Die Vermittlerin. Zum Tod von Prof. Anna Klapheck
Vor sechs Tagen erschien ihr letzter Artikel in der Rheinischen Post. Ihre Besprechung der Erinnerungen eines Sohnes an seinen berühmte Vater, von Jimmy an Max Ernst, hatte uns Jüngere beeindruckt wie immer, beinahe eingeschüchtert. Also auch den hat sie persönlich gekannt. Welch reiches, erfülltes Leben war ihr zuhanden, über dessen Bausteine sie unverändert souverän verfügte. Und indem sie Vergangenheit mühelos in die Gegenwart hob, machte sie uns Leser auch zu Teilhabern ihrer zur Erkenntnis vertieften Erlebnisse. Wem, außer ihr, was das möglich?
Kurz vorher hatte sie, auf ihre unnachahmliche Weise, auf den Tod von Joseph Beuys reagiert. Das Tagesgeschäft, die von ihm erzwungene schnelle Fertigkeit des Worts, war ihre Sache längst nicht mehr. Sie nahm für sich das vom Termindiktat abgehobene Recht der gelassen in sich hineinhorchenden Überschau in Anspruch. Das erforderte von der Redaktion manchmal Geduld. Aber sie hat sich stets gelohnt. Wir haben Anna Klapheck bewundert, verehrt, auch geliebt.
Nun ist sie, die an Beuys’ Geburtstag (!) am 12. Mai 87 Jahre geworden wäre, plötzlich gestorben. Es war ein rascher, sich nicht ankündigender Tod. Bis fast zum letzten Augen-Blick bestimmte sie frei über sich selbst, war sie umgeben von ihren Bildern und Büchern. Das mindert die Erschütterung, die Trauer kaum, auch nicht das zunächst ungläubige Erschrecken. Schien der Triumph dieses Kopfes – mit den unvermindert wachen, neugiereigen Augen hinter dicken Gläsern – über den gebrechlich gewordenen Körper nicht lange noch gewährleistet?
Anna Klapheck schrieb meist (und am liebsten) als Betroffene. Sie mußte sich Menschen, Künstlerpersönlichkeiten zuneigen können, von ihnen in ihrem Wesenskern berührt werden, um ihr Werk dann verstehend verständlich zu machen. In dieser Dolmetscher-Funktion war sie unübertroffen; nicht Kunstkritikerin, Mittlerin wollte sie sein. Sie dozierte nie, auch wenn sie in ihrer Schule des Sehens den Leser über das Kennenlernen zum Begreifen verführte. Sie ließ ihn an ihren Betrachtungen teilhaben, die sie in knappen, zielsicheren Ausweitungen zum großen, nicht selten verblüffenden Zusammenklang bündelte. In der Anschauung des Einzelnen das Ganze nicht aus dem Blick zu verlieren – wo, wenn nicht bei Goethe hätte sie das lernen können, dessen auch entlegenste Werke sie gelesen, gespeichert hatte?
Sie war engagiert, wahrte aber die Distanz. Sie war mit vielen, mittlerweile in die Historie aufgenommenen Künstlern bekannt, sogar befreundet. Das nahm ihr jedoch nicht das unvoreingenommene Interesse, die Offenheit für neue Tendenzen. Sie hatte soviel Vergangenheit und war doch immer noch voller Zukunft.
Anna Klaphecks Kritiken erschienen seit 1946, mithin seit dem Gründungsjahr, in der Rheinischen Post. Vor sieben Jahren hat sie ihre Loseblattsammlung neu sortiert, zum summierenden Blick zurück geordnet und als „Buch der Erinnerung“ herausgegeben: „Vom Notbehelf zur Wohlstandskunst – Kunst im Rheinland der Nachkriegszeit“ (DuMont Verlag). Daß für den Tag Verfaßtes mitunter sogar Jahrzehnte überdauern kann, beweist dieser Kritikenband, der für jeden Kunstinteressierten eine faszinierende, ungemein lehrreiche Lektüre ist. Weil Anna Klaphecks Rezensionen eben nicht bloß dokumentieren, wie das damals wieder anfing, sondern weil sie Beziehungsstränge zum Vorher ziehen kann, in vorsichtiger Parteinahme und entschiedener Wertung selber zur Handelnden wird. Diesen Rang erreicht heute in einem oft genug zum Geflecht von Beziehungen verkommenen Kunstbetrieb niemand mehr. Sie war die Letzte.
Die, relativ spät begonnene, publizistische Karriere, markierte zwar nicht unbedingt einen biographischen Knick in ihrem an Begegnungen mit Berühmten vollgestellten Leben. Sie war der in Erlangen geborenen Tochter des Internisten und Neurologen Adolf Strümpell aber auch kaum vorgezeichnet. Eher schon die – erst 1953 betretene – Laufbahn als Wissenschaftlerin. Anna Klapheck hatte ihr kunsthistorisches Studium in Marburg mit der Promotion über „Der Heilige Hieronymus im Gehäuse“ beendet, dann in Leipzig Lehrjahre im Kunsthandel, an einem Museum absolviert. Als Frau Richard Klaphecks (dessen zweibändige „Kunst am Niederrhein“ Ende der siebziger Jahre wiederaufgelegt wurde) kam sie 1927 nach Düsseldorf.
Es war die legendäre Zeit der Kunstakademie, an die ihr Direktor Walter Kaesbach große Maler binden konnte, als deren Professor für Kunstgeschichte und „ständiger Sekretär“ Richard Klapheck fungierte, bis die Nazis ihn 1934 abhalfterten. Den gleichen Lehrstuhl besetzte die Witwe des bereits 1939 Gestorbenen, erst als Dozentin, von 1962 bis 1966 als Lehrstuhlinhaberin. Und ihr Sohn Konrad (Schüler des erst spät „auf dem Markt“ anerkannten Malers Bruno Goller, über den Anna Klapheck wiederum eine Monographie verfasst hat) ist seit Sommer 1979 an derselben Akademie tätig, an der früher auch seine Eltern lehrten.
So, als öffentlicher Auftrag und angenommene Aufgabe, verfugt sich bloß selten noch das Schicksal einer Familie mit dem der Allgemeinheit, eines Instituts. Als in der Festschrift zum 200jährigen Bestehen der Düsseldorfer Kunstakademie (1973) der Part zwischen den beiden Weltkriegen zu vergeben war, übernahm ihn, natürlich, Anna Klapheck. Das mit vielen persönlichen Reminiszenzen durchsetzte, aber nie auftrumpfende Kapitel ist gewiß das aufregendste des umfänglichen Gedenkwerks. Unvermessen charakterisiert, unmittelbar anschaulich werden: Nauen, Campendonk, Thorn-Prikker, Oskar Moll, Ewald Matatré, über dessen „Tore und Türen“ Anna Klapheck 1966 so tiefsinnig, Symbolen nachspürend reflektiert hat, und dessen Aquarelle sie noch vor zwei Jahren herausgegeben hat (Schirmer-Mosel Verlag). Und über Paul Klee heißt es einmal: „Das Schweigsame lachte sein unvergeßliches Lachen.“ Fremdes wird uns vertraut gemacht, nahe gebracht, ohne dass Anna Klapheck je die Grenze zur Vertraulichkeit durchbräche.
Den gleichen Zeitkreis zwischen Aufbruch und jäher politischer Zerstörung hatte die Autorin schon einmal in „Mutter Ey“ abgeschritten. Diese „Düsseldorfer Künstlerlegende“ erschien erstmals 1958 (im Droste Verlag), liegt mittlerweile bereits in der vierten Auflage vor. Die Sympathievorgabe der Autorin für die mütterlich-resolute Kaffeehausbesitzerin und spürnasige Kunsthändlerin, für diese „meistgemalte Frau Deutschlands“ ist unverkennbar, Aber ebenso ihre Einfühlung ins Rheinische, ihre humorvolle Liebeserklärung an die sonderbare Stadt Düsseldorf, die sich in der traditionsreichen Reihe „Deutsche Lande. Deutsche Kunst“ porträtiert hat (1972).
Auch in Gesprächen wurde der Griff in die Geschichte oft zum Rückgriff auf Persönliches (nie Privates): „Ich habe noch gekannt . . .“ Das war es. Der unersetzliche, eben nicht erlernbare Spiegelhintergrund eines durchdachten Er-Lebens, das sie in ihren Artikeln derart bewundernswert klar formuliert, anstrengungslos vor uns ausgebreitet hat. Wenn am Sonntag die Ausstellung zum 40jährigen Bestehen des Landes Nordrhein-Westfalen und der Rheinischen Post eröffnet wird, „1946 – Neuanfang: Leben in Düsseldorf“, wird ihr schönes, klares Greisinnen-Gesicht nicht mehr unter den Zuhörenden sein. Wenn am 14. März die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen ihr neues Domizil vorstellt, wird Anna Klapheck nicht mehr kennerisch-lebhaft von Bild zu Bild gehen, stehen bleiben, wie scheinbar leicht dahin wunderbar Richtiges sagen. Sie fehlt uns schon jetzt.
Reinhard Kill In: Rheinische Post. Feuilleton, 27. Februar 1986.