Frauen-Kultur-Archiv

Rheinischer Kulturjournalismus

Else Lasker-Schüler

Vortrag gehalten am 19. April 1969 in Haus Esselt

Else Lasker-Schüler war meine Freundin. Den Altersunterschied haben wir nie empfunden. Sie starb im März 1945 in Jerusalem. Im Februar dieses Jahres gedachten wir ihres 100. Geburtstages. Böse konnte sie werden, wenn sie im Gespräch nach ihrem Alter gefragt wurde. Ewig war sie und ohne Anfang und Ende, wie sie selbst behauptete, geboren als Prinz Jussuf von Theben und nur wie durch Zauberei vom Orient fort in die Wiege vom Architekten Schüler in Wuppertal gelegt, wo sie sich dann aber so wohl fühlte, daß es kaum schönere bekennerische Worte gibt wie jene, die Else Laker-Schüler für ihre guten Eltern fand. Spielte sie als Kind mit bunten Knöpfen aus den Fabriken ihrer Wuppertaler Heimat, so war es später das Spiel mit dem Wort, mit dem sie auf eine fascinierende Art jonglierte.

Leicht war das Wort für sie, wie ein Federball und es scheint oft so, als würfe sie es hinaus in die Welt, ohne festgesetztes Ziel, in der Erwartung, daß es doch irgendwo haften bleibe, auf einem Ding, das sich danach sehnt, mit im Rhythmus der Laskerschen Dichtung aufgenommen zu werden. Ihrer beweglichen Fantasie entwuchsen farbenprächtige Bilder, Blüten eines Zweiges der Semiten. Träumerisch und voller Schwermut ließ sie mitempfinden, was ihre Ahnen schon gelitten haben.

Aus vielen Tönen setzt sich dieses Lebenskonzept zusammen. Einer der Hauptakkorde aber bildete in ihrem Leben das tiefe Erlebnis, das ihr zuteil wurde durch die Bekanntschaft mit dem westfälischen Dichter Peter Hille, von dem die Wartefrau der Dichterin anläßlich seines ersten Besuches die treffende Schilderung gab: "Ein Mann aus dem alten Testament ist hier gewesen…".

Als Else Lasker-Schüler später die Freundin von Otto Pankok wurde, schenkte sie ihm eines Tages einen wunderschönen roten Kamm als Zeichen ihrer Liebe. Sie meinte aber bei der Überreichung des Geschenks, daß sie denselben Kamm ihrem Geliebten Peter Hille verehrt habe – doch hätte Peter Hille noch einen großartigeren Bart gehabt. Da wirkte Pankoks Bart wie Lametta.

Wer in meinen Alter ein Leben beschreibt, das in freundschaftlicher Beziehung zum eigenen stand, rührt an ein Stück Sage: Menschen, die an uns vorübergingen und eine gestaltete Welt, die wir noch mit Augen schauten, ist nicht mehr. Ohne ein Erinnern, das so schön mit dem Wörtchen Innerlichkeit zusammenhängt, wäre unser Leben wie auf Sand gebaut. Die Spuren des Lebens sind heute schnell verweht, da ein Ereignis das andere jagt und fast keinem mehr Dauer gewährt wird, wenn nicht unser Herz wie Wachs wäre, das die Abdrücke unserer seelischen Erlebnisse festhält. Mein Bild, das ich von der Freundin bewahre, ist farbenreich. Sie selbst nannte sich den Prinzen Jussuf von Theben, so fremd fand sie sich oft in der Welt, in der sie lebte, so hingegeben dem geheimnisvollen orientalischen Geist, aus dem sie zu schaffen glaubte. Und dennoch, wie liebte sie die Wuppertaler Heimat, in der die Mutter und der Vater Schüler diese fremdartige Blüte pflegten und hegten. Und dankbar sind wir der Dichterin, welche unsere deutsche Sprache durch ihre Arbeit bereicherte.

Der kleine Prinz von Theben spielte in seiner Geburtsstadt Wuppertal gern mit den Knöpfchen und Bändern aus der heimatlichen Industrie, mit den großen und kleinen blauen, grünen, lila, roten, gelben und weißen Knöpfen. Sie legte Knopf an Knopf, je 4 oder 5 – so erzählte sie mirin ebenmäßige Reihen und führte dann das kleine Fingerchen über die Knopfreihen der abgeteilten Knopfstrophen. Wenn sie dann durch die Unregelmäßigkeit der Knopfgrößen mit der Fingerspitze stolperte oder gar mit dem ganzen Finger abglitt, schrie sie laut auf, genau wie sie sich später verletzt fühlte durch einen Vokal oder Konsonanten, der Störungen im Maß oder Gehör undefiniert verursachte. Aber einer der herrlichsten Knöpfe, so erzählte sie, durfte überall liegen, wo er wollte; er war aus Jett, besät mit goldenen Sternlein, und die Kleine staunte ihn an und konnte seine Schönheit kaum fassen. Er war das Himmelreich ihrer Knöpfe und sie ehrte ihn mit dem kostbaren Namen: Josef von Ägypten.

So werden Dichter geboren, so wachsen sie in ihre Mission hinein, spielend und unbewußt. Sie meinte einmal: So oft neckt man mich mit einem Ausdruck, der sich immer wiederholt in meinen Gedichten. Es ist wahrscheinlich der sternbesäte Knopf.

Else Lasker-Schüler erzählte auch so schön aus ihrer Kindheit, daß die Mutter mit ihr das geheimnisvolle Spiel des Einwortsagens geübt. Die Mutter sagte "Tinte" und das Kind sagte "Flinte" oder "Paul" und "Saul". Als ihr Bruder einmal auf "hoch"="Koch" reimte, da war sie außer sich geraten vor Wut über solchen dumpfen Schall der Paarung. Zwei Jahre zählte das Kind, als es den falschen Reim schmerzlich empfand. Mit vier Jahren lernte sie zum Zeitvertreib bei der Gouvernante schreiben. Jedem Buchstaben malte sie ein Tuch um den Hals, da er fror, wie sie glaubte, denn es war Winter. Fünfjährig begann sie zu dichten. Die Mutter fand die kleinen bekritzelten Papierflocken, die aus den Kleidertäschchen fielen, wenn sie die Knöpfchen daraus hervorholte.

Als wir einander zum ersten Mal bei Louise Dumont begegneten, sagte ich ein paar Begrüßungsworte zu ihr. Daraufhin schloß sie mich herzlich in die Arme und rief: "Sie ist aus Westfalen. Ich höre es an ihrer Aussprache, sie kommt aus Westfalen. Ich liebe die Westfalen. Das sind großzügige Menschen. Sie backen die Reibekuchen mit Butter und nicht mit dem fiesen Öl."

Aus dieser ersten Begegnung sollte dann eine tiefe und treue Freundschaft werden. Wie freute sie sich jedesmal, wenn sie mich dabei ertappte, daß ich in den westfälischen Tonfall geraten war und westfälische Ausdrücke brauchte. Stolz erzählte sie gern von dem kleinen westfälischen Städtchen Hexen-Gäsecke, in dem ihr Großvater wohnte, den sie den Wunderrabbi nannte und den sie sehr verehrte. Des Bischofs Lavater Freund war er. Wie schön erzählte die Dichterin von diesem Wunderrabbi, der jeden Abend mit dem Bischof zusammentraf, im Gastzimmer des "Goldenen Halbmond", der nicht abnahm und auch nicht zunahm, genau wie das freundschaftliche Bündnis, das die beiden Hohepriester unverändert vereinigte bis zu ihrem Tod. Von ihrem Rabbiner-Großvater geht in Westfalen die Legende, daß er sein Herz habe aus der Brust nehmen können, was er nach kühlen staatlichen Konferenzen zu tun pflegte, um den Zeiger des roten Zifferblattes wieder nach Gottosten zu stellen.

Ich denke hier an ein Erlebnis, das ich zwischendurch erzählen will. Es war ein bedeutungsvoller Tag in Berlin zu Ende gegangen. Die Vorarbeiten zur Aufführung ihres Schauspiels "Joseph und seine Brüder" hatten Else Lasker-Schüler und mich gemeinsam beschäftigt und wir wollten am Spätnachmittag im Romanischen Café noch ein paar Theaterfreunde treffen. (Das Manuskript "Joseph und seine Brüder" ist bis heute noch nicht wiedergefunden worden.)

Es war damals kurz vor dem verhängnisvollen 30. Januar, der Hitler an die Macht bringen sollte. Aber noch durften wir hoffen, daß ihr Schauspiel "Joseph und seine Brüder" im Berliner Staatstheater uraufgeführt werden könnte. Else Lasker-Schüler war wie berauscht vor Glück. Sie wollte am liebsten selbst den Joseph spielen. Und die alte Frau mit ihren schlanken Gliedern hatte sich so in die Rolle hineinversetzt, daß sie alles um sich her vergaß, das Caféhausmilieu, ihr Alter, und wie ihr Jüngling Joseph nur noch in Versen sprach. Der Theaterdirektor, die Schauspieler, die Dichter und Maler und andere Gäste hörten zu. Wie in einen magischen Kreis gebannt, lauschten wir ihr. Ich sehe noch das zarte Köpfchen vor mir mit dem entrückten Ausdruck des schmerzerfüllten Sehers, der noch so jung die Freveltat an sich geschehen lassen muß.

"Die fremden Männer aber ketteten des Jakobs Sohn,
Bis ihm die Hände drohten, mit dem Eisen zu verrosten."

Als sie damals diese Worte gesprochen hatte, wurde der Kummer zu überwältigend. Als ihre Tränen auf das Marmortischchen tropften, da hatte die anfängliche Schauspielerei ein Ende, und, wie plötzlich erwachend, drückte sie den Theaterfreunden die Hand, klopfte dem vertrauten Kellner liebevoll auf die Schulter und verließ fluchtartig mit mir das Café.

Dann gingen wir still durch die Straßen Berlins, zu ihrem Hotel, dem Sachsenhof, in dem sie Unterkunft gesucht hatte seit dem Tode ihres einzigen Sohnes. Seit diesem Tag hatte sie nicht mehr allein wohnen mögen; sie mußte Menschen neben, unter und über sich haben. Und sie begann ein Leben in Hotels und Caféhäusern.

An jenem Abend in Berlin kamen wir uns sehr nahe. Sie fühlte sich geborgen in meiner Liebe und zeigte es mir. Sie sprach von sich, ihrem Erlebnis, das sie ein Jahr vor dem Tode ihres begabten Malersohnes hatte. Sie hatte damals ein Gesicht – so erzählte sie – König David saß in ihrem Zimmer, in später Abendstunde. Er trug ein schwarzes Gewand und einen schwarzen Turban. Seine Augen waren wie Asche. Er verharrte lange Zeit, neben ihr sitzend. Und sie meinte damals, ungeheuerlichen Erlebnissen gehen ungeheuerliche Ouverturen voran.

Seltsame entrückte Stunden erlebten wir damals zusammen in dem Hotelzimmer. Sie wollte mir ein Herzensgeschenk zuteil werden lassen. In den Hotelmöbeln verstreut waren einige Dinge, die sie mitgebracht hatte und die so ganz zu ihr gehörten und die dem Raum das Persönliche gaben. Und zu diesen Dingen gehörte des Großpapa-Rabbis Ohrensessel. Und auf diesem Sessel durfte ich an jenem denkwürdigen Abend sitzen und das Wunder an mir geschehen lassen wie Else Lasker-Schüler es sich so sehnlichst wünschte, daß meine Seele zusammenschrumpfen sollte, um Platz zu machen für die Seele des großen Juden. Mit Tränen der Rührung saß sie vor mir mit ihrem dampfenden Tee und sah mich mit unendlicher Liebe an, die ich still und demütig auf dem großgeblümten Sammet saß und so bereit war, wenigstens für Augenblicke – wie die Dichterin es ersehnte von der überirdischen Weisheit des ehrwürdigen Rabbis zu kosten, von jener Weisheit, die da lehrt: " Gott schuf die Erde, indem Er sich zusammenzog und damit Raum für sie gewann." Else Lasker-Schüler erzählte auch einen Traum, den sie nie vergessen konnte. Darin fragte Gott sie: Gefällt dir meine Welt? Dann will ich sie dir schenken. Seitdem, so behauptete sie, gehöre ihr die Welt, und seitdem hatte sie grenzenlos damit zu tun, sie anzublicken.

"Mir hilft kein Sträuben; der strenge Frost holt mich, aber auch der tyrannische Sturm, genau wie der holde Julivogel in die Aula der Welt." Das war ihre Weltanschauung, wenn sie schreibt: "Es ist ja alles Ebenbild Gottes und darum sollte man sich vorsehen in der Welt, etwas zu beflecken überall möchte ja von der Gottesseele einströmen und vermag sich doch nur in den klaren Stellen wiederspiegeln. Vielleicht begehe ich eine Indiskretion, da ich das Geheimnis des Menschen und seiner Welt verrate. Der Leib ist nur Illusion. Und auch den Körper der Welt erdichtete die erste Menschenseele. Aber wenn du einmal ein Erdbeben verspüren solltest, ein vorübergehender Zweifel der Seele an ihrer Weltillusion, denke an mich und verschlingt dich auch der Erdleib, um dich nach Augenblicken wieder auszuspeien. – So erklärt sich auch das Wunder der Fakire, überhaupt aller Heiligen, des Balchem und der anderen Wunderrabbis, die durch Enthaltsamkeit den bezwungenen Leib zu entbrennen vermochten." Schwer trug die Dichterin an der Dissonanz ihrer Zeit. Ja, es kam der Tag, an dem sie im Gedenken an den schweren Lebensweg ihres geliebten Dichterfreundes Peter Hiller klagte: "Der Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande, Abendlande!" Und wie haben Peter Hille und Else Lasker-Schüler in der Zeit der bürgerlichen Müdigkeit erfrischend auf den deutschen Geist gewirkt. Else Lasker-Schüler war eine der Ersten, welche die naturalistische Fessel sprengte und wieder in eine geistige, mystische Welt führte. Ihre Sprache war von einer Innerlichkeit, die nur behutsam die Schleier hob von den Dingen, die sie besang und von den Gedanken, die sie ausdeutete.

Bei ihren Freunden feierte sie das große gute Menschenherz. Ich lese ihr Gedicht an Franz Werfel, den auch ich und auch Otto Pankok sehr geliebt haben. Ein Porträt Werfels von Otto Pankok besitzt das theaterwissenschaftliche Institut in Köln/Wahn. Else Lasker-Schüler schreibt über ihn:

Ein entzückender Schuljunge ist er.
Lauter Lehrer spuken in seinem Lockenkopf.

Sein Name ist so mutwillig:
Franz Werfel.

Immer schreib ich ihm Briefe,
Die er mit Klecksen beantwortet.
Aber wir lieben ihn alle
Seines zarten, zärtlichen Herzens wegen.

Sein Herz hat Echo,
Pocht verwundert.
Und fromm werden seine Lippen
Im Gedicht.

Manches trägt einen staubigen Turban.
Er ist Enkel seiner eigenen Verse.

Doch auf seiner Lippe
Ist eine Nachtigall gemalt.

Mein Garten singt,
Wenn er ihn verläßt.

Freude streut seine Stimme
Über den Weg.

Wie oft bei unserem Zusammensein träumte die Dichterin von einer Reise in das gelobte Land; doch sollten die Freunde sie begleiten. Und als die Lage in unserem Land immer schwieriger wurde, da schrieb sie mir, ich müßte die Zeitung in Palästina herausgeben und Otto Pankok würde dort viele Modelle und herrliche Motive finden. Sie konnte sich Palästina nur vorstellen wie eine Provinz der alten Welt, zu der sie gehörte. Ganz losgelöst vom Deutschland ihrer Freunde war ein Leben für sie zuerst noch unvorstellbar. Diese Reise nach Jerusalem war ein schöner Traum seit Kindertagen, mehr eine Dichtung ihrer Fantasie. Als die Last und der Druck der Gewalt immer schwerer wurde, schrieb sie mir, daß sie nur mit mir hinwollte.

Mit einem stillen Menschen will ich wandern
Über die Berge meiner Heimat,
Schluchzend über Schluchten,
Über hingestreckte Lüfte.

Überall beugen sich die Zedern
Und streuen Blüten.
Aber meine Schulter hängt herab
Von der Last des Flügels.

Suche ewige stille Hände:
Mit meiner Heimat will ich wandern.

Und dann kam der furchtbare Tag, an dem fanatische Schriftsteller in ihrem Massenund Rassenwahn die größte Dichterin Deutschlands vor ihrem Hotel in Berlin niederschlugen. Die Nichtsahnende hatte ihr Hotel verlassen, um eine Besorgung zu machen. Das Grauen packte sie. Nur mit dem Geld, das zufällig in ihrer Tasche war, floh sie, ohne in ihr Hotel zurückzukehren, ohne einen Koffer zu packen. Ihr Geld reichte für eine Fahrkarte zur Schweiz. In Zürich angekommen, wandte sie sich an keinen Menschen um Hilfe. Für sich selbst konnte sie schwer etwas unternehmen. Sie schlief unter einem ihrer geliebten Bäume. Ihre armen zarten Hände erfroren bald. Dort fand sie ein Polizist schlafend, auf einer Bank im Park mitten in der kalten Nacht. Der Mann der Ordnung verhaftete sie, und ausgefragt, erfuhr man die tragische Geschichte. Einer der höheren Polizeibeamten kannte ihren Namen, wußte etwas über diese Frau, deren Gedichte schon in den Lesebüchern und Gedichtbänden des Auslands aufgenommen waren.

Hinter meinen Augen stehen Wasser,
die muß ich alle weinen.

Immer möchte ich auffliegen,
Mit den Zugvögeln fort;

Buntatmen mit den Winden
in der großen Luft.

O, ich bin so traurig…
Das Gesicht im Mond weiß es.

Die Geschichte der Else Lasker-Schüler wurde in der Schweiz bekannt und es regten sich helfende Hände. Morgenfeiern wurden von dem Schauspieler Ernst Ginsberg veranstaltet und in literarischen Vereinen Leseabende eingerichtet. Ein großes Kaufhaus in Zürich erlaubte ihr, ohne Zahlung alles im Geschäft zu holen, was sie brauchte. Doch machte sie selten Gebrauch davon. Nur wenn ein Freund sie besuchte, erinnerte sie sich des großzügigen Geschenks und holte auf einem ihrer Bons ein Tüchlein oder ein Kämmchen zur Erinnerung. Für andere nahm sie die Gunst gern einmal wahr, an sich selbst zu denken wurde ihr schwer.

Damals schrieb sie mir: "Der von Angst verdunkelte Mensch gerät aus dem Gleichgewicht. Wer diese Urqual erlebte, weiß, wie die Erde litt, als ihr der Paradiesesschein – die Liebe – vom Haupte glitt." Wenn ich auch von jetzt ab lange Zeit von ihr getrennt blieb, so durfte ich sie doch durch ihre Briefe auf ihrem Stationsweg begleiten. Meine Briefe waren ihr ein Trost.

Bevor der Überfall in Berlin passierte, hatte sie noch zwischen Hoffnung und Verzweiflung geschwankt. So schreibt sie noch am 6.11.32: "…Ich hoffe, bald nach Düsseldorf zu kommen – von Darmstadt aus wo um Weihnachten mein Schauspiel gespielt wird: ‚Arthur Aronymus und sein Vater‘meines 12-jährigen Papas Jugendzeit in seiner westfälischen Heimat: HexenGäsecke."Doch der Brief endete schon mit den Worten: "Ich bin sehr niedergeschlagen immerdar und immerzu. Kommen Sie nach Berlin?"- Nach Weihnachten kamen schon die ersten bösen dämonischen Anzeichen. Traurig teilte sie mir mit: "Mein Schauspiel wegen verschoben." Hitler ersetzte sie durch einen Gedankenstrich. "Auch Darmstadt. Köln wollte meine Wupper aufführen. Bitte fragen Sie, ob es wird! Ich bin verzweifelt!-" Und ich konnte nicht helfen. Kein Theaterdirektor traute sich mehr an eines ihrer Werke.

Und dann begann die überstürzte Emigration. Schließlich, nach bangem Warten, der erste Brief aus Zürich: "Hospiz Augustinerhof. Meine liebste, verehrteste Hulda Pankok, nur die Verzweiflung, wie man überhaupt bestehen kann und die Zurückgebliebenen, ist schuld, daß ich Ihnen, Sie Liebe, nicht schrieb. Und – aberes beginnt sich zu machen und aber, wie geht es Ihnen und dem lieben Mann mit dem Bart? Beinahe wäre ich nun nach Düsseldorf gereist. Kommen Sie doch hierher, wir reisen dann nach Locarno oder Ascona. Bald kann ich es. Dort ist es billiger und wir sind unter uns. Herr Intendant Lindemann darf aber nicht alleine bleiben, er muß mitkommen. Wir alle sind sehr lieb zu ihm. Wie würde er sich nach Ihnen sehnen und dem Bartmaler! Ich war so unglücklich und so zerfetzt und verhungert innen und außen, aber nun ist es viel besser! Und ich habe nur Sehnsucht – da außerdem hier sehr kühlin die Sonne zu reisen, unter schönen Bäumen zu sitzen und bei den Blumen. Ich habe hier in Zürich beständig großes Leid um meinen geliebten Jungen. Zürich war seine Lieblingsstadt in der Schweiz und alles trägt darum, da mir alles dunkel, einen bangen Schattenschleier. Ich bitte Sie, liebste Hulda Pankok, schreiben Sie mir sehr bald und grüßen Sie den Maler und lieben Intendanten. Die ganze Welt eine Finsternis. Darum zündete ich den Stern an. Darum sind uns die Propheten gekommen und Jesus von Nazareth und die vielen Menschen weinten und Dichter dichteten Heiligengedichte. Später im Herbst kommt mit mir nach Palästina! Es soll wunderbar dort sein, oder soll ich vorher dorthin ziehen und Euch, meine Lieben, am Rhein schreiben? Wir wollen dort alle Theater spielen, eine wunderbare liebreiche Truppe immer das heilige Land durchziehen! Und nun alles Liebe; ich weine fast ….. Und es sprach mal der Maler Gert Wollheim so schön von Ihnen beiden. Wissen Sie, wie es ihm geht und ob er weiter kann? Alles Liebe und Schöne und alles was Treue ist. Ihre Else Lasker-Schüler.:" Nirgendwo ist mehr Ruhe und Sicherheit. Doch noch ist es hier für uns ab und zu möglich, ein wahres Wort zu veröffentlichen. Wenn es gelang, schickte man es ins Ausland an die emigrierten Freunde. Wir erhofften immer noch, mit unseren geistigen Mitteln etwas erreichen zu können.

Der zweite Brief aus der Emigration von Else Lasker-Schüler lautete darum: "Ich danke Ihnen für den Essay. Könnten wir uns doch bald wieder begegnen. Kommen Sie doch mit dem Mann im Bart nach dem Tessin. Dort ist Eden und wir sprechen mit den Blumen und pflücken uns Brot und allerlei von den Bäumen. Wohnen zwar nicht auf den Beeten, aber – sehr, sehr möglich in netten reinen Räumen und das Silber fällt dazu mittags von oben. Ich sage am 27.6. hier aus meinen Dichtungen. Da habe ich dann genug kommen noch zwei Zeichnungen für Holland dazu, (sie malte auch) um zwei Monate zu bleiben und ich schreib sofort. Und Herr Lindemann kommt auch. Nie vergeß ich seinen Faust. Näheres: Ich hatte beide Hände halb erfroren und voll von Rissen, da ich ja erste Tage am See, unter einem Baume versteckt, schlief: Konnte garnicht schreiben, denn immer schlimmer wurde es… Immer in Liebe für Sie beide und immer in Treue und immer wir Drei in Liebe und Treue für Louisens liebsten Intendanten und treuesten Begleiter." (Es ist Louise Dumont und Gustav Lindemann gemeint.) Euer sehr, sehr trauriger Prinz Jussuf von Theben." Darunter stand noch: "Was sind alle Schätze der Welt und wäre die Liebe nicht."

Die weiteren Schreiben zeigen ihr wachsendes Heimweh. Und doch darf niemand von uns sie zurückholen. Dort ist geschützter. Pläne werden von uns gemacht, sie zu besuchen.

Einer der nächsten Briefe enthielt nur dieses Gedicht:

Wir beide
Der Abend weht Sehnen aus Blütensüße,
Und auf den Bergen brennt wie Silberdiamant der Reif,
Und Engelköpfchen gucken überm Himmelstreif,
Und wir beide sind im Paradiese.

Und uns gehört das ganze bunte Leben,
Das blaue große Bilderbuch mit Sternen!
Mit Wolkentieren, die sich jagen in den Fernen
Und hei! die Kreiselwinde, die uns drehn und heben!

Der liebe Gott träumt seinen Kindertraum
Vom Paradies von seinen zwei Gespielen,
Und große Blumen sehn uns an von Dornenstielen…
Die düstre Erde hing noch grün am Baum.

Als dieses Gedicht gekommen war, wußte ich, wir mußten zu ihr. Sie war, allein gelassen, am Ende ihrer Kraft. Sie sehnte sich nach den Gespielen. Nach Überwindung vieler Schwierigkeiten haben wir dann endlich die Möglichkeit, in die Schweiz zu fahren. Als wir uns Ascona nähern, wo sie inzwischen wegen des dortigen Kabaretts, in dem sie Gedichte lesen konnte, hingezogen ist, schreibt sie ungeduldige Karten über Max Picard in Gentilino, wo sie uns vermutet: "Meine Liebe. Freue mich so, Sie sind hier mit dem Mann im Bart. Wo sehen wir uns? Ich kann nicht über Lugano fahren. Ich kann des Schmerzes wegen nicht über Lugano. (Hier starb ihr Sohn.) Bitte kommen Sie bald hierher. Ich hatte einen Vortrag im Theater. Bitte schreibt, wann Sie kommen, damit ich da bin. Euer armer Prinz Jussuf von Theben einer der vielen." Und dann folgten Eilkarten, eine nach der anderen und erreichten uns in Gentilino, immer derselbe Ruf: "Kommet zu Jussuf!"

Und wir trafen sie in Ascona. Vor einem der von ihr so sehr geliebten Cafés saßen wir und sahen ergriffen in das müde Gesicht und auf die lieben Hände, die der Frost auf der Flucht so krank gemacht hatte. Jetzt schnitten sie mit kindlichem Eifer reizvolle Muster in eine Papierserviette, die eine junge Italienerin zu den Spaghettis gebracht hatte. Das zierliche Papierdeckchen sollte sehr viel später meine kleine Tochter trösten, wenn der Abschied sich nähern würde. Da drehte sie das Papierdeckchen um einen Mohrenkopf, der mit auf die Reise geschickt wurde. Jedem von uns wollte sie noch gern etwas Liebes bereiten in ihrer gottverlassenen Armut. Und wir mußten sie einsam zurücklassen. Wir konnten nur noch eins, die Freunde in der Schweiz um Hilfe bitten.

Da saßen nun wir Einsamen, mit unserem Herzen voller Liebe, die auf Erden heimatlos geworden waren, in der südlichen Sonne und wärmten uns einander, sprachen von unseren Hoffnungen, die nicht erlöschen wollten, daß wir eines Tages wieder in unserem Deutschland vereinigt sein würden, in dem Deutschland, in dem wir so schön zusammen Theater gespielt hatten und in dem Otto Pankok so viele Porträts von seinen Freunden geschaffen hatte, die nun zum großen Teil so Schweres durchzumachen hatten durch den Ungeist, der zur Macht gekommen war.

Ich sehe den liebevollen Blick wieder vor mir, mit dem Else Lasker-Schüler mich ansah, als sie sich daran erinnerte, wie vorsichtig ich ihr Schauspielmanuskript für die Bühne zusammenzustreichen pflegte und wie sie mir einmal einen Kuß gab, als sie so einen Strich sah, von dem sie behauptete, daß er ganz leise das Herz für neue Ideen öffnete, während andere Bearbeiter ihrer Bühnenstücke ihr das Herz zerrissen hätten. In diesen Tagen sind diese liebevollen Worte ihrer Zustimmung wie ein Streicheln, das mich trösten soll.

Nach unserem Besuch in Ascona kam dieser Brief: "Es ist alles so schwer, sich über Wasser zu halten, abends sinken einem die Augen zu. Ich habe mich so gefreut, Sie alle hier zu haben, auch die kleine Hulda. (So nannte sie unsere Tochter Eva.) Ich bin nach Alexandrien eingeladen und wenn die Griechische Familie mir das Geld schickt, reise ich dann weiter, für drei Monate zunächst. Ich bin noch recht kaputt. Wie geht es Ihnen und dem Manne mit dem Barte? Immer denke ich an Deutschland, das ich so liebe! Geht es Ihnen auch noch gut!?" Unten auf der Seite zeichnete sie ein Vögelchen, dabei steht geschrieben "bin ich!". Trotz dieser bösen Erfahrungen war es uns damals nicht möglich, zu glauben, daß diese Unnatur Bestand haben sollte. Else Lasker-Schüler träumte noch von den goldenen Türmen der heiligen Stadt, die ihr vorerst Obdach geben sollte. Wir rieten ihr damals zu, die Reise nach Israel zu wagen. Glaubten wir doch, daß es gut sei, viel Raum zwischen unserer bösen Welt und ihr zu wissen.

Kurz nach unserem letzten Zusammensein zog sie nach Israel, wo sie fern von uns starb. Mein Freund Dr. Gabriel Cohen erzählte mir, wie Else Lasker-Schüler sich im irdischen Jerusalem eine Traumwelt aufbaute: eine Welt, in der sie Juden und Araber versöhnen wollte, in der für alle armen Kinder der Stadt, jüdische und arabische, Schlafund Badezimmer eingerichtet und Bänke aufgestellt werden sollten. Auch verlangte ihr Aktionsprogramm – das sie in vielen Gesprächen entwickelte und das man nach ihrem Tode aufgeschrieben fand – mehr Essen für die Kinder. Punkt 6 ihres Programmes lautete: "So lange noch ein Kind hungert, verzichtet Gott auf jede Synagoge". Weiter verlangte sie mehr Fürsorge für die lasttragenden Esel. "Man spreche mit einflußreichen Priestern" heißt es in ihrem Vermächtnis. Weiter verlangte sie die Untersuchung der Lungen der kleinen Zeitungsausrufer.

Ja, sie war eine Fantastin, die trotz aller düsteren Erfahrungen sich nicht den Glauben nehmen ließ, daß die Liebe ihren eigenen Untergang übersteht, daß sie immer wieder aufersteht.

Ich suche allerlanden eine Stadt,
Die einen Engel vor der Pforte hat.
Ich trage seinen großen Flügel
Gebrochen schwer am Schulterblatt
Und in der Stirne seinen Stern als Siegel.
Und wandle immer in der Nacht…
Ich habe Liebe in die Welt gebracht,
Daß blau zu blühen jedes Herz vermag,
Und hab‘ ein Leben müde mich gemacht,
In Gott gehüllt den dunklen Atemschlag.
O Gott, schließ um mich deinen Mantel fest,
Ich weiß, ich bin im Kugelglas der Rest,
Und wenn der letzte Mensch die Welt vergießt,
Du mich nicht wieder aus der Allmacht läßt
Und sich ein neuer Erdball um mich schließt.

Quelle: Typoskript, Pankok-Archiv, Haus Esselt.