von Christiane Maria von Königslöw
Anläßlich der Eröffnung der Ausstellung ihrer Photographien 1925-1975 im „Verborgenen Museum“ in Berlin am 21. Mai 2003
Kurz nach Ostern dieses Jahres waren wir zu der Eröffnung der Ausstellung einer uns befreundeten Malerin eingeladen. Es sprach unter anderem auch eine junge feurige Frau in knapper schwarzer Hose und Pullover – auch sie Malerin; sie sprach bewundernd und begeistert und hat ihre kurzen Ausführungen in fünf Punkte untergliedert. Sie sagte:
- Diese Frau ist ein ganzer Mensch. Sie ist als Frau eine ganze Persönlichkeit.
- Sie hat beharrlich ihr Künstlertum durchgesetzt.
- Sie hat einen kräftigen breiten Pinselstrich.
- Und doch sind ihre Bilder in zarten Farben und Tönen gehalten.
- Es liegt ein Geheimnis über ihren Bildern.
Ich war über die Treffsicherheit der Charakterisierung der Malerin sehr begeistert und davon berührt und habe diese Punkte wie einen Maßstab empfunden, mit dem man überhaupt das Werk eines Menschen, eines Künstlers, messen und befragen kann.
Denn was bedeutet: ein ganzer Mensch zu sein?
Es bedeutet, dass man nicht eine besondere, einseitige, herausragende Begabung hat und herausstellt, während das übrige Verhalten mehr zurücktritt, nicht so wichtig ist…
Was bedeutet: Beharrlich seine Ideale, sein Künstlertum durchzusetzen – und dann noch als Frau? Es bedeutet, dass man von etwas zutiefst überzeugt sein muß, und das trotz aller Widerstände, die einem begegnen, auch durchsetzen kann…
Und man braucht dazu viel Kraft , viel Stehvermögen und auch die Geschmeidigkeit, da wo es nicht weitergeht anzuhalten und womöglich einen Umweg zu machen oder sich zu beugen; ein Feingefühl gehört auch eben zu der Kraft.
Feingefühl – das bedeutet die zarten Töne, die Herzenstöne; die Gedanken und die Einfälle gehören dazu, denn nicht alles kann man mit seinem Willen durchsetzen.
Was bedeutet: das Geheimnis ? Das Geheimnisvolle, das über dem künstlerischen Werk liegt, ist meistens das Lebensthema , das Thema, das dem Leben die Dynamik gibt und sich zum Beispiel bei einer Malerin in deren Bildern als Thema ausdrückt. Ein Bild ist umso besser, je mehr der Künstler diese Idee herausgearbeitet hat, zum Beispiel in der Bildgestaltung. Sie merken, wie sehr mich das Thema dieser kleinen Ansprache bewegt, vor allem auch im Hinblick auf das Leben, das Lebenswerk von Annelise Kretschmer, meiner Mutter:
Meine Mutter war ein ganzer Mensch . Sie war nicht nur die Tochter von „Max Weser“ – das war der Firmenname des elterlichen Geschäftes – oder die Frau des Künstlers, Bildhauers Sigmund Kretschmer oder Mutter von vier Kindern oder künstlerische Portrait-Fotografin, wie es hieß, – sondern sie hat diese Facetten ihres Lebens gleichmäßig gehandhabt – in einer Person! Das bezeugen auch einige Briefe ihrer Kunden, die oft auch Freunde fürs Leben wurden. So schrieb zum Beispiel Helene Calvelli-Adorno am 25. August 1987:
Liebe Christiane! Heute habe ich einen ganz ruhigen Nachmittag, und da gehen meine Gedanken zu Deiner lieben Mutter und zu Deinen Geschwistern Nina, Michael und Tatjana… In Dankbarkeit, wie Ihr schreibt, dass ich Annelise Kretschmer kennenlernte. – Wir kamen 1929, ganz unerwartet, aus unserem lebendigen Freundes- und Musikkreis hier in Frankfurt, in die häßliche Industriestadt (später erschloß sich uns die Umgebung), und nach einem ersten Recognoszierungs-Gang kam ich nachhause und sagte zu meinem Mann: In ganz Dortmund gibt es nur einen Trost-Kultur-Punkt: das ist eine Foto-Ausstellung in einem feinen Kleider-Atelier! Ich hatte also „Max Weser“ und die Tochter Annelise Silberbach entdeckt! Nach wenigen Wochen nahm ich die Verbindung auf und ließ meine beiden ältesten Kinder, vier und zwei Jahre alt, fotografieren. Eure Mutter war – kurz vor Weihnachten – hoch schwanger! Im Frühjahr kam sie mit der kleinen Tatjana im Kinderwagen uns in der „stillen Gasse“ besuchen. – Kretschmers blieben das Beste in ganz Dortmund. Wir blieben ja nur drei Jahre dort; mein Mann wurde als Richter von den Nazis abgebaut, unsere Abreise nach Frankfurt hat Annelise wunderbar am Bahnhof im Foto festgehalten. Nun, ich hole zu weit aus! – Eure liebe Mutter war mir nicht nur die verehrte Künstlerin, sondern der gütigste geistige Mensch, den ich getroffen habe! Wie hat sie ihre schwierige Mutter versorgt! Wie alles Schwere in ihrem Leben ertragen! Sie war mir immer ein bewundertes und nachzulebendes Beispiel! Wie gut, dass Ihr alle sie pflegen konntet!…
Frau Annemarie Jaeger – Kundin lebenslang – schrieb am 13. März 1968:
Meine liebe Frau Kretschmer! Als ich krank war, haben Sie mir so geschrieben, dass mich Ihre freundschaftliche Zuneigung wohltuend und wärmend umfing… Immer wieder bewundere ich es, wie Sie alles schaffen, die Berufsarbeit, Ihren schönen Haushalt, die Kinder, Ihre Interessen an Kunst und Musik und noch die Teilnahme an Freunden und nahen Menschen…
Der Bildhauer Raoul Ratnowsky schrieb: „Verehrte liebe Frau Kretschmer. Nur in Eile die Einladung mit sehr herzlichem Dank für Ihre Zeilen und für Ihre so treue Freundschaft, die immer wieder Sonne gibt…“ Soweit einige Stimmen zu Annelise Kretschmer als ganzer Persönlichkeit… Der zweite Punkt: Beharrlichkeit oder auch Beständigkeit und Treue: Man muß an etwas glauben, um beharrlich durchhalten zu können. Annelise Kretschmer drückt es mit eigenen Worten so aus:
Fazit meiner Arbeit in der fotografischen Kunst: Mich hat nie die technische Seite der Fotografie interessiert, die natürlich beherrscht werden mußte, sondern der Prozess, die starre Optik des Apparates zu verlebendigen, das, was das phantasiebegabte Auge als Erlebnis hat – heraufgesteigert – nun doch durch die Apparatur zum Kunstwerk umgewandelt – wiederzugeben. Hinzu kam das wahre Interesse und die Liebe zum Menschen und zur Welt. Eine Vitrine am Dortmunder Markt gab ständig Einblick in meine Arbeit und wurde von den Dortmunder Bürgern als fester Bestandteil des Dortmunder Kulturlebens betrachtet und fast gefordert.
An anderer Stelle sagt sie:
Mit Unterbrechung führte ich mein Portrait-Atelier insgesamt 50 Jahre, aber Kompromisse an die Kunden sind mir nie ein Problem gewesen, das heißt; ich hatte meinen eigenen Stil, ich konnte nicht anders als eben so fotografieren, wie ich es tat – und im allgemeinen überzeugten meine Bilder meine Kunden: denn mein Stil war es, jeden Menschen so zu fotografieren, dass sein eigenes Selbst zum Vorschein kam, nicht sein Klischee…
Dritter Punkt: die Kraft – ihre Kraft im Gestaltungswillen. Jede Aufgabe war ihr eine willkommene Herausforderung. Ein Beispiel: Kunden, die sich zum Fotografieren anmeldeten, fragten sehr oft, was sie denn anziehen sollten, welches Kleid, welchen Schlips etc. Annelise Kretschmer sagte immer: Ziehen Sie doch das an, was Ihnen gefällt… Ihre Sache war nicht, aus der Vorstellung heraus zu handeln, sondern situativ – sich von der Gegebenheit anregen zu lassen und dann zu gestalten: den Ausdruck zu fördern, den Hintergrund zu wählen und Portrait und Hintergrund als Ganzheit des Bildes aufzubauen. Es sah alles sehr leicht aus. Annelise Kretschmer machte oft nur acht – zehn – zwölf Aufnahmen. Da saß jedes Bild, sodass der Kunde oft enttäuscht und manchmal mißtrauisch war, wie schnell die Sitzung beendet war… Sie belichtete aus dem Gefühl und der Erfahrung heraus eine kurze Momentaufnahme, nie einen Schnappschuß. Sie hob den zu Fotografierenden im Stillehalten eines Augenblicks in der konzentrierten Spannung wie der Reiter das Pferd über die Hürde. In dem gespannten Innehalten huschte Leben, huschte etwas Wesentliches über das Gesicht. Vierter Punkt: die Farbigkeit. Dem entspricht im Schwarz-Weiß-Foto bei Annelise Kretschmer mehr die Differenziertheit der zarten Töne. Dadurch, dass sie keinen so hoch empfindlichen Film genommen hat – einen 15-Din-Film 6X6 – und damit eine kurze Momentaufnahme machte – keine Schnappschüsse! – war der Film und nachher auch die Vergrößerung des Schwarz-Weiß-Fotos immer in sehr fein-differenzierten Grau-Tönungen gehalten, die eine große „Farbigkeit“ besaßen. Indem Annelise Kretschmer sowohl die Filme als auch die Bilder etwas länger belichtete und auch oft etwas länger entwickelte, kamen diese satten Töne zustande. Dann ging sie noch mit einem Wattebäuschchen von Abschwächer über die Glanzstellen, zum Beispiel von Augen, Haar, Stoff, Kragen, Kette oder Hintergrund und holte das Lichte, Glänzende wieder heraus. Diese zarten Töne gehören wesentlich zu dem, was als Geheimnis über den Bildern liegt – passen zu Annelise Kretschmers Anliegen in ihrer Portrait-Fotografie: die Begegnung von Ich zu Ich. Eine Kundin drückte es in einem Brief so aus:
Zu Weihnachten haben wir viele Freunde mit Ihren Bildern erfreut. Salomes Patin schrieb zurück: diese Fotografie hat sicher jemand gemacht, der dich gut kennt und den du sehr gut magst…!
Aus einem anderen Brief:
Madame! Sie haben ja ein Geheimnis, dass Sie ein häßliches Gesicht – d.h. meins – fast interessant machen können. Es ist – glaube ich – das Zeichen eines echten Künstlers, aus einem unbedeutenden Modell – Mensch oder Naturanblick – ein Meisterwerk zu schaffen… Ihre Kunst ist wirklich am besten: so bin ich sehr zufrieden, mit einer beifälligen Gestaltung aufgenommen zu haben [aufgenommen worden zu sein] – am Tage meines zwanzigsten Geburtstages. Und wenn ich ein sehr alter und sehr häßlicher Mann sein werde, werde ich glauben können, dass ich einst fast schön war…
Alle fanden sie sich schön, oder sogar viel zu schön aufgenommen, aber waren glücklich, dass es so war. Leider haben wir den Brief von Daniel-Henry Kahnweiler nicht mehr, in dem er Annelise Kretschmer schrieb, dass sein von ihr gemachtes Portrait viel schöner sei als das von Picasso von ihm gemalte und dass er es bedauere, dass die Künstler keine richtigen Portraits mehr machen könnten… Heute kann ich sagen – nachdem ich mich bemüht und gelernt habe, die Bilder von Annelise Kretschmer distanziert anzuschauen und nicht nur nach ihrem Inhalt zu gehen; das tut man nämlich sehr leicht in der Fotografie – und nicht nur der Beschauer: auch viele Fotografen tun dies, fotografieren im Blick auf den Inhalt – heut also, nachdem ich gelernt habe, die Bilder von Annelise Kretschmer differenziert zu lesen, muß ich feststellen, dass es Annelise Kretschmer vor allem auf das Bild selbst ankam, auf seinen Aufbau, seinen Gesamt-Rhythmus – dass also das Ganze wichtiger für sie war, als die Teile oder der Inhalt. Daniel-Henry Kahnweiler sagt in seinem Buch: „Meine Künstler, meine Galerien.“ (S. 53):
Was haben die Kubisten bei Cezanne gesehen und gelernt? Sie sahen bei ihm die Komposition oder vielmehr die Konstruktion des Bildes und lernten, dass das Bild nicht, wie die Impressionisten sagten, ein Stück Natur mit Kunst serviert oder ein auf die Außenwelt gerichtetes Fenster, sondern in erster Linie eine Fläche bestimmter Größe ist, auf welcher der Maler seine Erregung mitteilt. Schon die Tatsache der Darstellung auf einer gegebenen rechteckigen Fläche erzeugt einen gewissen Rhythmus…
Diese Beschreibung trifft in übertragenem Sinne auch auf die künstlerischen Intentionen von Annelise Kretschmer in der Fotografie zu. Dieses Bestreben lag ihr näher als Bauhausstil und Neue Sachlichkeit, aber auch als die Weichheit der Malerei des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die von einigen Fotografen aufgegriffen wurde – sie findet ihren eigenen Stil, der dadurch geprägt ist, dass zu allen formalen Aspekten hinzukommt: die Liebe und Leidenschaft zum Menschen und zur Welt – wie sie es selbst sagt… – die Suche nach der Wesensbegegnung mit dem zu Porträtierenden.
© Christiane Maria von Königslöw