wolff-Verlag Berlin)

Herder äußerte sich einmal über den Herausgeber des Wandsbecker Boten: "Das Beste, was ich von neuen Schriften gelesen, sind Blätter und fast nur Reihen von meinem Freunde Claudius, ohne Gelehrsamkeit und fast ohne Inhalt, aber für gewisse Silbersaiten des Herzens, die so selten gerührt werden."

Aber gerade dafür war in der damaligen Zeit – Claudius wurde 1740 geboren – wenig oder gar kein Verständnis vorhanden. Darum wurde der Schriftleiter der in literarischen Kreisen geschätzten Zeitschrift "Der Wandsbecker Bote" auch in der öffentlichen Kritik zuerst sehr mißhandelt. "Die Kritiker würden es nicht getan haben, wenn sie in die Zukunft gesehen hätten", spöttelt Herder, der bei seiner im Grunde ganz anders gearteten Wesensart doch die Herzensreinheit des Wandsbecker Boten erkannte.

In ihm ist der christliche Glaube noch eine reine Herzenssache und eine unangreifbare Gewißheit. Darum gibt es für ihn darüber einfach keine Problematik. Ewig gültig und unantastbar ist für ihn das Religiöse. Dieses Ursprüngliche und Lautere in der Gesinnung des Claudius hat auch Lessing rückhaltlos anerkannt. Und der viel jüngere Matthias erwiderte diese Zuneigung durch restlose Bewunderung für den Dichter der "Minna von Barnhelm" und für den Verfasser des "Laokoon". Er erkennt auch die überlegene Klugheit dieses Kritikers an, ja, er verehrt direkt diese Lessingsche Persönlichkeit – aber seine problematische Einstellung zu religiösen Fragen schmerzt ihn tief. Wohl sieht er ein, daß die alten religiösen Formen von den Herrschenden zum Teil nur hochgehalten wurden des eigenen Vorteils willen. Dieses Unwahre mußte auch nach seiner Meinung bekämpft werden, aber doch nur durch die Wiederherstellung des Menschen - als Ebenbild Gottes.

Diese Beziehung wieder herausstellen, darin sah Claudius seinen schriftstellerischen Beruf. Seine Meisterschaft der Form ermöglichte ihm, sich auch dem Ungelehrten verständlich zu machen und seine Ursprünglichkeit und seinen Humor walten zu lassen, und selbst von den erhabensten und heiligsten Dingen redete er so erdennah und prunklos feierlich wie keiner sonst in seiner an großen Geistern nicht armen Zeit. Selbstverständlich erwuchsen ihm dadurch auch Feinde und Widersacher, denn nicht alle erkannten den Wert von philosophischen Betrachtungen, die ohne persönlichen Zank waren, und die Güte einer Lyrik, die ohne Pikanterie war.

"Was für ein sonderbarer Parteigänger ist das", so sagt der Biograph, "der es mit den Gelehrten und freien Geistern hält und zugleich aller Zweifelsucht das Wort Christi als letzte Wahrheit entgegensetzt; der den Geisterseher Swedenborg vor den überlegenen Skeptikern in Schutz nimmt und den Weg zwischen der Skylla der religiösen Schwärmerei und der Charybdis der Dogmatik mitten durch – leicht und zugleich schwerer als die berufene Nordwestpassage – sucht. Das Vaterländische und alles Deutsche begrüßt und besingt er und hält sich doch vorsichtig abseits von den neuen Barden, in denen das Wort "Deutsch" eine Fieberwallung erzeugt."

So sagt sein Biograph – und wahrlich, er hätte sich keinen Besseren selbst aussuchen können. Hier hält verantwortungsvolle Liebe Wache über jede Aussage, die gewichtig ist für das Werk und das Leben des Dichters, das hier so rein vermittelt wird. Und dieses Leben war nicht leicht, denn Claudius nahm seinen Glauben zu ernst und seine Liebe zu heilig, um es sich damit hienieden wohnlich einzurichten. Wer aus ganzem Herzen ja sagen möchte, der wird in dieser Welt der Halbheiten um so öfter aus voller Seele nein sagen müssen; "und je heiliger ihm seine Wahrheit ist und je inniger er sie liebt und bewahrt, umso kämpferischer wird er sich gegen alles und alle stellen...", wenn diese Wahrheit ihm bedroht erscheint. Es lohnt sich schon, das Leben dieses Kämpfers unter der Leitung Urban Roedls kennenzulernen. Es gibt eine hoffnungsvolle tiefinnerliche Bereicherung.

In: Neue Post, 28.03.1934, Nr. 12

Herrgott von Bentheim

Ich erinnere mich, daß man in meiner Kinderzeit im westfälischen Elternhaus „Herrgott von Bentheim“ ausrief, wenn man nicht weiterkonnte und mit irgendetwas in eine Sackgasse geraten war. Eigentlich wirkte der Ausruf immer mehr wie ein Fluch als wie ein Anruf des Himmlischen. Als Kind habe ich nicht gefragt. Ich fühlte nur, daß der Herrgott von Bentheim im Leben der Erwachsenen eine große Rolle spielte. Nun ich erwachsen bin und eine Reise mich nach Bentheim führt, suche ich selbstverständlich nach dem Herrgott. Ich finde ihn, den Herrgott meiner Kindheit, im Schloßgarten unter Kastanienbäumen, die ihre Zweige wie das Dachgewölbe eines Domes über ihn zusammenschlagen. Es ist eine der wenigen noch erhaltenen frühchristlichen Darstellungen des Gekreuzigten, eine in ihrer Einfachheit ganz große Auffassung. Ein Künstler, der uns begeistern und edler und größer macht, muß zuerst selbst ein einfaches und großes Herz besitzen. Darum war es wohl richtig, daß ich auf meine Frage nach dem Künstler als Antwort die Geschichte eines Herzens erhielt.

Die Legende erzählt, daß zur Zeit Mittelkinds der Schloßherr von Bentheim ein tapferer Streiter war auf Seiten der Sachsen gegen die anrückenden Franken, die durch Anlage von festen Stützpunkten und durch Errichtung von Bistümern das Land zwangsweise christianisieren wollten. Unter den christlichen Gefangenen, die der Schloßherr machte, befand sich einer namens Theodor, ein Künstler, der auf Bitten der Tochter des Fürsten von Bentheim in der Burg allerhand Verzierungen anzubringen hatte. Bei diesen künstlerischen Arbeiten lernte das Schloßfräulein den Feind ihres Vaters kennen. Aus ihrer Liebe zur Kunst erwuchs eine tiefe Zuneigung zum Künstler. Sie verhalf ihm zur Flucht. Aber da alle Wege abgesperrt waren, versteckte er sich im Bentheimer Urwald. Die heidnische Opferstätte wurde des Christen Zuflucht, und der Opferstein wurde in des Künstlers Händen zum Stoff für den Herrgott von Bentheim. Aus dem heidnischen Opferstein formte er des Erlösers gütiges Antlitz.

Das ist die Geschichte, die man sich heute noch in der Bentheimer Gegend erzählt. Und man versäumt niemals, nach der Erzählung zu bemerken, daß das Kruzifix tatsächlich im Bentheimer Urwald gefunden und wie man sich das sonst erklären sollte, daß es dorthin gekommen sei.

Niemand wird das aufklären. Doch wer durch den Wald geht, der versteht einen Künstler, der hier in seiner Einsamkeit schaffen mußte. Wie schön und ursprünglich ist heute noch dieser Wald, wie eine große Seele ist er bezaubernd in seiner Mannigfaltigkeit und in seinem lieblichen Schweigen. Wie ehedem hört man nur Laute der Natur: ein Vogelflattern, das Knabbern von Eichhörnchen, das Knacken von Zweigen, über die Rehe und Hirsche leichtfüßig hinwegspringen. Fichten und Buchen, die altersschwach ein wilder Sturm umknickte, liegen bemoost im Weg, überwachsen von zahlreicher Nachkommenschaft, die auf dem Boden ihrer toten Baumahnern herrlich gedeiht. Immer wieder überwächst die Baumjugend die leer gewordenen Stellen, so daß trotz der uralten zusammengewachsenen und verknoteten Heinbuchen der Eindruck einer jungfräulichen Wildnis bleibt. Diese lebendige und doch leidenschaftslose Natur, in der alles nach seinem Gesetz blüht, reift und sich vollendet, ist ein Wirklichkeit gewordenes Gleichnis von der Kraft dessen, der dies alles erschafft und erhält.

Menschen, die in einer ursprünglichen Landschaft wohnen wie die Bentheimer Grafschafter, sind schlicht und einfach. Die Abgeschlossenheit und die dadurch notwendig gewordene Nachbarhilfe hat die Bentheimer Landbewohner zu einer tatkräftigen Nächstenliebe erzogen. Nachbartreue in Freud und Leid ist im Lande Wittekinds und des Herrgotts von Bentheim keine vergangene Sitte. Sie wird in Ehren gehalten wie die schwarze und weißumrandete pompöse Ohrenmütze mit wippender Straußenfeder, die Großmutter trägt, wenn sie am Sonntag den Herrgott besuchen geht.

In: Mittag, 05.11.1936