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Rheinischer Kulturjournalismus

Gerda Kaltwasser: Erbliche Ataxien


Wachen Geistes in den körperlichen Verfall

Krankheit, Leiden, Behinderung, Tod – Begriffe, die wir mit Schmerzen, schwerbehandelbaren Krankheiten, vor allem mit vielen Tumordiagnosen verbinden. Mit Krankheiten, die zum Tode führen. Wer denkt daran, daß es Leiden fast ohne Schmerzen gibt, die auch nicht zum Tode führen, die geistige Fähigkeiten nicht oder kaum einschränken, aber irgendwann eine völlige körperliche Hinfälligkeit zur Folge haben – die einen geistig gesunden Menschen zum schweren Pflegefall machen?

Aber diese Krankheiten gibt es. Zu ihnen gehört die vielfältige Gruppe der hereditären Ataxien. Hereditär bedeutet erblich; eine Ataxie isteine Störung des geordneten Zusammenwirkens der für eine Bewegung erforderlichen Muskeln. Die Fähigkeit dazu ist in den Zellen des Kleinhirns angelegt. Wenn sich dort Zellen zurückbilden, spricht der Mediziner von einer Atrophie, der Mensch ist nicht mehr in der Lage, seine Bewegungen zu koordinieren. Ein Beispiel von vielen: Wenn sich im Kleinhirn jene Zellen zurückbilden, in denen die Gleichgewichtsinformationen anderer Organe, so der Augen und Ohren, in Blitzesschnelle koordiniert werden, kann der Mensch das Gleichgewicht nicht mehr halten. Er fällt, obwohl die einzelnen Organe ungehindert richtige Informationen ans Kleinhirn senden. Meist treten erste Symptome ererbter Ataxien im dritten und vierten Lebensjahrzehnt auf, in Einzelfällen schon bei Kindern, häufig auch nach dem 60. Lebensjahr. Die Krankheit ist selbst bei Medizinern nicht allgemein bekannt, die Zahl der falschen Diagnosen deshalb nach wie vor hoch.

Der Neurologie ist es auf dem Gebiet der Kleinhirnforschung, in der sich auch der Düsseldorfer Mediziner Georg Auburger an der Heinrich-Heine-Universität spezialisiert hat, in den letzten Jahren gelungen, eine Anzahl von Genen zu orten, die für bestimmte Formen von Ataxien verantwortlich sind. So gibt es Formen, die nur in Japan auftreten, andere, in Europa häufige, sind in Japan unbekannt. Aber weder ist es gelungen, einen Grund für die Apoptose, das heißt für das von der Zelle selbst ausgelöste Absterben (Zell-Selbstmord) im Kleinhirn zu finden, noch dafür, daß in einigen wenigen Fällen und scheinbar grundlos die negative Entwicklung stoppt.

Zuverlässige Therapien gibt es kaum, immerhin kann Physiotherapie Symptome lindern, etwa die Greiffähigkeit der Hände oder die Gangsicherheit verbessern. Übungen mit Hanteln verlangsamen den Abbau der Muskulatur, Sprachtherapie kann Sprechstörungen erträglicher machen.

Das Gebiet der Pharmazie jedoch ist vor allem Experimentierfeld. „Jeder neue Fall einer Heredoataxie macht den Mediziner zum Pionier“, sagte ein auf Kleinhirnerkrankungen spezialisierter Neurologe, der bis vor wenigen Jahren an der Düsseldorfer Uniklinik arbeitete. Daran hat sich bis heute nichts wirklich geändert.

Geändert hat sich die Sprache der Wissenschaft. Bezeichnungen wie „Typ Holmes“ oder „Nonne-Marie“ gehen auf die Erstbeschreiber der Krankheitserscheinungen zurück, ebenso wie die Friedreichsche Ataxie oder Machado-Joseph. Im Zeitalter der molekularen Diagnosen und der Gentechnik einigte man sich auf Kürzel und Numerierung wie SCA1 bis SCA7, DRPLA, EA1 und EA2.

Die Betroffenen sind meist bereit zu Experimenten, etwa zum Ausprobieren von Medikamenten, die zur Behandlung von Parkinson oder Multipler Sklerose entwickelt wurden. Aber jede Behandlung ist ein Versuch mit ungewissem Ausgang. Darauf weisen Neurologen wie der Privatdozent Harald Hefter von der Neurologie der Heine-Uni ihre Patienten mit Nachdruck hin. Diese entwickeln die innere Haltung der skeptischen Hoffnung, daß bei ihnen das eine oder andere Medikament zu einer langsameren Verschlechterung beitragen könnte.

Daß aus der skeptischen Hoffnung nicht der tiefe Fall in die Hoffnungslosigkeit wird, dazu hilft die Deutsche Heredo-Ataxie-Gesellschaft – unter anderem mit einer vierteljährlich erscheindenden Mitgliederzeitschrift, in der Kranke und ihre Angehörigen medizinisch-fachliche Informationen und praktische Alltagshilfe finden.

Sie finden dort aber auch die Auseinandersetzung mit medizinsozialen und medizinethischen Problemen, die so entlegen nicht sind, wie die Begriffe vermuten lassen. Trotz aller sonstigen Unsicherheiten: Die Erblichkeit ist erschreckend sicher (von den erworbenen Ataxien ist hier nicht die Rede) und kann inzwischen eindeutig nachgewiesen werden. Also stellt sich bei Ehepartnern die Frage nach den Risiken einer Elternschaft mit allen Konsequenzen. Auch die Diskussion darüber, ob in Zukunft solcherart „erblich Belastete“ entweder mit höheren Krankenkassenbeiträgen belegt werden können oder eine Versicherung abgelehnt werden darf, hat bereits begonnen.

In der Deutschen Heredo-Ataxie-Gesellschaft (DHAG) sind etwa 800 Erkrankte und ihre Angehörigen organisiert (in der vergleichbaren Vereinigung der USA, der NAF, National Ataxia Foundation, sind es 8000). Die Zahl der Erkrankten ist aber hier wie dort erheblich höher. Die DHAG hat ihren Sitz in 70188 Stuttgart, Haußmannstraße 6.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post., 15. Mai 1999