Frauen-Kultur-Archiv

Lyrische Universen

Margot Scharpenberg

Kurzportrait

 

Die mehrfach ausgezeichnete Schriftstellerin Margot Scharpenberg ist seit fünf Jahrzehnten eine äußerst produktive Autorin, die neben Kurzgeschichten und zahlreichen Einzelveröffentlichungen insgesamt 26 Gedichtbände publiziert hat. Bekannt geworden ist die 1924 in Köln geborene und seit 1962 in New York lebende Lyrikerin vor allem durch ihre intermedialen Gedichte.

 

Margot Scharpenbergs Bildgespräche setzen Literatur und visuelle Kunst in eine dialogische Beziehung und weichen so die traditionellen Grenzen zwischen den Kunstgattungen zugunsten des autonomen, synästhetischen Moments der poetischen Sprache auf – anknüpfend an die Bildgedichte Apollinaires und Rilkes. Ihre ‚Übersetzungen’ ausgewählter Werke der bildenden Kunst in eine lyrische Sprachform akzentuieren nicht nur das referenzielle Verhältnis der unterschiedlichen ästhetischen Ausdrucksmedien. Sie verdichten auch unterschiedliche Wahrnehmungsbereiche und erzeugen Synästhesien.

 

Das thematische Spektrum ihrer Bildgedichte reicht von den archaischen Wandbildern der prähistorischen Indianervölker Nordamerikas – denen ihre persönliche Faszination gilt – über die Werke der Vertreter der klassischen europäischen Moderne wie Gris, Klee, Kirchner oder Bacon bis in die zeitgenössische Malerei und Grafik. Dabei bewahrt sie sich eine wertfrei beobachtende Haltung, immer aber den Blick fürs Detail, das Unscheinbare und Unspektakuläre. Ihre Gedichte schmiegen sich inhaltlich und häufig auch formal eng an ihren jeweiligen Kontext an. Face en face sind viele ihrer Gedichte mit Zeichnungen, Collagen, Fotografien oder Abbildungen von Gemälden versehen. In „Gegengaben und Widerworte“ – so der Titel ihres 1995 veröffentlichten Lyrikbandes – kommentieren, erwidern oder hinterfragen sie das jeweilige Sujet.

 

Inspiration fand Margot Scharpenberg besonders auf ihren Reisen durch die amerikanischen Kontinente. In dieser Zeit entdeckte sie auch ihre Begeisterung für die indianische Kunst. In den 1970er Jahren publizierte sie gemeinsam mit ihrem Mann, dem Mediziner und Felsbildforscher Klaus F. Wellmann unter dem Titel Spuren (1973) und Neue Spuren (1975) zwei Gedichtbände über indianische Felsmalerei. Zum jährlichen Ritus ihrer Autorinnenexistenz in den USA gehörten der zweimonatige Aufenthalt in ihrer Geburtsstadt Köln und die Lesereisen durch Deutschland.

Gedichte

 

Paula Modersohn-Becker: Alte Armenhäuslerin (1905)

 

Wie proper Armut war
sie wusste
was sich gehört

und auch das Alter kam
für den Betrachter
unauffällig
ohne jede Kränkung

kein Stigma haftet
an dieser Frau
mit ihrem Hut
und akkurat gebundener
Schleife unterm Kinn
wär sie in jeder Kirchenbank gelitten

dann lägen so wie jetzt
da sie allein
im Freien sitzt
die Hände schwer und krumm
auf ihren Knien

ob sie sich wohl
versprochenen Paradiesen
nahe fühlt

ihr Blick verneint

die Wunderwelt ist nur
ein ungesehnes
weißes Pferd
jenseits der Hecke
hinter ihrem Rücken

In: Margot Scharpenberg: Gegengaben und Widerworte. 65 Gedichte mit 16 Collagen von Annegret Heinl. Duisburg 1995, S. 38.

 

 

Notenpapier am Ende

 

Plötzlich brechen die Pfade ab
plötzlich geht ein Satz nicht weiter
plötzlich hält der gehorsame Hund
ich lös ihm vergeblich die Leine
plötzlich ist alles anders als sonst

Plötzlich schlüpf ich aus alten Schuhen
plötzlich laß ich Gewohntes ruhen
plötzlich geh ich wie blind geführt
an Gattern tast ich mich weiter
plötzlich ist alles unversehens
einleuchtend heiter
Plötzlich ist alles neu.

In: Margot Scharpenberg: Von Partituren, Lesezeichen und so weiter. 60 Gedichte mit 12 Collagen von Annegret Heinl. Duisburg 2003, S. 57.

 

 

Vom Vorteil zweifacher Zugehörigkeit

 

Keiner ist zu sehr
an mich gewöhnt
keiner muß mich dann
wenn ich für länger geh
mehr als sonst
im eignen Lebenslauf
vermissen

 

Wer mich kennt
der weiß ja ich gehöre
fest ins eine
und ein weiteres Land

 

bin ich nicht in diesem
hält mich gerad das andere
und ich übe dauernd
hier wie drüben
nach dem Grenzsprung
an der eignen Kür

 

zählt mich dennoch
zu den besten
fernen Freunden
auch als Fehlende
bin ich getreulich da

 

drum bedenkt
wir bleiben fest verbunden
ob ein Wiedersehn
bevorsteht oder
erst ein nächster
Abschied nah

In: Margot Scharpenberg: Von Partituren, Lesezeichen und so weiter. 60 Gedichte mit 12 Collagen von Annegret Heinl. Duisburg 2003, S. 111f.

 

 

Alte Bilder

 

Wir waren gewarnt
die Keller standen gerichtet
zum Unterschlupf

 

aber wir rannten
die Türme treppauf
die Glockenstühle
nicht zum Läuten
– zu spät –
und nicht zum Versteck

 

sehen wollten wir
weit in Himmel und Hölle
Betroffene bei der
öffentlichen Geburt
von Trümmern

 

wir Ausgesparten
wie Säulenheilige
sichtig und sicher
oben auf kleiner
Plattform
ohne Entkommen
die Treppen alle in Schutt

 

auf die Raben möchten wir bauen
welchen der Dienste
für die sie begabt sind
probieren sie diesmal an uns

 

sie stoßen schon nieder
ungnädige Boten
den Tod
könnten sie bringen
(sie hacken so gern
vor allem nach Augen)

 

auf den alten
Bildern aber
– getarnte Engel –
bringen sie manchmal
den Angefochtenen Brot

In: Margot Scharpenberg: Windbruch. Vierundsechzig Gedichte mit sechzehn Zeichnungen von Edith Oellers-Teuber. Duisburg 1985, S. 28f.