Frauen-Kultur-Archiv

Gedenken an engagierte Frauen Düsseldorfs

Elisabeth Büning-Laube zum 10. Todestag, Teil 1

Zum  4. Janaur 2015: Freundinnen, Freunde, Weggefährten erinnern sich

 

Georg Aehling: Erinnerungen an Elisabeth Büning-Laube


Das ‚Literaturschiff‘, gechartert von Michael Serrer, dem Leiter des Literaturbüros, hatte am späten Vormittag soeben vom Altstadtufer Düsseldorf abgelegt. Es war ein Samstag im Juni 2000, der Bücherbummel strebte seinem Höhepunkt entgegen: Literarische Vorträge und Lesungen an Bord des MS Goethe. Die Sonne schien grell, ich trug einen Sommerhut und setzte mich im Salon an einen Tisch am Fenster, wir fuhren los in Richtung Zons.

Eine keck behütete Dame im hellen Sommerkleid, begleitet von ihrem Dackel, den sie Monky nannte, näherte sich meinem Tisch und fragte, ob sie dort Platz nehmen könne, was ich gern bestätigte. Die kleine, rothaarige Frau und auch ihre schnarrende Stimme waren mir bekannt, denn ich hatte zuvor bereits einmal ihren Salon KunstLive besucht. Ich bestellte eine Flasche Rheinwein, wir tranken auf unser gemeinsames Wohl und kamen ins Gespräch. Sie berichtete von ihrem Salon und erwähnte, dass ihr zur Abrundung ihrer Bemühungen um die Förderung von Künstlerinnen und Künstlern bislang noch ein Element fehlte: ein Verlag, der die im Salon auftretenden Literaten publiziert. Sie berichtete mir von ihren Plänen, eventuell einen eigenen Verlag gründen zu wollen und bat mich um Hilfestellung, da ich im Jahr zuvor meinen eigenen Verlag gegründet hatte. Ich wusste daher aus eigener Erfahrung von den nicht unerheblichen Aufwendungen und den zahlreichen zu erwerbenden Kenntnissen und Qualifikationen für die Gründung eines Verlags und riet ihr ab, diese Mühen auf sich zu nehmen. Ich bot ihr dann umgehend an, die verlegerische Tätigkeit selbst zu übernehmen und entwarf auf der ausliegenden Getränkekarte kurzerhand ein Konzept. Wir gaben uns daraufhin eine Stunde Bedenkzeit. Ihre literarisch versierte Hündin Monky wedelte derweilen freudig mit dem Schwanz und gab uns damit das Zeichen, sich noch auf dem Wasser zu einigen.

Bei einer Flasche Goethe-Wein wurde dann die Zusammenarbeit besiegelt: Eine neue, als lose Abfolge von bebilderten Monografien konzipierte Publikationsreihe namens KunstLive, die meine Edition Virgines in Kooperation mit dem gleichnamigen Verein besorgt und die von Elisabeth Büning-Laube sowie z. T. von Holger Ehlert herausgegeben wird, soll dazu beitragen, bekannte und weniger bekannte Literaten, Künstlerinnen und Künstler einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Jeder Band sollte zunächst in einer kleinen Auflage von 50 bis 100 Exemplaren erscheinen. Ich entwarf in den darauf folgenden Tagen ein Logo (als das Parkett, auf dem man auftritt) und schlug ihr vor, jeden Band auf einer anderen Papierfarbe zu drucken, eine bunte Reihe, so bunt wie der Salon.

Wir arbeiteten intensiv zusammen, die Mails flogen täglich mehrfach vom Rechts- zum Linksrheinischen und vice versa hin und her, daneben tägliche Telefonate. Sie war extrem genau in ihren Vorstellungen, Vorgaben und Planungen, auch sehr fordernd, meinte es aber stets gut mit allen Beteiligten. Der Salon war immer aufs Genaueste vorbereitet, das Programm lief jeweils über mehr als 3 Stunden, mit geselligem Intermezzo bei Wein und Snacks. Den 5. Jahrestag des Salons feierten wir im Theatermuseum mit vierstündigem Programm: Literatur, Musik, Darbietungen, einer Kunstausstellung. In lediglich vier Jahren entstanden 16 Bände, für einige Autoren wie Titus Müller erwiesen sie sich als ein Sprungbrett.
Im Spätherbst 2004 besuchte ich sie zum letzten Mal, sie war inzwischen bettlägerig geworden, Aufenthalte in Krankenhäusern und in einem Hospiz waren unvermeidlich geworden. Als ich am 4. Januar 2005 von einer Weihnachtsurlaubsreise zurückkam, zählte sie nicht mehr zu den Lebenden.
Ich habe erst in den Tagen danach von ihrem Tod Nachricht erhalten. Der Salon starb mit ihr.
5. März 2015

 

 Ina-Maria von Ettingshausen

Gewidmet meiner lieben Freundin Elisabeth in Erinnerung an wunderschöne Spaziergänge und tiefe Gespräche über Menschen, Poesie und Natur, über Frauenbilder und unser Selbstverständnis als Dichterinnen.

Lebensmotiv

Im Traum schon die kleinen Stoffbeutel gepackt
weiß ich nicht was darin eingesackt
vielleicht die ängstlichen Abschiedsgefühle
beim Hinter-mir-Lassen der vielen
schon abgesessenen Lebensstühle

Ein seltsames Unbewusstsein bewegt sich in mir
spielt Wege höhlende Töne hinauf und hinab
wie auf einem klangoffenen Seelenklavier
von dem Himmel so hoch bis ganz tief hinein ins Grab

Kann ich noch nichts sagen
trag innen treibende Fragen
zu Körper empfindendem Gegenwartsnu
mich warten lassen die Handlungsschuh

Tausende prasselnde Regentropfen
lassen mein schlafgründig Lebensmotiv
Neubewusstsein frei schreibende Wörter klopfen.

 

Klaus Grabenhorst: Die kleine Frau mit großem Hut

Ich war neu in dieser Stadt, von der man sagt, sie hätte die längste Theke der Welt. Mit einem Koffer voll französischer Chansons, die ich zusammen mit französischen Freunden in mein Deutsch gebracht hatte, wollte ich mich in die hiesige Kunstszene stürzen.
Ich las den Veranstaltungskalender in den Kulturseiten. Sofort sprang mir ins Auge: „Kunst-Live am Freitag, 19:30 Uhr (nur mit telefonischer Anmeldung).“ Ich griff zum Hörer. „Ein letzter Platz wäre noch zu vergeben“, erklärte mir eine resolute Stimme am anderen Ende, „Sie müssten sich nur gleich entscheiden.“ Ich ließ mich auf die Besucherliste setzen.
Knapp fünfzig Personen saßen in diesem Wohnzimmer, das dicht gefüllt war. An der einen Wand hingen Aquarelle, an der anderen sah ich Plakate aus der Literaturszene. Und ich roch den Duft von frischen Blumen. In der Küche standen Käsebrote und Getränke bereit.
Eine kleine Frau mit einem großen Hut betrat den Raum. Sie begrüßte die Gäste, setzte sich in ihren Sessel und las eine Geschichte von einer Frau, die ihre Kräfte verlor, nachdem er ins Jenseits gegangen war. „Sie irrte durch einen Wald. Auf einmal bemerkte sie, wie ihr ein rot-gelbes Laubblatt in ihre ausgestreckten Hände fiel. Sie brachte es nach Hause und beim Betrachten des Blattes entdeckte sie die verschiedenen Farbtöne und Nuancen und begann zu erahnen, dass“ – und jetzt sprach die kleine Frau so leise, dass man die Worte kaum hören konnte – „auch der Herbst des Lebens manche Farbenpracht zu bieten hat“. Dann stand sie auf und kündigte die Künstler des Abends an.
In der Pause erzählte ich meinen beiden Nachbarn, dass ich zum ersten Mal hier sei und mich darüber freue, noch den letzten Platz bekommen zu haben. Sie erzählten, dass sie hier zu den Stammgästen gehören, und dass auch sie, wie jedesmal, „den letzten Platz“ bekommen hätten.
Beim Verabschieden sprach ich der kleinen Frau eine Einladung für mein nächstes Konzert aus.

Es war eine heitere Atmosphäre in dem Kellertheater in dem Stadtteil auf der anderen Seite des Flusses. Die kleine Frau, die mit dem großen Hut aussah, als sei sie einem impressionistischen Gemälde entstiegen, saß in der ersten Reihe, kicherte, gluckste und strahlte mich an.
„Bezahlen kann ich nichts“, sagte sie nach der Vorstellung zu mir, „aber ich möchte gerne, dass Sie einen Abend in meinem Salon singen. Fragen kostet ja nichts! Als Gegengeschäft haben Sie einen Wunsch bei mir frei!“
Ich erwähnte, dass ich gerne einmal im Geburtshaus von Heinrich Heine singen würde. „Sie meinen im Künstlercafé Schnabelewopski! Das machen wir! Ich kenne den Wirt! Und nicht nur das, junger Mann! Ich werde Sie überall einführen! Allerdings bitte ich Sie, dass jedes Mal vor Ihnen ein bis zwei Lyriker ihre Gedichte vorlesen können, und – das ist ein persönliches Anliegen von mir – bitte vergessen Sie nicht, das Lied von der Margerite zu singen!“

Seither fragte sie mich jedesmal, wenn ich ein Konzert gab, bei dem sie dabei war, nach dem Chanson von der Margerite. Es erzählt von einem Pastor, dem einmal bei seiner Predigt eine Margerite aus seinem Gebetsbuch gefallen ist. Wie wankte da der heilige Ort vor Erregung! Ein Skandal! Die Gemüter kamen in Wallung: „Woher kommt das Gänseblümchen? Kam es zu ihm? Kam er zu ihr? Doch“, so heißt es im Lied, „oben im Himmel unser Herr, kümmert sich wenig um das Getuschel im Parterre“. Und nachdem sich die Gemeinde allmählich wieder beruhigt hatte, heißt es zum Schluss: „Und dass niemand, das sei meine kleine Bitte, zeige auf den Pastor und die Margerite!“

Einmal, als ich die kleine Frau mit dem großen Hut an einem warmen Sommertag zufällig auf der Straße traf, erzählte sie, dass ihr Arzt ihr geraten habe, ab und zu mal ein Bier zu trinken, sie habe zu wenig Eisen im Blut. Ich lud sie für den Abend in einen Biergarten ein und flachste, sie könne mir ja dann nebenbei ihre Lebensgeschichte erzählen. „Das werde ich!“, stieß sie begeistert aus und tippelte von dannen.

Mein Vater war Pianist, meine Mutter Sängerin“, begann sie ihre Geschichte. „Sie waren beide im Widerstand gegen Hitler. Sie kämpften unter Einsatz ihres Lebens. Ich war nicht gewollt, denn ich wurde nur gezeugt, weil die Nazis sonst meine Eltern ins KZ gesteckt hätten. Wir waren fünf Kinder. Wären meine Eltern ins KZ gekommen, hätten wir Kinder in ein Heim gemusst. Das war den Nazis zu teuer.
Wir haben damals nicht einmal Lebensmittelmarken bekommen. So musste ich schon als kleines Kind lernen, wie man sich etwas für ‚zwischen-die-Zähne‘ organisiert. Ich bin durch die Nachbarschaft gezogen und habe gesungen. Wenn ich Glück hatte, erbarmte sich jemand und gab mir ein Butterbrot. Noch heute habe ich den Geschmack von einem Butterbrot in meiner Nase.
Nach dem Krieg, im Adenauer-Staat, waren meine Eltern wieder auf der Verliererseite und mussten mit ansehen, wie die braune Pest Karriere machte.
Ich habe es zuhause nicht mehr ausgehalten. Eines Nachts bin ich aus dem Fenster gehüpft und dann immer den Bahngleisen entlang gegangen. Als es hell wurde, kam ich zu einer Fabrik mit vielen Schornsteinen. Ein Pförtner in einem Häuschen packte gerade sein Butterbrot aus. Ich setzte mich zu ihm und sagte: ‚Hm, so etwas hätte ich auch gerne!‘ Er brach mir die Hälfte ab. Ich sagte: ‚Bei dir möchte ich bleiben.‘ Der Pförtner nahm mich mit nach Hause und zusammen mit seiner Frau schaffte er es, dass ich bei ihm bleiben konnte.“

Die kleine Frau mit den roten Haaren hatte inzwischen ihr Glas ausgetrunken. Ich bestellte ihr ein zweites und fragte, warum sie so gerne das Lied von der Margerite höre.
„Also, junger Mann“, fuhr sie fort, „das war, als ich zu den Nonnen kam. Wegen meiner Herkunft hieß es, ich sei des Teufels. ‚Du hast böse Gedanken, ich sehe genau, was du denkst‘, zischte die Obernonne. Ich konnte mir das nicht vorstellen. Ich stellte mich heimlich vor einen Spiegel und schaute mich an. Dann dachte ich an etwas ganz Böses und schaute wieder in den Spiegel. Ich konnte keinen Unterschied feststellen.
Doch ich habe in all den qualvollen Jahren auch viel gelernt: Kochen, Kleider nähen, Hauswirtschaft, und: nicht zu lügen! Als die Obernonne mich auf die Prüfung vorbereitete, nahm sie mich zur Seite und sagte mit ernster Miene, dass man mich fragen werde, ob mir der Herr erschienen sei, und dann hätte ich mit ‚ja‘ zu antworten.
Vor dem Einschlafen dachte ich lange darüber nach. In der Bibel steht doch: du sollst nicht lügen! Und da mir der Herr wirklich nie erschienen war, sagte ich in der Prüfung die Wahrheit. Sie können sich vorstellen, junger Mann: meine Tage bei den Nonnen waren gezählt!“
Eine Geschichte nach der anderen sprudelte aus ihr heraus und da ich mein zweites Bier auch ausgetrunken hatte, fiel es mir immer schwerer, mir die vielen Details zu merken.
Später sei sie Krankenschwester geworden. An der Uni-Klinik. Und einmal habe sie zu dem berühmten Professor Doktor Hüsgen gesagt, er dürfe seine Mitarbeiter nicht so anschnauzen: „Das macht man nicht! Das haben die Menschen, die hier arbeiten, nicht verdient!“ Der perplexe Professor habe sie daraufhin mit nach Hause genommen und seiner Frau vorgestellt. So sei sie bei ihm Haushälterin geworden.

„Mein späterer Mann, der übrigens dreißig Jahre älter war als ich, wollte mich kurz nachdem wir uns im Schnabelewopski kennengelernt hatten, zu meinem sech­zigsten Geburtstag zum Essen einladen und anschließend mit mir eine Lesung besuchen. Aber es gab in der ganzen Stadt keine einzige Literaturveranstaltung. ‚Dann laden wir eben selber ein paar Dichter ein‘, schlug er vor. Der Abend wurde ein voller Erfolg. Und alle waren der Meinung, wir sollten doch öfters solche Abende veranstalten. Und so entstand der Salon.
Als mein Mann zwei Jahre später starb, sagte er auf dem Sterbebett zu mir: ‚Schätzgen, jetzt machst du den Salon alleine weiter!‘ Wir hatten doch gerade erst geheiratet! Wir waren glücklich. Und er freute sich immer, wenn die Gäste eintrafen. Er stand da, wie ein Leuchtturm, so stolz war er. Vorher hatten wir geputzt, die Künstler ausgesucht, die Presse informiert, Einladungen verschickt, frische Blumen geholt, Butterbrote und Getränke bereitgestellt. Und immer, wenn alles fertig war, sagte er: ‚Schätzgen, und jetzt setzt du deinen Hut auf!‘
Kurz vor unserer Hochzeit, junger Mann, war noch etwas passiert! Wir waren alle in einem Hotel auf dem Land. Da erzählte mir am späten Abend eine Verwandte von ihm, dass er bei der Waffen-SS war. Das muss man sich mal vorstellen! Ich wollte gerade schlafen gehen, und dann das! Ich, die Tochter aus einem Elternhaus aus dem Widerstand, heirate einen Nazi, der bei der Waffen-SS war!
Um Mitternacht stellte ich ihn zur Rede: ‚Warum hast du mir das nicht gesagt?‘ ‚Liebchen‘, antwortete er, ‚weil du mich dann nicht genommen hättest!‘
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Am nächsten Morgen sollte die Hochzeit sein. Um sechs Uhr in der Früh, nach einer langen Nacht, in der er mir alles erzählt hatte, sagte ich völlig erschöpft: ‚Ich kann darüber n i c h t richten!‘ Und dann habe ich ihn geheiratet.“

Manch schönes Konzert stellte die kleine Frau seitdem mit mir auf die Beine. Und als ihr Salon vom Kulturamt offiziell anerkannt war und die ersten Fördergelder flossen, frohlockte sie „jetzt kannst du bei mir singen“ und fügte voller Stolz hinzu „für Mucken!“

Einmal lud sie mich zu ihrem Geburtstag ein. Mein bester Freund war in diesen Tagen gestorben. Ich fühlte mich nicht in der Lage, auf eine Geburtstagsfeier zu gehen. Sie verstand, rief mich aber zwei Tage vorher noch einmal an und bat mich inständig, zu kommen.
Ihr Salon platzte an diesem trüben Novembernachmittag aus allen Nähten. So viele Menschen hatte ich dort noch nie gesehen! Mit ihrem großen Hut saß sie in ihrem Sessel. Die Füße hatte sie auf ein Bänkchen gelegt.
Sie las von einem kleinen Mädchen vor, das auf Befehl christliche Worte zu verinnerlichen hatte: „Wollte sie an ihnen nicht ersticken, musste sie gehorchen. Wer weiß, ob dieser Gott, von dem sie keiner befreien konnte, nicht noch viel grausamer war als der Führer, der sich umgebracht hatte, als der sinnlose, lange Krieg verloren ging. Ihr Schicksal war für sie ein vorprogrammiertes Verlorensein, ein Leben, das von Gott aus unweigerlich darin bestehen sollte, für die Ewigkeit zu leiden. Die Höllenschilderungen der Ordensfrauen quälten sie mehr als die Nazis es je gekonnt hatten.“ Sie trank mit zitternder Hand einen Schluck aus ihrem Glas. „Immer jedoch spürte das Mädchen in sich ein Sehnen. Wonach es sich allerdings sehnte, wurde ihm erst klar, als es Jahrzehnte später den Schlüssel zu seiner Innerlichkeitskammer fand, in der sich alte und neue Worte versteckt hielten und sich ihr nun, da sie die seelische Kraft der Erinnerung besaß, offenbarten.“
Sie beendete ihre Lesung mit einem Gedicht. Danach stand sie aus ihrem Sessel auf und kündigte die nächsten Vortragenden an. Nach drei Stunden bedankte sie sich und erklärte, dass dies die letzte Salon-Veranstaltung gewesen sei. Inzwischen war es dunkel geworden. Ein paar Kerzen brannten auf den Tischen. Sie bewegte sich langsam durch den Raum und schaute jedem einzelnen lange in die Augen, berührte ihn, ging zum Nächsten, vor dem sie wieder lange verweilte. Es fiel kein Wort.
Spät in der Nacht war ich einer der letzten, die das Haus verließen. Sie hatte von ihrer Krankheit erzählt und dass sie den Arzt gefragt habe, ob er sie, wenn sie seine Frau wäre, in Anbetracht der Befunde operieren würde. Der Arzt hatte verneint.

Nach ein paar Monaten bekam ich einen Anruf von einem Hospiz. Sie hätte gebeten, dass ich komme.
Abgemagert und zerbrechlich wie ein zerrupftes Vögelchen im Schnee lag sie in ihrem Bett. Ihr kleiner Kopf mit den roten Haaren guckte aus der weißen Bettdecke und ruhte auf dem großen weißen Kopfkissen. Der Tisch war voll prächtiger Blumengeschenke. Daneben lag ihr Hut.
Ich setzte mich auf die Bettkante. Sie konnte kaum sprechen und wir lächelten uns an. Sie sah, dass ich meine Gitarre mitgebracht hatte.
„Die Margerite?“ Sie strahlte.
„Man darf andere kritisieren, aber man darf ihnen nie ihre Würde nehmen!“, seufzte sie.
Sie wurde immer müder. Sie setzte ihre Brille mit den dicken Gläsern ab und legte die beiden Hörmuscheln mit der Verkabelung auf ihr Nachtschränkchen.
Ich hörte sie leise sagen: „Mit der Kunst ist es möglich, uns auf die Zehenspitzen zu stellen, um mit unserem dummen Kopf ein Stück vom Himmel zu berühren.“
Ich streichelte ihr Gesicht und küsste ihre Wangen. Dann schlief sie ein. Ich hielt noch lange ihr kleines Händchen.

Von da an rechnete ich jeden Tag damit, einen Anruf mit der Nachricht ihres Todes zu bekommen.
Nach drei Wochen aber war sie selbst am Telefon: „Ich bin wieder zuhause! Willst du kommen?“ Sie schimpfte: „Halsabschneider! Alle wollten nur mein Geld!“
Über mehrere Monate hatte sie viel Besuch. Es war ein Kommen und Gehen. Allerdings konnte sie kaum noch hören und magerte noch weiter ab.

Als ich sie das nächste Mal besuchen wollte, war die Wohnung ausgeräumt. Sie wurde gerade renoviert und ich konnte einen letzten Blick in die Räume des Salons werfen.
Später hörte ich, dass sie mit einem jungen Künstler in die Schweiz gefahren sei und eine Kapsel genommen habe. „Eine Beerdigung wollte sie nicht“, hieß es, sie wollte „in den Wolken begraben sein.“

Aus: Klaus Grabenhorst: „Ein Stück vom Himmel“, Geistkirch-Verlag, Saarbrücken 2011, S. 7-15. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Geistkirch-Verlags.

 

Clemens Hüsgen: Das Besondere


Von vielen Freunden von damals wird bedauert, dass keine Nachfolge des von Elisabeth initiierten Salongedankens erfolgte. Die atmosphärische Dichte wird weder in der „Blauen Stunde“ in der Destille noch im Literaturkreis von Prof. Gepa Klingmüller (bei anderer Zielsetzung) erreicht. Das aber war das Besondere: Konzentrative Stille bei größter körperlicher Nähe der dichtgedrängt sitzenden Zuhörer zum Vortragenden, aber auch locker-freundschaftlicher Umgang in der großen Pause bei Gebäck und Wein. Von der Gitarre bis zur Percussionsgruppe, vom Gesang bis zum Schauspieler waren Künstler und Künstlerinnen vertreten. Lesetexte mussten, vorher genehmigt, den Ansprüchen nach Form und Aussage genügen. Elisabeths leise, sensible Art bewirkte ein kultiviertes Miteinander ohne je förmlich-steif zu sein.

Ich erinnere mich noch lebhaft an meine erste Lesung bei ihr, mit Lampenfieber trotz Erfahrungen vor großem Publikum (Waldhotel Wesel, Schloss Beck, Schloss Ringenberg  u. a.) – das hier war eine andere Welt: Kurz vor sich spürt man jeden Blick, ist wie ausgeliefert bei jeder Bewegung, die geringste Nervosität wird wahrgenommen. Doch Elisabeth führte mich ans Micro, stellte mich vor, sprach beruhigend zu mir, alles Befremdliche war verflogen. So mag es manchem ergangen sein, der die Intimität dieses Salons kennenlernte und sich dann später draußen weiterentwickelte. Hilfreich war sicher die Aufnahme in eine Buchreihe, aber entscheidender war wohl die Bewährung vor einem sachkundigen Publikum, die freundschaftlichen Verbindungen untereinander, die Anregungen durch vielfältige Darbietungen.

Elisabeth Büning-Laube hat sich mit der Förderung junger Talente verdient gemacht, doch ihr eigentliches Anliegen, die Wiederbelebung des historischen Vorbilds eines „Salons“ mit einem kultivierten Fluidum jenseits vom lautstarken, oft literarisch wenig Anspruchsvollen – diese Idee ist nach meiner Kenntnis in Düsseldorf nicht weitergeführt worden.

Eine große Wohnung, Engagement und künstlerisch vielfältige Verbindungen als Voraussetzung für dieses Vorhaben sind heute wohl nicht mehr zu bewerkstelligen. Schade, – umso größer ist ihr Verdienst, umso lebhafter und dankbarer unsere Erinnerungen an viele schöne Stunden.

Ihr weithin sichtbarer, großer Hut schmückte unsere Nordstraße, unser Viertel ist kulturell ärmer geworden.