Frauen-Kultur-Archiv

Rheinischer Kulturjournalismus

Yvonne Friedrichs Kunstkritik: 1975-1978

Hrdlicka und das Dämonische  (1975)

„Ich habe keine Visionen, ich lese Zeitung“, soll Alfred Hrdlicka einmal gesagt haben. Er bezieht Stellung zu dem, was um ihn herum passiert. Im Gegensatz zu manchen Zeitungslesern, die nach der Lektüre auch katastrophaler Nachrichten zur Tagesordnung übergehen, fühlt sich Hrdlicka im Innersten aufgewühlt.

In geradezu selbstquälerischer Leidenschaft nehmen die dunkelsten Triebe des Menschen in seinen Arbeiten Gestalt an, verdichten sich in spannungsgeladenen Menschengruppen, in erregten Schraffuren, flackerndem Helldunkel der Radierungen, in übersteigertem, brutalem Realismus der Plastiken Angst, Bedrohung, Grausamkeit, psychische Abnormität, sexueller Exzeß. Der Mensch wird einseitig als Ungeheuer gesehen, als Vollzugsorgan oder Opfer verbrecherischer Mächte und chaotischer Leidenschaften.

Nachdem 1971 der Graphiksalon Söhn eine große Auswahl der bis dahin erschienenen Graphiken Hrdlickas gezeigt hatte, sind jetzt in der Junior Galerie (Orangeriestr. 6) einige der neuesten Radierfolgen und Zeichnungen neben mehreren Bronzen ausgestellt.

Im Mittelpunkt steht der komplette Zyklus „The rake’s progress“ (Das Leben eines Wüstlings), der an das berühmte sittengeschichtliche Werk von Hogarth aus dem 18. Jh. anknüpft, und die 1973/74 entstandenen 52 Radierungen „Wie ein Totentanz“, ein Kommentar zum 20. Juli 1944.

Hrdlicka (geb. 1928 in Wien), der Schüler von Gütersloh, Dobrowsky und des Bildhauers Wotruba, der als Radierer an die Technik Rembrandts anknüpft, erweist sich hier aufs neue als ein Nachfahre Goyas in der schonungslosen Entlarvung des Diabolischen. Um das so konzentriert zu offenbaren – meisterlich im Technisch-Formalen -, bedarf es wohl einer so temperament- und wesensbedingten Einseitigkeit der Weltsicht.

In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 11. März 1975.

 

 

Vom optischen Chaos zum Organismus (1975)
Photoskulpturen und Zeichnungen von Klaus Kammerichs im Kunstverein

Wenn sich im 19. Jahrhundert renommierte Maler – wie Lenbach etwa, oder Zille – der Photographie als Vorlage und Hilfsmittel für ihre Bilder und Zeichnungen bedienten, so taten sie dies verschämt und hinter verschlossener Tür. Im Mittelalter, ja noch bis in die Barockzeit hinein, war es durchaus nicht ehrenrührig, sondern gang und gäbe, daß auch die berühmtesten Künstler Motive aus den in allen Werkstätten aufliegenden Kupferstichen, Modellzeichnungen oder Musterbüchern kopierten. Der Brauch, mit Mustern, Modellen und technischen Hilfskonstruktionen zu arbeiten, geht bis ins früheste Altertum zurück.

Die Photographie, die zunächst als gefährliche Konkurrenz der Malerei gefürchtet wurde und später die abstrahierenden und das äußere Bild der Wirklichkeit verfremdenden Kunstrichtungen mit auslöste, ist inzwischen durch Collage und Assemblage, durch Pop-, Land-Art und Photorealismus sogar nominell in das Kunstwerk integriert.

Der Düsseldorfer Künstler Klaus Kammerichs kann für sich in Anspruch nehmen, eine ganz spezielle Verwertung und Manipulation des Photos erfunden zu haben. Als seine ersten „Photoskulpturen“ 1971 in einer Ausstellung der Galerie Niepel auftauchten, war das eine kleine Sensation. Man bestaunte ihre eigenwillige Technik – eine wahre Sisyphos-Arbeit. Wichtig sind die Arbeiten Kammerichs’ aber auch historisch als vermittelndes Bindeglied zwischen informeller Struktur und realistischer Figuration, denn beide Elemente sind in reinster Form gleichzeitig in jeder seiner Skulpturen enthalten.

Dies beruht auf einem seltsamen, verblüffenden Effekt, den der Betrachter selbst steuern kann: geht er dicht an die Reliefs und Plastiken heran, zerfallen sie in zerklüftete Strukturlandschaften mit spitzigen Klippen und dunklen Schluchten, in denen das Auge umherirrt und vergeblich Sinn und Halt sucht. Bei zunehmender Entfernung verdichtet sich das optische Chaos zum geschlossenen Organismus und schließlich zum problemlosen Abbild profaner Wirklichkeit.

Die Distanz schafft Klarheit. Punktuellen Strukturen eines numinosen plastischen Rasters fügen sich in einer „Briefmarkenserie“ zusammen zum Porträt von John Kennedy oder Friedrich dem Großen, Heinemann oder Hitler, Ulbricht, Franco, Elisabeth II. von England, auch zum Selbstbildnis oder zu einem Tigerkopf. Banale Gegenstände des täglichen Lebens – Wasserhahn, Telefon, Taschenlampen – werden zum „Aha-Erlebnis“. Am erstaunlichsten sind ganze Reliefwände in Abmessungen von 2×5 Metern mit kompletten Rugby- und Eishockey-Mannschaften oder einer Radrennfahrergruppe der „Tour de France“. In ihnen wird die ganze Dynamik, die sich in Kammerichs’ Technik verbirgt, herausgeholt.

Ihr Geheimnis liegt in einer räumlich-plastischen Abstufung der Grau- und Helldunkelwerte einer zugrundeliegenden Photographie, wobei die hellsten Töne als plastischste Erhöhungen in den Vordergrund rücken, die dunkleren sich in die Tiefe stufen. Kammerichs setzt also nicht die Photographie unmittelbar in Skulpturen um, sondern die Reliefschichtung ergibt sich aus den Tonwerten. Alle Arbeiten sind mit Draht in mühsamster Präzisions- und Geduldarbeit aus Hartschaumplatten ausgesägt und in Graunuancen, seltener farbig, bemalt.

In den jüngsten Arbeiten ist der optische Verwandlungsprozeß noch komplizierter geworden. Kammerichs nimmt Abstand vom banalen Wirklichkeitsabklatsch als Endresultat einer kinetischen Sehschule. Die Silhouette von Realitätsausschnitten, die er von zwei Standpunkten aufgenommen hat, überschneidet und durchdringt sich in der Plastik. So entstehen würfelartige komplexe Skulpturen: ein „Silberwald“, eine „Hobelbank“, ein „Frühstück im Freien“, in denen sich für diese verblüffende Technik neue Perspektiven eröffnen.

Klaus Kammerichs, 1933 in Iserlohn geboren, ist gelernter Photograph, war als Bildjournalist tätig, bevor er an der Düsseldorfer Werkkunstschule und Kunstakademie studierte. Der spätere Werbeleiter erhielt 1962 einen Lehrauftrag für Photographie an der heutigen Düsseldorfer Fachhochschule, an der er seit 1973 Professor im Fachbereich Design ist.

In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 12. März 1975.

 

 

Ein Zwiegespräch auf zwei Ebenen  (1978)
Rolf-Gunter Dienst stellt in Schloß Morsbroich aus

In der Stille des von Schneegestöber-Vorhängen umwehten Schloß Morsbroich scheinen die Bilder und Zeichnungen von Rolf-Gunter Dienst gut aufgehoben. Der in Baden-Baden lebende Maler, Zeichner, Kunstkritiker, Schriftsteller, Redakteur zeigt dort im Städtischen Museum Leverkusen eine Ausstellung mit über 90 Bildern und Zeichnungen aus den letzten vier Jahren. Die tanzenden Flocken draußen im Park, hinter denen sich Gezweig und Farben alter Bäume und der Rasenflächen verwischten, hatten so manchen Bezug zu Diensts Arbeiten: Ihrer Verführung zur Meditation kann man nicht widerstehen.

Auch in den Bildern werden Gewebe gewirkt, die den vollen Blick auf das Dahinterliegende nicht zulassen – eine zarte Barriere, die Behutsamkeit empfiehlt und alles Deutliche verwischt. Doch durch die leicht verzogenen, „handgestrickten“ Maschen erhascht man einen Blick von Welt, der gefiltert ist und der sich bricht in der Irritation beweglicher Strukturen. Ein Zwiegespräch auf zwei Ebenen setzt ein.

Rolf-Gunter Diensts skripturale Pinselstrukturen gehorchen dem Zufall der Eingebung und neigen doch zugleich dem Gesetz der Serie zu. Sie sind als Elemente individuell verschieden, aber zugleich anonym. Sie ordnen sich zu Zeilen gleich handgeschriebenen Buchstaben, doch man kann sie nicht entziffern oder lesen. Sie ergeben keinen literarischen Sinn. Es sei denn, daß die Titel der Bilder oder Zeichnungen Gedachtes anzeigen, etwa in den Serien „Epitaph für Ad Reinhardt“ mit 72 Acrylbildern, oder „Wenn Claude Monet statt Alice Hoschedé Gertrude Stein geheiratet hätte, oder eine Seerose ist eine Seerose ist eine Seerose“, die zwölf Bilder umfaßt. Diese aufgereihten Phantasiebuchstaben-Elemente lehnen sich offenbar ein wenig an chinesische Schriftzeichen an. Und schon das weist in die Richtung, wie sie wohl „gelesen“ werden sollen.

Der Schreiber Rolf-Gunter Dienst vollzieht in ihnen die Synthese mit dem Maler. Seine geschriebenen Bilder sind nur sehend, tastend, empfindend zu begreifen. Oder sind sie überhaupt nur Medien, die Zonen verfeinerten Sinnenerlebnisses vor uns öffnen, die in der Selbsterkundung zarteste Erlebnisschwingungen ins ästhetisch Wahrnehmbare transponieren, gemischt aus Graphismen und höchst empfindlichen lyrischen Farbvibrationen?

Die „Schrift“ als solche scheint nur wichtig in bezug auf die Farben. In ihnen erhascht der Maler seltene, verwunschene Stimmungen, geheimnisvoll Schönes; er visualisiert Reize sehr subtiler Art. Bezauberndes gelingt ihm auf der Skala der Gelbtöne in der oben genannten Reihe „Wenn Claude Monet …“ Blaßgelbes, grünlich Gelbes bis Orange der skripturalen Maschen läßt Tupfen variablen Violetts, von Lavendelblau, Karminrot oder verlöschendem Pinkrosa durchschimmern – seerosenhaft, oder wie immer man es deuten will.

Die dunklen kleinformatigen „Epitaphe für Ad Reinhardt“ versinken in Schwarz-Blau, Braun, zwischen denen manchmal auch Hellrot durchblitzt oder ein fremd und wunderbar aufscheinendes Yves-Klein-Blau. Das erinnert an gewirkte Teppiche, hat manchmal einen seidigen Glanz, scheint sich zu verändern, wenn man daran vorbeigeht. Gliedernde lineare Elemente zwischen den malend geschriebenen Zeilen erinnern zuweilen an eine Treppe, an ein Kreuz.

Der autobiographische Zug in diesen Bildern – als Auffangen und Reflektieren von Stimmungen gemeint – wird auch in den Bleistift- und Federzeichnungen deutlich. Auch sie entstanden zyklisch unter dem Motto „Aus einem Tagebuch – immer an einem anderen Ort“. Was in den Bildern in Zeilen geordnet ist, bewegt sich hier frei in Verdichtungen und Lockerungen über die ganze Fläche – zellenhaft, oder auch wie verwehte kleine Blätter, die ständig sich Veränderndes suggerieren. Mark Tobey gehört hier wohl sicher zu den Anregern.

Rolf-Gunter Dienst, der gebürtige Kieler (1942), lebte mehrere Jahre in den Vereinigten Staaten, wo er auch verschiedene Gastdozenturen hatte, ebenso wie in Australien und Kanada und an den Kunsthochschulen in Braunschweig und Frankfurt/Main. Der Autor mehrerer Künstlermonographien und Kunstbücher hat in seinen Bildern das niedergeschrieben, was man in Texten nur zwischen den Zeilen lesen kann.

In: Rheinische Post. Feuilleton, 16. Februar 1978.

 

 

Wenn nicht Wort, dann Form  (1978)
Barlach-Ausstellung bei Ludorff

Im 40. Todesjahr von Ernst Barlach (1870 bis 1938) zeigt die Galerie Ludorff (Königsallee 22) eine umfangreiche Ausstellung mit 120 Arbeiten des Künstlers – Plastiken, Zeichnungen und Druckgraphik. Daß hier allein zehn seiner berühmtesten Bronzen neben einer Porzellanplastik (Russische Bettlerin mit Schale, 1906) versammelt sind, ist eine Seltenheit. Sie kommen alle aus einer norddeutschen, jetzt aufgelösten Privatsammlung.

Im Zentrum der „Singende Mann“ von 1928, der dem ganzen Raum seine Gelöstheit und Freiheit mitteilt. Schon 1912 machte Barlach die erste Entwurfszeichnung für die Plastik. Hier besonders wird deutlich, was der Künstler in einem Brief äußerte: „Es ist mein Glaube, daß dasjenige, was nicht durch das Wort auszudrücken ist, durch die Form in den Besitz eines anderen übergehen kann.“

Barlach hat Bronzen in größerer Zahl erst nach dem mit dem Galeristen Flechtheim geschlossenen Vertrag seit 1930 gießen lassen. Bei Ludorff finden wir unter anderem die expressive kleine „Kußgruppe III“ von 1921: die in ihrer schlichten Hingabe an den Augenblick der Begegnung so ergreifende Gruppe „Christus und Thomas“ (1926); den strengen, stelenhaften „Singenden Klosterschüler“ (1931) oder den vom Hauch des Geistigen angerührten „Buchleser“ (Lesender Mann im Wind) von 1936.

Die Ausdruckskraft der Linie, ihr rhythmisches Umgreifen figürlicher Volumen erlebt man besonders in einigen signierten frühen Kohlezeichnungen von 1912, den „Vier Knienden“, der „Strickenden Bäuerin“ und dem „Schlafenden Paar mit Hund“, expressiv noch gesteigert in dem „Liegenden Hirten unter einem Tuch“ von 1918.

Einer der Schwerpunkte des umfangreichen Graphikangebotes sind unter den 70 signierten Blättern die vollständige Serie der sieben Holzschnitte „Die Wandlungen Gottes“, die in einer Auflage von 100 auf der Berliner Pan-Presse gedruckten Exemplaren 1922 bei Cassirer erschienen. Die Zeichnungen dazu entstanden zwischen 1913 und 1920. Komplett wird auch die Folge von 35 Lithographien Barlachs zu ausgewählten Gedichten Goethes angeboten. Der Lithographienzyklus, an dem neben Barlach (der 31 Steinzeichnungen lieferte) auch Liebermann, Hans Meid und Karl Walser mitarbeiteten, erschien 1924 in 100 numerierten Exemplaren ebenfalls bei Cassirer. Die Beiträge von Slevogt und Kokoschka wurden nicht mehr veröffentlicht, Cassirer war inzwischen gestorben.

Unter den signierten Einzelblättern, beginnend mit der herben „Stehenden Frau auf halber Kellertreppe“ von 1912, sind es vor allem auch einige Lithographien zum „Armen Vetter“ (1919), die durch ihre beschwörende Unmittelbarkeit und spannungsvolle Verdichtung von Empfindungen faszinieren.

In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 22. Februar 1978.