„Zauber des Rheins“, zu sehen in Bonn und Koblenz
Wenn Ernst Moritz Arndt einst in napoleonischer Zeit den Rhein als „Deutschlands Fluß, nicht Deutschlands Grenze“ proklamierte, so kann das im Europajahr 1992 eine ganz neue Dimension einschließen. Dieser ins Übernationale verweisende Aspekt findet seine zunächst überraschende Bestätigung in einer nicht absichtslos gerade jetzt in zwei Museen der Region, dem Mittelrhein-Museum Koblenz und dem Rheinischen Landesmuseum Bonn, arrangierten Ausstellung.
Ihr Titel „Vom Zauber des Rheins ergriffen … Zur Entdeckung der Rheinlandschaft vom 17. bis 19. Jahrhundert“ entspricht ganz der Faszination, in die sie den Betrachter und auch den Leser der Katalogtexte verstrickt: sei es in Koblenz, wo niederländische Malerei, Zeichnungen, Graphik des 17./18. Jahrhunderts den Reigen des Rhein-Zaubers eröffnen, oder in Bonn, wo Klaus Honnef in sichtlicher Sammelfreude ein pittoreskes Ensemble von Gemälden, Aquarellen, Zeichnungen, Aquatinta-Arbeiten, Stichen, alten Photographien sowie Karikaturen vornehmlich britischer Künstler des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts zusammenstellte.
Aber auch Reisekoffer und –kamera, Reiseapotheke und –farbkasten, eine Lampe zur Beleuchtung der Kutsche, ein Modell der belgischen Postkutsche von 1830 oder des Dampfschiffs „Friede“ von 1886 fehlen als greifbare Zeitzeugen nicht. Gleich eingangs wird der Besucher mit der vergrößerten Zeichnung des „karierten“ reisenden Engländers „Mister Pief“ mit Fernglas von Wilhelm Busch (1882) konfrontiert und mit Richard Doyles ironisierender Rheinzeichnung „The Scenery becomes mysterious“ (Die Szenerie wird mysteriös). Romantik ist angezeigt.
Die Entdeckung der Rheinlandschaft für die Kunst ging keineswegs von den Deutschen, sondern von den Niederländern Ende des 16., Anfang des 17. Jahrhunderts aus. Auf den Bildungsreisen nach Italien wurde man auf die Schönheit und Phantastik des Rheins zwischen Köln und Bingen aufmerksam. Von Anfang an ging dieses Imaginäre, Märchenhafte und Sagenumwobene, das Stimmungsbetonte in Bilder mit Rheinmotiven ein, etwa von Roelant Savery, dem einstigen Hofmaler Rudolfs II. in Prag, der von 1617 an in Amsterdam und Utrecht wirkte, und dem von ihm beeinflußten Herman Saftleven.
Selbst der andere Zweig niederländischer Landschaftskunst, die durch den Aufstieg Hollands zur Welt- und Handelsmacht hoch favorisierte und in berühmten Sammelwerken verlegte realistische Vedute, blieb vom Zauber des Rheins nicht unberührt. In Koblenz kann man sich in die atmosphärischen, ins traumhaft Zeitferne entrückten Blauräume der dennoch glasklaren und präzise dokumentierenden aquarellierten Federzeichnungen von Wenzel Hollar entführen lassen: von Boppard etwa, Ehrenbreitstein, dem Mäuseturm bei Bingen.
Der Prager Künstler begleitete damals, 1636, den englischen Gesandten Arundel von Köln aus als Zeichner auf seiner Reise nach Wien. Selbst Böllerschüsse vom Festungsturm Engers zur Begrüßung des Schiffs-Konvois scheinen in verklärter Stille am menschenleeren Rheinufer zu verpuffen.
Noch sanfter schmiegen sich Berge und Burgen in den braun-, grau- und blautonig lavierten Federzeichnungen von Lambert Droomer (1662) mit ihren rhythmisierten Schattenpartien in den Lichtraum seiner schon nicht mehr topographisch genauen kleinen Ideallandschaften mit reglosen Staffagefigürchen.
Dem bürgerlichen Kunstgeschmack des 17. Jahrhunderts in den Niederlanden kamen dann besonders Herman Saftlevens phantastische, seit 1640/50 entstandene Ideal-Landschaften entgegen.
Wie außerordentlich beliebt und populär der auch von dem Barockdichter Joost van den Vondel besungene Rhein als Kunstmotiv schon damals war, beweisen in Koblenz zwei sehr kleine Rheinlandschaften von Saftleven. Sie hingen in der „Kunstkammer“ eines holländischen Puppenhauses (um 1674/79), das sich heute im Centraal Museum Utrecht befindet.
Daß selbst die Wirklichkeit phantastische Züge annehmen kann, verrät ein Kupferstich von Hendrik de Leth aus dem topographischen Werk „Gezichten längs den Rhijn … von F.W. Grebe, Amsterdam, 1767“. Wie ein riesiger Lindwurm schlängelt sich auf dem Blatt ein Floß durch den Fluß. In einem Rheinreisebericht von 1789 wird es als „schwimmende Holz Insel“ von 1000 Fuß Länge, 90 Fuß Breite, mit zehn bis 13 geräumigen Hütten darauf beschrieben, die von 400 bis 500 Ruderknechten und Arbeitern bewohnt wurden.
Wie extrem ist aber der Gegensatz zwischen den sublimen Zeichnungen von Vincent Laurensz van der Vinne und seinem haarsträubenden Bericht über die Beschwerlichkeit und Gefährlichkeit der auch ständig von Raubrittern und plündernden Soldaten bedrohten Rheinreise in damaliger Zeit! Das wurde im 19. Jahrhundert anders durch die Entwicklung der Dampfschiffahrt, später der Eisenbahn. Als 1816 der erste Dampfer „Prinz von Oranien“ von London nach Köln fuhr, dauerte die Reise von Rotterdam nach Köln nur noch knapp vier Tage. Und als 1827 die Preußisch-Rheinische Dampfschiffahrts-Gesellschaft den ersten regelmäßigen Personenverkehr zwischen Köln und Mainz startete, wurden schon im ersten Jahr über 18 000 Passagiere befördert. Ihre Zahl hatte sich zwei Jahre später verdoppelt. Fast die Hälfte davon – 16 000 Touristen – kam aus England. Die Reiselust der Bürger drängte die einstige Grand Tour der Gebildeten in den Hintergrund. Der Massentourismus hatte begonnen.
Schauer, Schönheit, Erhabenheit von Natur, Historie, Sage, Traum, fast mystischer Übersteigerung. Ruinenromantik werden von den nach dem Ende der napoleonischen Kriege den Rhein bereisenden englischen Künstlern in wahren Bildwundern reflektiert: als Meister über allen William Turner.
In: Rheinische Post. Feuilleton, 19. September 1992