Das 19. Jahrhundert hat die skandinavische Literatur weit über die Grenzen einer nationalen Kunst hinauswachsen lassen.
Die beiden großen Anreger und Former des modernen Theaters, Ibsen und Strindberg eroberten die Bühnen Europas. Björnson und Hamsun, die Norweger, beschritten neue Wege der Erzählkunst. Jens Peter Jakobsen und Hermann Bang, die Dänen, gehören heute zu den Klassikern der psychologischen Romans.
Eine Sonderstellung unter den nordischen Dichtern nimmt der Däne Hans Christian Andersen ein, der mit seinen Märchen die Welt eroberte und die Schwedin Selma Lagerlöf. Selma Lagerlöfs Erzählkunst wurzelt ganz im Heimatlichen. Ihre Werke lassen die Sagen, Märchen und Legendenwelt ihrer engeren Heimat Värmland immer wieder aufleuchten. Immer wieder tauchen dieselben Helden, dieselbe Landschaft, dieselben Höfe und Häuser auf, oftmals unter anderem Namen oder in anderen Bindungen. Aber diese Abenteuer, in die ihre Helden verstrickt werden, sind nicht bloß Nacherzählung mündlicher Überlieferung, sondern werden erst durch Selma Lagerlöfs Erzählkunst in die Sphäre des Dichterischen erhoben und nur so ist zu erklären, wie sie mit diesen heimatlich gebundenen Inhalten ihres Werkes weit über Schweden hinaus Berühmtheit erlangte.
Selma Lagerlöf ist am 20. Nov. 1858 auf dem Hofe Mårbacka in Värmland geboren. Mit 3 ½ Jahren wurde sie von einer Beinlähmung befallen, die aber nach einem Jahr so weit behoben war, dass die kleine Selma wieder laufen konnte, wenn sie auch für ihr ganzes Leben ein Beinleiden zurück behielt. So war sie von manchem Spiel anderer Kinder ausgeschlossen und ihre Anlage zu besinnlicher Beschäftigung in der Welt der Phantasie wurde früh gepflegt. Die stärkste und wichtigste Persönlichkeit der frühesten Kindheit war die Großmutter, die ihr jeden Tag Geschichten erzählte. Mit 23 Jahren, 1881 verließ Selma Lagerlöf ihr geliebtes Vatershaus zum ersten Mal für längere Zeit. Sie besuchte ein Lehrerinnenseminar und wurde 1885 Lehrerin an einer höheren Mädchenschule. Schon früh hatte Selma angefangen zu schreiben, aber nie Widerhall gefunden mit ihren kleinen Erzählungen und Gedichten. Ab 1885 begann sie an dem Roman Gösta Berling zu schreiben aus der Erkenntnis, in den mündlichen Überlieferungen der Heimat, den Geschichten der Värmland-Kavaliere einen ganz besonderen Stoff für eine Gestaltung gefunden zu haben.
1890 beteiligte sie sich mit einigen Kapiteln des Buches an einem Preisausschreiben für Novellen und errang den 1. Preis. Nun war der Bann gebrochen; man wurde auf sie aufmerksam und ihr Weg ging steil bergauf. Sie legte ihr Lehramt nieder. Sie machte große Reisen, die sich in ihren Büchern „Wunder des Antichrist“, „Jerusalem“ und den Christuslegenden widerspiegeln. Sie bereiste ganz Schweden, als sie im Auftrage der Regierung ein Lesebuch für die schwedischen Kinder schrieb, „Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden“, in dem sie nicht nur geographische Kenntnisse erschloss, sondern wiederum das Sagengut der Heimat verarbeitete.
1907 ging ein Traum ihres Lebens in Erfüllung: die Rückerwerbung ihres väterlichen Hofes Mårbacka, der drei Jahre nach dem Tode des Vaters 1888 hatte verkauft werden müssen und an den sie sich mit allen Fasern ihres Wesens gebunden fühlte. Der ihr 1909 zugesprochene Nobelpreis ermöglichte er ihr, auch die den zum Hof gehörenden Ländereien zurückzukaufen und von da an war sie bis an ihr Lebensende Gutsherrin auf dem Grund und Boden, mit dem sie auch in ihrer Kunst zutiefst verwurzelt war.
Als größte Ehrung wurde ihr 1914 die Mitgliedschaft in der schwedischen Akademie zuteil, der noch nie eine Frau angehört hatte. Am öffentlichen kulturellen Leben nahm Selma Lagerlöf lebhaften Anteil. In vielen Ausschüssen und Verbänden setzte sie sich für die verschiedensten Dinge ein, die ihr am Herzen lagen. Ohne Politikerin zu sein vertrat sie die Ansicht, dass der Frau das Stimmrecht gebühre, aus dem rein menschlichen Argument heraus, dass männliche und weibliche Denkungsart und Arbeit sich auch im staatlichen Leben ergänzen müssten.
1940, im Alter von 82 Jahren starb Selma Lagerlöf auf Mårbacka, als die Welt zum 2. Mal von einem Krieg erschüttert wurde und unter dem Dröhnen des Tumultes vergaß, dass es Inseln der Stille gibt, auf denen der Wind des Geistes weht, der immer und überall den Ausschlag geben wird.