Zu den Ausstellungen Henry van de Velde in Hagen und „1910 – Halbzeit der Moderne“ in Münster
Es gibt Ausstellungen, die Einsichten in Zeitläufe vermitteln, Vergangenheit aufwirbeln, Zusammenhänge aufdecken. Das ist besonders eindringlich der Fall in der Schau „Henry van de Velde – Ein europäischer Künstler in seiner Zeit“ im Karl-Ernst-Osthaus-Museum Hagen.
Mit der seit Jahren von Klaus-Jürgen Sembach und Birgit Schulte vorbereiteten Ausstellung wurde das Osthaus-Museum nach längerer Pause wiedereröffnet: nun mit seiner, soweit es möglich war, rekonstruierten, 1902 von Henry van de Velde geschaffenen Jugendstil-Innenausstattung. Vieles davon war zerstört worden, als nach Osthaus’ Tod (1921) dieses von ihm gestiftete private Hagener Museum Folkwang, das damals weltweit erste Museum für zeitgenössische Kunst, mit seiner berühmten Sammlung von den Erben 1922 nach Essen verkauft wurde. Das Hagener Gebäude war danach zu einem Bürohaus für das Kommunale Elektrizitätswerk umgebaut worden, bis man es von 1930 an wieder museal nutzte.
Im Anschluß an Hagen, wo auch der von van de Velde zwischen 1906 und 1908 gebaute und eingerichtete „Hohenhof“, das Wohnhaus Karl Ernst Osthaus’, besichtigt werden kann, wandert die bedeutende Ausstellung in weitere mit dem Wirken van de Veldes verbundene Städte: nach Weimar, Berlin, Gent, Zürich und Nürnberg. In Hagen wird das immense vielgleisige Lebenswerk des Malers, Zeichners, Typographen, Architekten und Gestalters ganzer Inneneinrichtungen, des Entwerfers von Möbeln, Tafelsilber, Schmuck, Keramik, Porzellan und Textilien gezeigt – den frei über die europäischen Grenzen schwingenden Bögen und Stationen seines bewegten Lebenslaufs folgend.
Parallel präsentiert das Westfälische Landesmuseum Münster die Schau „1910 – Halbzeit der Moderne. Van de Velde, Behrens, Hoffmann und die anderen“, mit vielen Architekturzeichnungen, -photos und –modellen, einer Flut von Plakaten, Werbegraphik, Design und kunstgewerblichen Objekten.
Die beiden Katalogbücher tragen dazu bei, die Faszination und die Einsicht in diese folgenreiche Übergangszeit zu vertiefen. Der Hagener Katalog erschien im Wienand-Verlag (466 Seiten, zahlreiche, meist farbige Abbildungen, Preis im Buchhandel gebunden 98 Mark), die Münsteraner Publikation (240 Seiten, über 300 teilweise farbige Abbildungen, 38 Mark) bei Hatje.
Frisiersalon und Textilmuster
Die etwa 1000 Werke aus allen Schaffensbereichen des 1863 in Antwerpen als zweitjüngstes von acht Kindern eines Apothekers und Chemikers geborenen, 1957 in Zürich gestorbenen belgischen Künstlers Henry van de Velde sind in Hagen, ganz im Sinn auch von Osthaus, locker zueinander geordnet. Das aufregendste ist die Vitalität, die leidenschaftliche Expressivität, ja Dämonie, die unglaubliche Schönheit und Reinheit der Linie, die in van de Veldes Schöpfungen immer wieder begeisteren, sei es in einem Eßzimmerstuhl aus Haus Bloemenwerf (1895/96), seinem ersten selbstentworfenen eigenen Wohnhaus in Uccle bei Brüssel, in dem fast magischen, von inneren Energien getriebenen Schwung eines silbernen Kandelabers von 1898/99 aus dem Bröhan-Museum Berlin oder in der Ornamentik seines berühmten „Tropon“-Plakats aus „Pan“ von 1891.
Schon in seinen frühen, in Antwerpen, Paris und Brüssel zwischen 1880 und 1893 entstandenen, von Seurat, Gauguin und van Gogh beeinflußten Bildern und Zeichnungen wird die Bedeutung der Linie offenbar. Van de Veldes Leidenschaft für die Linie wirkt fort, als er 1893, nach dem symbolistischen Bild „Engelwache“, die Malerei aufgibt und sich, tief beeindruckt durch die Schriften von John Ruskin und William Morris und ihre Arts- and Crafts-Bewegung, ganz der angewandten Kunst und der Architektur zuwendet, um stärker und direkter durch Kunst in die Gesellschaft zu wirken.
In Weimar gründete und errichtete van de Velde 1907 das Institut für Kunstgewerbe und Kunstindustrie als Vorläufer des Weimarer Bauhauses und baute das jüngst restaurierte Nietzsche-Archiv. Man sieht aus diesen Jahren zum Beispiel ein Kompartiment aus dem luxuriösen Frisiersalon Hardy in Berlin (1901), Textilmuster-Entwürfe für Krefeld, die Weimarer Wohnungseinrichtung Graf Kesslers (1902), Photographien seiner Weimarer Bauten, auch die in ihrer Sparsamkeit bezaubernden, nicht ausgeführten Entwürfe für den Umbau des Weimarer Museums. Dazu hinreißend profilierte Silberschalen, -tabletts, -terrinen, weich fließende Reformkleider.
In der Weimarer Zeit (1902 – 1917) entstanden auch seine ersten Theaterentwürfe (1903) für die Schauspielerin Louise Dumont, die, bevor sie nach Düsseldorf ging, in Weimar ein „Mustertheater“, ein Festspielhaus wie in Bayreuth, errichten wollte. Sie fielen, wie auch seine Pläne für das Pariser Théâtre des Champs Elysées (1911), Intrigen zum Opfer. Allein sein in der horizontalen Gliederung fein rhythmisierter Theaterbau der Werkbundausstellung von 1914 in Köln wurde realisiert.
In zweckmäßiger Strenge
Auch die Jahre nach van de Veldes kriegsbedingter Emigration in die Schweiz (1917) sind vor allem durch architektonische Projekte ausgefüllt. Zunächst seine Planungen für das Museum Kröller-Müller in Holland, das infolge der Inflation erst 1936 in sehr reduzierter Form gebaut werden konnte. In der Zeit seiner Berufung als Professor für Architektur nach Gent und Leiter der Hochschule für Angewandte Kunst in Brüssel (1925/26) fallen unter anderem der Bau der Universitätsbibliothek Gent sowie die belgischen Pavillons auf der Weltausstellung in Paris (1937) und New York (1939), die nun allerdings in zweckmäßiger Strenge der Zeit ihren Tribut zollen.
Sein letztes Lebensjahrzehnt hat van de Velde, längst weltberühmt und bis zuletzt an seinen Memoiren schreibend, „in einer weniger verpesteten Atmosphäre“ auf dem Land in der Schweiz verbracht.
In: Rheinische Post. Feuilleton, 24. September 1992