Frauen-Kultur-Archiv

Rheinischer Kulturjournalismus

Jean Dubuffet und die „Art Brut“

Zur Ausstellung in Schloß Morsbroich

Mit Wols, Pollock, Fautrier und noch einigen anderen zählt man den französischen Maler Jean Dubuffet zu den „Vätern“ der Kunst von heute. Man hat die von Amerika und Frankreich ausgegangene neue Richtung der Malerei als ‚Tachismus‘ (= Fleckenmalerei), als „l’art autre“ (= die ganz andere Kunst), als ‚Nukleare Malerei‘ zu umschreiben versucht. Ihre Anhänger rebellieren gegen den klassisch gewordenen Konstruktivismus und seine formalen Gesetze, schließlich gegen die Form überhaupt. Dafür proklamieren sie die schrankenlose Freiheit und das Recht der ungehemmten Selbstaussage. Die Malerei wird zum „Abenteuer“.

Dubuffet war bisher in Deutschland nahezu unbekannt. Obwohl er der „französischste“ dieser Maler ist, hatte er in Amerika seine ersten großen Erfolge, bis dann René Drouin, der Pariser Kunsthändler, ihn durch mehrere Ausstellungen auch in seiner Heimat bekannt machte. An den Namen Dubuffet heftet sich der Begriff der ‚Art Brut‘, eine Wortbildung, die aus dem Gegensatz zur ‚Art Culturel‘ entstanden ist: die brutale, urtümliche Materie gegenüber der verfeinerten Palettenkunst.  „Die Stimmen des Staubes, die Seele des Staubes, sie interessieren mich weit mehr als die Blume, der Baum oder das Pferd, denn ich empfinde sie als weit seltsamer … Und vor allem das Fehlen der endgültigen Form …“ schrieb Dubuffet einmal. Er entdeckt die Schönheit des ungebärdigen Materials. Aus Gips, Kalk, Zement, Lacken und Leim erfindet er neue Malmittel, die er, dem Maurer vergleichbar, auf die Malgründe aufträgt. Es entstehen gigantische Urlandschaften mit Buckeln, Höhlungen und Schründen, dann wieder struppige und vermooste Gestalten von Kobolden und Zwergen. Gesichter tauchen auf, die Gärten gleichen, und in den Landschaften geistern menschliche Wesen, entdeckt man Tiere und Dinge. Für Dubuffet ist jedes Stück Natur „ein Buch, in dem alles steht“. Dubuffet wäre jedoch nicht Franzose, wenn er nicht zugleich mit höchstem Raffinement vorginge und unter dem Deckmantel des »Brutalen« subtile Reize entfaltete, denen des Impressionismus nicht ganz fern. Die »ganz andere Kunst« ist bei ihm erneut figurativ, der ‚Tachismus‘ wird mit Geist erfüllt. Die durcheinanderstrudelnden Farbflecke sind stets Andeutungen für etwas Reales, sei es auch nur ein Stück Mauer, eine verschmierte Tischplatte oder „heroisches Blätterwerk“. In seiner Art, tiefernst und zugleich humorvoll zu sein, in der Präzision seiner Titel hat er manches Verwandte mit Klee, nur ist alles bei ihm sinnlicher, handfester, irdischer, die Formate sind größer.

Dubuffet, geboren 1901 in Le Havre, entschied sich erst mit 40 Jahren endgültig für die Malerei. Er hatte in der Jugend wohl vorübergehend Malstudien getrieben, sich dann aber der Musik und Literatur zugewandt. Lange Zeit war er aller Kunst überdrüssig, lebte in Südamerika und übernahm später in Paris eine Weinhandlung, die er erst 1947 wieder verkaufte. Er begann mit naiven, erzählenden Bildern, die bewußt kindlichen Zeichnungen nachgebildet waren, später folgten groteske Porträts, die allem Anschein nach unnachahmlich ähnlich sein müssen. Er nennt sich selbst einen »leidenschaftslosen Amateur« und kümmert sich nicht um Ausstellungen und Erfolg. Er lebt meist zurückgezogen in Vence, nur zeitweilig in Paris.

In: Rheinische Post, 4. September 1957.