Frauen-Kultur-Archiv

Düsseldorfer Autorinnen der Vergangenheit

Rezensionen zu den Erzählbänden

Rezensionen zu „Mitmenschen“, Stuttgart, Berlin 1908

Wie im „Leute mit und ohne Frack“ deutet auch der Titel von Leonore Niessen-Deiters jetzt erschienenem Novellen- und Skizzenbande „Mitmenschen“ auf ein Element der Gesellschaftssatire. Und hier wie dort deutet er ferner an, daß die Schärfe des Spottes von liebevollem Verstehen des Mitmenschen gemildert ist. Die herzliche Beziehung der Dichterin zu ihren Gegenständen, die deutlich genug auch aus der knappsten Linienführung, der schärfsten Pointierung spricht, stellt Leonore Niessen-Deiters in die Reihe der wahren Humoristen. Freilich ist ihre besondere Note die knappe Artistik, wie in der Skizze „Die Welt von der anderen Seite“. Besonders liebevoll und auch detaillierter ausgemalt sind ihre Frauengestalten, von der gutmütigen, unglaublich gutmütigen „Mutter Schanettchen, die Konsequente“ – den Lesern der Neuen Hamburger Zeitung aus dem Feuilleton bekannt – bis zu den schrulligen alten Schachteln, den Piepjunges, die sich 13 Jahre mit ihrem Pflegesohn quälen, bis er auf die Universität zieht, ihr jungfräuliches Heim von seiner männlichen Gegenwart erlösend, um den Entsetzten nach kurzer Zeit – einen neuen Pflegesohn ins Nest zu legen. Wie die Piepjunges dies schreckliche Begebnis auf die von ihnen verabsäumte „Aufklärung“ des jungen Mannes schieben, ist mit köstlichstem Humor geschildert. Mit derselben Beherrschung der Form, die in Kunstdingen den Ausschlag gibt, schlägt Leonore Niessen-Deiters auch tragische Akzente an: „Giovanna Testa“, „Eine glänzende Partie“. Den Schattenrissen vergleichbar, mit denen der Bruder der Verfasserin, der Düsseldorfer Maler Hans Deiters, auch dieses Buch wieder geschmückt und besonders wertvoll gemacht hat, ihnen vergleichbar an anmutig beweglicher, subtil hingehauchter Wirkung ist „Eine Begegnung“ im Walde zwischen einem eben entsprungenen Zuchthäusler und einer jungen Spaziergängerin. Der hohe künstlerische Wert des Buches, die warmen Herzenstöne, das aus dem wohlvertrauten täglichen Leben gewählte Stoffgebiet machen es zu einem Volks- und Familienbuche in des Wortes edelstem Sinne. Möge uns die Dichterin deren noch viele schenken. (Oswald Pander)

In: Neue Hamburger Zeitung, 5. 12. 1908.

Ernst und ein feiner besinnlicher Humor mischen sich auch in dem Geschichtenband „Mitmenschen“ von Leonore Niessen-Deiters (mit köstlichem Silhouetten-Buchschmuck von Hans Deiters, erschienen bei J.G. Cotta Nchf., Stuttgart und Berlin. 1908. Geh. 3 M.).

Die Verfasserin ist einer scharfe Beobachterin des Lebens, eine seelenkundige Betrachterin besonders der sonderlichen und kuriosen Käuze, die in dieser Welt herumlaufen und die sie besonders ins Herz geschlossen hat. Zugleich verfügt sie über einen feinen Spott, eine liebenswürdig-überlegenen Ironie, die all ihre abgerundeten und sicher pointierten Schilderungen menschlicher Eigenschaften und gesellschaftlicher Zustände unendlich reizvoll und anziehend machen. Prächtig weiß sie die bösartige Klatsch- und Verleumdungssucht ihrer geschätzten Mitmenschen etwa in der „Geschichte von drei Seiten“ zu verspotten; sie zeichnet in „Mutter Schanettchen, der Konsequenten“ das schalkhaft lebendige Charakterbild einer unverbesserlich gutmütigen Frau, deren Verstand einen ständigen Kampf mit ihrem Herzen führt und ständig darin unterliegt; sie läßt einen grimmeren Humor spielen, wenn sie in „Onkel Theodor“ die Erbschaftsberechnungen einer Familie an der unverwüstlichen Lebenskraft eines verkommenen alten Junggesellen zu schanden werden läßt, dem das grausame Geschick es vergönnt, alle seine Erbe zu überdauern. Auch tragische Töne stehen ihr zu Gebot, wie die Liebesnovelle „Giovanna Testa“ und die „Glänzende Partie“, eine scharfe Kritik der üblichen Berechnungs- und Geldheiraten, zeigen, aber diese Arbeiten haben doch nicht die selbständige und eigenartige Haltung, wie die übrigen, in denen Humor und Ironie in allen Spielarten vom Uebermut bis zum Lächeln unter Tränen triumphieren. Da eignen Frau Nießen-Deiters Frische und eine aus Lebenskenntnis erquellende Liebenswürdigkeit des Verstehend, Originalität der Einfälle und Knappheit der Ausdrucksmittel. Und selbst, wo sie ein so altes Thema aufgreift, wie die Verspottung gesellschaftlicher Torheiten in der Schlußgeschichte „Närrische Hühner“ (die unsern Lesern übrigens aus der Sonntagsbeilage bekannt ist), weiß sie ein neue, apart und amüsante Seite aufzudecken.

In: Allgemeine Zeitung, Königsberg, 19.02.1909.

Rezensionen zu „Im Liebesfalle“, Stuttgart, Berlin 1910

Mit ihrem Drillingswerk bietet uns die Verfasserin eine Fortsetzung fein pointierter Schöpfungen aus dem Innenleben, die wir schon in ihren beiden Vorläufern zu schätzen gewußt haben. Wie es schon gewohnheitsmäßig geworden, fehlen die künstlerisch hervorragenden Silhouetten des Bruders der Schriftstellerin auch in diesem Werke nicht und bieten uns eine edel einzuschätzende Belebung der beschriebenen Seelenakte. Unter den sechs Titeln der Schilderungen bieten vier einen tiefgehenden Einblick in das Denken und Fühlen des bäuerlichen Milieus und führen uns, das Erotische fein verhüllend, an von der großen Menge als „unsittlich“ gekennzeichneten Lebensfragen des Naturmenschen vorbei, uns zugleich die eifrige Hingabe der Verfasserin für das Studium dieser Klassen vor Augen führend. Eine Kleinmalerei, die kaum durch Zolasche Werke übertroffen werden konnte, bietet sich uns in reichstem Maße dar und verleiht den an und für sich kurzen Fabeln der einzelnen Abrisse ein volle Aufmerksamkeit der Leser weckendes Interesse. In der „Stina Rapps“ finden wir einen leichten Ueberschuß von Gedankenmalerei, die in den übrigen kurz gefaßten Schilderungen nicht zu so krasser Geltung kommt, als hier; doch löst der tragische Schluß dieses Dramas eine nervenspannende Empfindung des Lesers gleichzeitig derart aus, daß die vorhergegangenen Längen verblassen. Die „Heim“ betitelte Schilderung spielt in die Wohltätigkeitsmanie der höheren Gesellschaftssphäre hinüber und gibt uns Bekanntes in neuer Form zu belächeln. „Ein Brief“ ist unseres Erachtens ein Seelenakkord, der vielfach im Herzen so manchen Lesers und so mancher Leserin nachhallen dürfte und gerade seiner Kürze wegen am nachhaltigsten Wirkung ausübt. Wir wollen nochmals zum Schluß des wirklich hervorragenden Buchschmuckes von Hans Deiters, Düsseldorf, Erwähnung tun, dessen Begleitung zum Erwerber dieses Buches ein Schatz an und für sich bedeutet, und dasselbe zur Zierde eines jeden Weihnachtstisches dienen dürfte.

In: Lübeckische Anzeigen, 5.11.1910.

[…] Die beiden von der Kritik günstig aufgenommenen Werke „Leute mit und ohne Frack“ und „Mitmenschen“ haben den Namen der rheinischen Erzählerin bekannt gemacht. Auch dies neue Buch Erzählungen und Skizzen ist eine reife Gabe, ein Werk voll Humors tiefsten Ernstes und mit einem Einschlag treffender Satire. Die Dichterin zeigt uns verschiedenen Arten der Liebe oder dessen, was man so nennt. Der Schauplatz ist das Dorf oder die Kleinstadt, beide ebenso gut gesehen und charakterisiert wie die Menschen. Die größere Novelle „Stina Rapp“ ist das feinste Stück des Bandes. Mit großer dichterischer Kraft ist da ein eigenartiges Frauenschicksal bis zum erschütternden Ende dargestellt. „Liebe“ und „Die Unschuld vom Lande“ sind vortreffliche Ausschnitte aus dem Lebe einfacher  Menschen mit ganz unkompliziertem Empfinden, und eine kräftige Satire auf die Mitwirkung von Damen der Gesellschaft die Skizze „Das Heim“. Alle diese Stücke und noch zwei andere schmückte der Bruder der Verfasserin mit Bildern voll Reiz, die nach Silhouetten hergestellt wurden, die der Künstler mit der Schere schnitt. Das Buch ist zu empfehlen.  L. Schr.

In: Leipziger Neueste Nachrichten, 12.12.1910.

Rezensionen zu „Die unordentlich verheiratete Familie“, Stuttgart, Berlin 1912

Was ist das: eine unordentlich verheiratete Familie? Der auf dem Umschlag stehende Storch, der lustig klappernd einen Stammbaum zu studieren scheint, läßt im Verein mit diesem Titel kleine pikante Geschichten erwarten, wie sie auch der ernster gerichtete Leser zur Abwechslung einmal nicht verschmäht. Aber das neue Buch der Niessen-Deiters bringt doch mehr. Diese Reihe anscheinend bunt zusammengewürfelter Erzählungen und Skizzen, die indessen nach einem ganz bestimmten Plane geordnet sind, macht uns mit allen Mitgliedern einer weitverzweigten Familie bekannt, den braven, bürgerlich soliden, zum Teil sogar zu „höheren Schichten“ der Gesellschaft aufgestiegenen und den verwilderten, in der Welt herumzigeunernden, die unverschämt genug sind, den riesigen Abstand von jenen gar nicht einmal zu erkennen. Auf ein Familienmeeting bringt das Haupt der Familie, die unglaublich vornehme Tante von Meier – der Onkel fabriziert Emaillewaren, züchtet Vollblut und ist für seine Verdienste um die Landwirtschaft geadelt –, alle Angehörige des Geschlechts, die ihr etwas zu versprechen scheinen, zusammen, um den Familiensinn zu stärken und die „ordentlich“, d.h. standesgemäß Verheirateten und aus solchen Ehen hervorgegangenen zu einer engeren Verbindung zu vereinigen, mit der sie prunken kann. Und sie muß es erleben, daß die Zahl dieser „Ordentlichen“ bei näherem Zusehen schauderhaft zusammenschrumpft! Die einzige „Adlige“ des Kreises entpuppt sich als ein verarmtes Fräulein, das in Stellung ist und Zwirnhandschuhe trägt, der „dekorative“ Vetter Udo, ein schneidiger Kavallerieleutnant, hat seinen Attila mit dem Zivil des Weinagenten vertauschen müssen, der vermeintliche Großkaufmann vom Rhein ist ein Kleinkrämer untersten Ranges und die Gattin des weltmännischen Egon Lobschütz führt sich gar als Exzentrik-Tänzerin Fanny-Fanny vom Wintergarten ein. So wird der schöne Bund gesprengt, noch ehe er geschlossen, und die Tante von Meier verläßt mit den Einzigen, die ihrer würdig, einem hanseatischen Landrichter und einem Fräulein Klotilde, der „Tante mit den vornehmen Bekanntschaften“, zürnend den Familientag. Sehr ergötzlich und mit liebenswürdiger Bosheit schildert die Verfasserin in den folgenden Kapiteln: „Fanny-Fanny“, „Das unverschämte Fräulein“, „Tante Klotildens Brunnenbekanntschaft“, „Udo der Edelsozialist“ und „Onkel Felix“, die Vorgeschichte und die weiteren Schicksale der Helden dieser Familien-Komödie, wobei es weiter nicht verwunderlich ist, wenn die Unordentlichen, das arme „Fräulein“, die Tingeltangeltänzerin usw. sich als aufopfernde, seelisch starke Naturen erweisen, während die Ordentlichen sich allesamt sehr blamabel aufführen. Von besonderem Reiz ist in dem frisch geschriebenen Buche die originelle Gestalt des gelehrten Onkel Felix, der allen Leuten die Wahrheit sagt und dem es Vetter Udo, der Edelsozialist, zu danken hat, wenn er nach einer verzettelten Jugend noch ein Mann wird. Die einzelnen Geschichten, deren Grundstimmung Humor ist, obgleich sie keineswegs im landläufigen Sinne humoristisch sind, sind mit fein-satyrischen Zeichnungen von Hans Deiters geschmückt.

In: Hannoverscher Curier, 17.09.1912.

Immer mit dem gleichen Vergnügen begegnet man dieser so humorreichen, lebenskundigen und liebenswürdigen Schriftstellerin. Ich habe die Freude gehabt, schon manchen ihrer Romane von ganzer Seele über das Schellendaus loben zu können; dem vorliegenden neuen Werke erweise ich mit Vergnügen denselben Liebesdienst. Frau Niessen-Deiters löst diesmal die Romanform auf lustige Art in ein Geschichtenbündel auf, und eine kostbare Galerie närrischer, böser und guter Käuze stellt sich vor, denen die Verfasserin, als Verkörperung der ausgleichenden poetischen Gerechtigkeit, Strafe und Belohnung nach Verdienst zuteilt. Es ist nicht genug gesagt, wenn man in jede dieser Figuren verliebt zu sein behauptet; man lebt mit ihnen; glaubt sie seit Jahrzehnten zu kennen und lächelt bewegt über ihr Geschick und Mißgeschick. Auch die schwächeren Kapitel, z.B. das über Udo, den Edelsozialisten, der sich nachher dank einer großen Erbschaft so wunderbar zum Edelmenschen entwickelt, machen der Verfasserin noch hohe Ehre. Die feine Herzenskündigerin hat und wieder ein Buch voll Musik und Glockenklang, dabei doch auch voll hellem, echtem, kernigem Gelächter und überlegener Weltweisheit geschenkt. (r.n.)

In: Deutsche Tages-Zeitung, 28.09.1912