Frauen-Kultur-Archiv

Düsseldorfer Autorinnen der Gegenwart: in memoriam

Texte der Autorin

Bergfilme (1990/91)

Wir steigen auf die Alm zum Fernsehen. Ich will den Rauschberg sehen.
Mein Neffe lieber Watzmann.
Ich frage, was willst du Trenker?
Es sagt, ein großes Helles.
Ein Männlein bringt uns Bier und drei Weißwürste.
Ich sage, halt Männlein, da fehlt noch Wurst!
Der Hunter unter der Bank nagt am Knochen.
Ich sage, Luis, du bist ein guter Hund.
Mein Neffe kann den Watzmann nicht finden, Die Fernbedienung fällt ihm aus der Hand.
Ich sage, der erste Teil der Watzmann-Serie ist langweilig gewesen.
Er sagt, Drehbuchschreiben müßte man können.
Ich sage, Luis Trenker hat auch Bücher geschrieben.
Mein Neffe sagt, eines muß man ihm lassen, schreiben konnte er.

Das Männlein bringt nochmal drei Würste.
Ich sage, so ist recht, jetzt geht die Zahl glatt auf.
Das Männlein lächelt und streicht sich eine Locke aus der Stirn.
Mein Neffe schaltet an der Fernbedienung herum.
Ich sage, die Rauschberg-Serie ist immer spannend.
Er sagt, er findet den Hauptdarsteller nicht gut.
Ich sage, es ist auch nicht einfach einen Berg zu spielen.
Er sagt, daß Buch ist besser als der Film.
Ich sage, der Film ist eine Hommage an Luis.
Der Hund unter der Bank nagt weiter am Knochen.
Mein Neffe sagt, der Watzmann zeigt Familienschicksal hautnah und beim Rauschberg ist immer nur der Hauptdarsteller im Bild.
Ich sage, der Hauptdarsteller hat Luis leider nicht mehr persönlich kennengelernt, weil er lange im Orient gelebt hat.
Ich sage, beim Watzmann werden die Bergfamilien bloß auf ihren Hütten gezeigt. Man sieht nur Innenaufnahmen.
Er sagt, daß dafür der Vor- und Nachspann im Freien spielt.
Das Männlein kommt abkassieren, weil der Hund mit dem Knochen fertig ist.
Er nimmt meinem Neffen die Fernbedienung aus der Hand.
Mein Neffe sagt, die Würste haben ihm geschmeckt.
Ich nehme den Fernseher über die Schulter und gehe voran.
Ich sage, der Watzmann, das ist der Abstieg.
Mein Neffe sagt, er kann nicht verstehen, warum der Empfang so schlecht war.
Ich sage, morgen gibt es Schnee.
Das Männlein schraubt die Holzbank ab.
Der Hund rührt sich nicht vom Fleck.
Mein Neffe sagt, Luis, komm Watzmann!

Silvester im Mezzogiorno (1991)

Über der Gasse kracht es, zuckt es.
22 Uhr. Detonationen zögern unsere Schritte hinaus. Auf der Hauptstraße ist Autostille. Kein Taxi fährt vorbei.
Unsere Blicke suchen schreckhaft die Bürgersteige ab.
Feuerwerkskörper explodieren. Die Uhren sind vorgestellt.
Vorneujahrlicher Kriegszustand.

An den Häusermauern gehen wir in Deckung. Dann tasten wir uns wieder zur Straße vor, spähen, lugen, bangen.
Ein Knallkörper schlägt dicht neben uns zu Boden. Vom Balkon gegenüber wird scharf geschossen. Wir werden angepeilt. Unser Fluch stärkt die Schützin, macht ihr Mut und uns Angst auf der menschenleeren Straße.
Wir kehren um, schleichen ins Haus, rufen ein Taxi durchs Telefon. Die Gasse ist eng, der Wagen wird nicht in den Hinterhof kommen. Wir müssen die beschossene Gasse zur Hauptstraße zurück, winken. Schritt für Schritt fußen wir voran, kauern wieder an der Mauer, halten Atem an und betreten die Straße.
Ein Auto macht sich breit, kein Taxi fährt vorbei, niemand holt uns. Es knallt. Schwefelnebel liegt über der Nachbarschaft und wird zu Kopfschmerz. Akustische Krater reißen ins Ohr, verhallen, wie Triangeln.
Sprengkörper schlagen die Alarmanlagen parkender Autos ein.
Die Sirenen mischen sich mit der Sprengwut.
Wir zucken zum Haus zurück.
Jetzt stehen Kinder im Hof und verbrennen Holz.
Ein Junge tritt Flammen mit Füßen.
Auf dem Asphalt raucht ein verendeter Kracher.
Der Himmel ist erleuchtet.
Die Zentrale meldet sich nicht mehr.

Wir äsen in der Wohnung, grasen die Küche nach Eßbarem ab. Die Party findet zu Hause statt. Spaghetti schlängeln sich durch Öl und Knoblauch.
Eine fettige Teigmasse, Menüverzicht. Ein Restposten Wein füllt zwei Gläser.

Wir öffnen die Balkontür über den Dächern der Stadt. Im Talkessel dampft es, knallt es.
Schwarzer Weihrauch steht jetzt im Raum.
Noch zwei Minuten bis Mitternacht.
Die Sprengungen erreichen ihren Höhepunkt.
Wir sehen die Dächer nicht mehr, nur einen unbestimmten Ascheschleier, der sich über den feierlichen Himmel spannt.
Reißende, zuckende, zischelnde Raketen platzen, Lichter zerstreuen sich, Bauten vibrieren unter der Hochspannung, in die grobes Zündwerk hineinwuchtet.
Schwefel, überall Schwefel, frohes Neujahrsgefecht.
Gequälter Nachthimmel, noch Stunden später.
Krachen im Kessel
Zerstörung total
Federvieh flieht.

Evchen (1992)

Früher dachte sie sich in andere Kinder hinein, die sie lieber gewesen wäre.
Sie fand, sie rede zu viel, obwohl sie eigentlich still war. Manchmal kam es in Sprechsalven aus ihr heraus und ihre Mutter sagte, sie solle sich wieder einkriegen.

Sie hätte gerne alles richtig gemacht. Aber oft machte sie Fehler. Sie nahm sich dann vor: Achtung, fertig, los, keine mehr zu machen. Nichts mehr zu sagen, daß andere die Augen verdrehen ließ, nicht mehr so schnell beleidigt zu sein und nicht mehr die Nase hochzuziehen. Sie stieg dann aufs Fahrrad und schaute an jeder Straßenecke übertrieben genau nach rechts und links und wieder rechts, auch wenn überhaupt kein Auto kam, weil überhaupt nicht viel Verkehr war, da wo sie wohnte.

Aber es dauerte nicht lange und sie machte wieder einen Fehler, zog die Nase hoch oder sagte etwas Falsches und dann fing sie wieder von vorne an und sagte sich halb im Stillen: Achtung fertig los und machte eine Faust, so fest sie konnte und alles sollte ihr gelingen. Ab jetzt, sagte sie dann, straffte ihren Körper und fand sich neu und voller Chancen nun perfekt zu werden.

Sie hatte viele Spielkameraden. Die dicke Doris, Axel mit dem Glanzbilderkoffer, die dreckigen Kinder und Uwe. Sein schmaler Kopf wackelte immer leicht hin und her, als wolle er nicht festsitzen auf dem mageren Hals. Er wohnte gleich an der Eisenbahnbrücke. Roller und Kettcars standen im Hof herum. Das war alles was sie von ihm wollte und es machte ihm nichts aus. Er lieh ihr seine Geräte und wenn er sprach, klang es, als käme er den Worten nicht nach und er hielt den Mund leicht aufgesperrt, die vollen Lippen wie zum ständigen Nachtrag bereit. Uwe überließ ihr dann das Feld und hielt sich mit seinem langen gekrümmten Rücken am Rande, als hätte er seine Kindheit an ein frühzeitiges Gebrechen verloren.

Die Italiengeschichte (1992)

Die Kühe haben ihre Fladen dort gelassen, wo die Fußspitzen hinzeigen. Leone lächelt und sagt nichts. Die schmalen Jeansbeine betonen die Verhaltenheit seiner Hüften, die in keine Taille münden. So gut ist Esthers Italienisch nicht, ihn darauf aufmerksam zu machen.

Im Wagen rutscht das Dach kleingefaltet hinter ihre Köpfe. Späte Sonne fließt wie geschmolzenes Kupfer, nur eine Brise blonder über die Sitze. In der Trattoria stehen die Türen offen. Esther wählt die Speisen nach dem Klang der Worte und nach Leones Gesten und der Mimik seines Kommentars. Er lacht über Esthers Kauderwelsch, und seine Augen funkeln braun, und es hängen Wimpern daran, die dunkel sind, dunkler als die Haut seiner hohen Stirn, die von buschigem Haar umkränzt wird. Seine Stimme könnte sie in jeden Schlaf singen und vor Alpträumen bewahren.

Sie hat seine Nase mit dem Knick schon näher kommen sehen und ihre kurze Nase daran gestoßen und den Abdruck seiner Lippen in ihr Bett nebenan getragen. Aber in seinem Arm kann sie nicht bleiben. Und er läßt sie nicht bloß von sich nippen. Nur ganz kann sie ihn haben, und das kann sie nicht, nicht im Herzen und nicht fern der Heimat. Wenn das Telefon für Esther klingelt, antwortet sie der Männerstimme, die in ihrem Ohr wohnt, entrückt, wie von fern, während Leone mit dem Geschirr in der Küche hantiert. Dann geht Esther schnell an ihm vorbei, denn ihr Gewissen reut die Worte, die tonlos durch die Muschel fielen.

Leone kocht, was er kann. Spaghetti. Er versteht das mit Esthers Gewissen. Wir können Freunde sein, sagt er mit einem Augenaufschlag und senkt seine Schelmenmiene über den Teller. Esther tut so, als wäre sie nie älter als fünf Jahre geworden. Sie mag Leones Schoß zum Draufsitzen, als Schemel, damit sie ihm besser im Gesicht herumfuchteln kann. Sein Körper ist so ein Ruhekissen, wenn Esther das Feuer auf Sparflamme hält. Sie weiß nicht, wo sie mit den großen Flammen hin soll, die ihr Mund entfacht hat und die sich über den Rücken hinabzüngeln. Esther windet sich im schmeichlerischen Atem und nimmt unvermittelt die Arme aus dem Spiel. Leone erhebt sich. Seine Stimme klingt offiziell. Er will sich nicht mehr begrabschen lassen, wenn Esther nicht die Reihenfolge einhalten kann. „Wir sind bloß Freunde“, sagt Leone zu seiner Kameradin. Der Bernhardiner wird zum Königspudel. Es müssen erst Stunden vergehen, und sie darf wieder nach seiner Pfote greifen.

Leones Wohnung ist eine Herberge. Esthers Zimmer ist auch Veras Zimmer. Die Schlafstellen sind die Raumteiler zweier Privatsphären, die sich an Kopf- und Fußende berühren. Die Kumpelin in Vera kommt mit allen Menschen zurecht. Sie packt das Leben an der Wurzel und steht kernig in breiten Hüften darin. Ihre ausgedehnten Wiener Vokale überziehen auch die italienischen Silben mit ihrer Herkunft. Geduldig schreibt sie Lektion für Lektion in ihr Heft. Sie will, so wie Esther, eine Sprache verstehen, die zu sprechen sie noch nicht gelernt hat. Vera weiß nicht, wie es um Esther steht. Leone ist das Geheimnis einer zufälligen Wohngemeinschaft, das Dach über dem Kopf, das Esther auf einem Adresszettel in die Hände fiel. Die Zeit schweißt Vera und Esther wie zu einer Dauerübernachtung zusammen. Doch nur flüchtig haben sich die Geschichten am Küchentisch zusammengeknüpft, scheinen die Gesichter zum Greifen nah, während Esther den Fernseher bei der Antenne packt, die zimperlich querschlägt.

Leones Freunde sind beiläufig hereingeschneit und im Sofa versunken. Auf dem Tisch liegt jetzt allerlei Lotteriespiel. Nummern werden aus einem Sack gezogen, und Erbsen markieren die Treffer auf den Zahlenbrettern. Leones Schenkel lassen sich von Esthers Schenkeln ansaugen und verharren. Über das Spielbrett gebeugt, berührt sein Atem ihre Wangen. Er ist das lautmalerische Echo der Gewinnzahlen, damit Esther kein Treffer entgeht. Sie steckt die gewonnenen Lire ein. Ihre Augen senken sich unterm Neonlicht. Auf der Hammondorgel läutet Leone die letzte schlafwandlerische Begegnung ein.

Esther liegt im dunklen Abteil zwischen dicken Männerleibern auf ihrer Pritsche. Lichtstreifen flutschen durch die Jalousie über Esthers Nachtatem. Ob er sie wiedersehen werde, wollte Leone wissen. Da hatte sie ihm die Monate vorgezählt, die Monate bis Klingglöckchen. Dann war er verschwunden, der Zug war noch nicht angefahren. Leone stand im Halteverbot und Esther wollte keinen Abschied, der sich zuwinkt bis zur Unkenntlichkeit.
Esther geht mit ihrem Beutel durch den Waggon. Sie blickt nüchtern in den Toilettenspiegel.
Die Lautsprecherstimme einer deutschen Station klingt wie der Widerhall ihrer Rückkehr.
Eine unbestimmte Freude lacht sie an.
Die Stunden der vorrückenden Landstriche sind gezählt.
Esthers Ankunft schließt die Gedächtnislücken.
Die Taschen auf der Ablage fallen ihr mit einem Satz entgegen.
Die Türen wollen aufgestoßen werden.
Der Körper, der ihr entgegenläuft, erscheint ihr plötzlich fremd und mager. Sie schaut durch das freundliche Gesicht hindurch und taucht ab in Bilder, die Leone ihr auf’s Auge gedrückt hat. Sommerbilder.
Auf dem Bahnsteig ist es längst Herbst.