Hulda Pankok Textforum
Texte 1951-1981
Deutsche Frauenpartei
Die im März 1951 gegründete "Deutsche Frauenpartei" trat in diesen Tagen in einem Düsseldorfer Presseempfang an die Öffentlichkeit. In ihren einführenden Worten betonte die Vorsitzende, Hulda Pankok, dass die Partei nicht aus einer Gegnerschaft zu den Männern entstanden sei. Die Frauen hätten nur die Gefahren der einseitigen Männerpolitik in unserer Zeit erkannt und sich verpflichtet gefühlt, das männliche Denken und Handeln mit den aus weiblicher Schau kommenden Gedanken und Taten zu ergänzen. Die Frauen hoffen, durch ihren freundlichen Einfluss die Politik wieder zu vermenschlichen, den Geist der Toleranz, der freundlichen Beziehungen dort wirksam zu machen, wo die Meinungen aufeinanderprallen, nämlich im Parlament.
Die Frauenorganisationen, die bis jetzt gebildet wurden, konnten sich durch die geringe Vertretung im Parlament mit ihren Wünschen kaum durchsetzen, außerdem waren die weiblichen Abgeordneten von ihrer Partei abhängig. Die bestehenden Parteien haben bis jetzt 39 weibliche Abgeordnete bei 379 männlichen Abgeordneten zugelassen. Da über die Hälfte der Wähler weiblich ist, schien es den Frauen kein unbilliges Verlangen, durch eine eigene Partei das Parlament in einem maßvolleren Verhältnis mit Frauen, besonders mit erfahrenen Müttern zu besetzen. Die Frauen erstreben durch ihre Partei den inner- und außenpolitischen Frieden. Sie sind der Meinung, dass die Politik, welcher der weibliche Einfluss fehlt, leichter Gefahr läuft, sich in Theorien zu verlieren und in starre Systeme. Da aber kein System unfehlbar sein kann, kann man die Politik dann schließlich doch nur mit Gewalt oder mit einem geistigen Terror aufrecht erhalten. Wenigstens für eine gewisse Zeit. Die Frauen erhoffen nun, dass sie die doktrinären Männer zu den sachlichen und einfachen Notwendigkeiten zurückführen, ohne dass sie dabei die Werte, Fähigkeiten und Erfolge der politischen Männer verkennen.
Ziel der Frauenpartei ist die direkte Mitarbeit an allen Tagesfragen in den Parlamenten. Zur Erreichung dieses Ziels sollen Frauenpersönlichkeiten aus allen Volksschichten und Berufen, die ihre Fähigkeit zur politischen Mitarbeit bewiesen haben, zur Wahl gestellt werden. Die Frauen Partei steht auf demokratischer Grundlage und erstrebt einen gerechten sozialen Ausgleich. Sie erstrebt nicht die Macht im Staat, sondern sie will an erster Stelle an der innenpolitischen Befriedung unseres Landes ausgleichend mithelfen. Die Frauen Partei lehnt die übliche Partei-Disziplin und den Fraktionszwang ab. Sie ist an keine Weltanschauung gebunden und verpflichtet auch zu keiner weltanschaulichen Festlegung, sondern nur zu fraulich-mütterlicher Verhaltungsweise bei allen Entscheidungen. Oberstes Gesetz ist gegen niemand zu sein und weder durch Wort noch Tat Unfrieden und Hass gegen Einzelpersonen oder Gruppen von Menschen zu verbreiten. Stellungnahmen zu Geschehnissen dürfen nur in unantastbarer sachlicher Form vorgebracht werden. Das Misstrauen, das heute unser öffentliches Leben vergiftet, will die Frauenpartei überwinden durch eine offene und klare Politik. Die Vertreterinnen der Frauenpartei sind darum nur ihrem Gewissen und den Wählern gegenüber verantwortlich.
Die Frauen Partei setzt sich für die Verwirklichung eines wahren Friedens durch Abrüstung, Gleichberechtigung und Freiheit aller Völker ein. Sie setzt sich für die soziale Sicherheit jedes Menschen ein.
- Durch Arbeit und Verdienstmöglichkeit jedes Arbeitsfähigen.
- Durch staatsbürgerliche Versorgung jedes Hilfsbedürftigen.
Die Frauenpartei fordert persönliche Freiheit jedes Menschen durch Gesetze, die jeden Missbrauch persönlicher und staatlicher Macht zur Unterdrückung eines Menschen durch andere Menschen unmöglich macht. Vorschläge werden durch die Partei ausgearbeitet, welche Massnahmen zur Verwirklichung dieser Forderungen im bügerl. Recht, im Arbeits-, Wohn-, Schul-, Straf-, und Wirtschaftsrecht durchzuführen sind, um den Schutz zu gewährleisten.
Kommissionen sollen gebildet werden, die bei Wirtschaftsplänen mitarbeiten. Der größte Teil des Volksvermögens geht durch die Hände der Frauen, die als Betreuerinnen der Familie und des Haushalts doch die zahlreichsten Konsumentinnen sind. Ihre praktischen Erfahrungen sollen bei der Lösung von wirtschaftlichen und Ernährungsproblemen nicht mehr unberücksichtigt bleiben. Die Frauen, die mit den Wirtschaftskrisen in unmittelbarer Beziehung stehen und sie täglich im kleinen meistern müssen, könnten nach Meinung der Frauenpartei auch auf die Finanzpolitik im besten Sinne einwirken. Die Beratung der einzelnen Ressorts durch Frauen soll die Hauptaufgabe der Frauen Partei sein.
Die Partei-Organisation besteht aus dem Bundesvorstand und den einzelnen Ortgruppenvorständen, die in steter Fühlung mit ihren Mitgliedern und interessierten Frauen alle gestellten Aufgaben durchsprechen. In den einzelnen Orten werden öffentliche Sprechstunden abgehalten und Informationsabende eingerichtet. Größere Vorträge werben für die "Deutsche Frauenpartei."
Quelle: Undatiertes Typoskript, Pankok-Archiv, Haus Esselt
Paula Becker-Modersohn
Eine große Künstlerin und ein vorbildlicher Mensch
Die Freunde von Paula Becker-Modersohn erinnern sich noch des Tages, an dem in der Böttcherstraße in Bremen das Paula-Becker-Modersohn-Haus eröffnet wurde, welches das Lebenswerk dieser Künstlerin aus allen Schaffensperioden zeigte. Es war ein großes Fest mit klugen Reden, mit gutem Essen und perlendem Sekt und mit all dem äußeren Glanz, der von schönen geputzten Damen und von schwarzbefrackten Herren auszugehen pflegt, die sich hier versammelt hatten, um einer genialen Frau nach dem Tode die Ehre zu erweisen, die ihr im Leben versagt blieb. Es wollte der festliche Tumult so gar nicht zu den stillen Bildern passen. Die Freunde von Paula Becker-Modersohn saßen abseits, beunruhigt und verwirrt da, bis plötzlich einer unter ihnen laut sagte: „Das ist die Welt!“ Diesen Ausspruch hatte die hier gefeierte Künstlerin getan, wenn sie mit der lauten Welt nicht fertig wurde und diese ihr unverständlich blieb. Dann konnte sie auf eine so nachsichtige und liebevolle Art sagen: „Das ist die Welt!“ Und selbst diese Welt, die sich ihr verschloß, hörte sie nicht auf zu lieben. Sie blieb eine ehrfürchtige Tochter, die in ihren Briefen immer wieder die Eltern bat, Geduld mit ihr zu haben, die darunter litt, daß sie ihre Lieben durch ihre Bilder nicht erfreuen konnte, sondern sie erschrecken mußte. Sie war traurig darüber, doch vermochte niemand und nichts diese Frau von ihrem Weg abzubringen. Sie ging ihn still, anspruchslos und zielsicher. Sie selbst schrieb in ihr Tagebuch: „Man tut eben, was man kann und legt sich dann schlafen. Und auf diese Weise geschieht es, daß man eines Tages etwas geleistet hat.“
Zu der Ablehnung ihrer Kunst von seiten ihrer Angehörigen, welche die sorgende Liebe aber nicht minderte, kam noch die vollkommene Ablehnung der Öffentlichkeit. Bei ihrer ersten Ausstellung in der Bremer Kunsthalle im Jahre 1899 verzeichnete sie in ihrem Tagebuch, daß die Presse „alles in Grund und Boden donnert“. Sie schrieb weiterhin, daß sie davon derart mitgenommen war, daß sie in der Nacht von einem Alptraum befallen wurde: „Das war ein fürchterlicher Kater, der seinen langen Schwanz um meinen Hals gewickelt hatte und meine Seele schier erdrosselte.“
Was war der Grund, daß ihre stille Kunst die Seele der andern in Aufruhr brachte und sie so erschreckte? Verstehen kann man diese Schockwirkung nur, wenn man bedenkt, wie es zu dieser Zeit im Kunstleben aussah. Das Bürgertum, aus dem sie entwuchs, fühlte sich noch in einer gesellschaftlichen Ordnung geborgen. Es wollte keine Beunruhigung der Seele. Die Porträtkunst suchte den äußeren Menschen mit aller Delikatesse ästhetisch im Bilde einzufangen. Selbst der von Paula Becker-Modersohn geschätzte Worpsweder Maler Mackensen machte, ihrer Ansicht nach, aus den Heidebauern und den Tagelöhnerkindern Genrebilder. Gerade das wollte sie nicht: Sie suchte die große Einfachheit der Form. Darum liebte sie die Kunst Millets. Hier sah sie verwirklicht, was sie auf eigene Weise darzustellen versuchte. Sie suchte nach „großer biblischer Einfachheit“. Das war es, was sie in Gegensatz setzte zur herkömmlichen Kunst jener Tage, die gefällig, lieblich und ansprechbar sein sollte. „Anton von Werners Glanzlichter auf den Stiefeln liegen uns alle im Blut“, meinte sie selbst. Und da sie den Glanzlichtern entsagte, wurden die Angehörigen unsicher und begannen an ihrem Talent zu zweifeln. Als Sicherheit für die Zukunft verlangte darum der Vater von ihr das Lehrerinnenexamen. Sie tat ihm den Gefallen; übte aber nach dem Examen den Lehrerinnenberuf nicht aus. Ihr Vater, der in großer sorgender Liebe an der Tochter hing, gab schließlich ihren verzweifelten Bitten nach und ermöglichte ihr noch eine künstlerische Ausbildung in Berlin und später in Paris. Wie freute sie sich über die „kindliche Empfänglichkeit der Franzosen, die sich auch in der Kunst zeigt“. Sie erkannte Verwandtes beim Anblick großer Kunst im Louvre. Sie fühlte den Mut wachsen und freute sich an der Anbetung der Natur in den Meisterwerken, aus denen ihr so etwas wie eine Bestätigung ihres künstlerischen Wollens erwachsen sollte. Sie suchte nun, wie sie sich ausdrückte, „das sanfte Vibrieren der Dinge auszudrücken“. Paris sollte immer wieder ihre Zufluchtsstätte werden, wenn sie Anregung suchte oder aber Ruhe zur Konzentration. Beides gab diese große Stadt: Anregung und die Möglichkeit, sich darin zu isolieren.
Das Wesen der Landschaft, das Charakteristische der Menschen wollte sie im Bilde ausdrücken. In welch großartiger Weise ihr das gelungen ist, das wissen wir heute. Sie selbst bekannte einmal: „Die Stärke, mit der ein Gegenstand erfaßt wird, das ist die Schönheit in der Kunst. Ist es auch nicht so in der Liebe?“ Und nun sollte sie die Liebe nicht halten können, weil die Kunst keinen neben sich dulden wollte.
Und doch wurde ihr die Einsamkeit nicht leicht. Sie hatte ein Verlangen nach Nähe und Wärme, und ihre Tagebuchnotizen zeigen, wie schmerzlich sie das kleinste Nichtverstehen empfand. Und es ist aus ihren Werken ebenso wie aus ihren Worten zu erkennen, daß die später bedrohte Ehe mit dem Maler Otto Modersohn in Worpswede – wohin sie gezogen war, um die Bauern zu malen – eine große Bereicherung ihres Lebens war. So schrieb sie von Paris an ihren Mann: „Als Mädchen war ich innerlich jubelnd und erwartungsvoll, nun als Frau bin ich auch voller Erwartungen, aber sie sind stiller und ernster. Ich glaube, es sind jetzt nur ihrer zwei ganz bestimmte: meine Kunst und meine Familie.“ Dennoch war sie auf Dauer untauglich für die Zweisamkeit einer Ehe, die sie nicht zur Konzentration kommen ließ, so daß sie Worpswede immer wieder verließ, um in Paris ganz ihrer Malerei zu leben. Otto Modersohn, selbst Künstler, hatte das Schicksalhafte in dieser Flucht seiner Frau begriffen, sonst wäre der feinfühlige Mann nicht nach Paris gefahren, um sie zu beschwören, nach Worpswede zurückzukehren, das zu ihr gehörte, das ihr die Modelle lieferte, die sie so liebte: die bäuerlichen Frauen und die Tagelöhnerkinder und die Landschaft. Sie gab nach, sie wollte die Liebe festhalten und sie ging mit nach Worpswede zurück, wo sie am 2. November 1907 einem gesunden Mädchen das Leben gab. Niemand von ihrer Umgebung ahnte, daß sie wenige Tage später, am 21. November, sterben mußte. Eben hatte sie noch glücklich ausgerufen: „Ach, wie freue ich mich! wie freue ich mich!“, da sank sie zusammen, und sterbend flüsterte sie noch „Wie schade.“
Die Welt nahm vom Tod dieser Frau wenig Notiz. Aber einer sang ihr das leidenschaftliche Requiem, Rainer Maria Rilke:
Denn das verstandest Du: die vollen Früchte,
die legtest Du auf Schalen vor Dich hin
und wogst mit Farben ihre Schwere auf,
Und so wie Früchte sahst Du auch die Fraun
und sahst die Kinder so, von innen her
geschrieben in die Formen ihres Daseins.
Und sahst dich selbst zuletzt als eine Frucht,
nahmst Dich heraus aus Deinen Kleidern, trugst
Dich vor den Spiegel, ließest Dich hinein
bis auf Dein Schauen; das blieb groß davor
und sagte nicht: das bin ich; nein: dies ist.
So ohne Neugier war zuletzt Dein Schauen
und so besitzlos, von so wahrer Armut,
daß es Dich selbst nicht mehr begehrte: heilig.
In: Die Frau im Mittag, Nr. 16, 20. Januar 1954
Lebendige Liebe formt die Sprache
Frauenlyrik seit 1900/ Verse, die vom "bösen Bann" erlösen
Durch ihre Natur ist die Frau der Erde verhaftet. Und es ist darum nicht schwer zu erraten, warum ein Teil der Dichterinnen nicht mehr die eigene Liebe, den Eros, besingt, sondern daß einige Frauen nach zwei Kriegen, nach Verfolgung und Bedrohung durch Atombomben, zu Sibyllen und Kassandren wurden. Gerade ihre Gedichte atmen am stärksten die Liebe zur geschändeten Natur und zur gefährdeten Welt.
"Unter dem sapphischen Mond" lautet der Titel eines neuen Piperbändchens, das von Oda Schaefer herausgegeben und in einem Nachwort gedeutet wurde. Es umfaßt mit ausgewählten Gedichten die deutsche Frauenlyrik seit 1900. Über dreißig Dichterinnen wurden berücksichtigt. Trotz dieser großen Zahl ist aber die künstlerische Qualität dabei immer gewahrt worden. Es wird nicht leichtfallen, eine Auswahl zeitgenössischer männlicher Lyrik von gleichem Rang zusammenzustellen.
Diese Verse beweisen, daß die künstlerische Tradition hier bis heute erhalten blieb und daß die Frauen darum berechtigt sind, sich auf Sappho zu berufen. Diese erste Lyrikerin des europäischen Raumes kann den Mond, den stillen Gefährten der Nacht, nicht sehnsüchtiger gesucht und angerufen haben als diese Dichterinnen unseres Jahrhunderts. Sie verloren nicht den Zusammenhang mit den Urphänomenen wie Natur, Liebe, Geburt und Tod. Und nur weil sie sich als Geschöpf Gottes spürten, entgingen sie jener unfruchtbaren Verzweiflung, die heute die Geistessubstanz zu zerstören droht. In der Sprache dieser Dichterinnen ist noch die göttliche Spur, die Liebe, die das Geheimnis durchleuchtet, ohne es preiszugeben, und die das Unhörbare hörbar zu machen versteht.
Wenn die Liebe in der Sprache fehlt, dann kann kein schöpferischer Akt erfolgen. Diese zarten Lieder stellen sich der Auflösung hindernd entgegen. "Das tödlich Bedrohte flieht in den Vers und erlöst sich dort vom bösen Bann", deutet Oda Schaefer diesen wunderbaren Vorgang. Bis zur Selbstaufgabe steigert sich die Liebe bei Else Lasker- Schüler, als sie vereinsamte:
Wenn es an mein Haus pochte,War es mein eigenes Herz.
Das hängt an jedem Türpfosten,
Auch an deiner Tür.
Und Martha Saalfeld bekennt: "Das Herz des Vogels ist geängstigt und das Herz des Dichters..."
Überall lauert Betrug und überall lauern Gefahren. Welche Tragödien verbergen sich hinter den Gedichten der Gertrud Kolmar, die auf dem Wege nach Auschwitz verschollen blieb. Else Lasker-Schüler starb enttäuscht in Jerusalem, das ihrer Vorstellung von einer alttestamentarischen heiligen Stadt nicht standhalten konnte. Elisabeth Langgässer wurde als Halbjüdin verfolgt, erlag einer Nervenkrankheit, der sie jahrelang, im geheimen arbeitend, ihre Dichtung entgegengesetzt hatte. Ricarda Huch mußte dem Zusammenbuch ihrer humanen Lebensart zusehen. Regina Ullmann flüchtete über die Dächer der Nebenhäuser vor den Verfolgern, das Klirren ihrer alten Hinterglasbilder in den Ohren, zu Max Picard in die Schweiz. Die zarte Poetin Emmy Ball-Hennings eröffnete nach dem ersten Weltkrieg mit ihrem Mann Hugo Ball das Cabaret Voltaire in Zürich, wo sie versuchten, aus den geistigen Trümmern die Bausteinchen zu picken und mühsam wieder zu einem neuen soliden Geistesbau aufeinanderzusetzen. Hermann Hesse war einer ihrer großen Verehrer. Für die damalige suchende und um geistige Werte ringende Jugend gab dieses Ehepaar wesentliche Ziele und Leitbilder.
Das ist der Sinn der Kunst, daß sie uns bilde und uns den Weg zu uns selbst weise. Wie stark geht diese Kraft gerade von den ganz persönlichen Gedichten der Cläre Goll aus. Sie lebt einsam in New York. Seit Ivan Goll starb, ist ihre Sonne erloschen. Ihre Gedichte waren sehnsüchtige Tränen, die dahinfließen, um den Schmerz über das Vergängliche zu lösen, der unser aller Schmerz ist.
Die Sprache hat die wunderbare Macht, eine geistige Gemeinschaft zu bilden. Wer danach sehnsüchtig ist, der kann sie in diesem Lyrikband finden, der noch viele Schätze enthält, die wir hier nicht alle sichtbar machen konnten.
In: Der Mittag, 26. Juni 1957
Der künstlerische Auftrag
Man hat den Künstler den Genius genannt. Dieser Name bezeichnet das Überpersönliche, Überindividuelle, und das unbeirrbare Bereitsein eines Menschen, den ihm schicksalhaft zugefallenen künstlerischen Auftrag anzunehmen. Er kann sich ihm nicht entziehen. Sein Ergriffensein hängt ab von einer Macht, die nicht im persönlichen Belieben steht, die sich schenkt oder versagt, die einen auserwählt oder verwirft, nach einem geheimen Gesetz, vor dem unser Wille und die Willkür des Einzelnen hinschmilzt.
Der Künstler ist an seinen Auftrag gefesselt. Wenn wir diesen festlegen wollen, so können wir das nur mit der Aufzählung einzelner Aufgaben: Das Unfaßbare festzuhalten im Bild, für andere zu gestalten, was in diesen sonst ungeformt bliebe und sie sehend zu machen für das wirkliche Leben, das in unserer Zeit so gefährdet ist.
Mut zum Guten
Auf diese Gefahren hinzuweisen ist eine der dringendsten Aufgaben des Künstlers unserer Tage. Jeder weiß wohl, daß eine gute Welt besser ist als eine schlechte, aber beweisen läßt sich dies schwer in einer Zeit wie der unseren, die von Gegensätzen und niederen Leidenschaften erfüllt ist und die eine gemeinsame Untersuchung der fehlerhaften weltlichen Einrichtungen nicht zuläßt. Hier aber bleibt dem Künstler die Möglichkeit, überzeugend auf den Besucher seines Werkes einzuwirken durch Vermittlung des Gefühls, daß er nicht allein ist mit seiner Sehnsucht nach einer besseren Welt. Und damit stärkt und weckt er den Mut zum Guten!
Mut zum Guten! Ja, die Kunst ist abhängig von mutigen Menschen, die ihren Auftrag verantwortungsvoll ausführen und die das Abenteuer riskieren und sich in neu zu erobernde geistige Gebiete begeben, wenn es notwendig wird. Es ist ein Irrtum zu glauben, man könnte sich aus dem üppigen Stilgarten, der sich heute vor uns ausbreitet, eine passende Stilart aussuchen. Diese künstlichen, nicht künstlerischen Blümchen werden keine Früchte des Geistes hervorbringen, an denen unsere Enkel und Urenkel unsere Zeit erkennen können.
Unvergänglichste aller Ausdrucksformen
Jahrtausende haben die Menschen in der Kunst ihre höchsten Empfindungen ausgedrückt. Darum ist sie die unvergänglichste aller Ausdrucksformen. An ihr vermag sich der Mensch über gewesene Epochen und Völker zu orientieren. Sie hat völkerverbindende Kraft in ihrer weiten Ausstrahlung.
Ich selbst durfte das am Ende des letzten Krieges erleben, als die amerikanischen Truppen in unser Eifeldörfchen einzogen, in das uns der Krieg verschlagen hatte. Als Otto Pankok dem verantwortlichen Offizier die bei uns versteckten Verfolgten anvertrauen wollte, da breitete dieser seine Arme aus, um ihn herzlich zu begrüßen und rief: „Pankok, Sie hier?!“ Es war ein kunstinteressierter Amerikaner, der Pankoks Werk liebte. Für uns war dieses Ende des Hitlerdramas ein kleines Wunder. Auch das Eifeldörfchen stand nun unter dem Schutz des Geistes, der aus Pankoks Kunst spricht.
Verantwortung des Künstlers
Die Kultur ist abhängig von der Gemeinschaft der in Ehrfurcht Verbundenen. Darum ist das Erlebnis der Kunst den Menschen so dienlich wie das Erlebnis der Nächstenliebe. Vor einem echten Kunstwerk spüren sie wieder das Gefühl der tiefsten Verbundenheit, die Hölderlin in die dichterischen Worte faßte: „und alle Gedanken schwinden vor dem Bilde der ewig einigen Welt.“
Der künstlerisch empfindende Mensch bewahrt die Verantwortung der Gesamtheit gegenüber, denn er trägt die Last der Mitverantwortung für die Früchte, deren Saat er mitaussät.
Darum muß er oft zum Unruhestifter werden, wenn er die Welt durch die „Großen“ dieser Erde gefährdet sieht, wie das im Augenblick in Vietnam geschieht. Gefahren ziehen aber nicht nur durch die mörderischen technischen Erfindungen immer wieder auf, sondern auch durch die von bösen Interessen gespeiste Verteufelung, der Menschen ausgesetzt sind, die anders denken, fühlen, andere Hautfarben haben und den einen Gott auf verschiedenen Wegen suchen. Ihr Anwalt muß der Künstler sein. Denn was ihn zum Unruhstifter macht und ihn zur Verantwortung dem Leben gegenüber zwingt, das ist seine ungeteilte Liebe, die der ganzen Schöpfung gehört. Sie bestimmt seine Existenz. Darum ist der heutigen Kunst ein Auftrag gegeben, der darin besteht, den ewigen und unantastbaren Werk des Menschen erkennen zu lassen und mit ihm seine Welt, die gefährdete Natur und die bedrohte Landschaft. Denn die Menschen haben sich die Erde und den Himmel untertan gemacht ohne die Liebe, die sie allein befähigen könnte, die ungeheuerlichen großen technischen Errungenschaften zu meistern und segensreich für alle zu nutzen. Das Erschreckende, das wir nun erleben, ist das wachsende Verzagen vieler Menschen, die an ein Entrinnen nicht mehr glauben und in Angst vor kommendem Unheil leben. Angst aber kann ein Riegel werden vor dem Leid der anderen, das so groß geworden ist, daß man sich verschließen möchte. Diese Erfahrung machten wir in der Hitlerzeit.
Geduld behalten
Darum ist es so wichtig, daß die geistigen Menschen nicht aufhören, vor den Folgen der Lieblosigkeit zu warnen, die unsere Welt wie eine Krankheit befallen hat. Vielleicht haben wir den Höhepunkt der Fieberträume von Macht und Gewalt schon hinter uns. Es dürfte doch nicht verwunderlich sein, wenn die Völker endlich aufwachten nach den vielen erfolglosen Versuchen, mit kriegerischen Mitteln eine Ordnung auf Unfreiheit anderer aufzubauen.
Noch wissen wir nicht, ob die Liebe an Intensität zunimmt und ob sie eines Tages, den wir noch erleben möchten, ans Licht dringt wie der Samen, der in der dunklen Erde verborgen ruht und plötzlich zu sprießen beginnt. Wir müssen Geduld behalten und durchhalten.
In: Frau und Frieden. Monatsschrift für politisch interessierte Frauen, 16. Jg., Juni 1967, S. 11
Else Lasker-Schüler
Vortrag gehalten am 19. April 1969 in Haus Esselt
Else Lasker-Schüler war meine Freundin. Den Altersunterschied haben wir nie empfunden. Sie starb im März 1945 in Jerusalem. Im Februar dieses Jahres gedachten wir ihres 100. Geburtstages. Böse konnte sie werden, wenn sie im Gespräch nach ihrem Alter gefragt wurde. Ewig war sie und ohne Anfang und Ende, wie sie selbst behauptete, geboren als Prinz Jussuf von Theben und nur wie durch Zauberei vom Orient fort in die Wiege vom Architekten Schüler in Wuppertal gelegt, wo sie sich dann aber so wohl fühlte, daß es kaum schönere bekennerische Worte gibt wie jene, die Else Laker-Schüler für ihre guten Eltern fand. Spielte sie als Kind mit bunten Knöpfen aus den Fabriken ihrer Wuppertaler Heimat, so war es später das Spiel mit dem Wort, mit dem sie auf eine fascinierende Art jonglierte.
Leicht war das Wort für sie, wie ein Federball und es scheint oft so, als würfe sie es hinaus in die Welt, ohne festgesetztes Ziel, in der Erwartung, daß es doch irgendwo haften bleibe, auf einem Ding, das sich danach sehnt, mit im Rhythmus der Laskerschen Dichtung aufgenommen zu werden. Ihrer beweglichen Fantasie entwuchsen farbenprächtige Bilder, Blüten eines Zweiges der Semiten. Träumerisch und voller Schwermut ließ sie mitempfinden, was ihre Ahnen schon gelitten haben.
Aus vielen Tönen setzt sich dieses Lebenskonzept zusammen. Einer der Hauptakkorde aber bildete in ihrem Leben das tiefe Erlebnis, das ihr zuteil wurde durch die Bekanntschaft mit dem westfälischen Dichter Peter Hille, von dem die Wartefrau der Dichterin anläßlich seines ersten Besuches die treffende Schilderung gab: "Ein Mann aus dem alten Testament ist hier gewesen...".
Als Else Lasker-Schüler später die Freundin von Otto Pankok wurde, schenkte sie ihm eines Tages einen wunderschönen roten Kamm als Zeichen ihrer Liebe. Sie meinte aber bei der Überreichung des Geschenks, daß sie denselben Kamm ihrem Geliebten Peter Hille verehrt habe – doch hätte Peter Hille noch einen großartigeren Bart gehabt. Da wirkte Pankoks Bart wie Lametta.
Wer in meinen Alter ein Leben beschreibt, das in freundschaftlicher Beziehung zum eigenen stand, rührt an ein Stück Sage: Menschen, die an uns vorübergingen und eine gestaltete Welt, die wir noch mit Augen schauten, ist nicht mehr. Ohne ein Erinnern, das so schön mit dem Wörtchen Innerlichkeit zusammenhängt, wäre unser Leben wie auf Sand gebaut. Die Spuren des Lebens sind heute schnell verweht, da ein Ereignis das andere jagt und fast keinem mehr Dauer gewährt wird, wenn nicht unser Herz wie Wachs wäre, das die Abdrücke unserer seelischen Erlebnisse festhält. Mein Bild, das ich von der Freundin bewahre, ist farbenreich. Sie selbst nannte sich den Prinzen Jussuf von Theben, so fremd fand sie sich oft in der Welt, in der sie lebte, so hingegeben dem geheimnisvollen orientalischen Geist, aus dem sie zu schaffen glaubte. Und dennoch, wie liebte sie die Wuppertaler Heimat, in der die Mutter und der Vater Schüler diese fremdartige Blüte pflegten und hegten. Und dankbar sind wir der Dichterin, welche unsere deutsche Sprache durch ihre Arbeit bereicherte.
Der kleine Prinz von Theben spielte in seiner Geburtsstadt Wuppertal gern mit den Knöpfchen und Bändern aus der heimatlichen Industrie, mit den großen und kleinen blauen, grünen, lila, roten, gelben und weißen Knöpfen. Sie legte Knopf an Knopf, je 4 oder 5 – so erzählte sie mirin ebenmäßige Reihen und führte dann das kleine Fingerchen über die Knopfreihen der abgeteilten Knopfstrophen. Wenn sie dann durch die Unregelmäßigkeit der Knopfgrößen mit der Fingerspitze stolperte oder gar mit dem ganzen Finger abglitt, schrie sie laut auf, genau wie sie sich später verletzt fühlte durch einen Vokal oder Konsonanten, der Störungen im Maß oder Gehör undefiniert verursachte. Aber einer der herrlichsten Knöpfe, so erzählte sie, durfte überall liegen, wo er wollte; er war aus Jett, besät mit goldenen Sternlein, und die Kleine staunte ihn an und konnte seine Schönheit kaum fassen. Er war das Himmelreich ihrer Knöpfe und sie ehrte ihn mit dem kostbaren Namen: Josef von Ägypten.
So werden Dichter geboren, so wachsen sie in ihre Mission hinein, spielend und unbewußt. Sie meinte einmal: So oft neckt man mich mit einem Ausdruck, der sich immer wiederholt in meinen Gedichten. Es ist wahrscheinlich der sternbesäte Knopf.
Else Lasker-Schüler erzählte auch so schön aus ihrer Kindheit, daß die Mutter mit ihr das geheimnisvolle Spiel des Einwortsagens geübt. Die Mutter sagte "Tinte" und das Kind sagte "Flinte" oder "Paul" und "Saul". Als ihr Bruder einmal auf "hoch"="Koch" reimte, da war sie außer sich geraten vor Wut über solchen dumpfen Schall der Paarung. Zwei Jahre zählte das Kind, als es den falschen Reim schmerzlich empfand. Mit vier Jahren lernte sie zum Zeitvertreib bei der Gouvernante schreiben. Jedem Buchstaben malte sie ein Tuch um den Hals, da er fror, wie sie glaubte, denn es war Winter. Fünfjährig begann sie zu dichten. Die Mutter fand die kleinen bekritzelten Papierflocken, die aus den Kleidertäschchen fielen, wenn sie die Knöpfchen daraus hervorholte.
Als wir einander zum ersten Mal bei Louise Dumont begegneten, sagte ich ein paar Begrüßungsworte zu ihr. Daraufhin schloß sie mich herzlich in die Arme und rief: "Sie ist aus Westfalen. Ich höre es an ihrer Aussprache, sie kommt aus Westfalen. Ich liebe die Westfalen. Das sind großzügige Menschen. Sie backen die Reibekuchen mit Butter und nicht mit dem fiesen Öl."
Aus dieser ersten Begegnung sollte dann eine tiefe und treue Freundschaft werden. Wie freute sie sich jedesmal, wenn sie mich dabei ertappte, daß ich in den westfälischen Tonfall geraten war und westfälische Ausdrücke brauchte. Stolz erzählte sie gern von dem kleinen westfälischen Städtchen Hexen-Gäsecke, in dem ihr Großvater wohnte, den sie den Wunderrabbi nannte und den sie sehr verehrte. Des Bischofs Lavater Freund war er. Wie schön erzählte die Dichterin von diesem Wunderrabbi, der jeden Abend mit dem Bischof zusammentraf, im Gastzimmer des "Goldenen Halbmond", der nicht abnahm und auch nicht zunahm, genau wie das freundschaftliche Bündnis, das die beiden Hohepriester unverändert vereinigte bis zu ihrem Tod. Von ihrem Rabbiner-Großvater geht in Westfalen die Legende, daß er sein Herz habe aus der Brust nehmen können, was er nach kühlen staatlichen Konferenzen zu tun pflegte, um den Zeiger des roten Zifferblattes wieder nach Gottosten zu stellen.
Ich denke hier an ein Erlebnis, das ich zwischendurch erzählen will. Es war ein bedeutungsvoller Tag in Berlin zu Ende gegangen. Die Vorarbeiten zur Aufführung ihres Schauspiels "Joseph und seine Brüder" hatten Else Lasker-Schüler und mich gemeinsam beschäftigt und wir wollten am Spätnachmittag im Romanischen Café noch ein paar Theaterfreunde treffen. (Das Manuskript "Joseph und seine Brüder" ist bis heute noch nicht wiedergefunden worden.)
Es war damals kurz vor dem verhängnisvollen 30. Januar, der Hitler an die Macht bringen sollte. Aber noch durften wir hoffen, daß ihr Schauspiel "Joseph und seine Brüder" im Berliner Staatstheater uraufgeführt werden könnte. Else Lasker-Schüler war wie berauscht vor Glück. Sie wollte am liebsten selbst den Joseph spielen. Und die alte Frau mit ihren schlanken Gliedern hatte sich so in die Rolle hineinversetzt, daß sie alles um sich her vergaß, das Caféhausmilieu, ihr Alter, und wie ihr Jüngling Joseph nur noch in Versen sprach. Der Theaterdirektor, die Schauspieler, die Dichter und Maler und andere Gäste hörten zu. Wie in einen magischen Kreis gebannt, lauschten wir ihr. Ich sehe noch das zarte Köpfchen vor mir mit dem entrückten Ausdruck des schmerzerfüllten Sehers, der noch so jung die Freveltat an sich geschehen lassen muß.
"Die fremden Männer aber ketteten des Jakobs Sohn,
Bis ihm die Hände drohten, mit dem Eisen zu verrosten."
Als sie damals diese Worte gesprochen hatte, wurde der Kummer zu überwältigend. Als ihre Tränen auf das Marmortischchen tropften, da hatte die anfängliche Schauspielerei ein Ende, und, wie plötzlich erwachend, drückte sie den Theaterfreunden die Hand, klopfte dem vertrauten Kellner liebevoll auf die Schulter und verließ fluchtartig mit mir das Café.
Dann gingen wir still durch die Straßen Berlins, zu ihrem Hotel, dem Sachsenhof, in dem sie Unterkunft gesucht hatte seit dem Tode ihres einzigen Sohnes. Seit diesem Tag hatte sie nicht mehr allein wohnen mögen; sie mußte Menschen neben, unter und über sich haben. Und sie begann ein Leben in Hotels und Caféhäusern.
An jenem Abend in Berlin kamen wir uns sehr nahe. Sie fühlte sich geborgen in meiner Liebe und zeigte es mir. Sie sprach von sich, ihrem Erlebnis, das sie ein Jahr vor dem Tode ihres begabten Malersohnes hatte. Sie hatte damals ein Gesicht – so erzählte sie – König David saß in ihrem Zimmer, in später Abendstunde. Er trug ein schwarzes Gewand und einen schwarzen Turban. Seine Augen waren wie Asche. Er verharrte lange Zeit, neben ihr sitzend. Und sie meinte damals, ungeheuerlichen Erlebnissen gehen ungeheuerliche Ouverturen voran.
Seltsame entrückte Stunden erlebten wir damals zusammen in dem Hotelzimmer. Sie wollte mir ein Herzensgeschenk zuteil werden lassen. In den Hotelmöbeln verstreut waren einige Dinge, die sie mitgebracht hatte und die so ganz zu ihr gehörten und die dem Raum das Persönliche gaben. Und zu diesen Dingen gehörte des Großpapa-Rabbis Ohrensessel. Und auf diesem Sessel durfte ich an jenem denkwürdigen Abend sitzen und das Wunder an mir geschehen lassen wie Else Lasker-Schüler es sich so sehnlichst wünschte, daß meine Seele zusammenschrumpfen sollte, um Platz zu machen für die Seele des großen Juden. Mit Tränen der Rührung saß sie vor mir mit ihrem dampfenden Tee und sah mich mit unendlicher Liebe an, die ich still und demütig auf dem großgeblümten Sammet saß und so bereit war, wenigstens für Augenblicke – wie die Dichterin es ersehnte von der überirdischen Weisheit des ehrwürdigen Rabbis zu kosten, von jener Weisheit, die da lehrt: " Gott schuf die Erde, indem Er sich zusammenzog und damit Raum für sie gewann." Else Lasker-Schüler erzählte auch einen Traum, den sie nie vergessen konnte. Darin fragte Gott sie: Gefällt dir meine Welt? Dann will ich sie dir schenken. Seitdem, so behauptete sie, gehöre ihr die Welt, und seitdem hatte sie grenzenlos damit zu tun, sie anzublicken.
"Mir hilft kein Sträuben; der strenge Frost holt mich, aber auch der tyrannische Sturm, genau wie der holde Julivogel in die Aula der Welt." Das war ihre Weltanschauung, wenn sie schreibt: "Es ist ja alles Ebenbild Gottes und darum sollte man sich vorsehen in der Welt, etwas zu beflecken überall möchte ja von der Gottesseele einströmen und vermag sich doch nur in den klaren Stellen wiederspiegeln. Vielleicht begehe ich eine Indiskretion, da ich das Geheimnis des Menschen und seiner Welt verrate. Der Leib ist nur Illusion. Und auch den Körper der Welt erdichtete die erste Menschenseele. Aber wenn du einmal ein Erdbeben verspüren solltest, ein vorübergehender Zweifel der Seele an ihrer Weltillusion, denke an mich und verschlingt dich auch der Erdleib, um dich nach Augenblicken wieder auszuspeien. – So erklärt sich auch das Wunder der Fakire, überhaupt aller Heiligen, des Balchem und der anderen Wunderrabbis, die durch Enthaltsamkeit den bezwungenen Leib zu entbrennen vermochten." Schwer trug die Dichterin an der Dissonanz ihrer Zeit. Ja, es kam der Tag, an dem sie im Gedenken an den schweren Lebensweg ihres geliebten Dichterfreundes Peter Hiller klagte: "Der Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande, Abendlande!" Und wie haben Peter Hille und Else Lasker-Schüler in der Zeit der bürgerlichen Müdigkeit erfrischend auf den deutschen Geist gewirkt. Else Lasker-Schüler war eine der Ersten, welche die naturalistische Fessel sprengte und wieder in eine geistige, mystische Welt führte. Ihre Sprache war von einer Innerlichkeit, die nur behutsam die Schleier hob von den Dingen, die sie besang und von den Gedanken, die sie ausdeutete.
Bei ihren Freunden feierte sie das große gute Menschenherz. Ich lese ihr Gedicht an Franz Werfel, den auch ich und auch Otto Pankok sehr geliebt haben. Ein Porträt Werfels von Otto Pankok besitzt das theaterwissenschaftliche Institut in Köln/Wahn. Else Lasker-Schüler schreibt über ihn:
Ein entzückender Schuljunge ist er.
Lauter Lehrer spuken in seinem Lockenkopf.
Sein Name ist so mutwillig:
Franz Werfel.
Immer schreib ich ihm Briefe,
Die er mit Klecksen beantwortet.
Aber wir lieben ihn alle
Seines zarten, zärtlichen Herzens wegen.
Sein Herz hat Echo,
Pocht verwundert.
Und fromm werden seine Lippen
Im Gedicht.
Manches trägt einen staubigen Turban.
Er ist Enkel seiner eigenen Verse.
Doch auf seiner Lippe
Ist eine Nachtigall gemalt.
Mein Garten singt,
Wenn er ihn verläßt.
Freude streut seine Stimme
Über den Weg.
Wie oft bei unserem Zusammensein träumte die Dichterin von einer Reise in das gelobte Land; doch sollten die Freunde sie begleiten. Und als die Lage in unserem Land immer schwieriger wurde, da schrieb sie mir, ich müßte die Zeitung in Palästina herausgeben und Otto Pankok würde dort viele Modelle und herrliche Motive finden. Sie konnte sich Palästina nur vorstellen wie eine Provinz der alten Welt, zu der sie gehörte. Ganz losgelöst vom Deutschland ihrer Freunde war ein Leben für sie zuerst noch unvorstellbar. Diese Reise nach Jerusalem war ein schöner Traum seit Kindertagen, mehr eine Dichtung ihrer Fantasie. Als die Last und der Druck der Gewalt immer schwerer wurde, schrieb sie mir, daß sie nur mit mir hinwollte.
Mit einem stillen Menschen will ich wandern
Über die Berge meiner Heimat,
Schluchzend über Schluchten,
Über hingestreckte Lüfte.
Überall beugen sich die Zedern
Und streuen Blüten.
Aber meine Schulter hängt herab
Von der Last des Flügels.
Suche ewige stille Hände:
Mit meiner Heimat will ich wandern.
Und dann kam der furchtbare Tag, an dem fanatische Schriftsteller in ihrem Massenund Rassenwahn die größte Dichterin Deutschlands vor ihrem Hotel in Berlin niederschlugen. Die Nichtsahnende hatte ihr Hotel verlassen, um eine Besorgung zu machen. Das Grauen packte sie. Nur mit dem Geld, das zufällig in ihrer Tasche war, floh sie, ohne in ihr Hotel zurückzukehren, ohne einen Koffer zu packen. Ihr Geld reichte für eine Fahrkarte zur Schweiz. In Zürich angekommen, wandte sie sich an keinen Menschen um Hilfe. Für sich selbst konnte sie schwer etwas unternehmen. Sie schlief unter einem ihrer geliebten Bäume. Ihre armen zarten Hände erfroren bald. Dort fand sie ein Polizist schlafend, auf einer Bank im Park mitten in der kalten Nacht. Der Mann der Ordnung verhaftete sie, und ausgefragt, erfuhr man die tragische Geschichte. Einer der höheren Polizeibeamten kannte ihren Namen, wußte etwas über diese Frau, deren Gedichte schon in den Lesebüchern und Gedichtbänden des Auslands aufgenommen waren.
Hinter meinen Augen stehen Wasser,
die muß ich alle weinen.
Immer möchte ich auffliegen,
Mit den Zugvögeln fort;
Buntatmen mit den Winden
in der großen Luft.
O, ich bin so traurig...
Das Gesicht im Mond weiß es.
Die Geschichte der Else Lasker-Schüler wurde in der Schweiz bekannt und es regten sich helfende Hände. Morgenfeiern wurden von dem Schauspieler Ernst Ginsberg veranstaltet und in literarischen Vereinen Leseabende eingerichtet. Ein großes Kaufhaus in Zürich erlaubte ihr, ohne Zahlung alles im Geschäft zu holen, was sie brauchte. Doch machte sie selten Gebrauch davon. Nur wenn ein Freund sie besuchte, erinnerte sie sich des großzügigen Geschenks und holte auf einem ihrer Bons ein Tüchlein oder ein Kämmchen zur Erinnerung. Für andere nahm sie die Gunst gern einmal wahr, an sich selbst zu denken wurde ihr schwer.
Damals schrieb sie mir: "Der von Angst verdunkelte Mensch gerät aus dem Gleichgewicht. Wer diese Urqual erlebte, weiß, wie die Erde litt, als ihr der Paradiesesschein – die Liebe – vom Haupte glitt." Wenn ich auch von jetzt ab lange Zeit von ihr getrennt blieb, so durfte ich sie doch durch ihre Briefe auf ihrem Stationsweg begleiten. Meine Briefe waren ihr ein Trost.
Bevor der Überfall in Berlin passierte, hatte sie noch zwischen Hoffnung und Verzweiflung geschwankt. So schreibt sie noch am 6.11.32: "...Ich hoffe, bald nach Düsseldorf zu kommen – von Darmstadt aus wo um Weihnachten mein Schauspiel gespielt wird: ‚Arthur Aronymus und sein Vater‘meines 12-jährigen Papas Jugendzeit in seiner westfälischen Heimat: HexenGäsecke."Doch der Brief endete schon mit den Worten: "Ich bin sehr niedergeschlagen immerdar und immerzu. Kommen Sie nach Berlin?"- Nach Weihnachten kamen schon die ersten bösen dämonischen Anzeichen. Traurig teilte sie mir mit: "Mein Schauspiel wegen verschoben." Hitler ersetzte sie durch einen Gedankenstrich. "Auch Darmstadt. Köln wollte meine Wupper aufführen. Bitte fragen Sie, ob es wird! Ich bin verzweifelt!-" Und ich konnte nicht helfen. Kein Theaterdirektor traute sich mehr an eines ihrer Werke.
Und dann begann die überstürzte Emigration. Schließlich, nach bangem Warten, der erste Brief aus Zürich: "Hospiz Augustinerhof. Meine liebste, verehrteste Hulda Pankok, nur die Verzweiflung, wie man überhaupt bestehen kann und die Zurückgebliebenen, ist schuld, daß ich Ihnen, Sie Liebe, nicht schrieb. Und – aberes beginnt sich zu machen und aber, wie geht es Ihnen und dem lieben Mann mit dem Bart? Beinahe wäre ich nun nach Düsseldorf gereist. Kommen Sie doch hierher, wir reisen dann nach Locarno oder Ascona. Bald kann ich es. Dort ist es billiger und wir sind unter uns. Herr Intendant Lindemann darf aber nicht alleine bleiben, er muß mitkommen. Wir alle sind sehr lieb zu ihm. Wie würde er sich nach Ihnen sehnen und dem Bartmaler! Ich war so unglücklich und so zerfetzt und verhungert innen und außen, aber nun ist es viel besser! Und ich habe nur Sehnsucht – da außerdem hier sehr kühlin die Sonne zu reisen, unter schönen Bäumen zu sitzen und bei den Blumen. Ich habe hier in Zürich beständig großes Leid um meinen geliebten Jungen. Zürich war seine Lieblingsstadt in der Schweiz und alles trägt darum, da mir alles dunkel, einen bangen Schattenschleier. Ich bitte Sie, liebste Hulda Pankok, schreiben Sie mir sehr bald und grüßen Sie den Maler und lieben Intendanten. Die ganze Welt eine Finsternis. Darum zündete ich den Stern an. Darum sind uns die Propheten gekommen und Jesus von Nazareth und die vielen Menschen weinten und Dichter dichteten Heiligengedichte. Später im Herbst kommt mit mir nach Palästina! Es soll wunderbar dort sein, oder soll ich vorher dorthin ziehen und Euch, meine Lieben, am Rhein schreiben? Wir wollen dort alle Theater spielen, eine wunderbare liebreiche Truppe immer das heilige Land durchziehen! Und nun alles Liebe; ich weine fast ..... Und es sprach mal der Maler Gert Wollheim so schön von Ihnen beiden. Wissen Sie, wie es ihm geht und ob er weiter kann? Alles Liebe und Schöne und alles was Treue ist. Ihre Else Lasker-Schüler.:" Nirgendwo ist mehr Ruhe und Sicherheit. Doch noch ist es hier für uns ab und zu möglich, ein wahres Wort zu veröffentlichen. Wenn es gelang, schickte man es ins Ausland an die emigrierten Freunde. Wir erhofften immer noch, mit unseren geistigen Mitteln etwas erreichen zu können.
Der zweite Brief aus der Emigration von Else Lasker-Schüler lautete darum: "Ich danke Ihnen für den Essay. Könnten wir uns doch bald wieder begegnen. Kommen Sie doch mit dem Mann im Bart nach dem Tessin. Dort ist Eden und wir sprechen mit den Blumen und pflücken uns Brot und allerlei von den Bäumen. Wohnen zwar nicht auf den Beeten, aber – sehr, sehr möglich in netten reinen Räumen und das Silber fällt dazu mittags von oben. Ich sage am 27.6. hier aus meinen Dichtungen. Da habe ich dann genug kommen noch zwei Zeichnungen für Holland dazu, (sie malte auch) um zwei Monate zu bleiben und ich schreib sofort. Und Herr Lindemann kommt auch. Nie vergeß ich seinen Faust. Näheres: Ich hatte beide Hände halb erfroren und voll von Rissen, da ich ja erste Tage am See, unter einem Baume versteckt, schlief: Konnte garnicht schreiben, denn immer schlimmer wurde es... Immer in Liebe für Sie beide und immer in Treue und immer wir Drei in Liebe und Treue für Louisens liebsten Intendanten und treuesten Begleiter." (Es ist Louise Dumont und Gustav Lindemann gemeint.) Euer sehr, sehr trauriger Prinz Jussuf von Theben." Darunter stand noch: "Was sind alle Schätze der Welt und wäre die Liebe nicht."
Die weiteren Schreiben zeigen ihr wachsendes Heimweh. Und doch darf niemand von uns sie zurückholen. Dort ist geschützter. Pläne werden von uns gemacht, sie zu besuchen.
Einer der nächsten Briefe enthielt nur dieses Gedicht:
Wir beide
Der Abend weht Sehnen aus Blütensüße,
Und auf den Bergen brennt wie Silberdiamant der Reif,
Und Engelköpfchen gucken überm Himmelstreif,
Und wir beide sind im Paradiese.
Und uns gehört das ganze bunte Leben,
Das blaue große Bilderbuch mit Sternen!
Mit Wolkentieren, die sich jagen in den Fernen
Und hei! die Kreiselwinde, die uns drehn und heben!
Der liebe Gott träumt seinen Kindertraum
Vom Paradies von seinen zwei Gespielen,
Und große Blumen sehn uns an von Dornenstielen...
Die düstre Erde hing noch grün am Baum.
Als dieses Gedicht gekommen war, wußte ich, wir mußten zu ihr. Sie war, allein gelassen, am Ende ihrer Kraft. Sie sehnte sich nach den Gespielen. Nach Überwindung vieler Schwierigkeiten haben wir dann endlich die Möglichkeit, in die Schweiz zu fahren. Als wir uns Ascona nähern, wo sie inzwischen wegen des dortigen Kabaretts, in dem sie Gedichte lesen konnte, hingezogen ist, schreibt sie ungeduldige Karten über Max Picard in Gentilino, wo sie uns vermutet: "Meine Liebe. Freue mich so, Sie sind hier mit dem Mann im Bart. Wo sehen wir uns? Ich kann nicht über Lugano fahren. Ich kann des Schmerzes wegen nicht über Lugano. (Hier starb ihr Sohn.) Bitte kommen Sie bald hierher. Ich hatte einen Vortrag im Theater. Bitte schreibt, wann Sie kommen, damit ich da bin. Euer armer Prinz Jussuf von Theben einer der vielen." Und dann folgten Eilkarten, eine nach der anderen und erreichten uns in Gentilino, immer derselbe Ruf: "Kommet zu Jussuf!"
Und wir trafen sie in Ascona. Vor einem der von ihr so sehr geliebten Cafés saßen wir und sahen ergriffen in das müde Gesicht und auf die lieben Hände, die der Frost auf der Flucht so krank gemacht hatte. Jetzt schnitten sie mit kindlichem Eifer reizvolle Muster in eine Papierserviette, die eine junge Italienerin zu den Spaghettis gebracht hatte. Das zierliche Papierdeckchen sollte sehr viel später meine kleine Tochter trösten, wenn der Abschied sich nähern würde. Da drehte sie das Papierdeckchen um einen Mohrenkopf, der mit auf die Reise geschickt wurde. Jedem von uns wollte sie noch gern etwas Liebes bereiten in ihrer gottverlassenen Armut. Und wir mußten sie einsam zurücklassen. Wir konnten nur noch eins, die Freunde in der Schweiz um Hilfe bitten.
Da saßen nun wir Einsamen, mit unserem Herzen voller Liebe, die auf Erden heimatlos geworden waren, in der südlichen Sonne und wärmten uns einander, sprachen von unseren Hoffnungen, die nicht erlöschen wollten, daß wir eines Tages wieder in unserem Deutschland vereinigt sein würden, in dem Deutschland, in dem wir so schön zusammen Theater gespielt hatten und in dem Otto Pankok so viele Porträts von seinen Freunden geschaffen hatte, die nun zum großen Teil so Schweres durchzumachen hatten durch den Ungeist, der zur Macht gekommen war.
Ich sehe den liebevollen Blick wieder vor mir, mit dem Else Lasker-Schüler mich ansah, als sie sich daran erinnerte, wie vorsichtig ich ihr Schauspielmanuskript für die Bühne zusammenzustreichen pflegte und wie sie mir einmal einen Kuß gab, als sie so einen Strich sah, von dem sie behauptete, daß er ganz leise das Herz für neue Ideen öffnete, während andere Bearbeiter ihrer Bühnenstücke ihr das Herz zerrissen hätten. In diesen Tagen sind diese liebevollen Worte ihrer Zustimmung wie ein Streicheln, das mich trösten soll.
Nach unserem Besuch in Ascona kam dieser Brief: "Es ist alles so schwer, sich über Wasser zu halten, abends sinken einem die Augen zu. Ich habe mich so gefreut, Sie alle hier zu haben, auch die kleine Hulda. (So nannte sie unsere Tochter Eva.) Ich bin nach Alexandrien eingeladen und wenn die Griechische Familie mir das Geld schickt, reise ich dann weiter, für drei Monate zunächst. Ich bin noch recht kaputt. Wie geht es Ihnen und dem Manne mit dem Barte? Immer denke ich an Deutschland, das ich so liebe! Geht es Ihnen auch noch gut!?" Unten auf der Seite zeichnete sie ein Vögelchen, dabei steht geschrieben "bin ich!". Trotz dieser bösen Erfahrungen war es uns damals nicht möglich, zu glauben, daß diese Unnatur Bestand haben sollte. Else Lasker-Schüler träumte noch von den goldenen Türmen der heiligen Stadt, die ihr vorerst Obdach geben sollte. Wir rieten ihr damals zu, die Reise nach Israel zu wagen. Glaubten wir doch, daß es gut sei, viel Raum zwischen unserer bösen Welt und ihr zu wissen.
Kurz nach unserem letzten Zusammensein zog sie nach Israel, wo sie fern von uns starb. Mein Freund Dr. Gabriel Cohen erzählte mir, wie Else Lasker-Schüler sich im irdischen Jerusalem eine Traumwelt aufbaute: eine Welt, in der sie Juden und Araber versöhnen wollte, in der für alle armen Kinder der Stadt, jüdische und arabische, Schlafund Badezimmer eingerichtet und Bänke aufgestellt werden sollten. Auch verlangte ihr Aktionsprogramm – das sie in vielen Gesprächen entwickelte und das man nach ihrem Tode aufgeschrieben fand – mehr Essen für die Kinder. Punkt 6 ihres Programmes lautete: "So lange noch ein Kind hungert, verzichtet Gott auf jede Synagoge". Weiter verlangte sie mehr Fürsorge für die lasttragenden Esel. "Man spreche mit einflußreichen Priestern" heißt es in ihrem Vermächtnis. Weiter verlangte sie die Untersuchung der Lungen der kleinen Zeitungsausrufer.
Ja, sie war eine Fantastin, die trotz aller düsteren Erfahrungen sich nicht den Glauben nehmen ließ, daß die Liebe ihren eigenen Untergang übersteht, daß sie immer wieder aufersteht.
Ich suche allerlanden eine Stadt,
Die einen Engel vor der Pforte hat.
Ich trage seinen großen Flügel
Gebrochen schwer am Schulterblatt
Und in der Stirne seinen Stern als Siegel.
Und wandle immer in der Nacht...
Ich habe Liebe in die Welt gebracht,
Daß blau zu blühen jedes Herz vermag,
Und hab‘ ein Leben müde mich gemacht,
In Gott gehüllt den dunklen Atemschlag.
O Gott, schließ um mich deinen Mantel fest,
Ich weiß, ich bin im Kugelglas der Rest,
Und wenn der letzte Mensch die Welt vergießt,
Du mich nicht wieder aus der Allmacht läßt
Und sich ein neuer Erdball um mich schließt.
Quelle: Typoskript, Pankok-Archiv, Haus Esselt.
Otto Pankok
Gedanken zur letzten Ausstellung 1935 im Westfälischen Kunstverein in Münster 1981
Heute ist es kaum vorstellbar, welcher Mut 1935 dazu gehörte, Otto Pankoks „Passionszyklus“ von 60 Bildern auszustellen. Mit der Ausstellung „Die Westfront 1933“ in Essen wurde die Verfolgung eingeleitet, unterstützt durch Hetzartikel der Nazizeitung „Das Schwarze Korps“.
Pankoks Passionsbilder wurden abgehängt und zuerst nicht durch Bilder anderer Künstler ersetzt. Die leeren Stellen sollten die Künstlerkollegen vor unüberlegten Handlungen warnen.
Wohl war sich Otto Pankok über seinen geringen Einfluss klar und über seinen einsamen Posten, dennoch wollte er seinen Widerstand nicht aufgeben. Er schrieb darum an den Reichsleiter Alfred Rosenberg:
Sehr geehrter Herr Rosenberg,
Einer Ihrer Mitarbeiter in der Reichsleitung des Kampfbundes für deutsche Kultur, Herr Dr. Eckart, war in diesen Tagen in Essen, um die aufgehängten Bilder vor der Eröffnung der Ausstellung „Westfront 1933“ zu begutachten. Auf Befehl des Herrn Dr. Eckart wurden meine Bilder aus der Ausstellung entfernt:
- Einzug in Jerusalem.
- Christus in Gethsemane.
- Christus wird gegeisselt.
- Kreuzabnahme.
- Pieta.
Dieses Vorgehen gegen meine aus reinem Herzen entstandenen Werke könnte ein Vergehen gegen einen Maler sein. Es ist aber mehr. Ich bin mir mit allen Menschen, die meinen Zyklus sahen, bewußt, daß in diesen Bildern eine Tradition aus der reinen und schönsten deutschen Vergangenheit wieder auflebte. Wenn diese meine Bilder das Licht des Tages scheuen müssen, dann muß auch die große Vergangenheit ausgelöscht werden, dann muß das Volk vor Cranach, Dürer, Grünewald und Konrad Witz geschützt werden. Dann sind die Dome und Museen zu schließen.
An die Stelle meiner Christusbilder ersuchte mich Herr Dr. Eckart Landschaften zu hängen. Dieses Ansinnen zeigte mir, daß es ihm darauf ankam, das Bild der Ausstellung zu verharmlosen, den Anblick großen, ewigen Geschehens auszumerzen zugunsten angenehmer Lyrik. Ich bin aber des Glaubens, daß es ein Irrweg ist, wenn ein Künstler inmitten einer Zeit voll ungeheurer Aktivität und ungeahnten Geschehens, sich privaten lyrischen Gefühlen hingibt, und diese Dinge im Volk weitergibt, ihm damit sagend, daß die Kunst abseits vom Leben und von den geschichtlichen Vorgängen steht, daß sie harmloses Spiel sei und nicht der Extrakt der Zeit, wie sie es in Jahrtausenden vor uns gewesen ist.
Sollen sich die Künstler weiterhin vor dem deutschen Spießer beugen und ihre Lebensarbeit darin sehen, ihm seine Kleinbürgerwohnung mit hübschen Stillleben und Sonnenuntergängen zu dekorieren, so ist Herr Dr. Eckart auf dem richtigen Wege gewesen. Sieht man in der Kunst aber einen Niederschlag des großen Lebens und der großen Ideen der Zeit, sollen in ihr die Mitlebenden sich selbst, ihre Freuden und Leiden, Klärung und Tröstung finden, so geschah hier Unrecht und Sünde gegen den Geist der Kunst, und gegen das Volk.
Mit vorzüglicher Hochachtung, Otto Pankok
Der Erfolg dieses Briefes war der Ausschluß aus vielen künstlerischen Gemeinschaften. Die staatlichen Museen wurden schon überwacht. Pankok fand keinen Raum mehr, wo er sein Werk zeigen konnte.
Doch in dieser Situation meldete sich zu Pankoks Überraschung Professor Wackernagel vom Westfälischen Kunstverein in Münster und Dr. Kruse, Direktor des Museums in Mülheim-Ruhr. Sie teilten ihm mit, daß sie noch eine Ausstellung wagen wollten.
Inzwischen hatte auch der Verleger Kiepenheuer, Berlin, sich bemüht, vom damals noch bestehenden christlichen Kunstdienst die Druckerlaubnis zu erhalten. Sie wurde ihm für das Passionsbuch zugesichert, verbunden mit einer finanziellen Hilfe.
Ich fuhr nach Berlin zu Stephan Hirzel, welcher für den Kunstdienst zuständig war. Er rief sofort seine Mitarbeiter zusammen, die von dem Buch begeistert waren. Diese Phantasten waren davon überzeugt, daß sie im christlichen Raum noch zuständig seien. –
Der Kunstverein in Münster verwirklichte jetzt auch die Pankok-Ausstellung und stärkte damit den Mut der Künstler und erlöste sie für kurze Zeit aus der zunehmenden Resignation.
Die nachfolgende Mülheimer Ausstellung wurde sofort geschlossen, so daß die Ausstellung in Münster die letzte Möglichkeit war für Otto Pankok, durch seine Kunst die Menschen anzusprechen. Zehn Jahre, bis 1945, mußte er verstummen.
Inzwischen hatte Kiepenheuer den Druck des Passionsbuches begonnen. Pater Friedrich Muckermann, einer der mutigsten Männer des Widerstandes und ein aufgeschlossener Gelehrter, hatte die Einführung zum Buch übernommen. Doch noch bevor der Text gedruckt war, mußte er emigrieren. Pankok übernahm das Vorwort selbst und damit die alleinige Verantwortung für das Buch.
Das Vorwort begann: „Als die Sonne in dem schwarzen Meer erlosch und kein Stern am Himmel aufging, als die Wolken schwer niederfielen auf die Erde und des Donners Zorn aufbrach, da zitterte ich in der Finsternis. Da ward meine Harfe Klage und meine Pfeife Weinen.“
Und diese Traurigkeit war berechtigt. Das Buch erschien und es wurde sofort verboten. Man hatte gemerkt, welche gefährliche Waffe gegen das Böse dieses Buch zu werden drohte – das von Hand zu Hand weitergeleitet und überall diskutiert wurde.
Die Zeichnungen waren inzwischen in die Schweiz gebracht – nicht in guter Absicht, wie ein Schweizer Maler-Architekt Otto Pankok vorgelogen hatte. Doch eine verantwortungsvolle, verschwiegene Schweizer Kriminalpolizei jagte dem Dieb die Zeichnungen wieder ab und rettete damit die Passionsbilder – ein kleines Wunder.
Einen geringen Teil der Bücher rettete der Drucker Peter Marliani. Er trug in aller Heimlichkeit die Passionsbücher zum Landeshaus in Düsseldorf, wo er der Druckerei vorstand. Mit der Begründung, über die Drucksachen wachen zu müssen, schlief er auf den Büchern, die sein Bett füllten.
Pater Friedrich Muckermann schrieb über Pankoks Passionswerk: „Weltgeschichte ist es in der Tragik, die immer wieder Folterkammern bereithalten wird für die Söhne Gottes, Weltgeschichte, die immer wieder die satanischen Kräfte ins Feld führen wird gegen die göttlichen, Weltgeschichte, die den Erfolg ihrer brutalen Gewalten in Händen hält, und in der doch siegreich bleibt der Mensch der Passion, der aus dem Abgrund der Geschöpflichkeit wieder zum Kind des Schöpfers erhobene, der im Leiden wiedergeborene. – Aber auf dieser Erde wird dieser Sieg immer nur innerlich bleiben; denn noch hat der Fürst der Welt seine Stunde.“
Und Otto Pankok sagt: „Das ist der Schlüssel zur Kunst; die Starken müssen unten gehen, denn sie sind dazu da, die Welt zu tragen“.
In: Westfalen, 59. Bd., Münster: 1981, S. 136-137