Kunst von Geisteskranken in der Galerie Heike Curtze
In seinem 1938 erschienenen Buch „Kunst und Rasse“ verglich der Maler, Architekt, Schriftsteller und Direktor der Weimarer Kunsthochschule Paul Schultze-Naumburg Bilder von Nolde, Modigliani, Picasso, Kirchner mit Photographien kranker, mißgestalteter Menschen und argumentierte, daß diese Künstler ihre Vorbilder „in Idiotengestalten, psychiatrischen Kliniken, Krüppelheimen“ gefunden hätten. Sie gehörten zu denen, deren als „entartete Kunst“ verfemte Werke im gleichen Jahr zu Tausenden aus den deutschen Museen entfernt oder zerstört wurden.
Der ehemalige Anstreicher Adolf Hitler hatte den Künstlern „grauenhafte Sehstörungen“ bescheinigt oder ihnen bewußten Betrug unterstellt, der mit Bestrafung oder Sterilisation geahndet werden müsse. Dies bekräftigte 1939 der Ordinarius an der Heidelberger Psychiatrischen Universitätsklinik Carl Schneider, indem er feststellte, daß die „entartete Kunst“ der Irrenkunst außerordentlich nahe stehe.
Diese Einstellung markiert den total gegensätzlichen Standpunkt zu dem in die Zukunft weisenden, 1922 erschienenen Buch von Hans Prinzhorn „Bildnerei der Geisteskranken“, in dem der Verfasser – damals Assistent am gleichen Heidelberger Institut – seine dort angelegte Sammlung künstlerischer Arbeiten von Geisteskranken therapeutisch auswertete. Fast gleichzeitig hatte der Schweizer Arzt Walter Morgenthaler das künstlerische und schriftstellerische Werk des schizophrenen Bauernknechtes Adolf Wölfli in der Anstalt Waldau bei Bern bekannt gemacht („Ein Geisteskranker als Künstler“, 1921).
An diese positive, therapeutisch hilfreiche Beurteilung der Kunst von Geisteskranken, deren künstlerisch-schöpferische Qualitäten vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg immer differenzierter erforscht, gefördert und herausgestellt wurden, knüpft auch Leo Navratil an. In der von ihm geleiteten psychiatrischen Abteilung des Niederösterreichischen Landeskrankenhauses für Psychiatrie und Neurologie Klosterneuburg hat er geduldig die Kranken zu der für sie so lebenswichtigen schöpferischen Arbeit ermuntert, die ihnen hilft, ihr Ich freizulegen. Zahlreiche Publikationen reflektieren sein Wirken, darunter „Schizophrenie und Kunst“ (schon 1965). Seit 1970 veranstaltet er vielbeachtete Ausstellungen künstlerischer Arbeiten der Patienten aus der Klinik in Galerien, Museen, auch im Krankenhaus selbst, übrigens mit großem Verkaufserfolg.
Zeichnungen von zwölf dieser psychiatrischen Patienten aus Gugging sind jetzt in einer Ausstellung „Zustandsgebundene Kunst“ in der Düsseldorfer Galerie Heike Curtze zu sehen. „Zustandsgebunden“ sind sie eben, weil man sie trotz ihrer immer wieder frappierenden künstlerischen Expressivität und erstaunlichen individuellen Eigenart nicht mit Arbeiten gesunder, unter „normalen“ Verhältnissen lebender Künstler vergleichen kann.
Am bekanntesten ist inzwischen Johann Hauser (geb. 1926 im slowakischen Bratislava), der seit 1949 in der Anstalt lebt und um 1960 zu zeichnen begann. Die meisten seiner in Erinnerung an Wirklichkeitseindrücke sehr sicher und eigenwillig vereinfachend umgeformten Zeichnungen entstehen in den manischen Phasen seiner Krankheit. Dann sind sie bunt, raumausgreifend, impulsiv, wie etwa ein Porträtkopf, der sich spiralig-wirbelig über den Rand ausdehnt. In den depressiven Phasen zeichnet er dann so einprägsame, sparsame, ernste, streng komponierte Blätter wie einen langen schwarzen abstrahierten Fisch, der vertikal über der Signatur mit pilzartiger Umrandung schwebt. Hauser erreicht nicht selten eine geradezu monumentale Surrealität, so auch in einem traurigen gelben Engel mit blauem Stern auf dem Kopf.
So verschlossen, introvertiert und kontaktlos zur Außenwelt wie der seit 1955 hospitalisierte Bauernsohn Frank Kernbeis sind auch seine sensiblen Blei- und Buntstiftzeichnungen: ein geflügeltes Tier ohne Augen und Gesicht oder eine kaktusartige Pflanze und sehr lyrisch-zarte, rhythmisch empfundene, abstrahierte Blumen. Eigenartige fragile Gitterarchitekturen, eine abstrahierte Katze, einen Menschenkopf in Rot und Violett, der zu einem als rote Gitterkonstruktion gebildeten Körper gehört, zeichnete Fritz Koller (geb. 1929), Sohn eines Landwirts, der seit seinem 22. Lebensjahr in der Klinik lebt: Menschliches, verstrickt in zwanghafte Geometrie.
Bei Oswald Tschirtner, der das Abitur mit Auszeichnung bestand und gern Priester geworden wäre, brach die Krankheit offenbar während des Kriegsdienstes und der Gefangenschaft aus. Er fühlt sich als Todgeweihter, der um Christi willen Leid tragen muß. Langgezogen, zart, fast zärtlich sind seine Tuschfederzeichnungen von Menschen, die in streifige Räume eingespannt sind. Ohne Körper stehen zwei schmale, lange Kamelhälse oder eine menschliche Kopfgestalt auf ihren Beinen. Eine Frauenhalbfigur hält ein Lämmchen oder eine Katze liebevoll im Arm, eine „Flucht nach Äypten“ entstand in abstrahierender, sensibler Deformierung nach einer Vorlage.
Die neueste Entdeckung ist J. F. (Johann Fischer), dessen höchst merkwürdige silhouettenhafte Tiere – Hühner und Hahn, ein Elefant ohne Kopf – sich dem Gedächtnis einprägen. Ganz präzise, fein gezeichnete Hausfassaden im Blumengarten mit einem jungen Liebespaar auf der Bank davor und einem Vogelschwarm zeichnete Otto Prinz, der in den letzten Jahren nur von drei Päckchen Zigaretten und einer Flasche Cola am Tag lebte und kürzlich starb. Auch er war als Soldat während des Ersten Weltkriegs erkrankt.
Johann Korbec verbindet seine illustrativen Aquarellzeichnungen dekorativ mit integrierten handgeschriebenen Texten. Anton Dobay reflektiert sein Ich in einer dunklen, schwarz-grün-violett gestrichelten abstrakten Raumvibration. Auch Johann Garber füllt die ganze Bildfläche mit seinen gezeichneten Erzählungen: phantastischen Tieren, Drachen, Hasenköpfen, fliegenden Erzengeln, Zwiebelturm-Kirchen, Frauen am Fenster.
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 7. April 1983.