Frauen-Kultur-Archiv

Rheinischer Kulturjournalismus

Paula Becker-Modersohn

Eine große Künstlerin und ein vorbildlicher Mensch

Die Freunde von Paula Becker-Modersohn erinnern sich noch des Tages, an dem in der Böttcherstraße in Bremen das Paula-Becker-Modersohn-Haus eröffnet wurde, welches das Lebenswerk dieser Künstlerin aus allen Schaffensperioden zeigte. Es war ein großes Fest mit klugen Reden, mit gutem Essen und perlendem Sekt und mit all dem äußeren Glanz, der von schönen geputzten Damen und von schwarzbefrackten Herren auszugehen pflegt, die sich hier versammelt hatten, um einer genialen Frau nach dem Tode die Ehre zu erweisen, die ihr im Leben versagt blieb. Es wollte der festliche Tumult so gar nicht zu den stillen Bildern passen. Die Freunde von Paula Becker-Modersohn saßen abseits, beunruhigt und verwirrt da, bis plötzlich einer unter ihnen laut sagte: „Das ist die Welt!“ Diesen Ausspruch hatte die hier gefeierte Künstlerin getan, wenn sie mit der lauten Welt nicht fertig wurde und diese ihr unverständlich blieb. Dann konnte sie auf eine so nachsichtige und liebevolle Art sagen: „Das ist die Welt!“ Und selbst diese Welt, die sich ihr verschloß, hörte sie nicht auf zu lieben. Sie blieb eine ehrfürchtige Tochter, die in ihren Briefen immer wieder die Eltern bat, Geduld mit ihr zu haben, die darunter litt, daß sie ihre Lieben durch ihre Bilder nicht erfreuen konnte, sondern sie erschrecken mußte. Sie war traurig darüber, doch vermochte niemand und nichts diese Frau von ihrem Weg abzubringen. Sie ging ihn still, anspruchslos und zielsicher. Sie selbst schrieb in ihr Tagebuch: „Man tut eben, was man kann und legt sich dann schlafen. Und auf diese Weise geschieht es, daß man eines Tages etwas geleistet hat.“

Zu der Ablehnung ihrer Kunst von seiten ihrer Angehörigen, welche die sorgende Liebe aber nicht minderte, kam noch die vollkommene Ablehnung der Öffentlichkeit. Bei ihrer ersten Ausstellung in der Bremer Kunsthalle im Jahre 1899 verzeichnete sie in ihrem Tagebuch, daß die Presse „alles in Grund und Boden donnert“. Sie schrieb weiterhin, daß sie davon derart mitgenommen war, daß sie in der Nacht von einem Alptraum befallen wurde: „Das war ein fürchterlicher Kater, der seinen langen Schwanz um meinen Hals gewickelt hatte und meine Seele schier erdrosselte.“

Was war der Grund, daß ihre stille Kunst die Seele der andern in Aufruhr brachte und sie so erschreckte? Verstehen kann man diese Schockwirkung nur, wenn man bedenkt, wie es zu dieser Zeit im Kunstleben aussah. Das Bürgertum, aus dem sie entwuchs, fühlte sich noch in einer gesellschaftlichen Ordnung geborgen. Es wollte keine Beunruhigung der Seele. Die Porträtkunst suchte den äußeren Menschen mit aller Delikatesse ästhetisch im Bilde einzufangen. Selbst der von Paula Becker-Modersohn geschätzte Worpsweder Maler Mackensen machte, ihrer Ansicht nach, aus den Heidebauern und den Tagelöhnerkindern Genrebilder. Gerade das wollte sie nicht: Sie suchte die große Einfachheit der Form. Darum liebte sie die Kunst Millets. Hier sah sie verwirklicht, was sie auf eigene Weise darzustellen versuchte. Sie suchte nach „großer biblischer Einfachheit“. Das war es, was sie in Gegensatz setzte zur herkömmlichen Kunst jener Tage, die gefällig, lieblich und ansprechbar sein sollte. „Anton von Werners Glanzlichter auf den Stiefeln liegen uns alle im Blut“, meinte sie selbst. Und da sie den Glanzlichtern entsagte, wurden die Angehörigen unsicher und begannen an ihrem Talent zu zweifeln. Als Sicherheit für die Zukunft verlangte darum der Vater von ihr das Lehrerinnenexamen. Sie tat ihm den Gefallen; übte aber nach dem Examen den Lehrerinnenberuf nicht aus. Ihr Vater, der in großer sorgender Liebe an der Tochter hing, gab schließlich ihren verzweifelten Bitten nach und ermöglichte ihr noch eine künstlerische Ausbildung in Berlin und später in Paris. Wie freute sie sich über die „kindliche Empfänglichkeit der Franzosen, die sich auch in der Kunst zeigt“. Sie erkannte Verwandtes beim Anblick großer Kunst im Louvre. Sie fühlte den Mut wachsen und freute sich an der Anbetung der Natur in den Meisterwerken, aus denen ihr so etwas wie eine Bestätigung ihres künstlerischen Wollens erwachsen sollte. Sie suchte nun, wie sie sich ausdrückte, „das sanfte Vibrieren der Dinge auszudrücken“. Paris sollte immer wieder ihre Zufluchtsstätte werden, wenn sie Anregung suchte oder aber Ruhe zur Konzentration. Beides gab diese große Stadt: Anregung und die Möglichkeit, sich darin zu isolieren.

Das Wesen der Landschaft, das Charakteristische der Menschen wollte sie im Bilde ausdrücken. In welch großartiger Weise ihr das gelungen ist, das wissen wir heute. Sie selbst bekannte einmal: „Die Stärke, mit der ein Gegenstand erfaßt wird, das ist die Schönheit in der Kunst. Ist es auch nicht so in der Liebe?“ Und nun sollte sie die Liebe nicht halten können, weil die Kunst keinen neben sich dulden wollte.

Und doch wurde ihr die Einsamkeit nicht leicht. Sie hatte ein Verlangen nach Nähe und Wärme, und ihre Tagebuchnotizen zeigen, wie schmerzlich sie das kleinste Nichtverstehen empfand. Und es ist aus ihren Werken ebenso wie aus ihren Worten zu erkennen, daß die später bedrohte Ehe mit dem Maler Otto Modersohn in Worpswede – wohin sie gezogen war, um die Bauern zu malen – eine große Bereicherung ihres Lebens war. So schrieb sie von Paris an ihren Mann: „Als Mädchen war ich innerlich jubelnd und erwartungsvoll, nun als Frau bin ich auch voller Erwartungen, aber sie sind stiller und ernster. Ich glaube, es sind jetzt nur ihrer zwei ganz bestimmte: meine Kunst und meine Familie.“ Dennoch war sie auf Dauer untauglich für die Zweisamkeit einer Ehe, die sie nicht zur Konzentration kommen ließ, so daß sie Worpswede immer wieder verließ, um in Paris ganz ihrer Malerei zu leben. Otto Modersohn, selbst Künstler, hatte das Schicksalhafte in dieser Flucht seiner Frau begriffen, sonst wäre der feinfühlige Mann nicht nach Paris gefahren, um sie zu beschwören, nach Worpswede zurückzukehren, das zu ihr gehörte, das ihr die Modelle lieferte, die sie so liebte: die bäuerlichen Frauen und die Tagelöhnerkinder und die Landschaft. Sie gab nach, sie wollte die Liebe festhalten und sie ging mit nach Worpswede zurück, wo sie am 2. November 1907 einem gesunden Mädchen das Leben gab. Niemand von ihrer Umgebung ahnte, daß sie wenige Tage später, am 21. November, sterben mußte. Eben hatte sie noch glücklich ausgerufen: „Ach, wie freue ich mich! wie freue ich mich!“, da sank sie zusammen, und sterbend flüsterte sie noch „Wie schade.“

Die Welt nahm vom Tod dieser Frau wenig Notiz. Aber einer sang ihr das leidenschaftliche Requiem, Rainer Maria Rilke:

Denn das verstandest Du: die vollen Früchte,
die legtest Du auf Schalen vor Dich hin
und wogst mit Farben ihre Schwere auf,
Und so wie Früchte sahst Du auch die Fraun
und sahst die Kinder so, von innen her
geschrieben in die Formen ihres Daseins.
Und sahst dich selbst zuletzt als eine Frucht,
nahmst Dich heraus aus Deinen Kleidern, trugst
Dich vor den Spiegel, ließest Dich hinein
bis auf Dein Schauen; das blieb groß davor
und sagte nicht: das bin ich; nein: dies ist.
So ohne Neugier war zuletzt Dein Schauen
und so besitzlos, von so wahrer Armut,
daß es Dich selbst nicht mehr begehrte: heilig.

In: Die Frau im Mittag, Nr. 16, 20. Januar 1954