Jannis-Kounellis-Ausstellungen in Amsterdam und Den Haag
„Via del Mare“, der Weg des Meeres – man stelle sich den einmal vor: Schon wird man getragen von unendlicher Bewegung. Jannis Kounellis, der 1936 in Piräus geborene, seit 1956 in Rom lebende Grieche, hat seine jetzige große Ausstellung in acht Räumen des Amsterdamer Stedelijk Museums „Via del Mare“ genannt. Man geht durch das Szenarium der Schau wie durch eine seelische Folterkammer. Die Sprache der Dinge und Objekte selbst, der Materialien in ihrem Verweis-Charakter, ihren Reihungen und Schichtungen, ihrem Zwiegespräch mit dem Raum ist überwältigend.
Eingerollt in Stahl: gezeichnete Menschenköpfe, Totenköpfe; 16 an einer langen Wand aufgereihte große Stahlplatten, darauf gepreßt, zwischen vertikale Eisenschienen und Steine, mit Eisen gefüllte Jutesäcke (1988). Um einen Pfeiler kreist auf einer Eisenspirale eine Eisenbahn. Das Fenster dahinter ist zum Teil mit Stahlplatten verschlossen. Einritzungen in der Wand sind mit Teer gefüllt. „Hommage an Piranesi“ nennt Kounellis diese Rauminstallation, die er 1977 für das Studio Tucci Russo in Turin machte. Natürlich fehlt auch die berühmte „Carboniera“ nicht, der mit Steinkohlen gefüllte Stahlträger für die Galleria L’Attico in Rom (1971). Für das Museum Zeitgenössischer Kunst in Bordeaux entstanden 1990 mächtige mit Kohle gefüllte Stahl-Container.
Arte povera, Kunst mit „armen“ Materialien, die doch hier mit Weltgeschichte, historischen, kulturellen, sozialen und autobiographischen Erinnerungen und der Ausdruckskraft ihrer Materialität aufgeladen sind – Kounellis ist einer ihrer hervorragendsten Repräsentanten. Burri, Fontana, Manzoni, die ihm nahestanden, hat er längst überflügelt.
Über einer Bodeninstallation von 1988 mit rund 12 000 aufgereihten Likörgläsern liegen organische Bleiformen, die Wachsen, Werden, Vergehen, Transformation signalisieren; mit den Gläsern spielt das Licht. Für das Museum von Capodimonte in Neapel fertigte Kounellis 1990 die großartige Installation mit über 50 alten Terrakotta-Krügen, großen und kleineren, einst Vorratsgefäße für Wein oder Öl. Mit Seewasser und Blut gefüllt, als lebensvolle, erdgebundene Formen stehen sie auf dem Boden, kontrastierend zu an den Wänden darüber an Eisenplatten hängenden, mit Kohle gefüllten Jutesäcken.
Wie Kounellis einst in seiner berühmten römischen Installation von 1969 lebendige Pferde in den Ausstellungsraum brachte, so begegnet man jetzt seinem lebenden bunten Papagei auf eiserner Stange oder seinem Ei auf Stahlplatte im stählernen Raum. Auf einer riesigen, über Eck gestellten Metallwand scheinen kleine Knospen aus Gips zu sprießen. Auf dem Fragment eines romanischen Holzkreuzes stehen goldverbrämte Kinderschühchen.
Ein Kreuz aus Eisenträgern ist mit einem Mantel bekleidet. Ein Kleiderständer steht vor einer mit Blattgold belegten Wand. Aus einem Objekt aus vier Stahlplatten quillt flockige weiße Wolle hervor. „Die Werke, in denen ich Wolle benutze, sind ein Echo des verlorenen Arkadiens außerhalb der Zeit“, schrieb Kounellis.
Parallel zu dieser Retrospektive in Amsterdam zeigt das Gemeentemuseum in Den Haag eine von Rudi Fuchs eingerichtete weitläufige Ausstellung mit Zeichnungen von Jannis Kounellis aus den Jahren 1970 – 1990 unter dem Titel „La stanza vede“ (Der Raum sieht). Als erste ihrer Art überhaupt erschließt sie ein bisher noch weitgehend unentdecktes Gebiet seines Schaffens.
Die Zeichnungen sind eine Offenbarung, denn in ihnen zeigt sich der unbändige Drang des Künstlers in die Freiheit des Raums. Variationen über Vögel und Flug etwa, in farbigen Fasern auslaufend in Kreide- oder Federzeichnung. Von einem dunklen Zentrum ausgehende blaue Strahlen ins Unendliche. Ein Raum mit schwarzer Tür und schwarzen Fenstern „sieht“, blickt uns an in Gesichtern auf den Wänden. In einem anderen, dunklen, fensterlosen qualmen Schlote. Ein melancholisches weibliches Gesicht mit einer Binde vor den Augen und wie im Flug verwehendem Hut schwebt im Freiraum. Rauch wandelt sich in schwarzes Haar eines weiblichen Aktes, der aus einem Schornstein herausgeschleudert wird. Farbfeuer glimmt in der Erde. Feuer, Rauch in Innenräumen, eine Industrielandschaft mit dampfender Lokomotive, eine archaische Architektur. Menschen tragen einander auf dem Rücken vor einer modernen Hausfassade.
In: Rheinische Post. Feuilleton, 2. Januar 1991