vorm. Direktor des Heine-Instituts Düsseldorf, im August 2014
Von großer Zuverlässigkeit in einer nicht eben mit allzu sicheren Versorgungsstellen ausgestatteten Editionsphilologie kündete die Lebensweise von Marianne Tilch im Rahmen ihrer Tätigkeit innerhalb der Heine-Ausgabe, als deren gewissermaßen dem noch so unleserlichen Buchstaben verpflichtete Sachwalterin ich sie kennenlernte. Mit ihrer besonderen Funktion wie Wertschätzung trieb sie freilich keinerlei kapriziösen Aufwand. So geradeaus ruhig und unkompliziert erschien sie mir damals, der ich ihr gewissermaßen „dienstlicher“ Nachbar im Heine-Institut war und ihr zunächst zwar regelmäßig, aber nicht andauernd begegnete.
Ihrem auf Zeit angelegtem editorischen Erscheinungsbild samt seiner überzeugenden Art und Weise war allerdings in der unaufgeregten Ruhe durchaus auch die Sicherheit einer pragmatischen Zukunft beigemischt. Sie hatte einerseits im Unterschied zu vielen anderen akademischen Kräften bereits ein Berufsleben als Buchhändlerin hinter sich und wusste darüber hinaus, dass ihr nach getanem erstem, perfekt ausgeführtem Streich in der Düsseldorfer Ausgabe eine Anbindung an das Heine-Institut offenstand. Das war ihr als Laufbahn mit zu ihr passenden Pflichten wie eine Hülle aus Begabung und Zufriedenheit mehr als ausreichend. Jegliche akademische Attitüde oder auf Publikationen sich kaprizierende Verhaltensweise lehnte sie ab.
Das heißt mit anderen Worten und in ihrem speziellen Fall: Man muss den Gegenstand, an dem man arbeitet, nicht nur irgendwie mögen und beherrschen, nein, man muss ihn ganz um seinetwillen geradezu lieben, dabei aber sein praktisches Augenmaß behalten. Sie bildete also für mich als anfänglichen Beobachter, der gleichzeitig ideell wie in den technischen Vorgaben an der Düsseldorfer Heine-Ausgabe beteiligt war, ein besonders verlässliches Exempel mit dem festen Bewusstsein, dass einfach Ordnung in das Ganze zu bringen sei, auch wenn es seine Zeit brauchen würde. Sie gab sich dieser Aufgabe, für die sie gewissermaßen den dienend notwendigsten Posten innehatte, aber gleichwohl eine ausgewogene Mitte bildete, mit Haut und Haaren hin. Besaß sie überhaupt ein Leben außerhalb ihrer ruhig-konsequenten Beschäftigung für den Apparat der Ausgabe? Durchaus. Aber all solche emotionale Anhänglichkeit war sozusagen integriert in die einmal übernommene Pflicht, für den Autor Heine das zu leisten, was in der Literaturwissenschaft für andere längst erledigt war.
Und integriert in das archivarische Leben des Heine-Instituts war sie von vornherein und allemal, also weit vor dem offiziellen Eintritt in ihr Amt als Nachfolgerin der Archivarin des Instituts. Ihr Austausch nämlich mit Inge Hermstrüwer, der ebenfalls unvergesslichen Mitarbeiterin, die dem Archiv des Heine-Instituts, zumal den Heine-Beständen, der Schumann-Sammlung und den Teilen vom Barock bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, einen so lebendigen Anteil in der historischen Landschaft der rheinisch-bergischen Region durch ihre Hilfsbereitschaft und beispielsweise museale Bemühungen bis in die weite Welt hinein zu verschaffen wusste, war gewissermaßen sprichwörtlich, will sagen: symbiotisch.
Mittags nahmen sie in regelmäßigen Abständen zusammen ihr Essen ein. Auch wenn es vielleicht länger dauern mochte, als die eigentliche Pause es erlaubt hätte: Beide Frauen waren sowieso über den Zeitrahmen hinaus für ihren Beruf unermüdlich im Einsatz. Und auch die gemeinsame Mittagspause gehörte zu ihren anregenden Pflichten. Auch Inge Hermstrüwer hatte anfangs, als ich sie, selber im Rahmen der Arbeitsstelle tätig, kennenlernte, für die Heine-Ausgabe gearbeitet, und zwar in der Gruppe der die zeitgenössische Zeitschriftenlandschaft durchackernden hilfreichen Geister. Sie kannte sich also im literarischen Betrieb des 19. Jahrhunderts aus. Danach hatte sie im Rahmen des Bestandes des neu sich konstituierenden Heine-Instituts zumal das Heine-Archiv und dessen direkte Umgebung übernommen und sich zur verantwortungsvollen Begleiterin der frühen Anfänge entwickelt. Sie gehörte zu meinen Stützen von Beginn an.
Als die Heine-Ausgabe an ihr Ende gelangte, kam Marianne Tilch für einige Zeit der Eingewöhnung zu ihrer treuen Gefährtin, die dann ihrerseits bald aus Altersgründen ausschied, in das Heine-Archiv selbst. Der Abschiedsschmerz vom gewohnten Umfeld war für die alte Archivarin nur schwer zu verkraften. Die neue Arbeitsnähe und der tägliche Austausch über die Personen wie Heine und Schumann an den nicht mehr als Benutzerin, sondern als Betreuerin zu bearbeitenden Handschriften und Objekten führte zwischen den beiden Freundinnen unmerklich zu kleinen Spannungen, die besonders dem völlig neutralen, wenn nicht distanzierten Standpunkt Marianne Tilchs, was die beiden Schumanns anging, entsprangen. In manchen Urteilen und Bemerkungen konnte Marianne Tilch nämlich besonders schroff erscheinen und somit ihre Vorgängerin und deren anteilnehmenden Mann brüskieren. Gerade in Archiven mag es manchmal zugehen wie im familiären Generationengefüge mit seinen sich wandelnden Ansichten.
Inge Hermstrüwer betreute zum Glück nach ihrem Abschied vom Institut noch eine Heine-Ausstellung in London, was angesichts ihrer geschwächten Gesundheit enorm viel Aufwand und Kraft bedeutete. Bei diesen Aufgaben stand Marianne Tilch ihr durchaus solidarisch und freundschaftlich zur Seite. Gerade ihre neue Archiv-Stellung mit zum Teil anderen Aufgaben, darunter die umsichtige Redaktion des „Heine-Jahrbuches“, verlieh dem Heine-Archiv nach und nach ein weniger emotionales, dafür gewissermaßen aufgeklärtes Gesicht. Was Inge Hermstrüwer vor allem mit dem Herzen gemacht hatte, leistete Marianne Tilch nunmehr vor allem mit dem Verstand oder sagen wir besser: vernünftig. Beide Annäherungen an das kulturelle Erbe haben, wenn sich nur die richtige Mitte zwischen den Kräften ergibt, ihre volle Berechtigung.
Auf Marianne Tilch konnte ich mich während unserer gesamten gemeinsamen dienstlichen Zeit verlassen wie auf einen ruhenden Pol oder Felsen in der Brandung. Sie begegnete mir als Leiter respektvoll, aber ohne jegliches rheinische Gedöns. Ich erfreute mich ihres Vertrauens und ihrer sachlichen Ratschläge. Nie verließ ein Manuskript von mir das Haus, bevor sie nicht einen Blick darauf geworfen und ihre Korrekturen angebracht hätte. Ihrem Urteil habe ich viel zu verdanken, ihre stille, aber bestimmte Art immer geschätzt. Wie sie ihre ganz spezielle tödliche Krankheit annahm, die übrigens vorher von ihrer Vorgängerin ebenfalls durchlitten worden war, ist bewundernswert. Ihre Kraft und Gelassenheit blieben ihr bis zuletzt.
Da wir uns nach dem Ende der Dienstzeit und durch meinen Wegzug nach Berlin trotz gemeinsamer Arbeitspläne nur noch selten sahen, warnte sie mich nach rechtzeitiger schriftlicher Aufkündigung ihrer Beschäftigung am gemeinsamen Projekt vor meinem möglichen Erschrecken beim nächsten Wiedersehen. Sie sei nur noch die Hälfte von früher. Sie nahm es hin und war tapfer, ja, sie stellte sich einfach mit Namen neu vor, damit ich mich an ihre körperliche Reduktion gewöhnen konnte. Wenige Tage vor ihrem Tod hatte ich noch einmal die Gelegenheit, mit ihr im Hospiz zu telefonieren. Ihre kräftige Stimme, ihre abgeklärte Bewusstheit klingen mir noch heute im Ohr. Wir nahmen voneinander Abschied ohne es so zu nennen: gefasst und fern jeglicher Sentimentalität. Die lag ihr tatsächlich immer fern.