Frauen-Kultur-Archiv

Lyrische Universen

Hilde Domin

Gedichte

 

Fürchte dich nicht

 

Die Rose sagte:
Fürchte dich nicht
meine Blätter sind heute
ganz stabil
Kein Windstoß wird mich
vor deinen Augen
entblößen.

 

Der Baum
atmet Vertrauen
und will daß ich mich anlehne.
Er sei bestimmt
nicht angehackt.

 

Das Vogelei
auf der Astgabel
hält das Versprechen
der kleinen weißen Balance.
Es ruht stille im Wind
bis den bangen Augen im Dotter
ein Federbalg wächst,

 

der auf den Zweig fliegt
und singt.

In: Hilde Domin: Rückkehr der Schiffe, 1962.

 

 

Bittersüßer Mandelbaum

 

Die Zweige müssen die Blüten verlieren,
damit die Bäume grünen:
das Rosa und das Weiß
der süßen und bitteren Mandel
mischt sich am Boden.

 

War das Süße ins Bittre
oder das Bittre ins Süße gepfropft?
Alle Blüten sind voller Honig,
leichte Schmetterlingswiegen
alles Blühen ist süß.

 

Doch wenn erst das Laub
die doppelte Krone vereint,
unter dem blauesten Himmel,
im sanftesten Wind,
wird dann das Bittere bitter.

 

In: Hilde Domin: Nur eine Rose als Stütze, 1962.

 

 

Das Wachsen von Träumen

 

Das Wachsen von Träumen
macht Angst
als fehlten die Flügel
diese Mauern
zu überfliegen.

 

Schrei nach
einer Hand, einer Tür,
aus Fleisch, aus Holz

 

In: Hilde Domin: Hier. Gedichte, 1964.

 

 

Vögel mit Wurzeln

 

Meine Worte sind Vögel
mit Wurzeln

 

immer tiefer
immer höher
Nabelschnur.

 

Der Tag blaut aus
die Worte sind schlafen gegangen.

 

In: Hilde Domin: Hier. Gedichte, 1964 .

 

 

Vor Tag

 

Der Kuß aus Rosenblättern,
immer neue weiche kleine
Blätter der sich öffnenden Blüte.

 

Nicht jenes Wenig von Raum
für die Spanne des Wunschs
zwischen Nehmen und Geben.

 

Du hobst die Decke von mir
so behutsam
wie man ein Kind nicht weckt
oder als wäre ich
so zerbrechlich
wie ich bin.

 

Ich wurde nicht wirklicher
als ein Gedicht
oder ein Traum
oder die Wolke
unter der Wolke.

 

Und doch, als du fort warst,
der zärtliche Zweifel:
Ist es tröstlich
für einen Mann
mit einer Wolke zu schlafen?

 

In: Hilde Domin. Gesammelte Gedichte, 1987.

 

Tröstung

Das blasse
beschädigte Herz
wird aufgenommen
und in die frühe Sonne gelegt
auf den Brustfedern
kleiner Vögel.
Morgenlotionen
aus Blau
werden täglich erneut
bis die Tränenkrusten
weggeschwemmt sind
und das Herz
schwer wird von Süße
wie eine gezuckerte Frucht.

Dann wird es eingepflanzt
wie Saatkorn aus Gräbern
in die schmerzende Furche
und die Wunde wird mit dem Speichel
sanfter Küsse verheilt.
Und das Korn
totes Glück
schlägt Wurzel und keimt.
Alle Adern schmecken danach
bis meine Fingerspitzen
rosig sind
wie die eines Kinds.

 

In: Hilde Domin. Gesammelte Gedichte, 1987.