Frauen-Kultur-Archiv

Lyrische Universen

Sarah Kirsch

Kurzporträt

Am 16. April 1935 unter dem Namen Ingrid Bernstein in Limlingerode (Südharz) geboren, studierte sie in Halle Biologie mit Diplomabschluss (1958). 1960 heiratete sie den Lyriker Rainer Kirsch. 1963-65 studierte sie am Johannes R. Becher-Institut für Literatur in Leipzig. Seit 1967 publizierte sie Gedichtsammlungen, in denen sie zunächst das wünschenswerte Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur reflektierte.

 

Den Namen Sarah nahm sie an, um ihre Identifikation mit den Opfern der Shoah zu bekunden. Nach ihrer Scheidung zog sie 1968 nach Ost-Berlin. Sarah Kirsch arbeite auch journalistisch und als Übersetzerin; sie wurde Mitglied des Vorstandes des Schriftstellerverbandes der DDR und erhielt 1973 den Heinrich-Heine-Preis der DDR. Einen Paradigmawechsel in der Lyrik stellte der Band „Zaubersprüche“ von 1973 dar.

 

Sarah Kirsch unterzeichnete als erste 1976 die Protesterklärung gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann. Daraufhin wurde die Überwachung durch die Staatssicherheit intensiviert und sie wurde aus der SED und dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen. Im Herbst 1977 konnte die Autorin das Land verlassen, sie zog nach West-Berlin. 1981 erhielt sie den Österreichischen Staatspreis für Literatur; eine Fülle weiterer Preise folgten, wie 1993 der Peter-Huchel-Preis,  1994 der Friedrich-Hölderlin-Preis ,  1996 der Georg-Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und 1997 der Droste-Hülshoff-Preis und der Jean-Paul-Preis des Freistaates Bayern. Sarah Kirsch lebte viele Jahre lang in Schleswig-Holstein, wo sie auch als Malerin wirkte. Dort starb sie am 5. Mai 2013.

Gedichte

 

Die Nacht streckt ihre Finger aus

 

Die Nacht streckt ihre Finger aus
Sie findet mich in meinem Haus
Sie setzt sich unter meinen Tisch
Sie kriecht wird groß sie windet sich

 

Und der Rauch schwimmt durch den Raum
Wächst zu einem schönen Baum
Den ich leicht zerstören kann –
Ich rauche einen neuen, dann

 

Zähl ich alle meinen lieben
Freunde an den Fingern ab
Es sind zu viele Finger, die ich hab
Zu wenig Freunde sind geblieben

 

Streckt die Nacht die Finger aus
Findet sie mich in meinem Haus
Rauch schwimmt durch den leeren Raum
Wächst zu einem Baum

 

Der war vollbelaubt mit Worten
Worten, die alsbald verdorrten
Schiffchen schwimmen durch die Zweige
Die ich heut nicht mehr besteige

 

In: Sarah Kirsch: Zaubersprüche. Gedichte, 1973.

 

 

Die Spiegel

 

Leere Spiegel im Haus.
Niemands schönes Gesicht. Wolken
Ziehen darin. Die sanften die grauen die
Unheimlich blitzzerschlagenen. Als ob er
Im Krieg ist.

 

In: Sarah Kirsch: Rückenwind, 1977.

 

 

Bäume lesen

 

Der Regen fällt ins Grundwasser
anderen Nutzen
hat er im Winter nicht, es sei denn
ich bezög ihn auf Kiefern und Fichten
diesen nördlichen Bäumen
wird der Staub von Blüten und Wegen
jetzt gründlich ausgewaschen. Die Stämme
ziehen an mir vorbei (das ist übertrieben:
ich gehe den Weg lang) die Bäume sind Lettern, ich
beweg mich wie auf Papier, überspringe
mühsam den Zwischenraum, stolpere ein Zeichen nieder
das hier ist Nadelwald
kein Unterholz alles durchschaubar
von Zeile zu Zeile, der Boden voll Schnee
der kommt aus dem Regen, papierweiß
Eine merkwürdige Baumgruppe
offensichtlich vom Ausland (so
wächst es hier nicht) prellt vor, ich umkreise
sie mit langsamen Schritten: sechs Bäume
der erste am größten, das wär so ein Schiffsmast
ragt in den nicht sichtbarn Himmel, oben
ein Nebelfetzen, Rauch eines Dampfers
die Bäume liegen vertäut, ihrer Schiffsuhr
Zeiger zuckt auf die volle Stunde
ein Krachen ich fürchte mich nicht, ja
das sind Schüsse! jetzt geht es vorwärts
Kampfansage nach oben, nieder
mit Dummheit Ausbeutung Hunger, rot
leuchtet mein Wort
mit mir ein Wald!, Majakowski
bläst seiner Wirbelsäule die Flöte
ich lese: Aurora

 

In: Sarah Kirsch: Katzenkopfpflaster. Gedichte, 1978.

 

 

Nördlicher Juni

 

Die Nächte haben ihre
Eigenschaften verloren:
Weiße Stufen die
Horizonte mit
Rostroten Tüchern.

 

Wer hier hinaufspringt
Kann glücklich werden.
Dreimal rufe ich dich aber
Du bist nicht
Auf Erden.

 

In: Sarah Kirsch: Erlkönigs Tochter. Gedichte, 1982.

 

 

Landwege

 

Wir konnten uns nicht erinnern
An welcher Stelle das Wasser
Hin in den Hintergrund ging und seit wann
Wir dieser Stromleitung folgten.
Die Blumen waren wohl lange verdorrt
Wie graue Esel lagen die Berge
Fünf Horizonte entfernt und wir rollten
In glitzernder bunter Luft
Auf einen irdenen endlosen Teller.

 

In: Sarah Kirsch: Erdreich/Terre, 1988.

 

 

Nesselblüte

 

Der kleine Gartenpavillon
Verlor Fenster und Türen.
Die Schwalben fliegen hindurch
Als wäre er nicht mehr vorhanden
Fledermäuse verschlafen das Leben
Kopfunter im First.
Es stecken Sensen und Forken im Sand
Das aufgelösten zerkrümelten Estrichs.

 

In: Sarah Kirsch: Erdreich/Terre, 1988.