Kurzporträt
Gertrud Kolmar (eigentlich Chodziesner) stammte aus einer jüdisch geprägten Familie in Berlin und arbeitete als ausgebildete Sprachlehrerin für Englisch und Französisch und als Erzieherin privat in Familien. Ihr erster Gedichtband „Gedichte“ erschien 1917. Nach vielen Einzelveröffentlichungen folgte 1934 der Band „Preußische Wappen“, geschrieben 1927/28. Die letzte Gedichtsammlung „Die Frau und die Tiere“ konnte 1938 noch in einem jüdischen Verlag gedruckt werden, wurde aber im Zuge der Novemberpogrome von den Nazis vernichtet. Ab Juli 1941 musste Gertrud Kolmar als Zwangsarbeiterin in einem Rüstungsunternehmen arbeiten und wurde am 2. März 1943 in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert und dort umgebracht. (Das Todesdatum ist nicht dokumentiert.)
Die Bedeutung von Gertrud Kolmar als eine sprachlich virtuose lyrische Stimme mit visionärer Prägnanz wurde posthum durch Neuauflagen und die Entdeckung ungedruckter Texte, wie des Zyklus „Das Wort der Stummen“ von 1933, bekräftigt. Heute wird Gertrud Kolmar in ihrer Bedeutung neben Nelly Sachs und Else Lasker-Schüler verortet.
Gedichte
Ich weiß es
Plage steht am Wege, den ich schreiten will,
Not steht an dem Wege, den ich schreiten will,
Tod steht an dem Wege, den ich schreiten will,
Klage liegt am Wege, den ich schreiten will.
Und Zungen hat jeder Meilenstein,
Und alle die kleinen Kiesel schrein,
Schrein Weh – wo ein Mädchen röchelnd sank,
Flüchtig, verlassen, müd und krank.
Not steht an dem Wege, den ich schreiten will,
Tod steht an dem Wege, den ich schreiten will,
Und ich schreit ihn doch!
Törichte Mädchen in Schmach und Pein:
Tausend gingen vor mir.
Tausend kommen nach mir.
Ich werde die Tausendhunderste sein.
Meine Lippen auf fremdem Mund:
Und sterben ein Weib wie ein räudiger Hund –
Schreckt’s Dich nicht? Nein.
Meines Herzens Schlag an fremder Brust:
Lache, mein Aug, eh du weinen musst!
Und du weinst ja nicht allein!
Not steht an dem Wege, den ich schreiten will,
Tod steht an dem Wege, den ich schreiten will,
Kummer und Klage, graue Plage:
Ich weiß es – und schreit ihn doch!
In: Gertrud Kolmar: Gedichte, 1917.
Der Brief
Ein Fetzen Weh, vom Wind daher gefegt,
Das war er nun.
Ich hab ihn still ins heil’ge Buch gelegt,
Zu ruhn – zu ruhn- – – – – –
Und die vergilbten Blätter schlossen ihn
So linde ein,
Die Totenhülle, weißer denn Jasmin,
Der braune Schrein.
So fern der Unrast, die da draußen tost,
Hat er geruht.
Und war der Klage voll und gab mir Trost –
Er war so gut – – – – –
In: Gertrud Kolmar: Gedichte, 1917.
Noch eins
Ich wollte schön sein, wie ein frommer Drang
Nach Schönheit ist, – so ohne Lüge schön.
Ich wollte schön sein, wie der Preisgesang
Der Schönheit ist, – ein sternenhoch Getön!
Ich wollte solcher mächtigen Schönheit Gabe,
Die wie ein Glück vor tausend Sinnen blinkt!
Ich will die kleine Schönheit: die ich habe,
Die eines Herzens Güte ins sich trinkt.
In: Gertrud Kolmar: In memoriam 1918. Zyklus I.
Junilied
Meine Hand streicht übers Korn;
Silberblondes Rauschen weht:
Läute, läute, liebe Glocke,
Die in meinem Herzen geht.
Jauchze jedem frohen Tag
Wie der Vogelruf im Ried,
Decke alle heißen Tränen
Zu mit einem dunklen Lied.
All mein Tun in schönstem Klang,
Der sich liebem Freunde bringt –
Läute, läute, goldne Glocke,
Die mit meinem Leben schwingt!
In: Gertrud Kolmar: In memoriam 1918. Zyklus I.
Ich kehre müde heim zu später Stunde
Ich kehre müde heim zu später Stunde.
Die Straßen schimmerlos, verwölkt die Sterne,
Die Nächste weit, gespenstisch nah die Ferne
Und schreckhaft gellend das Gebell der Hunde.
Es sitz ein Haus geduckt am Himmelsgrunde
Im tiefen Bläulichgrau gleich schwarzem Kerne,
Ein goldenes Fenster bei sich als Laterne,
Durchspäht’s die nächtlich engbegrenzte Runde.
Rings Niemandsland an namenlosen Wegen.
So denkt ich denn, daß Deinem Dorf entgegen
Mit meinem Schuh das liebste Mädchen schreitet,
Daß heute die Pascher du beschleichen müßtest
Und, wie du droben dich zum Gange rüstest,
Dein Licht mich schaut, mir zustrebt und mich leitet.
Gertrud Kolmar: In memoriam 1918. Zyklus I.
Die Sinnende
Wenn ich tot bin, wird mein Name schweben
Eine kleine Weile ob der Welt.
Wenn ich tot bin, mag es mich noch geben
Irgendwo an Zäunen hinterm Feld.
Doch ich werde bald verlorengehn,
Wie das Wasser fließt aus narbigem Krug,
Wie geheim verwirkte Gabe der Feen
Und ein Wölkchen Rauch am rasenden Zug.
Wenn ich tot bin, sinken Herz und Lende,
Weicht, was mich gehalten und bewegt,
Und allein die offnen, stillen Hände
Sind, ein Fremdes, neben mich gelegt.
Und um meine Stirn wirds sein
Wie vor Tag, wenn ein Höhlenmund Sterne fängt
Und aus Lichtgewölbs Schattenstein
Graues Tuch die riesigen Falten hängt.
Wenn ich sterbe, will ich einmal rasten,
Mein Gesicht nach innen drehn
Und es schließen wie den Bilderkasten,
Wenn das Kind zuviel gesehn,
Und dann schlafen gut und dicht,
Da ich zittrig noch hingestellt,
Was ich war: ein wächsernes Licht
Für das Wachen zur zweiten Welt.
In: Gertrud Kolmar: Die Frau und die Tiere, 1938.