Dubuffet-Ausstellung in der Kölner Kunsthalle
Aus dem Jahre 1935 stammen jene in Öl gemalten „Stadt- und Landmarionetten“ und die Folge der „Métro“-Gouachen, mit denen die große jetzt in der Kölner Kunsthalle gezeigte Retrospektive-Ausstellung Jean Dubuffets einsetzt, des nunmehr achtzigjährigen Erfinders der „Art brut“: der rohen, ursprünglichen Kunst, die sich an den unreflektierten künstlerischen Äußerungen von Kindern und Geisteskranken, von Naiven und Primitiven eher orientiert als an den gewohnten Wertvorstellungen.
Die von der Berliner Akademie der Künste zusammengestellte Ausstellung mit 360 Werken Dubuffets, aus über 70 öffentlichen und privaten Sammlungen, in ununterbrochener Folge von 1943 bis 1980, ist nach einer Retrospektive dieses Künstlers vor zwanzig Jahren in Hannover die erste dieser Größenordnung im deutschsprachigen Raum. Damals wurden nur 90 Arbeiten gezeigt.
Geht man vorbei an den chronologisch sich folgenden Werkgruppen, hat man von Anfang bis Ende den Eindruck, daß hier einer das Theater oder vielleicht noch eher den Zirkus dieser Welt in seinen komischen, beängstigenden und poetischen Aspekten zugleich ironisch-karikierend und mit liebevollem Einverständnis registrierte und dabei zeit seines Lebens das große Staunen nicht verlernte. Immer ist bei ihm das Eigenartige zugleich Ausdruck von etwas untergründig Gemeinsamen. Dubuffet war 43 Jahre alt, als er in fröhlichen Farben perspektivelos seine Métro-Gouachen malte: Menschen, eng zusammengedrängt, frontal, irgendwie verbunden durch eine allen gemeinsame Abwesenheit und Anonymität. Er ritzt, kratzt nach Art der Sgraffiti in Pasten aus Asphalt, Teer und Bleiweiß, Zement, Gips, Lack, Leim, Kalk, Sand, Kohlenstaub, Kieselsteinen etc. die Menschen von Paris mit ausgesprochenem Blick für die Komik und Tragikkomik deformierter Silhouetten. Man spürt: er mag sie alle, diese schlichten Zeitgenossen. Mit dem Röntgenblick eines verstehend Liebenden bringt er gleich einem Magier in den hintergründigen Porträts seiner Freunde – Jean Paulhan, Michel Tapié „als Sonne“, Antonin Artaud, seines Galeristen René Drouin – hinter dem Individuellen jenen inneren Kontakt zu einer surrealen Welt ins Bild.
Und dann, nach den Sahara-Aufenthalten Dubuffets, diese wie legendäre Erscheinungen aus den Bildgründen auftauchenden „Clowns der Wüste“. Sie haben alle teil an mysteriösen archaischen Seinsräumen, die den meisten von uns längst verschlossen sind. Oder die in ihrer Poesie unwiderstehlichen „Grotesken Landschaften“, deren eigentlich ganz in die Erde eingebetteten Strichmännchen stillvergnügt, ja selig die Freuden des Landlebens wie ein ungewohntes und ganz vergessenes Wunder erleben. Zu erdigen Landschaften scheinen auch breit und unförmig hingelagerte Frauenkörper zu werden. Gezeichnete Porträtköpfe wirken wie geologische Exkursionen der Zeichenfeder. In verzückten Strukturen, inspiriert von der Landschaft um St. Paul de Vence, wo er sich ein Atelier baut, verherrlicht der Künstler Himmel und Erde, collagiert Männchen aus Schmetterlingsflügeln, huldigt dem „Wald“, dem „Gartenboden“, der „blühenden Erde“ mit berückenden Collagen aus gesammelten Pflanzenteilen. Eine irreale Ausstrahlung haben auch die in einer Serie zusammengefaßten „Kühe auf der Weide“. Nach den Assemblagen entstehen die freistehenden „Statuen“, die doch so fragil und unbeständig sind wie jener so tief betroffen machende „Blinde“ aus Silberpapier.
„Ich vertraue den wilden und ungekünstelten Reizen gegenüber jeder Schminke und allen Friseuren“, sagte Dubuffet. Neben den Strukturen der Natur hat er immer wieder diejenigen der menschlichen Psyche und der Gesellschaft in dynamischen Rhythmen von Linien als phantastisches abstraktes Phänomen aus dem Gegenständlichen herausgelöst – in „Paris Circus“ etwa oder den seit 1962 entstehenden Bildern, Skulpturen, Zeichnungen, Räume des „L’Hourloupe“-Zyklus. Nach dem langen Gebrauch von erdigen Farben kehrt Dubuffet hier wieder zur Buntheit, wenn auch auf wenige Grundtöne beschränkt, zurück. In ein Puzzlespiel unendlicher Linien eingebettet, das auch die Plastiken verwirrend überzieht und sicher von den Comic strips beeinflußt ist, erscheint hier das menschliche Tun und Treiben in seiner Unbeständigkeit fragwürdig und illusionistisch.
Als Groteske stellt der Künstler es auf eine imaginäre Bühne in seinem berühmten „Coucou-Bazar“ – aus bemalten Plastikelementen zusammengesetzten menschlichen Figuren, Tieren, Wagen, Mischwesen teils auf Rädern, teils von Menschen getragen, die sich als phantastisches Ensemble zu einer von Dubuffet selbst komponierten Musik bewegten – erstmals 1973 im Guggenheim-Museum New York. Auch diese „Praticables“, die in der von Dubuffet gestifteten Fondation in Périgny-sur-Verres aufbewahrt werden, sind in Köln, wenn auch unbewegt, zu sehen. Dazu Großphotos seiner skulpturalen Architekturen, wie der einzigartigen „Closerie und Villa Falbala“ in Périgny: einem reich gegliederten, strukturell bemalten, eher einem Felsgebirge oder einer Eishöhle gleichenden, nach außen völlig geschlossenen Refugium als Gegenentwurf zur rationalen Wohnmaschine unserer Zeit: ein Ort zum Träumen und zur Besinnung.
In: Rheinische Post. Feuilleton, 19. März 1981.