Jörg Immendorff in der Düsseldorfer Kunsthalle
Noch nie ist die Düsseldorfer Kunsthalle so total zum Bild-Raum-Panorama geworden wie jetzt in Jörg Immendorffs bisher größter deutscher Ausstellung, die ausschließlich seiner letzten, seit 1977 erarbeiteten Werkfolge „Café Deutschland/Adlerhälfte“ gewidmet ist. 19 großformatige Bilder im Format 282 x 400 cm, von denen die letzten fünf 1982 geschaffen wurden. Begleitet wird die Serie von Zeichnungen und Ölstudien sowie bemalten Plastiken in Lindenholz, darunter einige, in denen der in Düsseldorf lebende Künstler seine große Skulptur für die Kasseler „documenta“ – eine bronzene Version des Brandenburger Tors – vorbereitete. Sie ist letztlich der Kulminationspunkt von „Café Deutschland“, einem erregenden Zeitkommentar in Bildern über das deutsch-deutsche Verhältnis.
Diese Ausstellung ist ein Paukenschlag. Die lebhafte Resonanz, die sie im vollen Haus bei einem sichtlich überraschten, teils begeisterten, teils kritisch betroffenen Publikum fand, zeigte, daß da etwas angerührt wurde, auf das man wohl lange gewartet hatte. Nun, da sie da sind, fragt man sich angesichts der Bilder: Wie war es möglich, daß dieses gravierende, uns alle betreffende Zeitthema erst jetzt in der deutschen Kunst aufgegriffen wurde? Natürlich ist es in Einzelarbeiten immer wieder einmal behandelt worden. Doch erst jetzt scheint die Zeit wirklich dafür gekommen zu sein.
Was an den Bildern schon auf den ersten Blick fasziniert, ist die emotionale Kraft, die sie trägt und erfüllt, die auf den Beobachter überspringt und ihn fesselt, noch bevor er begreift, was hier im einzelnen dargestellt wird. Es ist diese Intensität der Hingabe, die mühelos riesige Bildformate und komplizierte, verschlüsselte Kompositionen mit dem Schwung der Empfindung und des spontanen Pinselstrichs zu Organismen und Räumen zusammenschmilzt.
Alles bleibt da überschaubar in den Details, ist greifbar real, zugleich malerisch und plastisch. Und doch ist es reine Vision, in der tatsächlich Erlebtes – persönlich und zeitgeschichtlich-politisch Relevantes – sich mischt mit Fiktiven oder sich wandelt in Bildsymbole und Gleichnisse. Das aber macht diese Bilder – und auch die Plastiken – so spannend, daß man sich von ihnen einfange lässt, begierig ist, sie zu lesen und zu entschlüsseln, um ihnen auf den Grund zu kommen.
Keine platte politische Agitation also, wie man sie von früheren Arbeiten Immendorffs (etwa in der Münsteraner Ausstellung von 1973) kannte, und von der man sich überfahren fühlte. Hier ist es gelungen, sehr komplexen, auch politisch wesentlich offenerer gewordenen Aussagen eine künstlerische Dimension zu geben. Und man sollte auch nicht von „schlechter Malerei“ sprechen (auch wenn einige kleinformatige Ölstudien zum Teil unterschiedlich in der Qualität sind): Ähnliches hat man schon den Expressionisten vorgeworfen. Der Anstoß zu dieser Folge und zugleich zu einem Wandel in der Konzeption seines Werks gab der italienische Maler Renato Guttuso, der 1976 auf der Bienale in Venedig Immendorffs Ausstellungsnachbar war, insbesondere Guttusos kurz danach kennengelerntes „Café Greco“. Darin wird dieser legendäre römische Künstlertreffpunkt zum Schauplatz imaginärer Situationen, die Künstler und Kunst betreffen.
Entscheidend für die Konzeption des „Café Deutschland“ war dann ein Treffen mit dem Maler A. R. Penck in Ost-Berlin. Die Freundschaft mit dem DDR-Künstler, der später in die Bundesrepublik übersiedelte, wurde ihm zum Symbol für die Probleme des deutsch-deutschen Verhältnisses, für die Teilung Deutschlands und ihre ersehnte Überwindung.
Immendorff, 1945 in Bleckede an der Elbe geboren, war mit dieser Spaltung von frühester Kindheit konfrontiert. An der Düsseldorfer Kunstakademie, wo er zuerst in der Bühnenbildklasse von Teo Otto, dann bei Beuys studierte, wuchs er in die Studenten-Protestbewegung der sechziger Jahre hinein. „Café Deutschland“ brachte dem bisherigen Hauptschullehrer, dem im Kunstmuseum Basel (1979), in der Kunsthalle Bern (1980) und zuletzt im Steldelijk Van Abbemuseum Eindhoven (1981) Einzelausstellungen gewidmet wurden, nun den entscheidenden Durchbruch.
„Café Deutschland“ ist der symbolische Aktionsraum, der zum Spannungsfeld der konfrontierten „Systeme“ diesseits und jenseits der Mauer und der in ihnen lebenden Menschen wird. Es ist eine fortlaufende Geschichte in Bildern, in die auch einzelne, politische Tagesereignisse chronologisch verflochten sind, die aber wiederum nur das Typische lebendig machen. Andererseits aber entrückt eine sehr persönliche Symbolsprache das Geschehen dem trivialen Wirklichkeitsabklatsch. Der Charakter dieser Bilder ist nicht illustrativ, sondern vehement erlebnishaft, schließt immer auch Wunsch und Hoffnung der Überwindung des Gespaltenen ein, vor allem durch die häufige Anwesenheit des durch Mauer und System getrennten Freundespaares Immendorff und Penck im Bild.
Das beginnt schon in der 1977 entstandenen ersten Szene „Grenze“, in der die beiden Freunde neben der Passkontrolle an einem durch die Mauer halbierten Ping-Pong-Tisch stehen (er existierte wirklich). Im Hintergrund vor der Fahne Leibesvisitation durch einen Vopo. Überdimensional neben dem als Hoffnungsvision winzigen Brandenburger Tor ein Mensch, der die Spitzhacke gegen die Mauer schwingt. In einer andere Komposition steckt Immendorff Penck, der visionär vor dem Tor erscheint, die Hand durch die Mauer entgegen. Zwei Totempfähle – mit eingeschnürten Menschen über der symbolischen „Systemzwinge“ (einem Schlagzeugbecken) auf der einen, einem Wachturm auf der anderen Seite – markieren die Grenzen der beiden deutschen Staaten.
Während uns in einem Bild von 1978 George Brecht von seinem Geburtstagstisch im „Café“ die brennende Kerze zur „Erleuchtung“ der Menschen in beiden Teilen Deutschlands zuwirft, tritt in den späteren Café-Szenen eine zunehmende Vereisung des Klimas, der Bilder ein. Der weiße Schneestern, auf den Blutstropfen fallen, auf dem die Säule der „Quadriga“ mit stürzenden schwarz-rot-goldenen Pferden wankt neben im Schnee steckenden Schlagstöcken und der kanonenbestückten „Systemzwinge“, wandelt sich in den „Schwarzen Stern“, auf dem alles zusammenstürzt. Übrig bleibt die von einem „Sammler“-Fuchs weggetragene Eisscholle, auf der nur noch Reflexe der „Café-Deutschland“-Vision erscheinen, bewacht von einem Grenzpfahl-Adler. Tabula rasa. „Was stellen wir rein?“, fragt Immendorff in der Skizze zu diesem End-Bild.
In: Rheinische Post. Feuilleton/ Wissenschaft und Bildung, 1. April 1982