Nachruf: Das Leben der Literatur gewidmet
Lore Schaumann hatte Gesang studiert und Philosophie, in Wien und in Cambridge; aber dann widmete sie ihr Leben der Literatur. Zuerst arbeitete die vor 92 Jahren in Siegen geborene Lore Schaumann als Bibliothekarin, dann als freie Kritikerin – für das ZDF, auch für die „Rheinische Post“. Ihre Porträts von Autoren wie Dieter Forte, Rose Ausländer, Kay und Lore Lorentz, Käte Reiter oder Niklas Stiller stammen aus den 70er und 80 Jahren und sind bis heute lesenswert geblieben: prägnant, anschaulich, kenntnisreich, unbestechlich.
Nicht nur die Redakteure und die Leser schätzten sie sehr, auch die Autoren, denn sie war eine engagierte Begleiterin vieler Schriftstellertalente. Rolfrafael Schröer holte sie deshalb als Kollegin in das von ihm gegründete Literaturbüro NRW; in den folgenden sechs Jahren bis zu ihrem krankheitsbedingten Ausscheiden war sie vielen Ratsuchenden, die sich von ihr literarisch erkannt wussten, eine kaum zu überschätzende Hilfe.
Menschen, die sie in den vergangenen 15 Jahren begleiteten, berichteten immer wieder über die Freude, diese große Fördererin der rheinischen Literatur in ihrer Wohnung in der Zietenstraße zu besuchen, und gingen nie fort, ohne klüger geworden zu sein. Vor acht Jahren wurde Lore Schaumann für ihre Verdienste schließlich mit der Trude-Droste-Gabe geehrt.
Es sind diese und viele weitere Gründe, weshalb Lore Schaumann in der Düsseldorfer Kultur – und vor allem in der Literaturszene unvergessen bleiben wird.
Michael Serrer in: nachrichten.rp-online.de/regional, 7.09.2012.
Matinee zu Ehren von Lore Schaumann
Lore Schaumann, als Journalistin eine Muttergestalt der Düsseldorfer Literaturszene, ist am 3. April 90 Jahre alt geworden. Geistige Adoptivkinder, Zeitgenossen, Mitstreiter, Kollegen, Schüler, Germanisten, Dichter, ihr früherer Feuilletonchef und viele mehr, die in Jahrzehnten die runde Frau, die spitze Nase, den scharfen Verstand, das tiefe Mitgefühl, die Sachlichkeit, den poetischen Stil des Schreibens nicht nur respektieren, sondern auch lieben und bewundern gelernt haben, trafen sich nun im Heine-Institut zur Geburtstagsfeier – leider in Abwesenheit der gebrechlichen Geehrten. Ein Blumenstrauß wird ihr von der Lyrikerin Käte Reiter überbracht, ein Video wird ihr zeigen, wer alles da war und sie lobte.
Dass Journalismus nicht nur das Werk von Eintagsfliegen fürs Tagblatt ist, sondern bei Kulturgeschichte und deren Fortwirkung auf Dauer mitstrickt, ja fördernd wirkt – den Sinn für diese merkwürdige Kontinuität hat Düsseldorf auch Lore Schaumann zu danken. Die Rheinische Post dankt ebenso gern. Geduld und Sensibilität strahlen aus ihren Artikeln bis heute. Als es damals weder Fax noch E-Mail gab, überbrachte sie der Redaktion persönlich – wie alle Mitarbeiter damals – ihre mit Schreibmaschine getippten und mit handschriftlichen Korrekturen geschmückten Papiere. Man traf sich in den Büros.
Lore Schaumann durfte an die Seelen ihrer Freundinnen und Freunde tasten. „Düsseldorf schreibt“ Unter diesem Titel hat sie beim Triltsch Verlag 1974 zunächst 44 Porträts Düsseldorfer Autorinnen und Autoren veröffentlicht und 1981 weitere 22. Von den 66 Exponenten damals sind viele tot, aber beileibe nicht alle. Die meisten sind gar nicht in Düsseldorf geboren. Die Stadt übte magnetische Wirkung auf kulturelle Einwanderer aus. Schaumann hat dies früh begleitet und gefördert.
Die Gäste bei der Matinee im Heine-Institut sind gerührt. Zum Beispiel liest Kay Lorentz vom „Kom(m)ödchen“ das Porträt seiner Eltern vor. „Warum dieser in der Fremde so hoch geachtete Sohn der Stadt von ihr selbst so konsequent vernachlässigt wird“ – die Frage, die Lore Schaumann 1977 stellte, war nicht auf Heinrich Heine gemünzt, sondern bezog sich auf Dieter Forte. Wie sie irrte und wie sie Recht behielt, dass ist eine der spannenden Fragen zum 90. Geburtstag.
Werner Schwerter in: Rheinische Post, 13.04.2010.
Schreiben, handeln mit Hirn und klarem Witz: Freundin der Autoren: Lore Schaumann wird 80
„Was, 80 werden Sie? Das sieht man Ihnen aber nicht an.“ Solche Floskeln verbieten sich bei Lore Schaumann. Sie ist bekennende, aber keineswegs kokettierende Achtzigerin. Wie kann das anders sein bei einer Frau, die mit einer Krankheit geschlagen ist, bei der das tägliche kleine Elend den großen Weltschmerz mühelos verdrängt. Da ist es kein Trost, dass es eine Krankheit von Berühmten in aller Welt ist. Soviel und nicht mehr davon.
Zu feiern ist eine Frau, die schreibend die Fürsprecherin, nein die Fürschreiberin vieler Schriftsteller-Talente in Düsseldorf gewesen ist, zunächst als Literatur und Theaterkritikerin der Rheinischen Post, dann als Mitbegründerin und verlässliche Partnerin Rolfrafael Schröers im Düsseldorfer Literaturbüro, inzwischen Literaturbüro NRW. Versteht sich, dass es – wie der Schriftstellerverband und das Heine-Institut – Mitveranstalter einer Geburtstagsfeier am 2. April ab 11 Uhr im Heinrich-Heine-Institut ist.
Lore Schaumann hat übrigens am 3. April Geburtstag. Abergläubisch ist sie also nicht; sonst hätte sie die Gratulationscour einen Tag vorher nicht zugelassen. Da passt auch gleich eine Erinnerung aus dem RP-Haus ins Bild, ehe die eigentliche Würdigung ihres Wirkens folgt: Lore Schaumann bekam von der Feuilletonredaktion den Auftrag, über einen Vortrag Erich von Dänikens zu berichten.
Kritisches Wohlwollen
Der hat uns, das muss man jüngeren Lesern erklären, in den siebziger Jahren die Existenz von außerirdischen Wesen und deren Landungen aus dem Weltall, etwa auf dem südamerikanischen Kontinent, beweisen wollen. Für Lore Schaumann war das nicht etwa eine Lachnummer, sondern die Aufgabe, ernsthaft, aber mit Ironie gepaart, über Dänikens Ausführungen zu berichten. Körbeweise mussten wütende Leserbriefe auf die Redaktionstische gekippt werden.
Geboren 1920 in der Rubens-Stadt Siegen im südlichen Westfalen, war sie früh allem Schönen mit jener Ernsthaftigkeit zugeneigt, die ihr hin und wieder das Verständnis für spielerische Dekadenz, wie wir sie im Theater der siebziger Jahre und auch heute noch bejubeln, schwer machten.
Schwere Treppen nie gescheut
Aber genau dieser Ernst, diese ungeheuchelte Aufmerksamkeit, ein Wohlwollen, das nie unkritisch war, machte sie zum Wegweiser, zur verlässlichen Begleiterin junger und auch nicht mehr ganz junger Autorinnen oder Autoren; ihnen sind die Gespräche im Literaturbüro damals an der Bilker Straße, nach Erklettern einer furchterregend knarrenden Treppe, für immer unvergessen. Zweimal veröffentlichte sie unter dem Titel „Düsseldorf schreibt“ Autorenporträts in Buchform, einmal stellte sie 44, danach 22 vor; 22 nur aus Platznot, nicht wegen Mangels an Talenten.
Daran hat sich bis heute nichts geändert. So ist es nur einleuchtend, dass Alla Pfeffer, seit vorigem Herbst an der Spitze des Bezirksverbandes Düsseldorf/Neuss im Verband deutscher Schriftsteller (VS), zur Geburtstagsfeier für Lore Schaumann den Nachwuchs lesen lässt: Pamela Granderath, Peter Philipp, Regina Ray. Auch Otto Vohwinkel liest und Jens Prüss, einst selbst leitender Literaturbürokrat, liest einen Text von Lore Schaumann. Das Schönste aber: Lore Schaumann will kommen, und wir Geburtstagsgäste werden noch eine neue musische Seite von ihr entdecken können, die der ausgebildeten Liedsängerin mit einer Einspielung von Brahms-Liedern.
Gerda Kaltwasser: In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 30.03.2000.
Eine neutrale Instanz für Selbstverleger: Literaturbüro Düsseldorf
Sie wollen weder „literarische Übereltern des Landes“ noch Beamte sein und nennen sich ironisch distanziert „Literaturbürokraten“. Seit nunmehr drei Jahren leiten die Kulturjournalistin Lore Schaumann und der Lyriker Rolfrafael Schröer eine Einrichtung, die zum vielgelobten Modell wurde: das erste Literaturbüro der Bundesrepublik, zunächst nur als Projekt für die Stadt Düsseldorf konzipiert, seit einem Jahr von einem Verein getragen und für ganz Nordrhein Westfalen zuständig. Ob das erfolgreiche Modell ohne Abstriche auf das Land zu erweitern ist, ist jedoch noch immer zweifelhaft „Was wir für Dusseldorf gemacht haben, kann man in der bisherigen Form nicht aufs ganze Land übertragen“, glauben die beiden engagierten Literaturbürokraten.
Landesweit kaum zu realisieren sind etwa die engen Kontakte zu öffentlichen Institutionen, durch die mittlerweile einige hundert Autorenlesungen ermöglicht wurden. Allein in den beiden ersten Jahren seines Bestehens vermittelte das von Stadt und Land unterstützte Büro mehr als 400 Lesungen, in Schulen wie in Museen, in Behinderteneinrichtungen und Betrieben, in Kneipen und in der Psychiatrie, wo auch das gelang: über die Auseinandersetzung mit Literatur einige der sonst Sprachlosen zum Sprechen zu bringen.
„Eine therapeutische Situation“ erleben die beiden Literaturvermittler nicht selten auch in ihrem Büro am Rand der Düsseldorfer Altstadt „Sehr oft kommen Besucher und sagen uns: Sie sind der erste, der mir zuhört Doch auch aggressivere Szenen entstehen, denn: „Wir haben die Eitelkeit der Leute unterschätzt“, bekennen Lore Schaumann und Rolfrafael Schröer und beobachten bei nicht wenigen Schreibern „einen völligen Mangel an Selbstkritik Und je mäßiger die Sachen geschrieben sind, desto wütender halten die Leute daran fest“.
Entsprechend häufig müssen Illusionen geraubt werden. Zum Beispiel dann, wenn Besucher im Verlauf des Gesprächs stolz ein Buch aus der Tasche hervorziehen, das sie in einem sogenannten Selbstkostenverlag veröffentlichten – gegen erhebliche Kostenbeteiligung. 10 000 Mark zahlte etwa ein Pensionär, um seine Gedichte schließlich in einem schmalen und schlecht gedruckten Bändchen verewigt zu sehen: „Ich möchte doch, daß etwas von mir bleibt. Daß sein Werk kaum Ewigkeitswert erlangen und außer bei Verwandten und Bekannten wenig Abnehmer finden wird, scheint ihn und viele andere von kostspieligen Investitionen nicht abzuhalten: Immerhin kommt etwa jeder vierte Ratsuchende mit einem selbstbezahlten Buch ins Literaturbüro. Dort versucht man dann, ihm auszureden, daß seine lyrischen Ergüsse Literatur sind – „wobei wir ja irren können“. Und über Umwege ist manchmal doch noch eine Entdeckung zu machen. So erwies sich der Pensionär, der so gern Lyriker sein wollte, als spannender Erzähler.
Für die zeitaufwendige Entdeckung und Förderung von Talenten bleibt dem Literaturbüro jedoch immer weniger Raum. Auf Wunsch des Kultusministeriums soll es hier kein Vorlektorat mehr geben, die Lektoratsarbeit möglichst wegfallen. Doch gerade in diesem Bereich hegt die besondere Aufgabe des Büros für neue Autoren „Wir werden von ihnen als neutrale Instanz angesehen, weil wir weder als Volkshochschule noch als Literaturwerkstatt auftreten. Sie sitzen hier als Einzelperson und werden als solche ernstgenommen“. Und anders als bei vielen Verlagen werden die Texte auch nicht gleich mit Blick auf eventuelle Marktchancen gelesen „Wir wehren uns gegen jede Art von Trendsetterei“
Hunderte von Manuskripten haben Lore Schaumann und Rolfrafael Schröer in den letzten drei Jahren gelesen und später mit den Autoren besprochen. Weil sie die Manuskript Flut nicht mehr bewältigen konnten, haben sie ihre Sprechtage jetzt neu strukturiert. Der Autor liest aus seinem Text vor, gleich anschließend wird darüber diskutiert.
Die Sicherung von literarischen Nachlässen gehört ebenso wie die Herstellung von Kontakten zu Verlagen und Sendeanstalten oder die Vorstellung von Autoren im Literaturtelefon zu den Aufgaben des Literaturbüros. Es setzt sich zwar als Verein für die Interessen von Autoren ein, aber will doch kein Interessenverband für Schriftsteller oder eine Alternative zu bestehenden Verbänden sein. Ihre erfolgreiche Vermittlungsarbeit für die Düsseldorfer Autoren müssen die beiden Vereinsangestellten nun allerdings einschränken: „Wir müssen versuchen, überall im Land ein Bein zwischen die Tür zu kriegen und eine Situation zu schaffen, die sich der in Düsseldorf angleicht Eines ist schon jetzt sicher: „Wir wollen auch in Zukunft nicht nur Informationsstelle sein.“
Raimund Hoghe in: Die Zeit, 27.05.1983.
Die Freundin der Autoren (1975)
[…] Im Eckzimmer der Erdgeschoßwohnung sitzen wir uns gegenüber und haben vertauschte Rollen vereinbart. Von Januar 1973 bis Januar 1975 hat Lore Schaumann – in alphabetischer Reihenfolge – die in Düsseldorf ansässigen Autoren befragt -: von Ausländer bis Zeller. Zum erstenmal überhaupt hat sie in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt eine gewachsene literarische Szene dingfest gemacht; in mühseliger, zäh ausdauernder Kleinarbeit den Beweis erbracht, daß es in Düsseldorf ein fein- und vielschichtig verästeltes Literatur-Klima gibt. Wirkungsvoll vom Kulturausschuß der Stadt unterstützt; vorabgedruckt in den »Düsseldorfer Heften« (sie wurden dadurch zum eindrucksvollen Podium der Literaten in Düsseldorf), gesammelt dann als Buch, »Düsseldorf schreibt – 44 Autoren-Portraits«, erschienen – wiederum mit Unterstützung des Kulturausschusses der Stadt – im Michael Triltsch Verlag zur ersten großen Selbstdarstellung der Düsseldorfer Literatur-Szene beim „Literaturmarkt“ in der Kunsthalle am 14. Dezember 1974. Unterfangen allesamt, für die es keine Parallele gibt!
Diesmal nun soll uns Andy Warhols Muster Beispiel sein. Plötzlich bei einem Interview zauberte er seinerseits ein Mikrophon hervor und hielt es nun denjenigen Interviewern unter die Nase, die ihn fesselten, um jetzt sie zu befragen. Beispielsweise Truman Capote. So entstand die Warhol-Veröffentlichung „Sonntage mit Mister C.“.
Lore Schaumann, die zwei Jahre lang unermüdlich der Literatur in Düsseldorf eine jetzt im allgemeinen Bewußtsein fest verankerte Existenz überhaupt erst schuf – wer ist das?
Zuerst einmal: Katalysator! „Zu vermitteln ist mir die wichtigste Aufgabe.“ Schräg gegenüber in der Zimmerecke lächelt ein veritabler, südamerikanischer, weiblicher Schrumpfkopf mir ein entrücktes Lächeln entgegen. Lore Schaumann gruselt sich davor. „Eine Frau ist eine Frau“ hieß der zweite Film von Jean Luc Godard. Lore Schaumann will mit allem Nachdruck eine Frau sein, diese Chance verwirklichen.
Der Schrumpfkopf gehört Käte Reiter, ihrer Wohnungspartnerin: „Als alleinstehende Frau ist man nicht gesellschaftsfähig!“ In Lore Schaumanns Arbeitszimmer fasziniert alle Besucher u. a. die exotisch verbrämte Bücherwand. Auch das Team vom Westdeutschen Fernsehen: das aus einer Zeitschrift ausgeschnittene Foto von Marie-Luise Kaschnitz, als sie eine junge, schöne Frau mit schwer zu vergessenden Augen war. Das Bild von Albert Camus, der den „Mythos von Sysiphos“ als Ausweg aus der Hoffnungslosigkeit menschlicher Existenz interpretierte. Das Zimmer ist zum Bersten voll von der Atmosphäre geistiger Auseinandersetzung.
Was Lore Schaumann prinzipiell zuerst interessiert, was sie immer zuerst interessiert hat, ist: inmitten allem und hinter allem der Mensch; das Persönliche, das Private, die Umstände, die ihn so gemacht haben, wie man ihn nun erfährt. Dabei ist ihr Diskretion ehernes Gesetz! Niemals würde sie die Distanz des guten Geschmacks überschreiten. Das hat bei der Folge ihrer Autoren-Porträts immer wieder dazu geführt, daß der jeweilige Mensch, dem sie begegnete, seine eigentlich nur anonym-statistisch existierende Figur als Schreibender überlagert hat. Was für den Leser wiederum den Vorteil mit sich bringt, daß er in Lore Schaumanns Porträts einem wirklich prall mit Leben gefüllten, ganz unverwechselbaren Menschen begegnet. Nicht bloß einem ebenso gut mit dem Computer erfaßbaren Schemen. „Wenn man Menschen porträtiert, urteilt man nicht mehr kategorisch“, sagt sie.
Während mir weiter der Schrumpfkopf jenseitig mild zulächelt, fällt mir auf, daß Lore Schaumann allerdings nur so überfließt vor lauter druckreifen Feststellungen, die wirken wie Steno-Kürzel, langer, langsam und immer wieder neu gemachter Erfahrungen. Beispielsweise: „Ich bin ja verzweifelt ehrlich – das hängt mit meiner protestantischen Erziehung zusammen!“ Und wenn ich bei solchen Äußerungen die lange Reihe von Autoren-Porträts in meinem Hinterkopf Revue passieren lasse, sticht dabei besonders gravierend und durchgehend die Tatsache hervor, dass „Futterneid“ offenbar ein Zustand ist, der in Lore Schaumanns Bewußtsein oder Unterbewußtsein rundherum überhaupt nicht existiert. Jener Neid, der den Menschen etwas Unmenschliches aufsetzt, und der auf dem einen Gebiet als Wettbewerb oder als Konkurrenz ausgegeben wird, und der doch im Grunde nichts weiter im Sinn hat, als sie selbst zu erhöhen, indem man die möglichen Verdienste des anderen schmälert. Das jedenfalls kennt Lore Schaumann nicht. Sonst wüßte man beispielsweise längst allerorten, daß ihr nächstes Buch noch in diesem Jahr erscheinen wird. Im Sassafras-Verlag von Klaus Ulrich Düsselberg und mit dem Thema, das Lokalkolorit jenes weitab liegenden spanischen Dorfs festzumachen, in dem Käte Reiter ein Ferienhaus hat. Und genauso fest eingeplant ist ein Bericht darüber, was aus den Amerika-Auswanderern ihrer siegerländischen Heimat – damals zur Zeit der Depression am Ende der zwanziger Jahre – eigentlich geworden ist. Und weitere Buch-Pläne gibt es außerdem noch. Lore Schaumann ist nicht nur die (Er)Finderin der literarischen Szene Düsseldorf. Sie ist zugleich ihr integrierter Bestandteil.
Immer wieder haben irgendwelche Leute sie gefragt, ob sie ihre musikalische Ausbildung als Sängerin denn einfach so vergessen könne. Aber Lore Schaumann hat sie ja nicht entfernt vergessen. Alle Lieder, die sie kennt und die sie einmal gesungen hat, sind als unveräußerlicher Besitz ständig und immerzu in ihr anwesend. Solcher Besitz vermittelt ihr ein Bewußtsein: „Es ist, als ob man flöge.“ Wenn das nicht pure Poesie ist – Poesie als Form der Existenz – dann weiß ich nicht, was Poesie überhaupt sein könnte.
Zur Literatur kam Lore Schaumann wie im Buch. Als Kind nämlich stöberte sie in Großvaters altem, staubigen Schrank auf dem Dachboden und fand „Onkel Toms Hütte“. Sie „verschlang“ es atemberaubt. Und der Kreis dieser ersten Begegnung mit Literatur und mit diesem speziellen Problemkreis solchen Inhalts schloß sich 38 Jahre später wieder bei einem Besuch ihrer beiden mittlerweile amerikanische Staatsbürger gewordenen Geschwister in den USA. Das war 1966, und die Rassenunruhen hatten ihre Höhepunkte. Die Besucherin aus der fernen Bundesrepublik wurde ganz hautnah darin verstrickt. Noch während der Rückreise an Deck des Schiffes las sie pausenlos alles, was mit der US-amerikanischen Rassenfrage zu tun hatte. Auch in den Filmen, die sie für Eva Hoffmanns ZDF-Redaktion „Der internationale Kurzfilm“ fortlaufend untertitelt, hat sie es thematisch immer wieder mit sozialen Themen zu tun: mit Ghetto-Problemen oder mit denen der Minderheiten-Befreiung.
Zum Journalismus, zum Schreiben, zu den definitiv gemachten Anfängen der Schriftstellerin hat es immer wieder erst einmal Anstöße von außen gegeben. Sie glaubt inzwischen, daß sie solche Anstöße braucht, um aktiv werden zu können. Aber dann erweist sich ihr große, geistige Beweglichkeit – wichtiges Kennzeichen eines kreativen Charakters – jedes Mal als ihr großes Plus. Lore Schaumann greift die Anregung auf, setzt sich damit auseinander, wird gepackt und steht dann unter dem fast manischen Zwang zu formulieren, sich mitzuteilen, Öffentlichkeit für „ihr“ Thema anzustreben. Man sollte viele Anregungen an Lore Schaumann herantragen!
Hat ihr Buch mit den Porträts von 44 Düsseldorfer Autoren für sie selbst eine Konsequenz; innerlich? Es war ihr erstes Buch. Von namhaften Schriftstellern hört man immer wieder, nach Beendigung einer Arbeit wären sie entweder überglücklich oder – häufiger – total ausgelaugt. Lore Schaumann sagt, am Ende jeden Jahres, in unseren tristen Wintern, sei sie bisher jedesmal in die gleiche, anhaltende Deprimiertheit gesunken. Am Ende des Jahres 1974, in diesem Winter allerdings, sei sie zufrieden, sei sie nun glücklich, weil sie etwas in der Hand hat.
Dieser Sachverhalt kann die von Lore Schaumann gefundenen, vorgestellten und zu einem von nun an nicht mehr verlierbaren Bestandteil von Düsseldorfs geistigem Fluidum gemachten Autoren deshalb doppelt ruhig machen. Sie haben dazu beigetragen, einen Menschen glücklich zu machen. Wenigstens mittelbar und für einen Winter; für diesen.
Klaus Ulrich Reinke in: »OFFKÖ«. Berichte aus der Düsseldorfer Szene 1960-1980. Hrsg. vom Kulturamt und Presseamt der Landeshauptstadt Düsseldorf. Wuppertal: Wasserloos Edition , 1980, o. S.