Frauen-Kultur-Archiv

Literatur-Nobelpreisträgerinnen 1909-1989

Grazia Deledda: Nobelpreisträgerin aus Italien von 1926

Kindheit und Jugend

Grazia Deledda wurde am 27. September 1871 in der Stadt Nuoro auf Sardinien in eine wohlhabende Familie geboren. Ihr Vater war ein angesehener Kaufmann. Ihre Mutter war Analphabetin, wie zu dieser Zeit die meisten Frauen auf Sardinien. Im Gegensatz zu ihr begann Grazia jedoch schon früh ihre ersten Schreibversuche. Sie hatte das Schreiben von ihrem Onkel noch vor der Einschulung gelernt. Mehr als die Grundschule war ihr nicht vergönnt, aber sie erhielt privat Italienisch- und Literaturunterricht bei einem Gymnasialprofessor. Besonders prägend war für sie die Lektüre von französischer und russischer Roman-Literatur, die sie in der väterlichen Bibliothek fand.

 Die ersten Schritte zur Schriftstellerinnen-Karriere

Die ersten kleineren Texte konnte sie in lokalen Zeitungen unterbringen und im Alter von 17 Jahren schickte sie 1888 die Novelle „Sangue Sardo“ an die römische Zeitschrift „L’Ultima Moda“. Es gelang ihr die erste größere Veröffentlichung und zwei weitere Novellen erschienen in Folge ebenfalls in dieser Zeitschrift. Bereits 1890 konnte eine erste Novellensammlung als Buch erscheinen, „Nell‘ Azzuro“. Ihr erster Roman „Stella d’Oriente“, der unter dem Pseudonym „Ilia di Saint- Ismael“ als Feuilletonroman in der Zeitung „L’Avvenire di Sardegna“ herausgegeben wurde, erschien im gleichen Jahr. Das Pseudonym war eine Konzession an ihre Familie, die gegen ihr Sich-Exponieren in der großen Öffentlichkeit war. Von da an war ihre schriftstellerische Karriere auf gutem Weg und die nächsten arbeitsreichen Jahre waren geprägt von den Veröffentlichungen ihrer Novellen und Romane. Nach der Heirat mit einem römischen Beamten zog sie im Jahr 1900 nach Rom.

Sardisches Kolorit und Landschaftsbeschreibungen als Kennzeichen

Inhaltlich war sie in ihren Werken der frühen und mittleren Phase (bis 1918) ihrer Heimat eng verbunden, dem Sardisch-Regionalen. Die dargestellten Mägde, Knechte, Bauern, Händler, Hirten, Priester und Grundbesitzer sind geprägt durch das Leben in einer wild-herben Landschaft und durch ihre sardische Familien-Herkunft. Eine wesentliche Stärke Deleddas liegt in der sich durch Prägnanz, Lokalkolorit und Atmosphäre auszeichnenden Landschaftsbeschreibung. Die bevorzugt dargestellten Konflikte der Figuren bestehen in der Spannung zwischen dem Ausleben übermächtiger Leidenschaften und dem religiös-ethischen Ordnungsgefüge. Daher stehen die Strauchelnden, die Schuldigen, die an inneren Qualen und an Ungerechtigkeit Leidenden, die Scheiternden und die Schicksalsergebenen im Zentrum des Darstellungsinteresses.

 

1895 erschien der sehr erfolgreiche Roman „Anime oneste“, dt. „Ehrliche Seelen“. Ihren ersten großen trans-nationalen Erfolg feierte sie 1903 mit „Elias Portolù“, einem Roman, der in viele europäische Sprachen übersetzt wurde. In Deutschland erschien er bereits 1905.

 Deleddas Haltung zur Selbständigkeit von Frauen

1908 nahm Grazia Deledda zwar am ersten italienischen Frauenkongress teil, der von der Pädagogin Maria Montessori organisiert wurde; als Autorin war sie jedoch nicht frauenpolitisch engagiert. Ihre Erzählungen lassen aber durchaus eine kritische Haltung in Bezug auf die gesellschaftliche Rolle der Frau erkennen. In „Cosima“, ihrem autobiografischen Roman, der erst nach ihrem Tod in ihrer Schreibtischschublade entdeckt und 1937 veröffentlicht wurde, thematisiert Grazia Deledda die angestrebte Selbständigkeit durch Schreiben und die daran geknüpfte finanzielle Unabhängigkeit als ein individuelles Problem und kein gesellschaftliches. Unabhängige Frauen sind in Deleddas Werken und in ihrer Heimat soziale Außenseiterinnen. Sie schildert mehrfach die Schwierigkeiten jener Frauen, die neue Wege gehen und unabhängig von Ehemännern oder Familien leben, ihre Weiblichkeit zu behalten und sich gegenüber den Anfeindungen der Gesellschaft zu wehren. Die Ambivalenz von Deleddas Einstellung zeigt sich nicht zuletzt in ihrer Aussage, Kinder zu gebären sei der edelste Ausdruck von Kreativität.

Nobelpreis für Literatur des Jahres 1926

1913 stand die Autorin zum 1. Mal auf der Vorschlagsliste für den Nobelpreis für Literatur. Es war ein schwieriger Weg bis zur Zuerkennung des Nobelpreises für das Jahr 1926, als sie 55 Jahre alt war. In der Rede anlässlich der Verleihung des Nobelpreises würdigt Henrik Schück, der ständige Sekretär der Schwedischen Akademie, die Autorin hinsichtlich der literarischen Erschließung Sardiniens für die Literatur Italiens und ordnet Deledda ganz in den „Regionalismus“ ein. Diesen erweitere sie um die Darstellung von sardischer Landschaft und Volksbräuchen. Er führt viele ihrer Romane als Beleg für die besondere Qualität ihres Schreibens auf. Schück sah sich aber nicht in der Lage, eine eigene Charakterisierung „ihres künstlerischen Stils“ zu formulieren und gab sehr ausführlich das Urteil eines ungenannten italienischen Kritikers wieder. Dieser führt dazu aus: „‘Ihr Stil‘ ist derjenige großer Erzähler. Er trägt jene charakteristischen Züge, die sich bei allen großen Romanciers finden. Heute gibt es in Italien niemand, dessen Sprache in Kraft, künstlerischer Intensität, Struktur und Bedeutung mit der von Grazia Deledda, besonders in ihren letzten Werken La Madre (1920) und Il Segreto Solitario (1921) zu vergleichen wäre.“(1)

 

In der Würdigung der Akademie heißt es abschließend, dass ihr der Preis zuerkannt werde „für ihre von hohem Idealismus getragene schriftstellerische Kraft, mit der sie das Leben, wie es sich auf der Insel ihrer Väter abspielt, in plastischer Anschaulichkeit nachbildet und allgemeine menschliche Probleme mit tiefem und warmem Anteil behandelt“. (2)

Im Urteil der Kritik

Im Laufe der Jahrzehnte wurden die Romane von Grazia Deledda sehr unterschiedlich je nach ästhetischer Orientierung in der italienischen Literaturkritik bewertet. So wurde die Konzentration auf bestimmte Themen, eine Einfachheit der Darstellung, ein oft nicht überzeugender Handlungsverlauf oder das Fehlen eines Hauptwerks kritisiert, ebenso eine Überbetonung der Prägung durch Vererbung und soziales Umfeld. In den Gegenpositionen wurde die Gradlinigkeit in der Darstellung der Figuren positiv hervorgehoben, ein Nuancenreichtum in der Beschreibung von Landschaft und Atmosphäre, das Nebeneinander von mehreren Haupt-Werken. Die Rezeption durch das europäische Ausland, speziell durch Deutschland, war insgesamt wesentlich positiver als in Italien selbst. (3)

 

In der Nachkriegszeit wurde ihre Haltung zum Faschismus Mussolinis kritisch hinterfragt. 1927 hatte sie gesagt, sie liebe und verstehe den Faschismus, wenngleich sie der Partei nicht angehöre. Aus ihren Äußerungen geht hervor, dass sie unter dem Faschismus 1927 den Kampf um ein ‚gesundes‘ Familienleben und die ‚Liebe zur Heimat‘ verstand. Später äußerte sie sich nicht mehr zur faschistischen Bewegung. In ihrem Romanwerk kann keine Nähe zum Faschismus identifiziert werden.

 

Nach der Nobelpreisverleihung blieb sie sehr produktiv, veröffentlichte Romane, Novellensammlungen und Märchen. Im letzten Roman „La Chiesa della Solitudine“ beschreibt sie für die damalige Zeit sehr ungewöhnlich die Geschichte einer krebskranken Frau. Dies ist ein weiterer autobiographischer Roman, der wie „Cosima“ erst nach ihrem Tod veröffentlicht wurde. Für „Cosima“ gab es jedoch keine Fassung, die sie für den Druck legitimiert hätte. Grazia Deledda starb am 15. August 1936 in Rom.

 

(1) Aus der Verleihungsrede, gehalten von Dr. Henrik Schück bei der Überreichung des Nobelpreises für Literatur an Grazia Deledda am 10. Dezember 1927, abgedruckt in: Grazia Deledda: Schilf im Wind. Nobelpreis für Literatur 1926 Italien. Zürich: Coron-Verlag o. J., S. 20; die zitierte italienische Kritik reicht bis Seite 22.

(2) Ebd. S. 23.

(3) Eine sehr umfangreiche und differenzierte Analyse der italienischen und deutschen Rezeption liefert Monika Redlin in ihrer Dissertation „Die Literarische Übersetzung zwischen Theorie und Praxis. Die Werke Grazia Deleddas im deutschen Sprachraum“. Frankfurt am Main u. ö.: Peter Lang 2005.