Anna-Maria, geboren in einer Zeit der Kulturfremdbestimmung, des Wortverbotes, andererseits des Wortzwanges. Was Kultur war, bestimmten Hitler und seine Männer. Die erzwungenen Worte in ihrer Kindheit waren „Heil“, „Sieg Heil“, „Heil Hitler“. „Die Fahne hoch! Die Reihen fest geschlossen! SA marschiert“. Eine Zeit, in der die Phantasie Auszeit hatte. Viele sprachen gar von der Endzeit.
Anna-Maria sprach und schrieb gerne, in ihrer lebendigen Kindersprache. Es war jedoch kein Raum für ihre, wie die Erwachsenen sagten, kindliche Abstraktwörter. Sie konnten sehr gefährlich sein, diese ‚unarischen‘ Wörter. Ein falscher Zungenschlag oder Unterton sollte oft der Tod sein.
Schwer waren diese Aussagen der Eltern zu verstehen. Sie sollte es erst begreifen, als hastig alle, auch ihre auf Papier geschriebenen Worte, im lodernden Feuer des Kohleofens verbrannt wurden. Übrig blieb wortstumme Asche. Die Nazis zerstörten rücksichtslos alles Mobiliar, ihren zufällig anwesenden Onkel nahmen sie mit. Sie sollte ihn nie wiedersehen.
Anna-Maria legte stumm die verbrannten Wörter in eine schon seit langem leere Konservendose, deren Inhalt einen fast vergessenen Geschmack nach köstlicher Leberwurst in ihre Nase steigen ließ. In dieser Zeit waren ein Stück Brot oder gar Wurst für ihre Familie so knapp wie Papier. Auch für die Kinder ihrer Tante, deren Vater, wie sie wusste, in Dachau saß. Ihre Eltern nannten dieses Leben Sippenhaft. Ohne Lebensmittelmarken waren die widerspenstigen Sozialisten und Kommunisten eingesperrt in Hunger, Angst und Kälte. Anna-Maria hatte auch Schulverbot.
An diesem Tag, nachdem die Wörter verbrannt waren, trug sie die tiefschwarze Asche mit brennenden, tränenlosen Augen zum Geheimfriedhof hinter die Klagemauer. Tote Kinderworte, endgültig tot, vorbei. Ihre Worte sollten geheimes Material sein? Als sie verbrannten, erzählten ihr die Alten auf verbotenen Hinterhöfen, es gäbe so viele Wörter, dass selbst ein Ozean von Feuer sie nicht verbrennen könnte.
Im Luftschutzkeller tröstete eine alte Vertraute Anna-Maria, manche Wörter seien gefesselt, andere hätten sich versteckt. Ihre Wörter seien nur scheinbar verbrannt. Irgendwann würde sie dies tief in sich spüren. Sie müsste dann bereit sein, sie hinauszulassen. Sie würden springen, bunt und lebendig sein. Vielleicht sei jetzt einfach keine Zeit der guten Worte.
Anna-Maria hörte diese Trostworte, kurz bevor der aufgezwungene Notschutzbunker getroffen wurde und sich alle Worte in einen gemeinsamen Todesschrei vereinten. Dann folgte eine unheimliche, tiefdunkle Stille. Als nächstes vernahm sie seltsame Laute neben sich, ein eigenartiges Zischen folgte. Wortlos räumte sie neben sich liegende Steine auf ihre frei liegenden Beine. Nach langer Arbeit ging das zischende Geräusch in ein „Danke“ über. Sie selbst blieb regungslos sitzen, konnte nichts erwidern. Ihr war, als hätte es nie Worte gegeben.
Wie lang sie in der Dunkelheit saß, sie wusste es nicht. Die Dunkelstille fraß sich in ihr Gemüt. Diese Totenstille, in der von 86 Menschen nur zwei Erwachsene und sie selbst überlebten. Auch die Trösterin war durch die Bomben getötet worden. Fortan sollte sie mit der Angst leben zu reden, zu schreiben und zu leben. Immer im Bewusstsein, der Tod kommt nicht nur von unten, sondern auch von oben.
Unfassbar für das kleine Mädchen. Das sollten die von den Eltern verheißenen Befreier sein?
Alles schien vorbei zu sein. Ihre Trösterin vieler Bombennächte konnte sie nichts mehr fragen, ihre Eltern waren inzwischen wortstumm und starr. Es war nichts wiederholbar, nichts nachtragbar, „kein sich rückversichern“ möglich, dass die Trostwörter kein Traum waren. Und doch sollten diese Worte ihr eine geheime Botschaft sein. Unsichtbar für alle, aber für sie Hoffnungsfackelträger über Jahrzehnte.
Wieder auf Befehl, sollte sie Jahre später andere, christliche, abstrakte Worte verinnerlichen. Wollte sie an ihnen nicht ersticken, musste sie gehorchen. Wer weiß, ob dieser Gott, von dem sie keiner befreien konnte, nicht noch grausamer war als Hitler, welcher sich umgebracht hatte, als er den unendlich langen, sinnlosen Krieg verlor. Dieser Gott war unsterblich, seine Worte waren ewige Verdammnis. Es half nach Aussagen der Nonnen kein Beten. Verlorene Teufelskinder, für sie gab es keine Hoffnung mehr, dem ewigen Feuer der Hölle zu entkommen.
Anna-Maria, aufgewachsen in einem Elternhaus, das nicht religiös war, mit Eltern, die noch dazu Künstler waren. Ihr Schicksal war ein vorprogrammiertes Verlorensein. Ein Leben, das von Gott aus unweigerlich darin bestehen sollte, für die Ewigkeit zu leiden. Die Höllenschilderungen der Ordensfrauen quälten sie mehr, als die Nazis es gekonnt hatten. Alles, was bisher geschehen war, konnte unter den Christen noch schrecklicher sein.
Und sie hatte so viele Schrecken gesehen und gespürt. Als sich diese von mächtigen Erwachsenen versicherte Aussage in ihr kleines Kindergehirn schlich und in ihrem Glauben einnistete, erstarrte sie in kalter Verlassenheit. Eltern hatte sie nicht. In der Zeit ging ihr die Hoffnung verloren, ihre Worte je wiederzufinden. Diese Hoffnungslosigkeit gebar in ihr einen Trotz, der ihr immer wieder sagte: „Mich kriegt ihr nicht kaputt. Mich nicht.“ Hauchzart, kaum spürbar umhüllte sie Sehnsucht und Hoffnung auf Wortwiederfindung. Und wo Sehnsucht und Hoffnung sich paaren, geschieht etwas.
Anna-Maria war noch zu sehr Kind, um dies zu wissen. Sie lernte ordentliche Berufe, um sich zu ernähren. Was sie nie für möglich gehalten hatte: Sie studierte. In dieser ganzen Lebensphase der Berufserfolge begleitete sie ein schmerzhaftes, nicht festzumachendes Sehnen. Wonach, wurde ihr erst klar, als sie vor ein paar Jahren die Schlüssel zu ihrer Innerlichkeitskammer fand, in der sich die alten und neuen Worte versteckt hielten und sich ihr nun, da sie die seelische Kraft der Erinnerung besitzt, offenbaren.
Anna-Maria schreibt offen und schweigt nicht mehr.
Erstdruck in: Elisabeth Büning-Laube: Bindestriche. Hrsg. von Daniela Müller. Düsseldorf: Edition XIM Virgines 2002, S. 55-58 – Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Verlags.