Frauen-Kultur-Archiv

Düsseldorfer Autorinnen der Gegenwart: in memoriam

Selbstaussage der Autorin

Wenn man aus einer doppelten christlich-jüdischen Wurzel stammt, dann fühlt man sich prädestiniert, das Verhältnis zwischen Juden und Christen klären zu helfen, sei es auch um den Preis, daß man hinfällt. Wenn sich aus dieser Anregung jedoch keine sinnvolle Arbeit zu ergeben scheint, was kann dann der Sinn für einen Menschen wie mich sein? Meine alte Tante hatte mir zum Glück die unabänderlichen religiösen Elemente in salbungsvolle Sprüche gekleidet und mir mit auf meinen Lebensweg gegeben. Sie sind immer wieder Wegweiser gewesen, einfach da, um meine Verzweiflung zu bekämpfen.

An seine „Matratzengruft“ gefesselt, wußte der Dichter Heinrich Heine, was Verzweiflung heißt. „Es ist mehr Verwandtschaft zwischen Opium und Religion, als die meisten Menschen sich träumen lassen“ schrieb er. Wenn Heine seine Schmerzen nicht ertragen konnte, dann nahm er Morphium und andere Betäubungsmittel. Nicht umsonst sagt man, daß man um Hilfe fleht, wenn man zusammenbricht.

Mit zunehmendem Alter merkte ich, daß alle Religionen, Traditionen, Gebote und Gesetze etwas Gemeinsames haben. Sie alle sind Versuche, die Schwierigkeiten und die Schmerzen des Lebens zu verkraften. In der Tat, es ist nicht einfach, einer Welt ausgesetzt zu sein, die stets neue Probleme aufwirft. Herauszufinden, welchen Sinn ich in meinem Leben finde und welchen Sinn ich dem eigenen Leben gebe. Nur Geld zu verdienen kann z. B. nicht die Hauptattraktion des Lebens sein. Ich arbeite nicht für den Tanz um das Goldene Kalb. Und ich möchte nicht, daß Geld und Macht zu unserer Religion werden. Ich gehöre rein formal zu keiner Religion, bewahre aber trotzdem auf meine Art und Weise einen Glauben.

Meine Mutter hat ihr Wort gehalten. Sie war als Griechin geboren und starb als Griechin. Zur Kirche ging sie nicht. Über Gott sprach sie nicht. In den letzten Jahren ihres Lebens trug sie allerdings eine Kette mit einem Kreuz, einen Davidstern und einen Bismillahimrahmanirahim. Drei Zeichen, die für Christentum, Judentum und Islam stehen. Heute liegen diese religiösen Symbole auf einem chinesischen Teller in meinem Schlafzimmer. Und ich unternehme gern Pilgerfahrten, um Heiligtümer, Kapellen, Moscheen, Synagogen und fernöstliche Tempel zu besuchen. Wohnorte der Geister und Götter. Ganz bestimmt glauben viele Menschen nicht an Seelenwanderung und Wiedergeburt, wünschten sich aber, daß es sie gäbe. Das Herz hat Beweggründe, die in der Vernunft allein nicht begründet sind. Vielleicht ist das große Kennzeichen der Religionen das „Prinzip Hoffnung“. Wenn wir ganz unten sind, bleibt uns die Hoffnung, daß eine Auferstehung in einem heilen Körper und einer heilen Seele folgen wird. Daß eine Phase zu Ende gegangen ist, fertig ist, abgelegt. Und dass wir bei Gott von ganz vorn beginnen können.

„Wozu Kinder in eine Religion zwingen? Sie sollen selber entscheiden, wenn sie alt genug sind, ob sie Christen oder Juden sein wollen“, sagten meine Mutter und mein Vater gemeinsam. Viele denken, ich gehöre weder zu einer Religion noch zu einer anderen, Daß ich nirgends hingehöre, wird gleichgestellt mit dem Bild, dass ich nirgends einen Tempel habe. Doch so ist es nicht. Wer aus doppelten oder dreifachen Wurzeln wächst, bekommt die Überlieferungen sowohl des einen, als auch der anderen Religion, und kann sein geistiges Haus so schnitzen, wie es aus eigenem Entschluß notwendig ist.

Quelle: „Ich brauche ein geistiges Haus“. Vom Leben in christlicher, jüdischer und griechisch-orthodoxer Tradition zugleich. In: „Leben – einzeln und frei wie ein Baum und geschwisterlich wie ein Wald ist unsere Sehnsucht.“ Türkei, Deutschland, Europa. Impulse für die Gegenwartsliteratur: Das Eigene und das Fremde. Tagung der Evangelischen Akademie Iserlohn vom 12. – 14. Januar 1996. S. 88-90.