Frauen-Kultur-Archiv

Literatur-Nobelpreisträgerinnen 1909-1989

Selma Lagerlöf: 1. Literatur-Nobelpreisträgerin von 1909

Kindheit, frühe Prägung und Beruf

Selma Lagerlöf wurde am 20.November 1858 auf dem Gutshof Mårbacka in Östra Emtervik, Värmland/Schweden, geboren. Eine Beinlähmung im Kindesalter blieb zwar nicht anhaltend, verursachte aber dennoch eine bleibende Beeinträchtigung der Beweglichkeit, so dass manches Spiel mit anderen Kindern nicht möglich war. Großen Einfluss auf die Fantasie des Kindes hatten die Großmutter und Dienstboten, die ihr Wunder- und Grusel-Geschichten erzählten. Selma verbrachte viel Zeit mit Lesen und entwickelte früh den Wunsch, ihre Gefühle und Erlebnisse schreibend festzuhalten. Gegen den Willen des Vaters setzte sie durch, dass sie 1881 in Stockholm ein Mädchen-Lyzeum besuchen konnte  als Vorbereitung für das Lehrerinnenseminar. 1882 begann sie die Lehrerinnen-Ausbildung, deren Schwerpunkt auf den naturwissenschaftlichen Fächern, aber auch Literatur und Philosophie konnten gewählt werden. Im Frühjahr 1885 legte sie erfolgreich das Examen ab; im Juli starb ihr Vater und sie bekam im Herbst eine Stelle als Lehrerin an einer Mädchenschule in Landskrona.

Erste Gedichtveröffentlichungen und Freistellung fürs Schreiben

Bei ihren ersten Versuchen, Gedichte in Zeitschriften zu publizieren, war Selma Lagerlöf selbst nicht erfolgreich. Die Baronin Sophie (Esselde) Adlersparre unterstützte die Autorin, indem sie ab 1886 zumeist „Sonette“ in der von ihr herausgegebenen „Dagny“, der führenden Zeitschrift der schwedischen Frauenbewegung veröffentlichte. Zum Novellen-Wettbewerb von „Idun“, einem Wochenmagazin für Frauen, reichte sie 1890 mehrere Kapitel aus dem Roman „Gösta Berling“ ein, an dem sie seit 1881 arbeitete. Sie gewann im November den ersten Preis: 500 Kronen und die Baronin Adlersparre bot ihr eine private Finanzierung für ein Jahr an, so dass sie den Roman fertigstellen konnte. Eine Freistellung vom Lehrerinnendienst und die Konzentration aufs Schreiben wurden dadurch möglich. Ein Jahr später erschien der Roman unter dem Titel „Gösta Berlings saga“. Der Roman handelt vom Bischof Gösta Berling, den seine Trunksucht ins Verderben stürzt. Zugleich ist es aber auch die Geschichte der Majorin Ekeby, auf der durch ihr Fehlverhalten in ihrer Ehe ein Fluch lastet. Diese zwei Handlungsstränge verbindet Selma Lagerlöf geschickt zu einer Saga. Erfolgreich war die 1. Auflage nicht, erst durch den Umweg über Dänemark, durch eine sehr positive Besprechung der Übersetzung von 1892 des bekannten Kritikers Georg Brandes wurde eine breitere Öffentlichkeit darauf aufmerksam. Die erfolgreiche 2. Auflage von „Gösta Berlings Saga“ 1895 und der Erfolg des Erzählbandes „Osynliga länkar“ – „Unsichtbare Bande“ (1894) mit eindringlichen schwedischen Legenden- und Sagen-Motiven, ermöglichten es der Autorin, den Lehrerinnenberuf ganz aufzugeben.

Bildungsreisen und weitere Erfolge

1895/96 begann sie ausgedehnte Bildungsreisen zu unternehmen, gefördert durch königliche Reisestipendien, die sie nach Italien führten, in die Schweiz, nach Deutschland und Belgien. 1899/1900 erkundete sie zusammen mit einer befreundeten Schriftstellerin Ägypten, Palästina, die Türkei und Griechenland. Die Verarbeitung von kulturellen und historischen Reise-Eindrücken ist vielfach erkennbar, so in „Antikrists Mirakler“ („Die Wunder des Antichristen“) von 1897 oder im 2. Band von „Jerusalem“ (1902), der Darstellung der Auswanderung von religiös motivierten schwedischen Bauern nach Palästina. Die Jerusalem-Bände waren äußerst erfolgreich und veranlassten die Schwedische Akademie ihr 1904 die Goldene Medaille zu verleihen für „Phantasiereichtum, Idealität der Auffassung und fesselnde Darstellung“. Dies kann als Vorgriff der Schwedischen Akademie auf den 5 Jahre später verliehenen Literatur-Nobelpreis gesehen werden. Von der Gothenburger Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft wurde sie im gleichen Jahr zum Mitglied ernannt – immer mit der Besonderheit, die Auszeichnung als erste Frau zu erhalten.

Ein Schulbuch für Schweden und ein Kinderbuch für die Welt

Vom Schwedischen Volksschullehrerverband wurde 1901 an sie die Bitte herangetragen, ein Schulbuch über schwedische Geographie, Geschichte und Kultur zu schreiben. Nach Fertigstellung anderer Projekt, nach geplanten Auslandsreisen und nach Erkundungsreisen durch verschiedene Regionen Schwedens war es 1906 dann endlich soweit, die Schulen in Schweden bekamen ihr Lesebuch: „Nils Holgerssons underbara resa genom Sverige“, Teil 1. und Teil 2 folgte im Jahr 1907, illustriert vom Maler John Bauer. „Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden“ wurde das beliebteste Kinderbuch in Skandinavien und zugleich ein Welterfolg – in über 40 Sprachen übersetzt. Erzählt wird die Geschichte des kleinen Nils, ein Tuchnichtgut und Tierquäler, der gegenüber einem Wichtelmännchen einen Wortbruch begeht und in einen Däumling verwandelt wird. Er flieht von zu Hause, schließt sich den Wildgänsen an und lernt auf dem Flug mit ihnen Landschaft, Kultur und Geschichte Schwedens kennen. Er entwickelt eine tiefe Freundschaft zu dem Gänserich Martin und bekommt während der Reise immer wieder die Gelegenheit, sich menschlich zu bewähren und innerlich zu wachsen. Am Ende der Reise kehren Martin und Nils zurück zu Nils Eltern, die jedoch Martin schlachten wollen. Nils überwindet seine Scham darüber, dass er nun ein Däumling ist und stellt sich seinen Eltern in den Weg. Durch das selbstlos-mutige Einstehen für seinen Freund wird Nils wieder in einen Menschen verwandelt.

Die Geschichte eines Wandlungs- und Läuterungsprozesses wird als Reiseabenteuer ohne pädagogischen Zeigefinger erzählt, eingebettet in eindrückliche Landschaftsschilderungen. Der Verkaufserfolg von „Nils Holgersson“ ermutigte Selma Lagerlöf 1907 zum Rückkauf des Gutshofs Mårbacka mit Park und Garten, wo sie aufgewachsen war und der 1888 hatte verkauft werden müssen: „Ich fühlte, daß ich wirklich heimgekommen war“. Mit dem Preisgeld des Literatur-Nobelpreises konnte sie auch die Ländereien des Gutes erwerben.

Nobelpreis für Literatur im Jahr 1909

Die Nobelpreisverleihung an Selma Lagerlöf war in Schweden schon länger erwartet worden, ihr ging aber eine kontroverse Diskussion in der Presse und im Vergabe-Komitee voraus. Die Vertreter des strikten Realismus mit seiner scharfen Gesellschaftskritik konnten mit dieser auf das Wunderbare fokussierten, volkstümlichen und auf innere Gefühlswerte ausgerichteten Erzählkunst nicht viel anfangen. Lagerlöf stand in Konkurrenz zu vorgeschlagenen Autoren wie Anatole France oder Maurice Maeterlinck. Die Originalität ihrer Erzählwerke, die Qualität ihrer dichterischen Gestaltung und ihre Anerkennung und Bekanntheit weit über die Grenzen Schwedens hinaus, die Alfred Nobel als Bedingung für eine Preisvergabe festgelegt hatte, waren schließlich ausschlaggebend für die Entscheidung zugunsten der Autorin.

Am 10. Dezember 1909 konnte die 51jährige Selma Lagerlöf dann als erste Frau den Literaturnobelpreis aus den Händen König Gustavs V. entgegennehmen. In der Begründung der Akademie für die Preisverleihung hieß es u.a. „Die Handhabung der Sprache ist bei Selma Lagerlöf über alles Lob erhaben. Sie hat das reiche Erbe ihrer Muttersprache mit töchterlicher Gewissenhaftigkeit ausgeschöpft. Hier wurzeln die sprachliche Einheit, die Klarheit des Ausdrucks und die musikalische Harmonie, die für ihre Schöpfungen bezeichnend sind. Diese Einfachheit und Reinheit, die Schönheit des Stils und die Kraft der Einbildung durchdringen sich völlig mit einem weiteren bemerkenswerten Zug ihres poetischen Genies: mit der moralischen Kraft und innerstem religiösen Gefühl. (…) Im Rhythmus ihrer Dichtkunst finden wir auf Schritt und Tritt das Echo dessen, was von alters her die Seele Schwedens bewegt hat, und das macht uns Selma Lagerlöf besonders teuer.“ (1) „Es liegt im Sinne Alfred Nobels, diese Frau zu ehren, die mit beispiellosem Erfolg die empfindlichsten Seiten des menschlichen Herzens zum Erklingen brachte und deren Name und dichterisches Schaffen weit über die Grenzen Schwedens hinaus bekannt geworden sind.“(2)

Ihre Dankesrede beim Bankett der Akademie

kleidete Selma Lagerlöf in eine ungewöhnliche Form, in ein Gespräch mit dem verstorbenen Vater. Sie berichtete von ihrer Zugreise nach Stockholm zur Preisverleihung, während der sie eine Zwiesprache mit dem Vater führt über ihre Dankesschuld an all jene, die sie zu ihren Stoffen und Motiven in ihren Geschichten inspirierten, die Familie, die einfachen Leute, die Alten, die Dichter, die sie las und vor allem die Natur ihrer Heimat. Die dialogisierte Darstellung ihrer Prägung und Entwicklung zur Schriftstellerin mündet ein in den Ausdruck tiefer Dankbarkeit dies alles erfahren zu haben, von so vielen gefördert worden zu sein und schließlich geehrt zu werden durch den höchsten Literaturpreis. Diese Rede hat sich in das kollektive Gedächtnis der Schweden eingeprägt, sie wurde vielfach publiziert.

Vielfältiges Engagement

1914 wurde Selma Lagerlöf als 1. Frau zum Mitglied der Schwedischen Akademie berufen und war Jahrzehnte in verschiedenen Gremien und Ausschüssen aktiv. Sie engagierte sich in der Internationalen Frauenstimmrechtsbewegung mit dem Ziel, die Mitwirkung von Frauen im Staat zu ermöglichen. Sie finanzierte den „Gösta-Berling-Fond“, durch den prioritär weibliche Mitglieder der Schwedischen Schriftstellervereinigung Pensionsgelder erhielten. Seit 1933 setzte sie sich aktiv für jüdische Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland ein, so trug sie beispielsweise wesentlich zum Gelingen der Flucht der jüngeren Kollegin Nelly Sachs und ihrer Mutter 1940 nach Schweden bei.
Selma Lagerlöf starb am 16. März 1940 auf ihrem Gut Mårbacka, das bereits zu ihren Lebzeiten zu einer Pilgerstätte für ihre Verehrerinnen und Verehrer geworden war.

 

(1) Aus der Verleihungsrede, gehalten von Claes Annerstedt, Akademie-Direktor, bei der Überreichung des Nobelpreises für Literatur an Selma Lagerlöf am 10. Dezember 1909, abgedruckt in: Nobelpreis für Literatur 1909. Zürich: Coron-Verlag o.J., S. 21f.

(2) Ebd., S. 22.