Frauen-Kultur-Archiv

Lyrische Universen

Anna-Dorothea Schmid

Kurzporträt

Anna-Dorothea Schmid, 1936 in Berlin geboren, studierte in Berlin, Tübingen und Hamburg Altphilologie, Germanistik und Psychologie. Sie arbeitete 30 Jahre als Klinische Psychologin, u.a. in Neuss. Ihre Prosatexte sind Erkundungen von Momenten der Veränderung in der Wahrnehmung und im Empfinden, von Grenzüberschreitung, die dem Grauen in der Normalität nachspüren.

 

Die Sprache ihrer Lyrik stellt ein reich orchestriertes Instrument dar, das Prägnanz und Sensibilität verbindet und die Tragfähigkeit von lyrischem Sprechen auslotet. Die Neusser Autorin erhielt u.a. den Diotima Literaturpreis.

Gedichte

 

Wortwaage

 

So lass mich nun die Waage holen
für die vielen Traurigkeiten,
leg sie einzeln sanft auf eine Schale
und prüf die Worte, die sie tragen
bis zu einem Gleichgewicht;
das Wortmaß wird der Widerstand,
den die Schwere leistet –
es bleibt die Frage nach Verlass,
große Worte heben nicht
die Last aus altem Leid,
und manchmal lässt ein Name
das Trübsalband zerspringen.
Was nennbar wird,
kann tragbar werden,
vielleicht auch teilbar wie der Atem –
verlangst du mehr von Worten?

 

In: Anna-Dorothea Schmid: Mit Sinnen. Prosa und Lyrik. Neuss: 2001, S. 6.

 

 

Zwieklang

 

Heimat klingt
wie Sonntagsstunde
Sommerlaube Kaffeerunde,
wie Urlaub voller Glück
Margeritensträuße
Ackerwitwenblume.

 

Heimat heißt
den Friedhof kennen,
wissen, ob der Stein
auf Vaters Grab vermoost,
zum Nachbarn nicken
und den Garten weitergeben
an Kinder
die Verstecke finden
vor dem fremden Draußen.

 

Heimat ist ein Dauerklang,
der alle Wörter einfärbt
ab dem ersten Laut,
gefahrlos denen,
die dazugehören.

 

Neue Töne hör ich
aus dem alten Viertel,
bunter fleckt das Leben,
verlockend offen liegt die Welt,
nahe in der Ferne
fand ich viele,
verstand sie ohne Mutterworte,
nur –
die alte Kirchturmglocke
schallt so hohl.

 

In: Anna-Dorothea Schmid: Mit Sinnen. Prosa und Lyrik. Neuss 2001, S.  45.

 

 

Wörter

 

Da sind Wörter,
und die Wörter
hecheln Leben
wollen Formen
drängen vor.

 

Frohe Wörter, Elendswörter
rohe Wörter, fein geschliffene,
wenn sie rufen,
will ich kommen
will sie reihen
wie sie wollen
einfach, doppelt und im Bunde,
Wörterketten für die Jahre.

 

In: Anna-Dorothea Schmid: Mit Sinnen. Prosa und Lyrik. Neuss 2001, S. 95.

 

 

Alte Alben

 

Verschattete Bilderblätter
vergangener Sicht,
glückvoll planen
Leben zu pflegen –
allmählich
Gängelbänder
wärmender Erinnerung.
Fundeklee
im Gitterost
von Jahren,
Wunderbalsam
des Abends,
aber dann –
nicht entwickelt
während des Schlafes –
verkehrt ihr euch
zum Alp,
Zwergenalp
entmündigend
für übermorgen,
Fahrtenbücher
in das Schattenreich.

 

In: Anna-Dorothea Schmid: Mit Sinnen. Prosa und Lyrik. Neuss: 2001, S. 68.

 

 

Frostig

 

Eisverästelte Sterne
Filigrane auf Zeit
gläsern gesplittert –
hab Acht!

 

Buckelblätter knirschen
unter meinem Tritt
jeder Schritt zerstört.

 

Spatzenplusterkugeln
warten in den Büschen,
Spatzen überleben.

 

In: Anna-Dorothea Schmid: Mit Sinnen. Prosa und Lyrik. Neuss: 2001, S. 78.

 

 

Zu spät?

 

Ich habe den Frieden gefunden – –
für ein paar Stunden.

 

Er saß auf dem Zaun
und bemerkte mich kaum.

 

Armer alter Friede
auf dem Niemandssteg
komm hinein ins Haus.

 

Da blickt‘ er hinauf,
da glitt er hinab
zur anderen Seite
ins wühlmausgehäufelte – – Grab.

 

In: Anna-Dorothea Schmid: Mit Sinnen. Prosa und Lyrik. Neuss: 2001, S. 47.

 

 

Das Zauberwort

 

Suchst du auch das Zauberwort
das alle Ängste kehrt,
eine Nuss mit Lebenskern,
die Schalen öffnen sich für dich?

 

Hör auf, ein Wort ist dort gefallen –

 

Keiner nahm ihn auf
den herrenlosen Spracheinfall
verworfen vor der Antwort,

 

ein befremdend leises Klanggebilde,
zerbrechlich, fast zerbrochen
unter Sprechgestrüpp,
ungeschützt durch Umgangsschliff.

 

Es könnte sein, du gibst ihm seinen Zauberton?

 

In: Anna-Dorothea Schmid: Mit Sinnen. Prosa und Lyrik. Neuss: 2001, S. 91.