Kurzporträt
Nach einer behüteten Kindheit in Czernowitz musste Rosalie Scherzer 1916 mit ihren Eltern über Budapest nach Wien fliehen. Nach ihrer Rückkehr nahm sie an der Universität Czernowitz ein Literaturwissenschafts- und Philosophiestudium auf. Noch im selben Jahr wanderte sie mit ihrem Studienfreund Ignaz Ausländer nach Amerika aus und war Hilfsredakteurin bei der Zeitschrift „Westlicher Herold“, in der sie erste Gedichte veröffentlichte.
Anschließend lebte sie in New York und arbeitete dort als Bankangestellte und war journalistisch und schriftstellerisch tätig. 1931 kehrte sie mit ihrer großen Liebe Helios Hecht nach Czernowitz zurück und schrieb für die Zeitschrift „Der Tag“ und das „Czernowitzer Morgenblatt“. 1939 wurden ihre frühen Gedichte von Alfred Margul-Sperber in dem viel gefeierten Gedichtband „Der Regenbogen“ veröffentlicht. Im selben Jahr wanderte sie erneut in die USA aus, kehrte jedoch überstürzt zurück, um die todkranke Mutter zu pflegen.
1941 im Ghetto von Czernowitz lernte sie Paul Celan kennen. Nachdem sie den Verfolgungen nur knapp entgehen konnte, emigrierte sie 1946 wieder in die USA und arbeitete als Übersetzerin und Fremdsprachenkorrespondentin und schrieb Gedichte in englischer Sprache. Auf einer Europareise im Jahr 1957 traf sie Paul Celan in Paris. Er machte sie mit der lyrischen Moderne bekannt und sie änderte radikal ihren Stil.
1965 ließ sie sich in Düsseldorf nieder und veröffentlichte ihren zweiten Gedichtband „Blinder Sommer“. Gesundheitlich schwer beeinträchtigt, zog sie 1971 in das Nelly-Sachs-Altenheim und schrieb den größten Teil ihres Werkes in den 18 Jahren, die sie dort verbrachte. Mit jedem ihrer in rascher Folge erschienenen Gedichtbände schrieb sie sich an die Seite großer deutschsprachiger Lyrikerinnen wie Else Lasker-Schüler oder Gertrud Kolmar.
Gedichte
Mein Atem
In meinen Tiefträumen
weint die Erde
Blut
Sterne lächeln
in meine Augen
Kommen Menschen
mit vielfarbnen Fragen
Geht zu Sokrates
antworte ich
Die Vergangenheit
hat mich gedichtet
ich habe
die Zukunft geerbt
Mein Atem heißt
jetzt
In: Rose Ausländer. Mutterland. Gedichte. Köln 1978.
Versöhnung
Wieder ein Morgen
ohne Gespenster
im Tau funkelt der Regenbogen
als Zeichen der Versöhnung
Du darfst dich freuen
über den vollkommenen Bau der Rose
darfst dich im grünen Labyrinth
verlieren und wiederfinden
in klarerer Gestalt
Du darfst ein Mensch sein
arglos
Der Morgentraum erzählt dir
Märchen du darfst
die Dinge neu ordnen
Farben verteilen
und wieder
schön sagen
an diesem Morgen
du Schöpfer und Geschöpf
In: Rose Ausländer: Im Aschenregen die Spur deines Namens. Gedichte und Prosa 1976. Frankfurt a.M. 1984.