Frauen-Kultur-Archiv


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Die Kunst von heute

Zur Ausstellung der Künstlergruppe: "Das junge Rheinland"

Immer wieder drängt es mich dazu, mich für die holde Kunst einzusetzen, da ich ein Mensch von heute bin. Und da mein Herz gläubig ist, muß es dafür zeugen, denn der Stimmen, die dieser Zeit außer der technischen Tatkraft jede künstlerische Schöpferkraft absprechen wollen, oder wenigstens aber die Notwendigkeit der künstlerischen Werke in unserer Zeit anzweifeln, werden immer mehr. Darum allein ist es vielleicht schon eine Versündigung am Geiste, wenn man sich nicht laut durch Worte dafür einsetzt. Selbst dann, wenn man selbst dem Worte nicht mehr jene Bedeutung beimißt, wie es eine vorhergehende Zeit getan hat. Denn ich weiß, daß meine Worte, selbst dann, wenn sie aus gläubiger Inbrunst dringen möchten, niemals jene suggestive Kraft haben können, wie sie das echte Kunstwerk selbst hat. Auch dann hat, wenn der Einzelne im Oberbewußtsein sich nicht eingestehen will. Denn darüber müssen wir uns doch klar sein, daß das Kunstwerk so schwer sein will wie das Leben selbst, aus dem es kommt. Für den, der es äußerlich anfaßt, ohne Liebe und ohne Versenkung, bleibt es ewig verschlossen. Genau so wie das Leben aber tut es sich dem auf, der sich ihm in Liebe hingibt. Das ist der springende Punkt. Nicht in kritischer Einstellung wird das Publikum dem Kunstwerk nahekommen, sondern nur durch liebevolle Versenkung.

Nur der schöpferische Mensch, nicht der zersetzend negativ eingestellte, wird ein Kunstwerk voll aufnehmen und in sich selbst neu gebären können. Denn die heutige Zeit ist nicht leicht zu fassen. Sie ist nicht von einer Weltanschauung getragen, die nur in einem Stil Form wird. Darum ist es schwer, rein äußerlich sich zu orientieren, denn kein Wegweiser ist da, keine Ismen geben den richtungsgebenden Wink. Der Expressionismus, der notwendig war, um die Form der rein auf äußerliche Eindrücke eingestellten Kunst zu sprengen, hat sich ausgetobt, und es zeigt sich heute nun, wer von den damals revolutionär sich gebärdenden Künstlern nur die revolutionäre Geste hatte oder wer aus dem Blute heraus Fesseln sprengte.

Da der äußere Eindruck einer Kunstausstellung heute ruhiger anmutet, wie zum Beispiel die Jungrheinland-Ausstellung vor sieben Jahren in Düsseldorf, werden Stimmen laut, daß diese Kunst, die heutzutage von den Museumswänden blickt, eigentlich gar keine Berechtigung hat, da sie ganz außerhalb des rasenden Tempos der Zeit stehe. Was sollen uns heute, so heißt es, noch diese Landschaften, Sonnen, Blumen, sanften Frauen, diese Menschenkörper, heute, wo der Hammer regiert, die glühenden Hochöfen und das Auto und das Flugzeug und die Kraft des Sportmanns. Was soll uns diese anscheinend unzeitgemäße Kunst? Diese so fragenden Menschen vergessen, daß ihre Sehnsucht in Wirklichkeit oft zwar nur für Sekunden diesen unzeitgemäßen Elementen wie Sonne und zarten Kindern gehören. Sie erahnen nicht, daß ihr Hetzen ein Betäubungsmittel ist, denn sie haben nichts mehr, woran sie sich halten können. Die Religion ist nicht mehr für jeden eine Stütze und kein Bindungsmittel mehr des ganzen Volkes. Darum die Lautheit und das Rasen unserer Zeit. Nur Wenige haben Kraft, in diesem Tempo und in diesem Wirbel ruhender Pol zu bleiben, an dem wir uns halten können. Wie müßten wir eigentlich diese geistigen Kraftmenschen lieben, die in unserm zeitgemäßen Tun die unzeitgemäßen Güter, die aus vergangenen Jahrhunderten bindend in die kommenden Jahrhunderte weisen, die uns diese Güter erhalten. Wie müßten wir eigentlich diese Menschen lieben, die noch den Glauben sich bewahrt haben an das Unbegrenzte und Unerforschbare, das sich offenbart in Sonne, Mond und Sternen und in jedem Menschengesicht. Welche Liebesquellen graben diese Menschen uns auf, die uns ein Halt zurufen bei unserm unsteten Tun! Wir müßten sie lieben, denn sie, diese schöpferischen Menschen geben uns den Halt wieder, den nur Religion geben kann. Über das Zeitgemäße, das der Mensch hier auf Erden zeitbedingt schafft, weist der Künstler, der aus Blut und Instinkt schafft, auf Ewigkeitswerte, die wir Menschen brauchen wie das tägliche Brot. Er zeigt den Wald, und wir erahnen, was hinter dem Wald ist: eine Unendlichkeit des Raumes Gottes, daß wir erschauern vor dieser Göttlichkeit. Daß wir erschauern in Demut, wie dieser Künstler erschauerte, als in gnadenvoller Stunde er sein Wer schuf. Demütig schuf, fühlend, daß er selbst nur ein ausführendes Werkzeug einer größeren Macht ist. Denken Sie hierbei an Pankok, van Gogh, Munch, Dostojewski. Denken Sie auch an die früheren diesen verwandten, an Hercules Segers, Greco und Grünewald, an die Gotik und an die frühen Christen. Hier zeigt sich der rote Faden, der sich durch die Jahrhunderte zieht, und der beweist, daß diese anscheinend unzeitgemäße Kunst in Wirklichkeit überzeitlich ist.

Neben Werken dieser ekstatischen Menschen stehen solche, die grausig klar uns das Nebeneinander von Natur und Technik zeigen. Kein Bild ist mehr reine Natur. Eine Baggermaschine ragt auf. Ein von Menschen geometrisch genau eingefaßtes Wasserbett zerreißt die Landschaft. Das Grandiose geknebelt! Bösartig legt es sich auf das Gemüt des Beschauers. Ein geistiges, kein äußerliches Erfassen unserer Zeit, des zähen Kampfes, den die Natur mit der Technik führt. Natur – Technik: ein Zwiespalt, der uns zum Beispiel aus den Bildern von Max Ernst in dieser Ausstellung entgegenweht, ein Zwiespalt, der uns Angstträume einjagt und uns beunruhigt, denn die Gottheit liegt tief geknebelt. Man hat Angst. Aber diese Angst soll geboren werden! Das will dieser Künstler. Er gibt uns keinen Halt wie der ekstatische Mensch. Er läßt uns manchmal in dieser Angst ersaufen.

Und neben diesen Dämonisch-ekstatischen und diesen letzteren Zwiespältigen sehen wir den klar Zupackenden, der in seinen Bildern den Fingerabdruck unserer Zeit gibt, es ist der sachliche Mensch, der sagt: so ist es. Seine Bilder sind genau so richtig, wie ein Rechenexempel richtig ist. Wie eine vernunftgemäße logische Antwort sprechen uns die Bilder der Sachlichkeit an. Auch diese Künstler haben ihre persönliche Berechtigung, die Berechtigung ihrer zeitlichen Aussage. Aber der Geist schreit nach Geist, wenn auch die Vernunft zufrieden ist, und wir vermissen bei diesen Bildern das, was hinter dem Vernunfterfaßten unberührt und unerforschlich liegt. Kalt bleiben wir und gefühllos. (In dieser Ausstellung fehlt die Kunst der Sachlichkeit.)

Den Gegenpol zu den Ekstatischen der neben den Zwiespältigen und den Sachlichen besteht, bilden die Menschen, die nicht wie die Ekstatischen aus den Urgründen des Instinktes schaffen, sondern deren Werke ein sinnbar werdendes Blühen des Lebens geben, ohne die Abgründe des dämonischen Menschen. Es sind jene Künstler mit den sinnfälligen Bildern, die gefüllt sind mit dem sinnlich faßbaren Leben. Man kann hier an die französische Malerei denken, die unsern Augen ein Fest ist, ein blühendes Fest von Farben und Formen, ein Fest den Sinnen. Sie sind abseits von den Höhen und Abgründen des ekstatischen Menschen. Denken Sie hier an Liebermann, Manet und den frühen Renoir. In dieser Ausstellung ist H. B. Hundt dieser Art Kunstoffenbarung am nächsten.

Nichts liegt mir natürlich ferner als hier Künstler systematisch einzuteilen. Mir liegt nur daran, ein wenig orientierend über heutige Kunst zu sprechen, um zu zeigen, daß Kunstausstellungen heute ein vielseitiges Gesicht zeigen müssen, genau so vielseitig wie die Zeit selbst. Ich wollte zeigen, wie diese verschiedenen Weltanschauungen nebeneinanderherlaufen, sich ergänzend zu einem Gesamtbild des Suchens und auch schon Gefundenhabens unserer Zeit: Da steht der ekstatisch-dämonische Mensch, der aus den Urgründen des Blutes und Instinktes schafft als einsamer ruhender Pol, an dem wir uns halten können, da steht der Mann mit der ehernen Stirn, der die Kraft in sich hat, den bösen Zwiespalt: Natur – Technik zu gestalten; da steht der Mann mit der sinnenfreudigen Seele und läßt unter seinem Pinsel blühen und daneben steht der Vernunftmensch der Zeit, der sachliche Bilder schafft. Bilder, die unsere Seele kalt lassen in ihrer Seelenlosigkeit. Diese Künstler teilen den Pessimismus unserer Zeit und haben im Grunde den Zweck ihres Berufes verloren. Des Berufes, zu dem die Künstler aller Jahrhunderte berufen waren, dem Geiste zu geben, was des Geistes ist, oder: um ihren Träumen zu trauen, ihren Träumen, die aus Unbewußtem kommen und kraft des Geistes Gestalt gewinnen. Träume – aber nicht kalte Abrechnungen. – Nun habe ich doch Stellung genommen, sogar eine ganz persönliche, die man mir aber verzeihen wird. Denn wieder muß ich betonen, auch dieser Weg war notwendig und führte zu einem Ziel.

Denn der Gedanke der Sachlichkeit hat in der angewandten Kunst, der Architektur, die Zweckbauten macht, tiefste Berechtigung. Da führte uns die Sachlichkeit heraus aus dem verlogenen Ballast des Stuckes und wir erkannten wieder die Schönheit einer ruhigen Front, der geraden Linie. Die Linie einer derartig ruhigen aufgeteilten Häuserwand gibt der Straße Ruhe, drängt sich nicht mehr störend auf. Diese einfachen Linien in den Wohnräumen mit den geradlinigen ruhigen Möbeln geben uns wieder die Ruhe und Weite, die zu innerer Sammlung notwendig ist. Wir werden von diesen Häusern, diesen Möbeln nicht mehr aufgesogen. Wir sind frei von ihnen, keine Sklaven.

Und diese ruhigen einfarbigen Wände können auch wieder Bilder zu den Menschen predigen lassen, frei und ungehemmt. Zwar keine gemütlichen Bilderchen im Goldrahmen, sondern Bilder, die in ihrem geistigen Gehalt (nicht durch äußere Größe natürlich) diese Wände füllen, diese schlichten Räume leben lassen im Geiste seines Bewohners, der das Bild seines eigenen Blutes hineinhängen wird. Es kommt darauf an, wozu er sich persönlich hingezogen fühlt, ob er blutsverwandt ist mit den ekstatischen Künstlern oder ob seine Seele dem sinnenfreudigen, dem zwiespältigen oder dem sachlichen Menschen gehört. Es ist ein Irrtum, wenn selbst in Malerkreisen die Befürchtung auftritt, daß ihre Bilder in sachliche Häuser nicht passen.

Die einfache Geste mit tiefstem Gehalt.

Darum allein brauchen wir schon nicht zu verzweifeln an unserer Zeit, denn in ihr war es möglich, den einfach sachlichen Stil des Bauwerkes zu gestalten. "Die einfache schlichte Geste". Ja, daß wir sie finden konnten, wiederfinden konnten diese einfache Geste, das schon allein kann uns zukunftsfreudig machen. Nicht Armut des Geistes, sondern Demut des Geistes ließ uns die einfache Linie wiederfinden, die einfache Wand, die nach echten Bildern schreit.

Leider haben wir noch keinen sachlichen Museumsbau, verloren und nicht zu Hause so schauen mich immer die Bilder von den viel zu hohen oft reichlich verstuckten Museumswänden an. Sie sind meistens verloren und einsam in diesen Räumen, wie es der Künstler anscheinend selbst im Getriebe der heutigen Welt ist, in einer Welt, in der Luxus war und sein sollte und sie ist doch notwendiges Brot. Des wollen wir eingedenk sein, daß der Leib tot ist ohne Geist.

Solange Menschenherzen lieben, werden Bilder in Räume gehängt. Und gerade der sachliche Bau gibt ihnen den ruhigen Raum, den sie mit ihrem Geiste füllen können. Der sachliche Raum gibt nur die Umrahmung, die jeder mit seinem eigenen Traume füllen muß. Das ist der Stil unserer Zeit: Der sachliche Bau gefüllt mit lebendigen Bildern.

In: Der Schacht. Unpolitisches Wochenblatt für bewußte Kulturarbeit im Ruhrgebiet. 4. Jg. 18. Heft. Januar 1928.

Die unproblematische Frau

Wer den Querschnitt durch unsere Zeit macht, um den regierenden zeitgemäßen Frauentyp herauszukristallisieren, der glaubt ihn am besten zu fassen im Girl und in der Frauenrechtlerin. Und in Wirklichkeit ist die Frauenrechtlerin, sieht man sich nur die organisierten Verbände an, weißhaarig. Sie gehört in ihrem ganzen Gedankengang nicht in unsere Zeit. Das sporttreibende Girl aber ist eine Maske, hinter der sich oft eine tiefempfindende Frauenseele verbirgt. Die Frau von heute, die wesentlich ist, tritt wie zu allen Zeiten mit verschiedenem Äußeren, mit verschiedener Geste auf, aber alle verbindend ist – der vergangenen Frauengeneration konträr – ihre Problemlosigkeit, die erklärbar ist aus der kämpferischen Situation, in die jede Frau hineingesetzt wurde. Denn in Augenblicken, da der Mensch Tiefgehendes erlebt, hört für ihn die gedankliche Auseinandersetzung von Problemen auf, da philosophiert er nicht. – Ein Liebender liest keine Liebesromane, oder höchstens um seinem eigenen Lied zu lauschen, und kein Abenteurer liest Abenteuerromane. Er erlebt sie. Eine Frau, die schafft, die erlebt, wälzt keine Probleme über ihr Geschlecht und seine Möglichkeiten. – Daraus erklärt sich ihre heutige Problemlosigkeit. Denn sie ist wirklich unproblematisch im Gegensatz zur vergangenen Generation, die Vortrupp war für unser Geschlecht. Aus wohlsituierter Bürgerlichkeit heraus kamen alle jene Frauen, deren Namen wir mit verstehender und dankbarer Liebe als unsere Vorkämpferinnen nennen, mit denen uns heute aber weiterhin keine Bande des gemeinsamen Kampfes mehr verknüpfen. Noch einmal: aus wohlsituierter Bürgerlichkeit, die überwunden wurde, kamen jene Frauen, die das Votum der Blaustrümpfigkeit auf sich nahmen, die wie Berserker kämpften für das Kind, für die geistige Freiheit eintraten und sich und ihr Glück für diese Idee opferten. Die heutige wesentliche geistige Frau, von der hier nur die Rede sein kann, kämpft für alle diese Ideen nicht mehr, nicht weil diese Ideen restlos Erfüllung wurden, sondern weil das gedankliche Erbe ihrer Vorkämpferinnen schon eine Blutangelegenheit dieser heutigen Frau wurde. Sie lebt nicht mehr in Gedankenkonstruktionen der Idee, sondern sie erlebt ihre Idee.

Vielleicht ist dieses selbstbewußte, selbstverständliche, problemlose Tun nicht nur erklärbar aus dem sicheren Erbe vergangener Frauengenerationen, sondern noch mehr aus der alles zum Wanken gebrachten Kriegszeit, die alle Länder, ob beteiligt oder unbeteiligt, wach rüttelte. Das Leben des Wohlbehagens – das Leben, das auf Lebensversicherung eingestellt war – wurde vernichtet, und nur der Tapfere, der kräftig sein Gehirn auf diese wechselnden Kurse hier einstellte, oder der Phantast, dessen Blick auf die Sterne sich richtete, behielt einen klaren Kopf. Und diese Bindung: erdhaft und geistig – aus dieser Bindung entstand die wesentliche heutige Frau. Nach Shakespeare geben wir Menschen den Sinn. Nach ihm ist alles sinnlos rätselhaft, nur wir Menschen geben den Dingen den Sinn. Diese aus der Enge des fraulichen Seins herausgerissenen Wesen, die anscheinend ihren Grund verloren, sie gaben mit der Kraft ihrer Wurzeln, die überall Boden faßten, ihrem Dasein einen, nämlich ihren Sinn. Diese selbstverständliche Sinngebung des eigenen Lebens, das bedeutete die geistige Befreiung dieser Frauengeneration.

Diese Frauen, so schien es, kämpften nicht mehr für ihre Schwestern, sie kämpften anscheinend nicht mehr für die Idee, sie taten nichts anderes als ihr eigenes kleines zum Wanken gebrachtes Leben wieder auf sichere Beine zu stellen, um des eigenen Glückes und des Glückes ihrer Geliebten, die doch letzten Endes der tiefste Sinn eines jeden Frauenlebens ist. Und da sie dies taten, ihr kleines Leben aufbauten mit männlicher Tatkraft, da wirkten sie oft wie Männer, und Entsetzen ergriff alle, denen es um unsere Kultur ernst war.

Sie sahen nicht, daß hinter dieser weiblichen Stirn ein zielbewußter Wille am Aufbau einer Welt arbeitete, in der das Frauensein sich erst ganz entfalten konnte.

Um die Gestalt dieser neuen Frau – deren Erkennen Beglückung sein muß für jeden, dem es um die Gestaltung unserer Zeit ernst ist – ganz klar herauszustellen, zeige ich jetzt an wesentlichen Frauentypen aus Frauenromanen, daß diese unproblematische Frau, deren Erscheinen ich als ein Aufbauzeichen unserer Zeit erkennen möchte, da ist. Erkennbar wird all die kommende und gegenwärtige Wesenheit am ersten in der Kunst, die doch der Spiegel einer Zeit ist – das Staubecken, das alle geistigen Niederschläge sammelt!

Eine Frauengestalt, die den aufbauenden Frauentyp darstellt, ist Elsa in dem letzten Roman der Martha Ostenso: "Die tollen Carews". Es ist die Frau, die, ohne es zu wissen, ganz unproblematisch, in ihrer eigenen Welt lebt. Einer Wahrheit, der sie auch um ihrer Liebe willen keinen Zwang antun kann. Es ist nicht mehr die Frau, die still leidet, - auch nicht mehr die Frau, die den Begriff des Opfers kennt, das Resignation zur Folge hat. Nein, es ist die Frau, deren innere Wahrhaftigkeit so stark ist, daß sie von ihr beherrscht wird, daß sie ihr dienen muß. Diese Frau wird von einer inneren Gewalt geleitet und sie ist noch, oder – wenn wir auf die vergangene Generation zurückschauen – vielleicht besser – wieder so instinktsicher, daß sie dieser inneren Gewalt gehorcht. Nichts Sentimentales weht durch das Leben einer derartigen Frau. Nur ein wahrhaftiger Mann hält diese herbe reine Frau aus.

Sonderbar würde unsere vergangene Generation diese Frauengeschichte anmuten, in der eine Frau nicht mehr Spielball von Gefühlen und nicht mehr der passive Teil zu sein scheint, sondern in der sie letzten Endes fast die Verantwortlichkeit für das innere Glück ihrer Familie und der kommenden Generation zu tragen hat. Es ist, als wenn diese Frau wie vor undenklichen Zeiten wieder so etwas wie eine priesterliche Mission zu erfüllen hätte. Die Wahrhaftigkeit einer jeden Geste, die zwischen ihrem Mann und ihr gewechselt wird, die Reinheit des Erlebnisses, das ihr Liebe heißt, ist ihr wichtiger als alles andere auf der Welt. Die äußere Zerrüttung ihrer Lebensverhältnisse, die Elsa erleben muß, alles was in früheren Frauenromanen wichtig zu sein schien, fällt hier im Gedanken- und Gefühlskreis einer derartigen Frau als unwichtig fort oder besser noch, es berührt ihr Wesentliches nicht.

Vielleicht wird dies noch klarer, wenn wir die Frauenreihe betrachten, die uns aus Margarete Kennedys Roman: "Die treue Nymphe", entgegenkommt. Dieser Sangersche Cirkus – wie die englische Aristokratie das Landhaus des Komponisten Sanger taufte – birgt den rührendsten Ausdruck der Frauen, die unsere Zeit hervorbringen konnte. – Da ist die zarte kleine Tessa, die schweigend, unbesiegt und jung starb, die noch im letzten Augenblick, da sie den Tod fühlte, kein Wesens von sich machen konnte – die sich keinen Augenblick ihres Lebens so wichtig vorkam, daß sie andere mit ihrem kleinen Wesen belastete – und der die Ruhe ihres Geliebten wichtiger war als ihre glänzende prachtvolle Schale, die der Onkel ihr bescherte und die der Geliebte in böser Stimmung zerschlug. Als man ihren Geliebten darum schelten wollte, kehrte sie ruhig die Glasscherben auf und wußte so gut, daß ihr Geliebter zu klug und sein Wesen zu tief war, um diese Schale wichtig zu nehmen, und daß es im Leben so wichtig ist, das eigene Herz nicht an äußere Dinge zu hängen, denn eine Schale braucht schon, um zu glänzen, ein Heim, und das durfte sie sich bei ihrem ruhelosen weltabgewandten Geliebten und auch aus der Wahrheit ihrer eigenen Seele, die alles dies als Belastung empfand, gar nicht wünschen. Alles Böse wird in der Atmosphäre dieser kleinen Tessa gut. Und da ist die Frau, die ihr den Geliebten nahm, ohne daß sie oder der Geliebte es wußte; die stolze schöne englische Aristokratin Florence, die aus der Sicherheit ihres bürgerlichen Lebens heraus alles harmonisch zu sehen gewohnt war. Auch sie gehört zu dem neuen Frauentyp. Denn aus ihrer umfassenden Bildung, aus ihrem wohlgeschulten und weitblickenden Gehirn heraus hat sie nicht mehr die Grenzen, die früheren Frauenanschauungen anhafteten. Und ihre Seele flattert voll Sehnsucht heraus aus der Konvention ihrer Gesellschaft nach dem Sangerschen Cirkus hin, in dem eine herbe und frische Luft weht. Sie läßt sich dort fangen, sie liebt und sie liebt in ihrem Mann all die Hemmungslosigkeit, die schöpferische Kraft gegen alle Bindung, wie sie Konvention und Geselligkeit mit sich bringt, instinktiv hat. Aber ihre Liebe möchte dem Manne ihrer Liebe doch auch die Anerkennung und den Lorbeer – den die Gesellschaft auszugeben hat, und der nach ihrem Glauben der künstlerischen Qualität ihres Mannes geziemt – erobern. Wodurch? Durch die einzige Möglichkeit, durch die Geselligkeit, durch die Gesellschaft, in die sie ihren einsamen hemmungslosen Mann hineinziehen will. Sie verpflanzt wilde Blumen in einen künstlichen Garten. Aber die Urkraft ist zu groß. Es gelingt ihr nicht. Sie muß einsehen, daß dieses selbstgewählte Außenseitertum des Sangerschen Cirkus keine Laune, sondern eine Blutangelegenheit ist.

Durch alle heutigen Frauenromane geht diese Erkenntnis, daß jeder Mensch in seinem eigenen Ich befangen ist, daß also jeder Mensch eigentlich gar nicht anders als aus der Erbanlage heraus handeln kann. Darum fehlt diesen Büchern und diesen Frauengestalten alles Moralinsaure und alles Unreine. Wäre uns in Frauenbüchern der vergangenen Generation die wunderhübsche Antonie aus Sangers Cirkus begegnet, die aus ihrem väterlichen Haus entwich, so wäre aus diesem Erlebnis ein dramatischer Konflikt zugunsten der der Frauenpsyche oder ein ungeheuerliches sexuelles Problem entstanden. Hier ist das Problem verschoben und löst sich auf. Es wird problemlos. Und dies ist so wichtig, daß wir dieses Erlebnis näher betrachten müssen. – Antonie liebt ihren häßlichen Mo, was dieser bei der Schönheit Antonies kaum erwarten konnte. Sie liebt ihn und wird ihm, das fühlt man, eines Tages mit aller Reinheit ihres liebenden Herzens gehören. Mo aber begeht die Sünde, diesen Moment der Hingabe zu verpassen und einen durch äußere Umstände (Alkohol) anscheinend für ihn sicheren Augenblick der Selbstauflösung zu nehmen, um sich ihrer Liebe zu erfreuen. Aber er hat nur ihren Körper, nicht ihre liebende Seele besessen, das fühlt dieser Mann, dem viele Frauen begegneten, aber keine so wahrhafte, in ihrer Liebe so grenzenlose wie Antonie. Und diesen Kaufmann Mo befällt nach seiner Tat eine grenzenlose Traurigkeit, denn er kann es nicht glauben, daß es zwischen ihnen wieder gut werden kann, denn sie hat das unheimliche Gesicht der seelenlosen Begierde gesehen, sie, diese gesunde triebhafte Frau, die einen seelenlosen Trieb in sich nicht kannte. Seine Traurigkeit löste aber dieser in sich verkrochenen Frau die Zunge, so dass sie zu ihm gehen konnte. Denn sie erkannte in seiner Traurigkeit seine verschüttete Seele, die ihr gehörte und über die sie in Liebe zu wachen von jetzt ab ihre Berufung sah. So konnte dem ersten fruchtbaren Begegnen Vergessenheit in ihrer Liebe werden. Diese Antonie, die als Geliebte um die Seele ihres Mannes trauert, die sie bei der ersten Umarmung nicht gefühlt hat und die durch ihre keusche Zartheit diesen anscheinend seelisch Verschütteten zu zartesten und reinsten, ersten Liebesgefühlen unbewußt zwingt, ist eine der edelsten Frauengestalten unserer modernen Literatur.

Der Geschlechterhaß, der früher durch alle Bücher wehte, der besonders stark in Frauenbüchern zum Ausdruck kam – der stärksten Ausdruck bei Wedekind fand -, er fehlt in dieser neuen Frauenliteratur. Aufgelöst wird die Verschiedenheit der Gefühle hier stets durch die Liebe der verstehenden Frau.

Wichtig allein ist der heutigen Frau ein Leben, das sie voll und ganz bejahen kann. Nicht passiv, sondern aktiv steht sie ihrem Leben gegenüber, in dem Glauben, daß sie dazu da ist, es fruchtbar zu gestalten. Ein derartig aktives Leben läßt keine Zeit zur Problematik, es hat nur Raum zum tätigen Handeln.

Das sind die Frauen, die ihr Leben gestalteten auf ganz neuer Grundlage, die morgens in aller Frühe singend den Herd scheuern und in Hast das Mittagessen vorbereiten, um dann auf Stunden sich ganz einem Berufe hinzugeben in der stillen Gewißheit ihres häuslichen Glücks, das sie sich gemeinsam mit dem Geliebten schufen. Und dann die Frau, die neben dem ärztlichen oder sonst einem schwierigen Beruf auch noch eigene Kinder in Liebe verwahrt. Die Frauensorgen von früher, der Haushalt, auch er wird besorgt, aber er untersteht ganz der persönlichen Gemütlichkeit der Familie. Er ist kein übergeordneter Selbstzweck mehr. Denn diese im Leben kämpfende Frau kommt mit dergleichen Sehnsucht des stillen Friedens, mit der Sehnsucht nach Gemeinschaft nach Haus wie der Mann und das Kind. Im brausenden Strudel des Lebens wird das Heim die Burg, die Insel, die jeden beschützt, der Aufnahme findet.

Zur Beweiskraft, dass wirklich für die heutige Frau anscheinend eine Problemlosigkeit eingesetzt hat, brauchen wir nicht allein auf unsere Literatur zu schauen, die Frauen schufen. Die verwaisten Frauenverbände selbst geben uns den Beweis. Der Nachwuchs bleibt aus. Nicht zu erklären ist diese Flucht aus der Vergnügungssucht unserer Zeit – diese Sorte Frau war als Kulturträger immer bedeutungslos, sondern sie ist wirklich erklärbar aus der ungeteilten Kraftentfaltung, die heute einer Frau möglich ist und ihr, was wichtig ist - , selbstverständlich wurde. Heute ist, durch die äußeren Verhältnisse bedingt, keine Frau mehr ein Außenseiter, die dem Glück nicht entsagt, wenn die äußeren Verhältnisse des Geliebten ihm keine Ehe ohne wirtschaftliche Unterstützung der Frau gestattet. Nicht mehr wird jener Mann, der eine derartige Frau gefunden hat, als eine Art Verbrecher angesehen, der in eine bürgerliche Familie den Unglückskeil schob. Die Verhältnisse würden heute kaum noch einem Mann ohne Hilfe der Frau gestatten, vor dem Greisenalter zu heiraten. So steht die äußere Lage. – Aber es ist gerade, als wenn diese innere traurige Lage kein sinnloser Zustand wäre. Die Frauen gaben den Sinn! Sie konnten jetzt endlich heraus mit ihrer ganzen Liebesfähigkeit, die sie zu ungeahnten Taten und zu restlosem Verstehen führte. Die unverstandene Nora, die desillusionierte Madame Bovary, die Strindbergsche Frau, die im Geschlechterhaß ihr Heim in Trümmern schlug, sie ist erklärbar nur aus der Triebunsicherheit, welche für die vorhergehende Zeit nicht nur in der Gestaltung des Frauenlebens bezeichnend war. Wie schon vorher gesagt wurde, das ganze Leben einer Frau war vollkommen von traditionellen Überlieferungen, bürgerlichen Vorurteilen und Familienrücksichten eingeengt, so daß für ein eigenes kraftvolles Leben nur selten die innere Freiheit noch blieb. Nicht wie heute ließ sich auch die Frau den Wind um die Nase wehen, fand ihre Weltanschauung und ihre eigene Wahrheit im Lebenskampf, der sie dann eines Tages mit einem Mitkämpfer, einem Kameraden in Liebe verband. Zufälligkeit der Geselligkeit trieb früher die Paare zusammen, die bis zur Ehe, der Konvention gehorchend, nicht die Seele und nicht den Körper des andern in stillen Stunden des Beisammenseins erahnen durften. Auf dieser Ideenlosigkeit einer zweisamen Gemeinschaft baute sich dann eine Ehe auf, die nur noch gerettet werden konnte durch das Kind, das vielleicht eine gemeinsame Idee für beide werden konnte. Aber ein Ganzes, das aufbauend war, ein Kulturfaktor konnte eine derartige Ehe nur selten sein. Meistens konnten die Nerven dieses zwiespältige Leben, das Körper und Geist zu führen hatte, nicht ertragen und die Strindbergsche Tragödie wurde eine Alltäglichkeit. Nicht ohne Grund war das sexuelle Problem und das Eheleben im Vordergrund aller Dichter und Denker. Die ganze Literatur des Naturalismus – von Jäger, Conradt ab bis zu Wedekind – war erfüllt vom sexuellen Problem, das unlöslich schien. Es schien, als wenn die Natur zwischen dem Manne und der Frau wirklich einen unüberwindlichen Zwiespalt geschaffen hätte. Aber der frische und kalte Wind unserer Tage hat diese Probleme verweht. Soll man der russischen Gesandtin Kollontay und ihren Schwestern, die in Dichtung und Prosa ihr Frauenschaffen gestalten – trauen –, so sieht man auch hier, wie das rein frauliche Sein, das immer doch nur durch die Liebe restlos erfüllt wird, auch hier zu letzten eigenen Wahrheiten vorstoßen will.

Es ist so rührend zu lesen, diese neue Frauenliteratur – die wir hier nur so kurz streifen konnten –, die so voll herber keuscher Frische ist, so ganz ohne süßliche Sentimentalität, so ganz ohne Wichtigtuerei und so ganz Sicherheit des Instinkts erahnen läßt. Nicht wie früher eine Auseinandersetzung mit dem Schicksal, keine Anklage an den Mann, der nicht restlos alle Hoffnungen erfüllte – gar kein Geschlechterhaß –, sondern nur ein Lauschen auf das eigene Ich, auf dessen wahrhaftige Lebensgestaltung es den Frauen allein ankommt. Nur die Vergewaltigung der eigenen Lebensidee, nur das Untreuwerden an der eigenen Wahrheit wird von diesen Frauen als Sünde, als Schuld erkannt. Darum die Verantwortung, die diese Frauen in ihrem ganzen Leben im Blute tragen. Sie kennen nicht mehr die Begriffe Opfer und Pflicht, die eine vorhergehende Frauengeneration am reinen Wappenschild verzeichnet hatte. Denn diese Begriffe gingen unter in ihrer blutvollen Wahrheit, der die heutige wesentliche Frau leben muß und leben kann, denn ihre Wahrheit ist im eigenen Lebenskampf gefunden und wird restlos und ohne Überlegungen geliebt. Der Mann, der in dieser Lebensidee, in dieser gefundenen Wahrheit miteinbegriffen ist, der ist beschützt wie Elsas Mann aus Ostenos Roman. Er fühlt im chaotischen Treiben unserer Zeit die innere Harmonie, die Kräfte zum produktiven Schaffen des Mannes frei macht und frei hält. Nicht nur in Frauendichtungen, auch in der Männerliteratur wird die aktive Frau lebendig, die unproblematisch sich einfach im Tun und in der Liebe auslöst. – Man denkt da sofort an des Dichter Gladkow Roman "Zement". Die Frau, die in diesem Roman vor uns lebendig wird, macht uns in ihrer Zielsicherheit fast erschrecken. Sie glaubt an die Gesundung ihres Volkes, die sie als Erbe auch ihrem Kind erkämpfen will. Alles, was sich ihr bei der Realisierung dieser Träume hemmend in den Weg stellt, muß sie niedertreten und zu überwinden suchen, selbst dann, wenn dieser Weg zum Ziel über ihr eigenes zuckendes Herz geht. Es gibt für sie eben nichts anderes als die Mitarbeit an der Realisierung ihres Glaubens, ihrer Wahrheit, die sie erkannt hat. Ein derartiges tatkräftiges und vom Schicksal unüberwindbares weibliches Wesen muß Kraftquellen in sich haben, die grenzenlos sind. Ihr Glaube, für den sie ihr ganzes Leben zeugt, kommt aus religiöser Inbrunst, aus dem Geist und nicht aus dem Gehirn. Das ist das Geheimnis dieser Frauen, die heute manchem Mann so unheimlich wirken, da ihr Kraftmaß so männlich wirkt. Es ist der Geist, der in ihnen mächtig ist, dass sie über ihr von der Natur anscheinend gestecktes Maß hinauswachsen und sich selbst lieber zerstören, als daß sie auch nur einen Schritt von ihrer Wahrheit abrücken. Aber auch diese Selbstzerstörung birgt tiefempfundenes Glück, auch sie bleibt unproblematisch, da sie nicht gewollt, nicht bewußt eintritt, sondern einfach erlebt wird. Das Leben ist schwer und doch ist es in seinem ewigen Kampfe liebenswert. Das ist die große Wahrheit dieser heutigen Menschen, dieser Frauen, die aktiv ins Leben vorstoßen.

In: Der Scheinwerfer. Blätter der städtischen Bühnen Essen. Hg.: Hannes Küpper. 2. Jg., 3. Heft, Essen, Oktober 1928, S. 22-26.

Vom Wesen der Dinge

Im Hause der Vorsitzenden des Verbandes Deutsche Frauenkultur versammelten sich in dieser Woche die Mitglieder zur gemeinschaftlichen Freude an guter Musik, welche die Hausfrau Eleonore Späing zusammen mit ihrer Schwester vermittelte. Weiterhin waren sie zusammengekommen, um den Gedanken zu lauschen und nachzugehen, die Ursula Schulte- Kersmecke, Hagen, in ihrem Vortrag „Vom Wesen der Dinge“ herausstellte.

Es ist für den Vermittler wirklich schwer, ihre Gedanken, die zart hingehaucht mit feinem Stimmchen durch den Raum schwebten, in eine Form zu gießen, die kurz und für alle faßlich ist, so wie es die Zeitungsreportage mit sich bringt.

Wir wollen es versuchen: Sie ging von den Gedanken aus, daß wir uns klar darüber werden müssen, daß dem Wesenhaften in allem Menschlichen heute Gefahr droht. Und da die Dinge vom Menschen gemacht und gebraucht werden, so droht auch ihnen Gefahr, daß sie ihres Wesens beraubt werden. Da wir Frauen soviel mit den Dingen zu tun haben – als Gestalterin, Erhalterin und Verwalterin – „und weil wir ihnen oft verfallen in Sorg’ und Klage einerseits, in Lust und Verlangen andrerseits“, darum ist es so notwendig, daß gerade die Frau das Wesen der Dinge sich vergegenwärtigt, damit diese nicht das Leben beherrschen und die Einheit stören, sondern im Gegenteil das Leben fördern. Denn die Dinge, die zur Erhaltung des Menschen geschaffen wurden, um ihn zur geistigen Arbeit zu befreien und um ihm Sicherheit und Sorglosigkeit zu geben, ist heute verwirrt. Dieser Sinn ist immer mehr zurückgetreten hinter das Ding an sich. Das Haus, das hüten sollte vor Gefahren, damit der Mensch in Ruhe sich freuen könne mit seinen Freunden, sich weiden an ewigen Weisheiten und hinblicken zu den Sternen – die Speisen, die ihn aufbauen sollten zu einem Gefäß für den Geist –, die Geräte, die lebensnotwendige Verrichtungen erleichtern und vereinfachen sollten, – ach, sie fraßen dies eigentliche Leben ja auf!

Es bildete sich so eine Tradition, die glauben machen wollte, der Mensch wäre zur Erhaltung der Dinge da; die Dinge herrschten und erst zu zweit käme das andere: ein Mensch in Not, eine erschütterte Seele. Diktatur der Dinge: Durchlöcherte Seidenstrümpfe halten die Mutter vom Spiel mit dem Kinde ab; das teure Teekleid veranlaßt eine Kürzung des Blindenbeitrags; die Repräsentationssucht, die sich äußert im Pelzmantel und in der Schuhform letzter Mode, zwingt den geistigen Menschen in die Fron, die seinen lahmgewordenen Geist vollends knebelt. Kurzum: es herrschen die Dinge, die unserem Menschentum dienen sollten; sie verloren ihren Sinn. Geld zum Beispiel ist unumgänglich notwendig zur Lebenserhaltung, doch wird es überschätzt, und es hätte uns der Krieg und die Inflation lehren sollen, daß nur der gesichert ist, der außer diesen Schätzen der Erde noch geistige Werte erkennt, die ihm nie genommen werden können. Um Geld zu machen, werden Dinge hergestellt, die die Bedürfnisse der Verbraucher suggestiv steigern und im Grunde nur Begehrlichkeit und Unzufriedenheit züchten. Es ist jetzt soweit gekommen, daß über die Dinge, die man begehrt, das Leben vergessen wird, zu dessen Erhaltung sie eigentlich geschaffen wurden und dem sie dienen sollten. Nicht anders ist es mit dem Ding, das als Mittel zum Ausdruck, zur Verbindung und Auseinandersetzung gezeugt wurde: Luftschiff und Flugzeug, Fernexpress und Auto, Radio und Telephon, Scheckverkehr und Zeitung, Kino und Buch, Kasse und Partei. Die Folge all dieser Erscheinungen sehen wir in der geistigen Verflachung. Es ist einfach nicht mehr möglich, diese Übermenge an Eindrücken zu verarbeiten, und viele verlernen das Leben aus sich selbst.

Wer das wieder fertig brächte, die Dinge, die der Mensch schuf, an den Dingen der Schöpfung, an ihrer Lebendigkeit, an ihrer Ausdruckskraft und Vollkommenheit zu messen, der würde wieder bescheidener werden in der Beurteilung unserer Menschenwerke und ihrer Notwendigkeit für diesen Stern. Würden wir die Dinge wieder einfach sehen, sähen die Dinge der Lebenserhaltung so aus: wir sähen in ihnen ein Stück Brot, ein Lager zur Nacht, ein hütendes Haus, ein Festkleid, eine Schale. Unter diesem Gesichtspunkt tritt zurück, was wir daraus machten, nämlich ein Souper, ein Seidenlager und Pyjama, eine Villa, eine große Abendtoilette, ein Kristallschiff. Alle diese Dinge dienen einem Selbstzweck, der den Menschen beherrscht, der von Repräsentationssucht befallen, die einfache Stellung zu den Dingen verloren hat.

Im Tao-te-king heißt es: „Das Oel in der Lampe verzehrt sich von selbst; der Zimtbaum ist eßbar, darum wird er gefällt.“ Jedermann weiß, wie nützlich es ist, nutzbar zu sein, und keiner weiß, wie nutzbar es ist, nutzlos zu sein im vertieften Sinne dieser Auslegung. Das Ding, das ohne Zweck der Nützlichkeit nichts zu sein hat als Ausdruck des Geistes, trägt am meisten das Gepräge seiner Herkunft: Die Kunst, das Kind des freien Geistes, wird deshalb von den heutigen Menschen nicht erkannt, weil nichts vom Zweckhaften, das heute das Leben beherrscht, darin ist. Hätte das Volk darum wieder Beziehungen zur Kunst, dann hätte es zwangsläufig das richtige Verhältnis zu den zweckhaften Dingen zurück. Nur aus geistigem Erlebnis offenbart sich der Sinn des Lebens. Es ist der Geist, der die Dinge recht macht, wesentlich und wahr. Und was ist der Mensch?

"Ich sei dir eine Wohnung recht,
Ein Stüblein leer und schlicht.
Ach, füll’ mich ganz mit deinem Schein
Du ew’ges Licht."

Nach den letzten Worten des Vortrages brauchten die Zuhörerinnen einige Weile, bis daß sie an den blumengeschmückten Teetischen langsam sich wieder zurückfanden zur Aussprache untereinander.

In: Düsseldorfer Stadt-Anzeiger, 15. März 1931, Nr. 74

Durch die Lupe

Zum Welt-Frauenkongress in Wien vom 27. – 30. Juli 1931

Bedeutet die Rückkehr zu den langen Röcken, zum Federhut und Rüschenkleid nun eine seelische Wandlung der heutigen Frau? Beginnt damit eine produktivere Zeit, die der "wahren" Fraulichkeit entspringt? Oder ist dieser Federhut nur eine Sinnlosigkeit in unserer an Sinnlosem so reichen Zeit?

Aeußerlich betrachtet ist der Federhut eine Sinnlosigkeit, die kluge Frauen nicht mitmachen werden.

Und doch, tiefer gesehen: es fehlt, scheint es -, nur an der Erkenntnis, um die Zusammenhänge hier zu finden. Von den englischen Suffragetten zu der unabhängigen Frau von heute ist der Zeitraum ungefähr 30 Jahre. Und nun geht es nicht weiter. Die Frau merkt, daß es nicht so weitergehen kann, und daß die ewigen Gesetze der Geschlechterbestimmung auf die Dauer nicht ohne verhängnisvollen Schaden für die Frauenwelt unbeachtet gelassen werden kann. Und darum, um zu zeigen, daß man doch noch – bei aller Vermännlichung ein Weibchen geblieben ist, darum stülpt man sich schnell ein Federhütchen auf und wedelt mit Volants und Rüschchen herum.

"Ja, ja, die Wahrheit in der Geschichte der Geschlechter? Nikolaus von Sementowski sagt da ganz richtig: " Von der biblischen Ergebenheit der Frau dem Mann gegenüber, über ihre Isolierbarkeit in der Antike, ihre beinahe zynische Zurückstellung in der Renaissance und schließlich über die oberflächliche Galanterie des Rokoko führte der Weg zur Romantik, zur Anbetung, zum Kulte eines Hölderlin an Diotima." Das war der Höhepunkt. Das Bewußtsein der so vom Manne idealisierten Frau beginnt im 19. Jahrhundert zu erwachen. Sie kommt aus ihrer Enge als "nur anbetungswürdiges Idol" aus der Passivität des Ideals heraus und beginnt auf einmal den Zauber der Aktivität zu begreifen, für die ihr die Taten der Männer als Vorbild dienen. Zunächst ist es eine "geistige Aktivität". Doch bald vertauscht die Frau die begrenzten Bezirke abstrakter Geistigkeit mit Regionen umfassender Wirksamkeit, die bis dahin allein dem Manne vorbehalten waren. Statt Ideologien werden wirkliche soziale Ideen Lebensziele, Schicksale der Frauen. Und schließlich steht sie mitten im öffentlichen Leben, erst im Kampf mit dem Mann als noch nicht "erprobte Konkurrentin", dann aber als ebenbürtige Kraft.

Eines ist jedoch bei dieser Entwicklung offensichtlich, wie rühmlich sie auch sonst sein mag: die Frau hat keinen neuen, nur ihr allein eignen, für den Mann unerfüllbaren oder von ihm bis dahin noch nicht geprägten Ausdruck gefunden. Ueberall war sie seine Schülerin. Sie flüchtete in Ausdrucksformen, die ihm seit jeher geläufig und selbstverständlich waren, weil sie eine Erscheinungsform seines Wesens als Mann darstellten. Es gibt zwar Frauen, die Bücher schreiben, Frauen, die Politik treiben, Entdeckungen innerhalb der Wissenschaft machen usw. – es gibt jedoch keine Frau, die für ihre Eigenart als Frau einen eignen Ausdruck gefunden hätte, soweit er nicht schon ewig dagewesen ist: Gefährtin des Mannes und Mutter zu sein.

Im Hinblick auf diese unvergängliche Bestimmung, die keine Mode, keine Laune und kein noch so starker Wille ändern können, dürfen wir die Entwicklung der Frau in der Geschichte unseres Kulturlebens zwar als eine notwendige Wechselwirkung, niemals aber als ein endgültiges "ideales" Ergebnis der natürlichen Vervollkommnung betrachten. Jede Wechselwirkung ist fruchtbar, aber wie ein Kornfeld, das Jahr um Jahr ausgenutzt wird, einmal aufhört, fruchtbar zu sein, muß auch diese Wechselwirkung sich totlaufen.

Dieses Stadium des Leerlaufs hat die Entwicklung der Frau erreicht die Wechselwirkung hat aufgehört, produktiv zu sein. Die Frau steht vor der Notwendigkeit, in den Zustand ursprünglicher Empfängnisbereitschaft zurückzukehren, um wieder produktiv zu werden nicht aber eine verzerrte Spiegelung des Mannes. Der Mann hat mit Bedauern und Furcht die Emanzipation der Frauen verfolgt, nicht weil er "Konkurrenz" befürchtete, nicht weil er "sich nicht besiegen lassen wollte" nein, er hat sich innerlich dagegen gewehrt, wie einer, der fühlt, daß ihm das Kostbarste und Unentbehrlichste verloren geht. Die Emanzipation der Frau hat das Gegenteil davon erreicht, was sie erstrebte: nicht in Ehrfurcht steht der Mann vor der unabhängigen Frau, sondern wie einer, der der alles verloren hat und darum an nichts mehr glaubt. Der Mann glaubt nicht mehr an die Seelenhaftigkeit der Frau, die der Sehnsucht seiner Seele Zuflucht bedeutet, er glaubt nicht mehr an die Frau als Frau, glaubt nicht mehr an jene silberne Schale, in die er die Lasten seines Leids und die Freuden seiner Taten tragen darf! Er sieht in der Frau heute nur noch ein "physisches Phänomen"! Diese Entwürdigung fühlt die Frau mit dem Instinkt ihrer ewigen Bestimmung."

So spricht ein Mann, und ganz ehrlich, Unrecht kann man ihm kaum geben. Die Frau von heute, die über dem Durchschnitt steht, kämpft dagegen an, nur ein physisches Phänomen zu sein. Sie will ihrer weiblichen Bestimmung nach aufrichtig leben und betreuen und auch ein wenig beschützt wieder sein. Aber kurz gesagt, so etwas wieder "nur" Frau sein! Und das ist gut und wird der Familie neue Kraftquellen erschließen. Denn die Frau, die sich in die Familie zurücksehnt, wird ihr viel mehr uneigennützige Liebe entgegenbringen als die Frau, die sich heraussehnte, als die Frau der vorigen Generation, die mit Neid auf den im Berufsleben stehenden aktiven Manne schaute. Die Sehnsucht nach Mütterlichkeit und engbegrenzter Fraulichkeit ist berechtigt, unberechtigt aber ist der Umweg über Federhut und Volant. Alles Mittel des Männerfangs, die dem Gänschen überlassen bleiben sollten! Die "Weiblichkeit" der heutigen Frau kann sich anders behaupten. Wenn Sementowski glaubt, daß Frauen, die Bücher schreiben, Frauen, die Politik treiben usw., niemals für ihre Eigenart als Frau einen eigenen Ausdruck gefunden hätten, so könnte man das auch positiv ausdeuten: sie haben keinen spezifisch weiblichen Ausdruck gefunden, da sie eine menschliche, das heißt "männlich-weibliche" Einstellung zum Leben hatten. Hoffentlich sind sich die Frauen bei der Umstellung dieser Einheit: "menschlich" bewußt und werden in Mode und Gehabe nicht wieder sklavenartig weibchenhaft. Der Federhut, die Voläntchen und das Getue sind Anzeichen dafür. Echte Frauen sollten einmal darüber nachdenken.

In: Frauen-Beilage der "Gladbach-Rhydter Zeitung", 2. August 1931, Nr. 196

Louise Dumont. Zum Tode der großen Künstlerin

Engel singen:
"Wer immer strebend sich bemüht,
Den können wir erlösen." Faust II.

Als meine Mutter starb, schrieb mir Louise Dumont: "Wer dem Willen seines eingeborenen Gottes folgt – für den ist der Tod gewiß der erste wirkliche Lebens-Feiertag. – Bleiben wir im Sinn unserer Mütter stark, Geliebtes, auch durch den Weltuntergang hindurch." An diese Worte klammern wir uns nun. Was sterblich an Louise Dumont war, haben wir der Erde wiedergegeben. Ihr Bild ist nun schon festgebannt in die Atmosphäre der Heiligen, und wir fühlen sie doch noch als Same, der in die Erde getan wurde, und es ist wie ein Doppelton hier, wie ein Ineinandergeschlungensein von Fern und Nähe, Dasein und Unsichtbarwerden, ein Ineinanderwachsen von Lebenselementen, das uns erschauern läßt. So ist sie wirklich und unwirklich, schwebend, entschwebend, wunderbar und doch wirklich zugleich. Immer schon spürten wir einen Hauch jener Welt, von der sie die Gewißheit in sich trug, als sie noch über diese Erde ging als die große Schauspielerin und weltberühmte Intendantin des Düsseldorfer Schauspielhauses.

Zwischen Louise Dumont und denen, die sich ihr ergaben, handelte es sich um eine ewige Beichte, um eine unlösbare Verbindung zwischen dem Gebundenen und dem Bindenden. Sie selbst ordnete weise und gütig ein, was sich ihr anvertraute. Sie steht nun jenseits aller menschlichen Gefahr, und so darf ich aussagen, wozu mich Liebe und Gewissen drängt: der Ruhm, der ihr zuteil wurde, den fühlte sie nur als Ruhm der Kräfte, die in ihr wirkten. Diesen Kräften gab sie sich bedingungslos hin; aus ihnen holte sie ihre Energien zum Kampf für das Ideal, das vor ihr stand und dem sie unter allen Umständen zum Licht verhelfen wollte. Sie wollte dem Teufel, dem Ungeist, der heute Herrscher unseres Planeten sich dünkt, Boden abgewinnen zum Glücke ihres Volkes, das nicht mehr um die Beseligungen des Geistes weiß, um die man es betrügt. Die Beziehung Luise Dumonts zum deutschen Volk war unmittelbar. Sie fühlte sich als Teilchen dieser Gemeinschaft im Geiste. Die letzten Worte der Sterbenden am Pfingstmontag lauteten: "Möchte doch der Pfingstgeist für unser Volk auf die Erde kommen." Ja, sie hat ein Leben lang um die Seele ihres Volkes gerungen. Beim Theaterspiel ging es ihr auch nie um anderes als um Entscheidungen des Geistes, die auf der Bühne dann das vom äußeren Schein befreite Wesen der Nation beschwören wollten und allezeit, bis in die Todesstunde hinein, in der sie deutlich, aus der Demut ihres ganzen Lebens heraus, "Dein Wille geschehe!" sprach, - trug sie das Schicksal der deutschen Geisteszukunft in ihrem Herzen.

Wenn Louise Dumont Goethe dachte, dann tönte für sie die Stimme des Gottes auf, und sie verkündigte die Freiheit des Geistes. Diese Stimme war stark auch in Louise Dumont. Ihr Geist, der fortgesetzt die größten Probleme trug, der weitgespannt über Grenzen und Normen hi- nausging, der gab dieser Frau die Kraft, alle Gegensätzlichkeiten, auch die der Kirchen, in sich aufzuheben. Sie war zurückgesunken in den Schoß Gottes.

Sie hatte ihr Leben an die Grenzen geführt, wo schon jene großen geistigen Reiche des Himmels und der Hölle beginnen. Wer schon in das ewige Leben hineinwachsen kann hier auf Erden, dem beginnt auch das Leben der Hölle schon hier. Unser Leben ist dann nichts als ein Stück blitzartig durch unser Bewußtsein erhellte Ewigkeit.

"Was ist die Hölle?" fragt Sossima, "ich denke, sie ist der Schmerz darüber, daß man nicht mehr zu lieben vermag. Nur einmal wird im unendlichen Raum, außerhalb von Zeit und Raum, einem geistigen Wesen mit seinem Erscheinen auf der Erde die Fähigkeit verliehen, das zu sagen: ich bin und ich liebe. Nur einmal war ihm ein Augenblick tätiger, lebendiger Liebe und dazu ein Leben hier auf Erden gegeben worden, und mit ihm Zeit und Gelegenheit." Diese Einmaligkeit, Unwandelbarkeit unseres gegebenen Lebens, diese großartige und strenge, vom Menschen alles fordernde Idee der Liebe ist in den Seelen der Menschen unserer Tage wie verlöscht. Louise Dumont aber war es Gewißheit, daß unser ganzes Leben nichts anderes ist als eine Entscheidung zur Ewigkeit, daß wir Menschen von heute alle in einem gewaltigen Drama stehen, das nur durch die Kraft der Liebe, die alle Gegensätzlichkeit in sich auslöscht, von den Völkern überwunden werden kann. Sie wußte, daß diese Liebe nur stark im Geiste werden muß, um dann Form anzunehmen in sichtbarer Wirkung. Darum war ihr Leben ein Dienst am Geiste. Darum vereinigte sie alle Entscheidung auf dieses eine Leben, machte es dadurch reicher, stärker und verantwortungsvoller.

Wie die Natur in unendlicher Fülle in dem Monate ihres Sterbens Form um Form belebt und dann wieder vergehen läßt, so haben auch wir Menschen im Reiche des ewigen Geistes Verschwendung und Überfülle; Seelen um Seelen stehen in Bereitschaft zum Dienst am Geiste, und es braucht nicht mit ihnen gespart zu werden. So nur empfand Louise Dumont sich selbst; sie sparte sich nicht auf. Sie verschwendete sich. Noch in der letzten Zeit ihrer Krankheit wollte sie ihr Spiel im Faust nicht aufgeben und spielte mit Fieber. Vielleicht hat diese künstlerische Besessenheit ihr Ende beschleunigt. Wir können es einfach nicht sofort fassen, wenn ein großer ideenreicher Mensch die Erde verläßt, daß es so sein soll. Denn wir klammern uns an die Form und sehen durch unsere Tränen nicht das Unverlierbare, das uns blieb. Indem wir aber die Einmaligkeit und Verantwortlichkeit des Lebens der Louise Dumont vor Augen führen und auf uns nehmen, erhalten wir Einblick in dieses erhöhte, stärkere, vom Geist durchwehte Leben. Das ist nun schon sichtbare Erfahrung: "An einem Ende der Welt veranlaßt du eine Bewegung, und am anderen Ende der Welt hallet sie wieder." So, und nicht anders muß es gewesen sein, als der Sarg den Boden berührte.

Was in der lebenden Schönheit geschaffen ist, das ist für immer geschaffen. Die Ewigkeit formt sich zwischen den künstlerischen Händen des Künstlers, der würdig ist und stark genug dazu, an der Quelle der Ewigkeit zu schöpfen. Mit diesem Gedanken umfassen wir Louise Dumonts Persönlichkeit, dieser großen Verkünderin der deutschen Sprache. Sie wollte den Rhythmus der Sprache ihres Volkes von der Bühne aus wieder vernehmbar machen. Sie wollte, daß endlich die Deutschen wieder das Wunder ihrer Sprache empfänden, die sich offenbart im Klang eines Goetheschen Satzes. Hier wird das Wort wieder wichtig in der Schwere seines geistigen Gehaltes. Es ist eindeutig und läßt sich nicht drehen und deuteln. Um diese Wahrheit ging es ihr bei der gesetzmäßigen Ausformung des sprachlichen Rhythmus, der in ihren letzten Regiearbeiten "Tasso" und "Faust II" seine Krönung erhielt. Siebzig Jahre mußte sie werden, bis sie ihre Hauptaufgabe: ihre "Lebensaufgabe", den "Faust II" zur Aufführung bringen konnte. Es zeigt Louise Dumonts ganze Demut vor dem großen Kunstwerk, daß sie es erst herausbrachte, als sie glaubte, dafür gerüstet zu sein. Sie wußte nicht, daß das Testament unseres größten deutschen Dichters auch ihre letzte Arbeit sein sollte. Ihre letzte Arbeit, die noch einmal ganz großes Theater war und die Gewissenhaftigkeit deutlich zeigte, mit der man im Düsseldorfer Schauspielhaus an die Aufführung eines überragenden Kunstwerkes ging. Die Aufführung des "Faust II" war eine einmalige Tat, die den Weg noch einmal wies, den Louise Dumont mit ihrem Theater gern ganz eindeutig in jeder Aufführung gezeigt hätte.

"Warum?" so meinte sie einmal im Gespräch, "nicht reinliche Trennung? Wo echte, wahre Kunst gegeben wird, da sollte man seichte, oberflächliche Luftspiele fortlassen. Dafür sollte das Luftspieltheater dann eintreten," und als sie das sagte, da dachte sie wohl an das von ihr und ihrem Gatten Gustav Lindemann in treuer Kameradschaft siebenundzwanzig Jahre geleitete Düsseldorfer Schauspielhaus, das sie gern zu einem Zeittheater in ihrem Sinne gemacht hätte, wenn nicht finanzielle Abhängigkeiten immer wieder den Weg zum Ziel versperrt hätten.

Bis zum Schluß ihres Lebens hat sie aber die Hoffnung nicht aufgegeben. Endlich winkte Erlösung von der wirtschaftlichen Abhängigkeit in den letzten Wochen durch Zusammenschluß des Kölner Schauspielhauses mit dem Düsseldorfer. Planmäßige Bewirtschaftung der zusammengelegten Theater sollte das Schauspielhaus Louise Dumonts unabhängig machen und frei für die Geistestaten unserer Zeit, die wert sind, gesehen zu werden. So hatte Louise Dumont zusammen mit ihrem Gatten und den Freunden des Schauspielhauses es beschlossen. "Das deutsche Theater am Rhein" stand als letzte Vision noch vor Louise Dumont. Sie glaubte an das Wunder bis zuletzt, daß es ihr doch noch gelingen würde, jenes Nationaltheater, von dem Schiller schon träumte, Wirklichkeit werden zu lassen. Es zeigt ihre unerbittliche Wahrheit gegen sich (Vgl. Jahrgang 1930 der Zeitschrift "Deutsche Frauen-Kultur", Seite 4/5 und Seite 295/297; ferner Jahrgang 1932, Seite 62/64.) selbst, ihr großes Verantwortungsgefühl, ihre Gewissenhaftigkeit gegen ihre künstlerische Aufgabe, daß sie nie aufhörte nach Vervollkommnung zu streben.

Vielseitig wie eine weite Landschaft, die Tausendfältiges birgt, war diese Frau. Sie schrieb ein Kochbuch, führte ihren Haushalt mustergültig, und neben ihrer großen Arbeit als Intendantin des Düsseldorfer Schauspielhauses, dem sie Weltgeltung verschaffte, kreisten ihre Gedanken dauernd um das der heutigen Menschheit noch verschlossene Geheimnis: "Wie können wir noch einen Weg zur Gemeinschaft finden?" In ihrem ureigensten Beruf als Theaterleiterin sah sie schon den Weg durch das Ensemblespiel.

Dieses war an allen Bühnen, trotz der vielen überragenden Bühnenkünstler heute, immer schlechter geworden. Man hatte überall, nicht nur beim Theater, sondern in allen Lebensauswirkungen die seelische Macht der Gemeinschaft nicht mehr wichtig genug genommen. Sie suchte nach dieser seelischen Gemeinschaft. Und wenn sie wieder einen Menschen gefunden hatte, der ihr würdig erschien, mitaufzubauen an dieser Gemeinschaft, dann strahlten ihre leuchtenden Augen, und aus ihrem Munde kamen Worte, die heute schon symbolisch sind: "Ein Ring fügt sich zum anderen in meiner goldenen Kette."

An ihrem Grabe auf dem Düsseldorfer Friedhofe bekannten die Frauen durch den Mund ihrer Sprecherin:

Was Louise Dumont jeder einzelnen von uns war, ist ihr eigenstes, sie tief beglückendes Geheimnis.
Was sie allen Frauen war, kann nur im Gelöbnis zum Ausdruck kommen:
Wir wollen versuchen, dem Geiste und dem Geistigen zu dienen in der Treue wie Louise Dumont.
Wir wollen versuchen, eine Persönlichkeit zu werden, in den uns von unserer Natur gesteckten Grenzen, wie Louise Dumont.
Wir wollen versuchen, ein wahrhaftiges, ins Ewige mündende Leben zu führen wie Louise Dumont.

In: Deutsche Frauen-Kultur, hrsg. vom Verband Deutsche Frauenkultur e.V. 36. Jg., Leipzig 1932, Heft 7. Bestand: Frauen-Kultur-Archiv, Düsseldorf

Zum Frieden durch Liebe

Konferenz des Weltfriedensbundes der Mütter und Erzieherinnen

In der der letzten Juniwoche fand in Köln die erste internationale Konferenz des Weltfriedensbundes der Mütter und Erzieherinnen statt, auf der die verschiedensten Länder durch die Sektionsvorsitzenden des Bundes vertreten waren.

Von den in den Sitzungen festgelegten, einstimmig eingenommenen Statuten geben wir hier einen Auszug, der einen Einblick ermöglicht in die Ziele des Bundes:

Artikel 1: Frauen verschiedener Länder, welche den vorliegenden Satzungen zustimmen, haben die Vereinigung gegründet, die den Namen "Weltfriedensbund der Mütter und Erzieherinnen" trägt. Sein Grundsatz ist: "Zum Frieden durch Liebe."

Sein Sitz ist Paris (gegenwärtig 12 rue Guy de la Brosse Ve). Der Weltfriedensbund umfaßt so viele nationale Sektionen, als es Länder mit Mitgliedergruppen gibt, die den nachstehenden Bestimmungen entsprechen:

Artikel 2: Die Mitglieder des Bundes verpflichten sich: a) ihre Kinder oder Zöglinge in einem Geist des Wohlwollens und der Brüderlichkeit gegen alle Fremden zu erziehen und in ihnen die Instinkte der Gewalttätigkeit und der Grausamkeit zu überwinden. b) Mit tätiger Sympathie Menschen und Einrichtungen zu unterstützen, die für die Herstellung des Friedens arbeiten. Seine Tätigkeit bleibt unabhängig von politischen Parteien und vollzieht sich unter unbedingter Achtung aller religiösen Überzeugungen. Beiträge werden nicht erhoben. Die Regelung der freiwilligen Spenden bleibt den einzelnen Sektionen der Länder überlassen.

Artikel 3: Der Weltfriedensbund verwirklicht sein Ziel durch a) Veröffentlichungen, Verteilung und Verkauf durch Broschüren, Flugblättern, Postkarten, die seinem Zweck entsprechen. b) Veranstaltungen von Vorträgen, Reisen, Tagungen und alle Art von Kundgebungen, die dem Friedensgedanken und der Völkerverständigung dienen, sei es allein oder in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen.

Artikel 4: Jede nationale Sektion wird geleitet durch einen unabhängigen Vorstand, der sich nach Annahme der obigen Bestimmungen selbständig konstituiert und die Propagandatätigkeit nach eigenen Ansichten und nach den besonderen Bedürfnissen des Landes organisiert.

Artikel 5: Der internationale leitende Rat wählt aus seinen Mitgliedern eine erste und eine zweite Generalsekretärin, eine erste und zweite Schatzmeisterin und vier Besitzerinnen. Es obliegt ihnen die Hauptleitung des Weltfriedensbundes zwischen den Tagungen und die Ausführungen der Beschlüsse des leitenden Rates. Er vereinigt sich jedes Jahr einmal an einem Ort, der bei jeder Tagung für das folgende Jahr vorausbestimmt wird. Internationale Tagungen finden je nach Bedarf, aber mindestens alle zwei Jahre statt.

Artikel 6: Bei allen seinen Entschließungen geschieht die Abstimmung durch mündliche oder schriftliche Übereinkunft. Die Französin Frau Eidenschenk-Patin, die Begründerin der Liga der Mütter, wurde von der Gesamtheit als Generalsekretärin auf Lebenszeit gewählt, gleichzeitig ist sie dann selbstverständlich noch Generalsekretärin des Bundes in Frankreich. Es wurde so bestimmt, daß die Generalsekretärin eines Landes gleichzeitig auch Delegierte ist, also in den internationalen Rat kommt. Für Deutschland fiel die Wahl auf Frau Hallgarten (München); ihre Adjutantin, ebenfalls stimmberechtigt, wurde auf allgemeinen Wunsch Dr. Marie Stegmann (Dresden). Für Holland nahm Gräfin van Heerdt die Wahl an. Alle drei Frauen hatten sich schon um die Sache der Friedensbewegung verdient gemacht.

Leider müssen wir uns hier kurz fassen und können nur Tatsachenmaterial im Auszug geben. Wir behalten uns aber vor, in einer der nächsten Beilagen ausführlicher noch auf den Friedensgedanken, wie ihn die Frauen dieser Kölner Tagung herausstellten, einzugehen.

Im Kunstverein sprachen die Delegierten nun zur Öffentlichkeit. Die Rede der Frau Constanze Hallgarten, der Generalsekretärin für Deutschland, enthielt folgende Gedanken: Frauen aus den verschiedensten Ländern haben die internationale Liga der Mütter und Erzieherinnen geschlossen, die 1929 durch Französinnen ins Leben gerufen wurde. In Frankreich zählt der Bund schon über 60000 Frauen, in Deutschland, wo er erst ein Jahr besteht, etwa 7000. Diese Zahl wächst täglich. In unserer Zeit höchster materieller Not und tiefster seelischer Verzweiflung wird es den Frauen klar, daß mit den alten Methoden und mit den zum Abgrund führenden Anschauungen aufgeräumt werden muß. Wie rasch die Entwicklung vor sich gegangen ist, beweist die Tatsache, daß auf der ersten Haager Friedenskonferenz im Jahre 1899 nur eine Frau, Berta von Suttner, vertreten war, während 1932 Vertreterinnen von 56 Ländern im Namen von 45 Millionen Frauen ihre Kundgebungen zur Abrüstungs-Konferenz in Genf vorlegten. Die Rednerin wies sodann auf die Möglichkeiten eines neues Weltkrieges hin und schilderte das daraus erwachsende Geschehen: Gasangriffe, Flugzeugüberfälle, Giftbomben und dergleichen Schrecken. Sie schloß diesen Teil ihrer Ausführungen mit den Worten: "Wir haben es viel zu lange geduldet, daß die Errungenschaften der Technik, die genialen Erfindungen auf dem Gebiete der Chemie, der Naturwissenschaften dazu mißbraucht werden, Vernichtungsmittel herzustellen, um sich gegenseitig zu töten.

Sodann sprach sie von der natürlichen und menschlichen engen Verbundenheit der Nationen, die sich aus kleinen, nationalen Unterschieden unüberwindliche Schranken schaffe. Um die Frauen aufzuklären, und um den Willen zum Frieden zu stärken, habe sich der Weltfriedensbund nun zusammengeschlossen. Hauptziel sei die Erziehung der Kinder im Sinne einer neuen Ethik mit dem Willen zur Güte und Gerechtigkeit.

Als Zweite sprach Frau van Heerdt (Holland). In enthusiastischen Worten rief sie: "Auch wir holländischen Frauen nahmen mit Begeisterung den völkerversöhnenden Gedanken der Mme. Eidenschenk-Patin auf. Er gab unserem Frauenwirken in der holländischen Liga für den Völkerbund einen neuen Inhalt, nach dem wir lange gesucht hatten.

Nachdem wir nun prominente Persönlichkeiten des öffentlichen, sozialen und internationalen Lebens in unseren Reihen haben, die zum Teil der Genfer Delegation angehören, können wir auf die beste Hilfe unserer Regierung rechnen. Es ist notwendig, daß wir den Friedensgedanken vor allem schon in die Kinderherzen in den Elementarschulen pflanzen.

Daß der Friedensgedanke so schnell eine so große Anhängerschaft fand, ist dem großen Vorteil zu verdanken, den wir Holländer vor den am Krieg e beteiligten Völkern voraus hatten, da wir nicht erst die Gefühle des Hasses hinwegräumen mußten, um zu den Gefühlen des Friedens zu gelangen. Die Einmütigkeit der Friedensgesinnung in Holland gab sich dadurch kund, daß unser Aufruf für die Genfer Abrüstungskonferenz die überwältigende Zahl von 2 ½ Millionen Unterschriften ergab. Dies bedeutet für Holland 50 Prozent Unterschriften aller Erwachsenen."

Als letzte sprach dann Madame Eidenschenk-Patin selbst. Sie führte aus: "Der Weltfriedensbund der Mütter und Erzieherinnen wurde gegründet, um gegen das schlimmste Übel der Menschheit, den Krieg. zu kämpfen, Zweierlei Mittel gibt es dazu, eines auf lange Sicht: eine Jugenderziehung in allen Ländern, die zu friedlichen Zielen führt, die die Instinkte der Gewalttätigkeit, der Grausamkeit und der Herrschsucht überwindet, die den Tätigkeitstrieb auf menschliche Ziele richtet und, kurz gesagt, die Kräfte, die die Menschheit bisher auf die Zerstörung richtete, für das Gute anwendet. Mittel von direkter Wirkung sind: die Schaffung einer öffentlichen Meinung durch Flugblätter, Vorträge usw. Die größte Schwierigkeit zu Herstellung des Friedens liegt darin, daß die Völker sich nicht kennen: sie werden in Frankreich durch eine, im Dienst der Großindustrie und der Rüstungsindustrie stehende Presse falsch unterrichtet.

Nach den deutschen Wahlen im September 1930 erhob sich eine große Hetze in der französischen nationalen Presse, Briand wurde tatsächlich überschüttet mit Beschimpfungen und Anschuldigungen. Er dachte daran, sich zurückzuziehen. Der Weltfriedensbund griff ein; in einer Auflage von 52000 Exemplaren wurde nun eine an Briand adressierte Postkarte in Umlauf gebracht, die zu Zehntausenden mit zustimmenden Unterschriften versehen am Quai d’Orsay eingingen. Sie versicherte den Minister der Dankbarkeit des Volkes für seine Friedensworte und bat ihn, auf den eingeschlagenen Wegen weiterzugehen. Briand hat in einem Vortrag bekannt, daß er durch diese Aktion der Liga sehr gestärkt worden ist in seinem Glauben an die Friedensliebe des französischen Volkes. Er sagte von den Unterzeichnungen dieser Karte: das ist das wahre Frankreich, für dieses Frankreich werde ich arbeiten. Diese Aktion brachte der Liga einen Zuwachs von etwa 30000 Mitgliedern."

Ein paar zahlen sollen hier noch sprechen, die von der Französin angegeben wurden. 80 Prozent der Steuern gibt Frankreich für Rüstungszwecke aus, 20 Prozent für die Wohlfahrt. Diese Zahlen sprechen Bände. Es ist wirklich an der Zeit, daß die Frauen die Initiative ergreifen und laut und deutlich in allen Ländern sagen, daß die Zeit des Friedens beginnen muß, wenn nicht Europa zugrunde gehen soll.

In: "Frauen-Beilage" zum Düsseldorfer Stadt-Anzeiger, 3. Juli 1932, Nr. 183

Mahner und Vorbild: Der Wandsbecker Bote

Zu der neuen Biographie Urban Roedl:
Matthias Claudius: "Sein Weg und seine Welt" (Kurt Wolff-Verlag Berlin)

Herder äußerte sich einmal über den Herausgeber des Wandsbecker Boten: "Das Beste, was ich von neuen Schriften gelesen, sind Blätter und fast nur Reihen von meinem Freunde Claudius, ohne Gelehrsamkeit und fast ohne Inhalt, aber für gewisse Silbersaiten des Herzens, die so selten gerührt werden."

Aber gerade dafür war in der damaligen Zeit – Claudius wurde 1740 geboren – wenig oder gar kein Verständnis vorhanden. Darum wurde der Schriftleiter der in literarischen Kreisen geschätzten Zeitschrift "Der Wandsbecker Bote" auch in der öffentlichen Kritik zuerst sehr mißhandelt. "Die Kritiker würden es nicht getan haben, wenn sie in die Zukunft gesehen hätten", spöttelt Herder, der bei seiner im Grunde ganz anders gearteten Wesensart doch die Herzensreinheit des Wandsbecker Boten erkannte.

In ihm ist der christliche Glaube noch eine reine Herzenssache und eine unangreifbare Gewißheit. Darum gibt es für ihn darüber einfach keine Problematik. Ewig gültig und unantastbar ist für ihn das Religiöse. Dieses Ursprüngliche und Lautere in der Gesinnung des Claudius hat auch Lessing rückhaltlos anerkannt. Und der viel jüngere Matthias erwiderte diese Zuneigung durch restlose Bewunderung für den Dichter der "Minna von Barnhelm" und für den Verfasser des "Laokoon". Er erkennt auch die überlegene Klugheit dieses Kritikers an, ja, er verehrt direkt diese Lessingsche Persönlichkeit – aber seine problematische Einstellung zu religiösen Fragen schmerzt ihn tief. Wohl sieht er ein, daß die alten religiösen Formen von den Herrschenden zum Teil nur hochgehalten wurden des eigenen Vorteils willen. Dieses Unwahre mußte auch nach seiner Meinung bekämpft werden, aber doch nur durch die Wiederherstellung des Menschen - als Ebenbild Gottes.

Diese Beziehung wieder herausstellen, darin sah Claudius seinen schriftstellerischen Beruf. Seine Meisterschaft der Form ermöglichte ihm, sich auch dem Ungelehrten verständlich zu machen und seine Ursprünglichkeit und seinen Humor walten zu lassen, und selbst von den erhabensten und heiligsten Dingen redete er so erdennah und prunklos feierlich wie keiner sonst in seiner an großen Geistern nicht armen Zeit. Selbstverständlich erwuchsen ihm dadurch auch Feinde und Widersacher, denn nicht alle erkannten den Wert von philosophischen Betrachtungen, die ohne persönlichen Zank waren, und die Güte einer Lyrik, die ohne Pikanterie war.

"Was für ein sonderbarer Parteigänger ist das", so sagt der Biograph, "der es mit den Gelehrten und freien Geistern hält und zugleich aller Zweifelsucht das Wort Christi als letzte Wahrheit entgegensetzt; der den Geisterseher Swedenborg vor den überlegenen Skeptikern in Schutz nimmt und den Weg zwischen der Skylla der religiösen Schwärmerei und der Charybdis der Dogmatik mitten durch – leicht und zugleich schwerer als die berufene Nordwestpassage – sucht. Das Vaterländische und alles Deutsche begrüßt und besingt er und hält sich doch vorsichtig abseits von den neuen Barden, in denen das Wort "Deutsch" eine Fieberwallung erzeugt."

So sagt sein Biograph – und wahrlich, er hätte sich keinen Besseren selbst aussuchen können. Hier hält verantwortungsvolle Liebe Wache über jede Aussage, die gewichtig ist für das Werk und das Leben des Dichters, das hier so rein vermittelt wird. Und dieses Leben war nicht leicht, denn Claudius nahm seinen Glauben zu ernst und seine Liebe zu heilig, um es sich damit hienieden wohnlich einzurichten. Wer aus ganzem Herzen ja sagen möchte, der wird in dieser Welt der Halbheiten um so öfter aus voller Seele nein sagen müssen; "und je heiliger ihm seine Wahrheit ist und je inniger er sie liebt und bewahrt, umso kämpferischer wird er sich gegen alles und alle stellen...", wenn diese Wahrheit ihm bedroht erscheint. Es lohnt sich schon, das Leben dieses Kämpfers unter der Leitung Urban Roedls kennenzulernen. Es gibt eine hoffnungsvolle tiefinnerliche Bereicherung.

In: Neue Post, 28.03.1934, Nr. 12

Herrgott von Bentheim

Ich erinnere mich, daß man in meiner Kinderzeit im westfälischen Elternhaus „Herrgott von Bentheim“ ausrief, wenn man nicht weiterkonnte und mit irgendetwas in eine Sackgasse geraten war. Eigentlich wirkte der Ausruf immer mehr wie ein Fluch als wie ein Anruf des Himmlischen. Als Kind habe ich nicht gefragt. Ich fühlte nur, daß der Herrgott von Bentheim im Leben der Erwachsenen eine große Rolle spielte. Nun ich erwachsen bin und eine Reise mich nach Bentheim führt, suche ich selbstverständlich nach dem Herrgott. Ich finde ihn, den Herrgott meiner Kindheit, im Schloßgarten unter Kastanienbäumen, die ihre Zweige wie das Dachgewölbe eines Domes über ihn zusammenschlagen. Es ist eine der wenigen noch erhaltenen frühchristlichen Darstellungen des Gekreuzigten, eine in ihrer Einfachheit ganz große Auffassung. Ein Künstler, der uns begeistern und edler und größer macht, muß zuerst selbst ein einfaches und großes Herz besitzen. Darum war es wohl richtig, daß ich auf meine Frage nach dem Künstler als Antwort die Geschichte eines Herzens erhielt.

Die Legende erzählt, daß zur Zeit Mittelkinds der Schloßherr von Bentheim ein tapferer Streiter war auf Seiten der Sachsen gegen die anrückenden Franken, die durch Anlage von festen Stützpunkten und durch Errichtung von Bistümern das Land zwangsweise christianisieren wollten. Unter den christlichen Gefangenen, die der Schloßherr machte, befand sich einer namens Theodor, ein Künstler, der auf Bitten der Tochter des Fürsten von Bentheim in der Burg allerhand Verzierungen anzubringen hatte. Bei diesen künstlerischen Arbeiten lernte das Schloßfräulein den Feind ihres Vaters kennen. Aus ihrer Liebe zur Kunst erwuchs eine tiefe Zuneigung zum Künstler. Sie verhalf ihm zur Flucht. Aber da alle Wege abgesperrt waren, versteckte er sich im Bentheimer Urwald. Die heidnische Opferstätte wurde des Christen Zuflucht, und der Opferstein wurde in des Künstlers Händen zum Stoff für den Herrgott von Bentheim. Aus dem heidnischen Opferstein formte er des Erlösers gütiges Antlitz.

Das ist die Geschichte, die man sich heute noch in der Bentheimer Gegend erzählt. Und man versäumt niemals, nach der Erzählung zu bemerken, daß das Kruzifix tatsächlich im Bentheimer Urwald gefunden und wie man sich das sonst erklären sollte, daß es dorthin gekommen sei.

Niemand wird das aufklären. Doch wer durch den Wald geht, der versteht einen Künstler, der hier in seiner Einsamkeit schaffen mußte. Wie schön und ursprünglich ist heute noch dieser Wald, wie eine große Seele ist er bezaubernd in seiner Mannigfaltigkeit und in seinem lieblichen Schweigen. Wie ehedem hört man nur Laute der Natur: ein Vogelflattern, das Knabbern von Eichhörnchen, das Knacken von Zweigen, über die Rehe und Hirsche leichtfüßig hinwegspringen. Fichten und Buchen, die altersschwach ein wilder Sturm umknickte, liegen bemoost im Weg, überwachsen von zahlreicher Nachkommenschaft, die auf dem Boden ihrer toten Baumahnern herrlich gedeiht. Immer wieder überwächst die Baumjugend die leer gewordenen Stellen, so daß trotz der uralten zusammengewachsenen und verknoteten Heinbuchen der Eindruck einer jungfräulichen Wildnis bleibt. Diese lebendige und doch leidenschaftslose Natur, in der alles nach seinem Gesetz blüht, reift und sich vollendet, ist ein Wirklichkeit gewordenes Gleichnis von der Kraft dessen, der dies alles erschafft und erhält.

Menschen, die in einer ursprünglichen Landschaft wohnen wie die Bentheimer Grafschafter, sind schlicht und einfach. Die Abgeschlossenheit und die dadurch notwendig gewordene Nachbarhilfe hat die Bentheimer Landbewohner zu einer tatkräftigen Nächstenliebe erzogen. Nachbartreue in Freud und Leid ist im Lande Wittekinds und des Herrgotts von Bentheim keine vergangene Sitte. Sie wird in Ehren gehalten wie die schwarze und weißumrandete pompöse Ohrenmütze mit wippender Straußenfeder, die Großmutter trägt, wenn sie am Sonntag den Herrgott besuchen geht.

In: Mittag, 05.11.1936

Grabrede für Mutter Ey. September 1947

Wie ein Wunder war dieses Leben, das nun ausgelöscht ist. In unserer Zeit war es ein Geschenk aus der Ewigkeit. Darum ging es wie ein Erschrecken durch uns alte Freunde, als wir erfuhren, dass Johanna Ey gestorben sei, denn wir haben heute nicht mehr zu viele Menschen, die auf so einfache und natürliche Weise sich für das Ewige einsetzen wie diese Künstlermutter.In einer Zeit, in der das Menschenbild so ganz und gar zerstört ist, hat sie es ungetrübt bewahrt für eine um neue Wege ringende Jugend, die nach dem Krieg zum Schrecken aller braven Bürger die alten Formen zerbrach und eigenen Gesetzen folgte.

Johanna Ey kam nicht durch die Wissenschaft, ja noch nicht einmal über das Erlebnis der Kunst zu ihrem Beruf als Kunsthändlerin, zu dem sie wahrhaftig ohne ihr Zutun wie durch Gnadenwahl gerufen wurde.

Sie kam, ein ungebrochenes Menschenkind, dazu, weil sie in den jungen Künstlern, die in ihrem kleinen Kaffeestübchen verkehrten, die "besseren Menschen" erkannte, wie sie sich selbst einmal mir gegenüber ausdrückte.

Wenn sie ihre geliebte Kaffeemühle drehte, lauschte sie den Gesprächen der jungen Maler und Bildhauer, und in ihrer weiblichen intuitiven Art erfasste sie die künstlerischen Probleme, die zur Debatte standen. Sie erlebte mit ihren Lieblingen die Schöpferfreuden und Depressionen, sie empörte sich mit ihnen gegen die kleinlichen Behörden und ihre Verbote, und ohne dass sie selbst merkte, wie es dazu kam, war sie der Mittelpunkt des revolutionären Künstlerkreises. Ihr Schaufenster wurde zum Eckstein, an dem sich die Vorübergehenden stießen. Selbst die Polizei rückte des öfteren an, und Mutter Ey wurde zur Kämpferin für die künstlerische Freiheit.

1920 war es, da kam ich als junge Journalistin nach Düsseldorf, und ich erinnere noch genau an meine erste Bekanntschaft mit dem Ey. Ich stand in einer empörten Menschenmenge, die sich vor dem Fenster angesammelt hatte. Dort im Schaufenster stand eine Kreuzigung, die nach Polizeibefehl von dort verschwinden sollte. Eine kleine dicke, aber sehr lebendige Frau wehrte sich mit beredten Worten, bis ein bärtiger Hüne aus der Tür trat und mit einer ritterlichen, aber entschiedenen Bewegung die kleine quicklebendige Frau beiseite schob und die Verteidigung des Bildes begann. Er erklärte, wieso eine Kreuzigung unmöglich in der gewohnten Gebhardtschen Art gemalt werden könne. Er streckte seine linke Handfläche vor mir aus und wies mit seiner rechten Hand darauf und sagte: "solche Nägel hat man ihm durch die Hand getrieben, solche Nägel ..." Und von dem Gesicht der Frau, die den erklärenden Hünen begeistert, und von der Vorstellung des grausigen Bildes zugleich entsetzt, anstarrte, ging eine solche Hingabe aus, dass auch in mir Flammen der Empörung aufstiegen und unser aller Rebellentum uns damals sofort vereinte.

Das heißt, vor ungefähr 8 Tagen, als ich Mutter Ey zum letzten Mal besuchte, gestand sie mir, dass sie mich in der ersten Zeit gehaßt habe, weil sie fürchtete, daß ich das Herz der Künstler stähle oder wenigstens eines Künstlers – bis sie erkannt habe, dass die Liebe nicht abnimmt, je mehr man von ihr fordert, und dass ihr nichts verloren ging, als das Herz ihres jungen Malerfreundes aufzublühen begann.

Mit so viel Liebe sah sie mich bei ihrem Bekenntnis an, und ich sehe noch ihren Finger auf Otto Pankok hinweisen, mit dem sie so gerne lachte und sich neckte. Denn auch das verband diese Frau mit dem wahren Künstler, dass sie wie dieser jedem Pathos abhold war und ihre Gefühle gern hinter Lachen und Spaßmachen versteckte.

Gert Wollheim war ihr am nächsten, war er doch am gefährdetsten, was diese mütterliche Frau bald erkannt hatte. Sie wusste, wer Wollheim war, das hinter seinem rauen Wesen ein kindlicher, empfindsamer Mensch verborgen war. Daß hinter seinem Gelächter über die Spießbürger Tränen der Einsamkeit standen. Wie gut sie diese Tragik verstand, sollte ich eines Tages erfahren.

Ich hatte Wollheim im Hofgarten getroffen, seinen Spazierstock geschultert, kam er mir entgegen. Er tritt auf mich zu, wie einer, der ein Regiment führt, dachte ich. Und seltsamerweise begrüßte er mich mit den Worten: "Ich bin ein General, und hinter mir folgen alle meine Soldaten." Hinter ihm war niemand. Trotzdem es ein Witz sein sollte, überlief es mich eiskalt. Irgendeine Verzweiflung spürte ich aus seinem Worte. Ich begleitete ihn zum Ey, und Wollheim erzählte spaßhaft sein kleines Erlebnis mit mir und führte seine gespensterhafte Wachparade vor Frau Ey im Zimmer vor. Ich sah Mutter Ey an, und unsere Augen trafen sich in schwesterlichem Verständnis für den traurigen Possenreiter, und schon nahm sie den Kochlöffel, mit dem sie gerade ihre Suppe gerührt hatte, schulterte ihn und stellte sich hinter Wollheim als der ersten Rekrut.

Und wie so oft stand sie so allein hinter dem einsam Ringenden mit ihrer naiven Hingabe und zugleich so zähen Kraft, wenn es galt, etwas für ihre Lieblinge durchzusetzen, die sich täglich bei ihr versammelten. Wir wollen zum Gedächtnis von Mutter Ey die Gestalten zurückholen, die aus allen Künstlerkreisen zu ihr fanden, denn nicht nur Maler und Bildhauer, auch Presse und Theater suchten hier Anregung in Gesprächen. Vor meinem geistigen Auge ersteht der Schauspieler Hannemann, der stets begeisterte, der freiheitliche Gesänge Walt Whitmans in den Raum brüllte, mit gesträubtem Haar und wild fuchtelnden Händen und in der Ecke sitzt Richard Dornseiff und bringt einen neuen Gast zum Erschrecken. Er schlägt mit einem Schlüssel an sein Glasauge, das ihm der Krieg einbrachte. Der junge Quedenfeld deklamiert seinen ertrunkenen Dichterfreund Heym:

Nachtwandlern gleich. gejagt vom Entsetzen der Träume,
Die seufzend sich stoßen mit blinder Hand,
Also schwankten wir in des Herbstes verschwindende Bäume.

Der Zeichenlehrer Rilke aber setzte diesen auflösenden Versen seine wohlgesetzte Kritik entgegen, die er zur Freude von Mutter Ey auch noch dann fortsetze, als keiner mehr zuhörte, das Interesse sich vielmehr dem neuen Weltgefühl des Vaters Quedenfeld zugewandt hatte. In Gedanken versunken, als stiller, aber von Mutter Ey geliebter Sohn, saß Matthias Barz am Tisch und trank seinen Kaffee, neben ihm, immer voller Streiche und Einfälle, Karl Schwesig, während ein Lied der Carmen verriet, daß Männe Hundt im Anmarsch war.

Gert Schreiner und die Griese, wie sie allgemein genannt wurde, und Wollheims Braut, die Pianistin Lene Stein. Die Schauspieler Karl Kyser, der Getreue, und Ferdinand Classen, der mit Johanna und allen ihren Freunden einen Wildwestfilm drehte, die Drillhaases, Dr. Markan, Konrad Biermann und Anton Brüning, Otto Dix, Max Ernst, Hein Heckroth, Theo Sprüngli und das Ehepaar Pudlich. Dann der Spanier Surreda, der Johanna Ey nach Mallorca entführte.

Sie alle waren immer in Bereitschaft mitzubauen an dieser oft so zufälligen und dennoch durch Johanna Ey zusammengefassten Gemeinschaft, die oft nichts verband als die sprühende Jugend, die sich geliebt und verstanden wußte von dieser Frau. Immer wird sie uns so gegenwärtig bleiben.

Wenn man sie besuchte, erzählte sie aus jener Vergangenheit, der großen Zeit ihres Lebens, das sich damals so restlos erfüllen durfte, daß jene Zeit für sie aus der Ewigkeit ausgeschnitten schien.

Liebevoll von ihren Kindern betreut, besaß sie die Geduld und die Ergebenheit, auch die Beschwernisse des Alters und des letzten Abstiegs auf sich zu nehmen.

Raum und Zeit spielten keine Rolle mehr in ihren letzten Jahren so gegenwärtig stand sie in der Vergangenheit und in der Verbindung mit ihren Malern, und in liebender Verbundenheit in der Ewigkeit.

Quelle: Typoskript, Pankok-Archiv, Haus Esselt.

Deutsche Frauenpartei

Die im März 1951 gegründete "Deutsche Frauenpartei" trat in diesen Tagen in einem Düsseldorfer Presseempfang an die Öffentlichkeit. In ihren einführenden Worten betonte die Vorsitzende, Hulda Pankok, dass die Partei nicht aus einer Gegnerschaft zu den Männern entstanden sei. Die Frauen hätten nur die Gefahren der einseitigen Männerpolitik in unserer Zeit erkannt und sich verpflichtet gefühlt, das männliche Denken und Handeln mit den aus weiblicher Schau kommenden Gedanken und Taten zu ergänzen. Die Frauen hoffen, durch ihren freundlichen Einfluss die Politik wieder zu vermenschlichen, den Geist der Toleranz, der freundlichen Beziehungen dort wirksam zu machen, wo die Meinungen aufeinanderprallen, nämlich im Parlament.

Die Frauenorganisationen, die bis jetzt gebildet wurden, konnten sich durch die geringe Vertretung im Parlament mit ihren Wünschen kaum durchsetzen, außerdem waren die weiblichen Abgeordneten von ihrer Partei abhängig. Die bestehenden Parteien haben bis jetzt 39 weibliche Abgeordnete bei 379 männlichen Abgeordneten zugelassen. Da über die Hälfte der Wähler weiblich ist, schien es den Frauen kein unbilliges Verlangen, durch eine eigene Partei das Parlament in einem maßvolleren Verhältnis mit Frauen, besonders mit erfahrenen Müttern zu besetzen. Die Frauen erstreben durch ihre Partei den inner- und außenpolitischen Frieden. Sie sind der Meinung, dass die Politik, welcher der weibliche Einfluss fehlt, leichter Gefahr läuft, sich in Theorien zu verlieren und in starre Systeme. Da aber kein System unfehlbar sein kann, kann man die Politik dann schließlich doch nur mit Gewalt oder mit einem geistigen Terror aufrecht erhalten. Wenigstens für eine gewisse Zeit. Die Frauen erhoffen nun, dass sie die doktrinären Männer zu den sachlichen und einfachen Notwendigkeiten zurückführen, ohne dass sie dabei die Werte, Fähigkeiten und Erfolge der politischen Männer verkennen.

Ziel der Frauenpartei ist die direkte Mitarbeit an allen Tagesfragen in den Parlamenten. Zur Erreichung dieses Ziels sollen Frauenpersönlichkeiten aus allen Volksschichten und Berufen, die ihre Fähigkeit zur politischen Mitarbeit bewiesen haben, zur Wahl gestellt werden. Die Frauen Partei steht auf demokratischer Grundlage und erstrebt einen gerechten sozialen Ausgleich. Sie erstrebt nicht die Macht im Staat, sondern sie will an erster Stelle an der innenpolitischen Befriedung unseres Landes ausgleichend mithelfen. Die Frauen Partei lehnt die übliche Partei-Disziplin und den Fraktionszwang ab. Sie ist an keine Weltanschauung gebunden und verpflichtet auch zu keiner weltanschaulichen Festlegung, sondern nur zu fraulich-mütterlicher Verhaltungsweise bei allen Entscheidungen. Oberstes Gesetz ist gegen niemand zu sein und weder durch Wort noch Tat Unfrieden und Hass gegen Einzelpersonen oder Gruppen von Menschen zu verbreiten. Stellungnahmen zu Geschehnissen dürfen nur in unantastbarer sachlicher Form vorgebracht werden. Das Misstrauen, das heute unser öffentliches Leben vergiftet, will die Frauenpartei überwinden durch eine offene und klare Politik. Die Vertreterinnen der Frauenpartei sind darum nur ihrem Gewissen und den Wählern gegenüber verantwortlich.

Die Frauen Partei setzt sich für die Verwirklichung eines wahren Friedens durch Abrüstung, Gleichberechtigung und Freiheit aller Völker ein. Sie setzt sich für die soziale Sicherheit jedes Menschen ein.

  1. Durch Arbeit und Verdienstmöglichkeit jedes Arbeitsfähigen.
  2. Durch staatsbürgerliche Versorgung jedes Hilfsbedürftigen.

Die Frauenpartei fordert persönliche Freiheit jedes Menschen durch Gesetze, die jeden Missbrauch persönlicher und staatlicher Macht zur Unterdrückung eines Menschen durch andere Menschen unmöglich macht. Vorschläge werden durch die Partei ausgearbeitet, welche Massnahmen zur Verwirklichung dieser Forderungen im bügerl. Recht, im Arbeits-, Wohn-, Schul-, Straf-, und Wirtschaftsrecht durchzuführen sind, um den Schutz zu gewährleisten.

Kommissionen sollen gebildet werden, die bei Wirtschaftsplänen mitarbeiten. Der größte Teil des Volksvermögens geht durch die Hände der Frauen, die als Betreuerinnen der Familie und des Haushalts doch die zahlreichsten Konsumentinnen sind. Ihre praktischen Erfahrungen sollen bei der Lösung von wirtschaftlichen und Ernährungsproblemen nicht mehr unberücksichtigt bleiben. Die Frauen, die mit den Wirtschaftskrisen in unmittelbarer Beziehung stehen und sie täglich im kleinen meistern müssen, könnten nach Meinung der Frauenpartei auch auf die Finanzpolitik im besten Sinne einwirken. Die Beratung der einzelnen Ressorts durch Frauen soll die Hauptaufgabe der Frauen Partei sein.

Die Partei-Organisation besteht aus dem Bundesvorstand und den einzelnen Ortgruppenvorständen, die in steter Fühlung mit ihren Mitgliedern und interessierten Frauen alle gestellten Aufgaben durchsprechen. In den einzelnen Orten werden öffentliche Sprechstunden abgehalten und Informationsabende eingerichtet. Größere Vorträge werben für die "Deutsche Frauenpartei."

Quelle: Undatiertes Typoskript, Pankok-Archiv, Haus Esselt

Paula Becker-Modersohn

Eine große Künstlerin und ein vorbildlicher Mensch

Die Freunde von Paula Becker-Modersohn erinnern sich noch des Tages, an dem in der Böttcherstraße in Bremen das Paula-Becker-Modersohn-Haus eröffnet wurde, welches das Lebenswerk dieser Künstlerin aus allen Schaffensperioden zeigte. Es war ein großes Fest mit klugen Reden, mit gutem Essen und perlendem Sekt und mit all dem äußeren Glanz, der von schönen geputzten Damen und von schwarzbefrackten Herren auszugehen pflegt, die sich hier versammelt hatten, um einer genialen Frau nach dem Tode die Ehre zu erweisen, die ihr im Leben versagt blieb. Es wollte der festliche Tumult so gar nicht zu den stillen Bildern passen. Die Freunde von Paula Becker-Modersohn saßen abseits, beunruhigt und verwirrt da, bis plötzlich einer unter ihnen laut sagte: „Das ist die Welt!“ Diesen Ausspruch hatte die hier gefeierte Künstlerin getan, wenn sie mit der lauten Welt nicht fertig wurde und diese ihr unverständlich blieb. Dann konnte sie auf eine so nachsichtige und liebevolle Art sagen: „Das ist die Welt!“ Und selbst diese Welt, die sich ihr verschloß, hörte sie nicht auf zu lieben. Sie blieb eine ehrfürchtige Tochter, die in ihren Briefen immer wieder die Eltern bat, Geduld mit ihr zu haben, die darunter litt, daß sie ihre Lieben durch ihre Bilder nicht erfreuen konnte, sondern sie erschrecken mußte. Sie war traurig darüber, doch vermochte niemand und nichts diese Frau von ihrem Weg abzubringen. Sie ging ihn still, anspruchslos und zielsicher. Sie selbst schrieb in ihr Tagebuch: „Man tut eben, was man kann und legt sich dann schlafen. Und auf diese Weise geschieht es, daß man eines Tages etwas geleistet hat.“

Zu der Ablehnung ihrer Kunst von seiten ihrer Angehörigen, welche die sorgende Liebe aber nicht minderte, kam noch die vollkommene Ablehnung der Öffentlichkeit. Bei ihrer ersten Ausstellung in der Bremer Kunsthalle im Jahre 1899 verzeichnete sie in ihrem Tagebuch, daß die Presse „alles in Grund und Boden donnert“. Sie schrieb weiterhin, daß sie davon derart mitgenommen war, daß sie in der Nacht von einem Alptraum befallen wurde: „Das war ein fürchterlicher Kater, der seinen langen Schwanz um meinen Hals gewickelt hatte und meine Seele schier erdrosselte.“

Was war der Grund, daß ihre stille Kunst die Seele der andern in Aufruhr brachte und sie so erschreckte? Verstehen kann man diese Schockwirkung nur, wenn man bedenkt, wie es zu dieser Zeit im Kunstleben aussah. Das Bürgertum, aus dem sie entwuchs, fühlte sich noch in einer gesellschaftlichen Ordnung geborgen. Es wollte keine Beunruhigung der Seele. Die Porträtkunst suchte den äußeren Menschen mit aller Delikatesse ästhetisch im Bilde einzufangen. Selbst der von Paula Becker-Modersohn geschätzte Worpsweder Maler Mackensen machte, ihrer Ansicht nach, aus den Heidebauern und den Tagelöhnerkindern Genrebilder. Gerade das wollte sie nicht: Sie suchte die große Einfachheit der Form. Darum liebte sie die Kunst Millets. Hier sah sie verwirklicht, was sie auf eigene Weise darzustellen versuchte. Sie suchte nach „großer biblischer Einfachheit“. Das war es, was sie in Gegensatz setzte zur herkömmlichen Kunst jener Tage, die gefällig, lieblich und ansprechbar sein sollte. „Anton von Werners Glanzlichter auf den Stiefeln liegen uns alle im Blut“, meinte sie selbst. Und da sie den Glanzlichtern entsagte, wurden die Angehörigen unsicher und begannen an ihrem Talent zu zweifeln. Als Sicherheit für die Zukunft verlangte darum der Vater von ihr das Lehrerinnenexamen. Sie tat ihm den Gefallen; übte aber nach dem Examen den Lehrerinnenberuf nicht aus. Ihr Vater, der in großer sorgender Liebe an der Tochter hing, gab schließlich ihren verzweifelten Bitten nach und ermöglichte ihr noch eine künstlerische Ausbildung in Berlin und später in Paris. Wie freute sie sich über die „kindliche Empfänglichkeit der Franzosen, die sich auch in der Kunst zeigt“. Sie erkannte Verwandtes beim Anblick großer Kunst im Louvre. Sie fühlte den Mut wachsen und freute sich an der Anbetung der Natur in den Meisterwerken, aus denen ihr so etwas wie eine Bestätigung ihres künstlerischen Wollens erwachsen sollte. Sie suchte nun, wie sie sich ausdrückte, „das sanfte Vibrieren der Dinge auszudrücken“. Paris sollte immer wieder ihre Zufluchtsstätte werden, wenn sie Anregung suchte oder aber Ruhe zur Konzentration. Beides gab diese große Stadt: Anregung und die Möglichkeit, sich darin zu isolieren.

Das Wesen der Landschaft, das Charakteristische der Menschen wollte sie im Bilde ausdrücken. In welch großartiger Weise ihr das gelungen ist, das wissen wir heute. Sie selbst bekannte einmal: „Die Stärke, mit der ein Gegenstand erfaßt wird, das ist die Schönheit in der Kunst. Ist es auch nicht so in der Liebe?“ Und nun sollte sie die Liebe nicht halten können, weil die Kunst keinen neben sich dulden wollte.

Und doch wurde ihr die Einsamkeit nicht leicht. Sie hatte ein Verlangen nach Nähe und Wärme, und ihre Tagebuchnotizen zeigen, wie schmerzlich sie das kleinste Nichtverstehen empfand. Und es ist aus ihren Werken ebenso wie aus ihren Worten zu erkennen, daß die später bedrohte Ehe mit dem Maler Otto Modersohn in Worpswede – wohin sie gezogen war, um die Bauern zu malen – eine große Bereicherung ihres Lebens war. So schrieb sie von Paris an ihren Mann: „Als Mädchen war ich innerlich jubelnd und erwartungsvoll, nun als Frau bin ich auch voller Erwartungen, aber sie sind stiller und ernster. Ich glaube, es sind jetzt nur ihrer zwei ganz bestimmte: meine Kunst und meine Familie.“ Dennoch war sie auf Dauer untauglich für die Zweisamkeit einer Ehe, die sie nicht zur Konzentration kommen ließ, so daß sie Worpswede immer wieder verließ, um in Paris ganz ihrer Malerei zu leben. Otto Modersohn, selbst Künstler, hatte das Schicksalhafte in dieser Flucht seiner Frau begriffen, sonst wäre der feinfühlige Mann nicht nach Paris gefahren, um sie zu beschwören, nach Worpswede zurückzukehren, das zu ihr gehörte, das ihr die Modelle lieferte, die sie so liebte: die bäuerlichen Frauen und die Tagelöhnerkinder und die Landschaft. Sie gab nach, sie wollte die Liebe festhalten und sie ging mit nach Worpswede zurück, wo sie am 2. November 1907 einem gesunden Mädchen das Leben gab. Niemand von ihrer Umgebung ahnte, daß sie wenige Tage später, am 21. November, sterben mußte. Eben hatte sie noch glücklich ausgerufen: „Ach, wie freue ich mich! wie freue ich mich!“, da sank sie zusammen, und sterbend flüsterte sie noch „Wie schade.“

Die Welt nahm vom Tod dieser Frau wenig Notiz. Aber einer sang ihr das leidenschaftliche Requiem, Rainer Maria Rilke:

Denn das verstandest Du: die vollen Früchte,
die legtest Du auf Schalen vor Dich hin
und wogst mit Farben ihre Schwere auf,
Und so wie Früchte sahst Du auch die Fraun
und sahst die Kinder so, von innen her
geschrieben in die Formen ihres Daseins.
Und sahst dich selbst zuletzt als eine Frucht,
nahmst Dich heraus aus Deinen Kleidern, trugst
Dich vor den Spiegel, ließest Dich hinein
bis auf Dein Schauen; das blieb groß davor
und sagte nicht: das bin ich; nein: dies ist.
So ohne Neugier war zuletzt Dein Schauen
und so besitzlos, von so wahrer Armut,
daß es Dich selbst nicht mehr begehrte: heilig.

In: Die Frau im Mittag, Nr. 16, 20. Januar 1954

Neuer „Dada“ im Galeriechen bei Schmela

Aus den Anfängen des Künstlers Yves Klein in der Altstadt

In dem Straßenstückchen zwischen Andreaskirche und Bolkerstraße herrschen die Diminutive, hochdeutsche und niederrheinische Kom(m)ödchen, Raritätchen, Höhnerknöcks’ke . . . Das „Raritätchen“ freilich packte jüngst seine netten Sächelchen zusammen und siedelte über in die Wibbelgasse. Die Städtische Liegenschaftsverwaltung, der das Haus gehört, zeigte sich gnädig und überließ das Räumchen dem Architekten, Maler und Kunsthändler Schmela, der die Wände sachlich grau umhüllte und daselbst eine Galerie eröffnete, besser gesagt, ein Galeriechen, ein Kunstsalönchen. In- und ausländische Kunst wird man dort zu sehen bekommen. Modern, versteht sich.

In Paris, in den engen Gäßchen um St. Germain-des-Prés, gibt es ein paar Dutzend solcher winziger Galerien der Avantgarde. So etwas imponiert den Deutschen, und im Galeriechen von Herrn Schmela begann man auf gut Französisch. Ins Haus flatterte ein Prospekt mit einem längeren französischen Text, dem zu entnehmen war, daß man die „Propositions Monochromes“ des Malers Yves zeigen werde, sie, die die „Stunde der Wahrheit“ und die reine „Kontemplation“ bedeuteten. Herr Yves war selbst zur Stelle, ein sympathischer, bescheidener Mann von etwa 30 Jahren, mit schönen, schwermütigen Augen. Auch Iris Clert hatte ihre Kunsthandlung in der Rue des Beaux-Arts für zwei Tage im Stich gelassen, um im himbeerfarbenen Mantel dem Ereignis in der Hunsrückenstraße beizuwohnen. Iris Clert und Schmela arbeiten nämlich Hand in Hand. Ein dicker Band mit Fotos und Zeitungsausschnitten belehrt darüber, daß Herr Yves mit seinen „Monochromes“ bereits in aller Welt zu sehen war.

Was sind nun die „Propositions Monochromes“ des liebenswürdigen Herrn Yves? Yves nagelt auf einen Keilrahmen Hartfaserplatten auf, mal größere, mal kleinere, mal als Querformat, mal als Hochformat. Er bezieht seine Platten mit Leinen, greift zur Farbe und überstreicht seine Flächen mittels einer kleinen Walze ostereierbunt und streng einfarbig, grün, rot, gelb. Fertig aus. Die Walze werkelt bei dem einen Bild von oben nach unten, beim nächsten vielleicht von links nach rechts, das sind schwerwiegende Unterschiede, auch die Struktur des unterklebten Leinens macht sich ein bißchen bemerkbar. Verteilt man die Bilder geschickt an der Wand, wie Herr Schmela dies tat, so ergibt sich ein lustiges Flächenspiel, fast ein Mondrian, aber dazu gehört schon ein halbes Dutzend echter Yves. Wenn man nur einen davon hat, was tut man dann damit? Vielleicht davor meditieren – über das Unendliche. Herr Yves lebte einige Jahre im Fernen Osten und mag wissen, wie man meditiert.

Er weiß am Ende noch einiges mehr; daß Kunst immer und immer eine schwere Sache ist und man gut tut, von Zeit zu Zeit wieder bei Punkt Null anzufangen und auch anderen Malern dies anzuraten. Aber was tut man sonst noch mit einem Bild von Yves? Etwa gar sich darüber ärgern und sagen, es sei eine Frechheit, eine Albernheit, uns das zu bieten? Nicht einer ärgerte sich an dem heiteren Abend. Man nahm das Ganze als Spaß, als Ausdruck guter Laune, als eine Art neues „Dada“, und Herr Schmela sonnte sich in seinem Erfolg.

Das Räumchen erwies sich freilich als beträchtlich zu klein, die Menge der Geladenen zu fassen. Doch die Nacht war milde, und so machte das ganze Sträßchen mit im fröhlichen Spiel, sogar die Tauben von St. Andreas gurrten hinein. Ratsherr Schracke entbot oberbürgermeisterliche Grüße, Hannelore Schubert sprach Einführungsworte. Man wechselte auch mal hinüber zu Fatty, und als man zurückkam, entsandten die Neonröhren des Galeriechens noch immer ihr weißes Licht. Zwei Altstädterinnen drückten in vorgerückter Stunde ihre Nasen am Schaufenster platt: „Kiek ens, Billa, nu sin se auch noch am Drinke!“

In: Rheinische Post, 4. Juni 1957.

Lebendige Liebe formt die Sprache

Frauenlyrik seit 1900/ Verse, die vom "bösen Bann" erlösen

Durch ihre Natur ist die Frau der Erde verhaftet. Und es ist darum nicht schwer zu erraten, warum ein Teil der Dichterinnen nicht mehr die eigene Liebe, den Eros, besingt, sondern daß einige Frauen nach zwei Kriegen, nach Verfolgung und Bedrohung durch Atombomben, zu Sibyllen und Kassandren wurden. Gerade ihre Gedichte atmen am stärksten die Liebe zur geschändeten Natur und zur gefährdeten Welt.

"Unter dem sapphischen Mond" lautet der Titel eines neuen Piperbändchens, das von Oda Schaefer herausgegeben und in einem Nachwort gedeutet wurde. Es umfaßt mit ausgewählten Gedichten die deutsche Frauenlyrik seit 1900. Über dreißig Dichterinnen wurden berücksichtigt. Trotz dieser großen Zahl ist aber die künstlerische Qualität dabei immer gewahrt worden. Es wird nicht leichtfallen, eine Auswahl zeitgenössischer männlicher Lyrik von gleichem Rang zusammenzustellen.

Diese Verse beweisen, daß die künstlerische Tradition hier bis heute erhalten blieb und daß die Frauen darum berechtigt sind, sich auf Sappho zu berufen. Diese erste Lyrikerin des europäischen Raumes kann den Mond, den stillen Gefährten der Nacht, nicht sehnsüchtiger gesucht und angerufen haben als diese Dichterinnen unseres Jahrhunderts. Sie verloren nicht den Zusammenhang mit den Urphänomenen wie Natur, Liebe, Geburt und Tod. Und nur weil sie sich als Geschöpf Gottes spürten, entgingen sie jener unfruchtbaren Verzweiflung, die heute die Geistessubstanz zu zerstören droht. In der Sprache dieser Dichterinnen ist noch die göttliche Spur, die Liebe, die das Geheimnis durchleuchtet, ohne es preiszugeben, und die das Unhörbare hörbar zu machen versteht.

Wenn die Liebe in der Sprache fehlt, dann kann kein schöpferischer Akt erfolgen. Diese zarten Lieder stellen sich der Auflösung hindernd entgegen. "Das tödlich Bedrohte flieht in den Vers und erlöst sich dort vom bösen Bann", deutet Oda Schaefer diesen wunderbaren Vorgang. Bis zur Selbstaufgabe steigert sich die Liebe bei Else Lasker- Schüler, als sie vereinsamte:

Wenn es an mein Haus pochte,War es mein eigenes Herz.
Das hängt an jedem Türpfosten,
Auch an deiner Tür.

Und Martha Saalfeld bekennt: "Das Herz des Vogels ist geängstigt und das Herz des Dichters..."

Überall lauert Betrug und überall lauern Gefahren. Welche Tragödien verbergen sich hinter den Gedichten der Gertrud Kolmar, die auf dem Wege nach Auschwitz verschollen blieb. Else Lasker-Schüler starb enttäuscht in Jerusalem, das ihrer Vorstellung von einer alttestamentarischen heiligen Stadt nicht standhalten konnte. Elisabeth Langgässer wurde als Halbjüdin verfolgt, erlag einer Nervenkrankheit, der sie jahrelang, im geheimen arbeitend, ihre Dichtung entgegengesetzt hatte. Ricarda Huch mußte dem Zusammenbuch ihrer humanen Lebensart zusehen. Regina Ullmann flüchtete über die Dächer der Nebenhäuser vor den Verfolgern, das Klirren ihrer alten Hinterglasbilder in den Ohren, zu Max Picard in die Schweiz. Die zarte Poetin Emmy Ball-Hennings eröffnete nach dem ersten Weltkrieg mit ihrem Mann Hugo Ball das Cabaret Voltaire in Zürich, wo sie versuchten, aus den geistigen Trümmern die Bausteinchen zu picken und mühsam wieder zu einem neuen soliden Geistesbau aufeinanderzusetzen. Hermann Hesse war einer ihrer großen Verehrer. Für die damalige suchende und um geistige Werte ringende Jugend gab dieses Ehepaar wesentliche Ziele und Leitbilder.

Das ist der Sinn der Kunst, daß sie uns bilde und uns den Weg zu uns selbst weise. Wie stark geht diese Kraft gerade von den ganz persönlichen Gedichten der Cläre Goll aus. Sie lebt einsam in New York. Seit Ivan Goll starb, ist ihre Sonne erloschen. Ihre Gedichte waren sehnsüchtige Tränen, die dahinfließen, um den Schmerz über das Vergängliche zu lösen, der unser aller Schmerz ist.

Die Sprache hat die wunderbare Macht, eine geistige Gemeinschaft zu bilden. Wer danach sehnsüchtig ist, der kann sie in diesem Lyrikband finden, der noch viele Schätze enthält, die wir hier nicht alle sichtbar machen konnten.

In: Der Mittag, 26. Juni 1957

Jean Dubuffet und die „Art Brut“

Zur Ausstellung in Schloß Morsbroich

Mit Wols, Pollock, Fautrier und noch einigen anderen zählt man den französischen Maler Jean Dubuffet zu den „Vätern“ der Kunst von heute. Man hat die von Amerika und Frankreich ausgegangene neue Richtung der Malerei als ‚Tachismus‘ (= Fleckenmalerei), als „l’art autre“ (= die ganz andere Kunst), als ‚Nukleare Malerei‘ zu umschreiben versucht. Ihre Anhänger rebellieren gegen den klassisch gewordenen Konstruktivismus und seine formalen Gesetze, schließlich gegen die Form überhaupt. Dafür proklamieren sie die schrankenlose Freiheit und das Recht der ungehemmten Selbstaussage. Die Malerei wird zum „Abenteuer“.

Dubuffet war bisher in Deutschland nahezu unbekannt. Obwohl er der „französischste“ dieser Maler ist, hatte er in Amerika seine ersten großen Erfolge, bis dann René Drouin, der Pariser Kunsthändler, ihn durch mehrere Ausstellungen auch in seiner Heimat bekannt machte. An den Namen Dubuffet heftet sich der Begriff der ‚Art Brut‘, eine Wortbildung, die aus dem Gegensatz zur ‚Art Culturel‘ entstanden ist: die brutale, urtümliche Materie gegenüber der verfeinerten Palettenkunst.  „Die Stimmen des Staubes, die Seele des Staubes, sie interessieren mich weit mehr als die Blume, der Baum oder das Pferd, denn ich empfinde sie als weit seltsamer … Und vor allem das Fehlen der endgültigen Form …“ schrieb Dubuffet einmal. Er entdeckt die Schönheit des ungebärdigen Materials. Aus Gips, Kalk, Zement, Lacken und Leim erfindet er neue Malmittel, die er, dem Maurer vergleichbar, auf die Malgründe aufträgt. Es entstehen gigantische Urlandschaften mit Buckeln, Höhlungen und Schründen, dann wieder struppige und vermooste Gestalten von Kobolden und Zwergen. Gesichter tauchen auf, die Gärten gleichen, und in den Landschaften geistern menschliche Wesen, entdeckt man Tiere und Dinge. Für Dubuffet ist jedes Stück Natur „ein Buch, in dem alles steht“. Dubuffet wäre jedoch nicht Franzose, wenn er nicht zugleich mit höchstem Raffinement vorginge und unter dem Deckmantel des »Brutalen« subtile Reize entfaltete, denen des Impressionismus nicht ganz fern. Die »ganz andere Kunst« ist bei ihm erneut figurativ, der ‚Tachismus‘ wird mit Geist erfüllt. Die durcheinanderstrudelnden Farbflecke sind stets Andeutungen für etwas Reales, sei es auch nur ein Stück Mauer, eine verschmierte Tischplatte oder „heroisches Blätterwerk“. In seiner Art, tiefernst und zugleich humorvoll zu sein, in der Präzision seiner Titel hat er manches Verwandte mit Klee, nur ist alles bei ihm sinnlicher, handfester, irdischer, die Formate sind größer.

Dubuffet, geboren 1901 in Le Havre, entschied sich erst mit 40 Jahren endgültig für die Malerei. Er hatte in der Jugend wohl vorübergehend Malstudien getrieben, sich dann aber der Musik und Literatur zugewandt. Lange Zeit war er aller Kunst überdrüssig, lebte in Südamerika und übernahm später in Paris eine Weinhandlung, die er erst 1947 wieder verkaufte. Er begann mit naiven, erzählenden Bildern, die bewußt kindlichen Zeichnungen nachgebildet waren, später folgten groteske Porträts, die allem Anschein nach unnachahmlich ähnlich sein müssen. Er nennt sich selbst einen »leidenschaftslosen Amateur« und kümmert sich nicht um Ausstellungen und Erfolg. Er lebt meist zurückgezogen in Vence, nur zeitweilig in Paris.

In: Rheinische Post, 4. September 1957.

Der Maler der „Zeitgenossen“

Arthur Kaufmann zum 70. Geburtstag (1958)

Wer Arthur Kaufmann zu seinem 70. Geburtstag am 7. Juli gratulieren möchte – und das werden nicht wenige sein – braucht seine Glückwünsche nicht der Luftpost anzuvertrauen. Denn, obwohl Kaufmann seit Jahren Bürger der USA ist, kam er, nun schon zum dritten Male nach 1945, wieder nach Deutschland, um diesen Tag mit den alten Freunden zu feiern. Das Geburtstagsgeschenk seiner Geburtsstadt Mülheim an der Ruhr ist eine Ausstellung im dortigen Museum, die dessen Leiter Werner Möhring zusammengestellt hat.

Arthur Kaufmann fühlt sich seiner Vaterstadt Mülheim, wo sein Vater Kaufmann, sein Großvater Musikdirektor war, herzlich verbunden, und die Mülheimer weisen gern darauf hin, wieviele heute hochgeachtete künstlerische Kräfte aus dem um die Jahrhundertwende noch recht kleinen Städtchen an der Ruhr hervorgegangen sind (außer Kaufmann noch die Maler Werner Gilles, Otto Pankok, H. B. Hundt, der Bildhauer Peretti, die heute alle zwischen 60 und 70 sind). Zur geistigen Heimat Kaufmanns aber wurde Düsseldorf, an dessen Kunstakademie er bereits mit 17 Jahren aufgenommen wurde. Der akademische Betrieb behagte ihm jedoch wenig, bald ließ er die Zeichensäle hinter sich und zog erst einmal hinaus in die Welt. Er lebte in England, wo er sich als »Schnellmaler« und Karikaturist seinen Unterhalt verdiente, später in Frankreich und Italien, er nahm teil am ersten Weltkrieg und ließ sich 1919 endgültig in Düsseldorf nieder.

Für Düsseldorf brach damals eine lebendige, zukunftsfrohe Zeit an, willkommen war jeder, der Jugend und Frische an die Stelle des routinierten Malbetriebs setzte und laut oder leise Revolution machte. Kaufmann war von Anfang an dabei, und als sich die fortschrittlichen Kräfte im „Jungen Rheinland“ zusammenschlossen, wählten sie ihn zu ihrem Vorsitzenden. Er ging aus und ein bei Mutter Ey und hat die Gefährten jener Jahre in seinem großen, dem Düsseldorfer Museum gehörenden Gemälde „Zeitgenossen“ festgehalten – ein Bild, das heute bereits dokumentarischen Wert hat. Seine organisatorische Begabung bewies er aufs neue, als er 1922 die große Kunstausstellung im Hause von Tietz mitinszenierte, die zum ersten Male moderne europäische Kunst nach Düsseldorf brachte. Er war auch im Schreiben wohlerfahren und Verfasser einer geistreichen satirischen Komödie „Knock out durch Tizian“, an deren erfolgreiche Aufführung im ‚Kleinen Haus‘ sich die alten Freunde wohl erinnern. 1933 mußte er Deutschland verlassen. Er ging erst nach Holland, 1936 nach New York. Ausstellungen seiner Werke fanden in vielen nord- und südamerikanischen Städten statt.

Ohne daß Arthur Kaufmann sich je »spezialisiert« hätte, war doch das Porträt stets eine eigenste Domäne. Dem Bilde der Düsseldorfer „Zeitgenossen“ sind noch zahlreiche Porträts seiner Weggefährten gefolgt. Während seiner ersten amerikanischen Jahre malte er insbesondere die Bildnisse vieler deutscher Emigranten, Schönberg, Einstein, Toller, Thomas Mann, von denen die meisten in der Mülheimer Ausstellung zu sehen sind. Er malte 1955 während seines Aufenthaltes in Palästina den greisen Martin Buber, vor wenigen Wochen auf Ischia den Jugendfreund Werner Gilles, dessen schönes früheres Porträt das Dortmunder Museum über die Zeiten gerettet hat. Mit sicherem Blick fürs Psychologische und festzupackender Technik wird er dem jeweils Dargestellten gerecht. Neben den Porträts malte er viele der Orte, an die ihn seine wechselvolle Lebensreise geführt hat, Orte in Brasilien, Israel, Italien. Und dazwischen immer wieder Stillleben mit Blumen und Früchten, strahlend und leuchtend.

Trotz manchen schweren Erlebens blieb Arthur Kaufmann im Wesen daseinsbejahend und heiter, frei von Resignation und Bitterkeit. Er hat in seltenem Maße die Gabe der Freundschaft und die Tugend der Treue. Dafür wollen wir ihm danken.

In: Rheinische Post, 5. Juli 1958.

Zum 60. Geburtstag 1959

Eine welterfahrene Kunstpädagogin. Anna Klapheck zum Geburtstag am 12. Mai

Es sind nun auch schon über dreißig Jahre her, daß Anna Klapheck, die am 12. Mai in ein neues Jahrzehnt ihres Lebens tritt, zu Düsseldorf gehört. Als die junge blühende Frau Richard Klaphecks, des Geschichtsschreibers der „Baukunst am Niederrhein“, damals Erster Sekretär und amtierender Kunsthistoriker der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf, war sie 1927 ins Rheinland gekommen. Sie kam aus Leipzig, wo sie, in Erlangen als Tochter des berühmten Internisten Geheimrat Strümpell geboren, der Universitätslaufbahn ihres Vaters folgend in Breslau und Wien aufgewachsen, auch ihr kunsthistorisches Studium begonnen hatte. In Leipzig hatte Anna Klapheck nach ihrer Promotion in Marburg (mit einer Arbeit über die Ikonographie des Hieronymus im Gehäuse) damals schon die ersten praktischen Erfahrungen am Museum und im Kunsthandel hinter sich. In der rheinischen Akademiestadt an der Seite ihres lebensfrohen Mannes sollte sich ihr eine neue gesellige Welt auftun.

Düsseldorf hatte sich eben angeschickt, den Versuch zu unternehmen, seinen alten Ruf und seine Stellung als Kunst- und Ausstellungsstadt zu erneuern. Mit der „Gesolei“, der großen Ausstellung für Gesundheitspflege, Soziale Fürsorge und Leibesübungen, im neuerbauten Ehrenhof und im anschließenden Rheinpark, hatte die Kunststadt noch einmal ein das Schaffen aller Kunstgattungen zusammenfassendes Bekenntnis zur Gegenwart, oder was man damals dafür hielt, abgelegt. Wilhelm Kreis, der Erbauer des Wilhelm-Marx-Hauses, hatte die Architektur des Ehrenhofs geschaffen, dessen Anlage und Bauten die Mosaiken und Glasfenster von Thorn-Prikker und Nauen, die Plastiken von Sopher, Gottschalk, Schreiner und Breker schmückten, während sich im Rundbau des Planetariums die damals jungen Düsseldorfer Maler (Ophey, Erdle, Heuser, Jankel Adler, Hundt, Kaufmann, Cürten, Geßner u. a.) ein Stelldichein gaben. Das Schauspielhaus der Dumont-Lindemann trat zur selben Zeit in die letzte große Phase seines Wirkens ein. Selbst im „Malkasten“ schien mit der neuen Jugend ein neuer Geist eingekehrt.

Der frische Glanz wiedergewonnener Lebensfreude war um diese Jahre. In jüngster Zeit hat die immer ebenso weltoffene und weltkluge wie welterfahrene und weltgewandte Düsseldorfer Kunsthistorikerin mit ihrer viel beachteten Darstellung des Künstlerkreises um Mutter Ey an dies bewegte Kapitel neuerer rheinischer Kunstgeschichte wieder anknüpfen können und mit dem in der Reihe der Monographien zur bildenden Kunst unserer Zeit erschienenen Band über den Maler Bruno Goller, einem abseits des Kunstbetriebes verharrenden rheinischen Meister, die gebührende Reverenz erwiesen. Die Wirtschaftskrise und der Ausbruch der Naziherrschaft sollten das heitere Bild dieser unbeschwerten Welt damals schnell und für lange Zeit trüben. Richard Klapheck, seiner Natur nach ein konservativer Geist, mußte, wie so mancher andere, nach 1933 die Düsseldorfer Akademie verlassen und starb, viel zu früh, noch vor Kriegsausbruch. 1935 war Anna Klaphecks schönes Buch „Die Mosel“, das drei Auflagen erlebte, in der Reihe der Landschaftsbände des Deutschen Kunstverlages erschienen. Neue Zielsetzungen der Arbeit und des Lebens sollten sich nach dem Kriege, der Anna Klapheck zeitweilig nach Leipzig und ins Erzgebirge vertrieben hatte, ergeben.

Pädagogische Neigungen hatten schon früher in kunsthistorischen Kursen Ausdruck gefunden, jetzt stellte Anna Klapheck ihre reichen Gaben stärker in den Dienst publizistischer Aufgaben. Den Lesern der „Rheinischen Post“ ist sie in über einem Jahrzehnt als ebenso kenntnisreicher wie warmherziger, klug abwägender Mittler zwischen Kunst und Öffentlichkeit, zwischen Künstler und Publikum von zahllosen Beiträgen längst zum Begriff geworden. Die laufende, großem Interesse begegnende Aufsatzreihe über die Lehrer an der Kunstakademie, weist übrigens gleichzeitig auf ein wichtiges anderes Arbeitsfeld Anna Klaphecks hin, die, seit 1952 Dozentin an der Kunstakademie als Kunsthistorikerin, den Studierenden die geschichtlichen Voraussetzungen und Maßstäbe des künstlerischen Schaffens vor Augen führt. Auch ein neues Buch „Tore und Türen von Mataré“ ist in Vorbereitung. Aus dem ständigen unmittelbaren Kontakt mit der Mannigfaltigkeit des künstlerischen Lebens in der Nachkriegszeit und der Auseinandersetzung speziell mit den besonderen künstlerischen und pädagogischen Problemen des Nachwuchses hat Anna Klaphecks allem Zukunftsträchtigen aufgeschlossenes geistiges Mittlertum das klare Profil und die sympathische Frische der Anschauung gewonnen, die ihr reges Schaffen seit langem auszeichnen.

St. [i.e. M. A. Stommel] In: Rheinische Post, 9. Mai 1959.

Das Bild als Gleichnis

Zur Campendonk-Ausstellung in Krefelds Haus Lange

Heinrich Campendonk, geboren 1889 in Krefeld, war 22 Jahre alt, als er, durch Vermittlung seiner Freunde August und Helmuth Macke, in Bayern zu jener legendären Künstlergruppe stieß, die als ‚Blauer Reiter‘ in die Kunstgeschichte eingegangen ist. Er war der Jüngste im Kreis, Kandinsky und Jawlensky waren mehr als 20 Jahre, Franz Marc und Klee etwa zehn Jahre älter als er. Doch man fühlte, daß in dem jungen Krefelder Kräfte und Ideen schlummerten, die den eigenen entsprachen. Aus Achtung wurde Freundschaft, und 1911 ließ sich Campendonk ganz im bayerischen Sindelsdorf nieder, Franz Marc unmittelbar benachbart. An allen Ausstellungen des ‚Blauen Reiter‘, die von München aus in andere deutsche Städte gingen, war Campendonk beteiligt.

Der ‚Blaue Reiter‘ war keine nach außen abgegrenzte Gemeinschaft, das Band, das die sehr verschiedenen Persönlichkeiten zusammenhielt, war geistiger Art. Man war sich einig in dem Bewußtsein, daß eine neue, mit allen Konventionen brechende Kunst heraufzuführen sei. Beziehungen bestanden zur Dresdner ‚Brücke‘, nach Rußland und Frankreich. Campendonk brachte, gemeinsam mit Macke, den rheinischen Klang in den Kreis, denn, so jung er war, hatte er doch schon die Sicherheit des Handwerks und die Kenntnis der Probleme. Auf der Krefelder Kunstgewerbeschule war Thorn-Prikker, der große Anreger, sein Lehrer gewesen, schon 1905 hatte er in Krefeld Werke von Cézanne sehen können und sich mit ihnen auseinandergesetzt. Nun, im Kreise des ‚Blauen Reiter‘, blüht alles in ihm auf. Er reduziert die Objektwelt auf wenige und wesentliche Züge, das Sichtbare wird Ausdruck tieferer Daseinsschichten. Der ‚Blaue Reiter‘ brach 1914 auseinander, Marc und Macke fielen. Der geistige Elan, der von ihm ausgegangen war, wirkte jedoch weiter. Campendonk hat in den Jahren, die der Blauen-Reiter-Phase folgten, seine schönsten Bilder gemalt.

Gereift und nun schon ein bekannter Maler, kehrt er 1922 nach Krefeld zurück. Er arbeitet für das Theater, aus der wiederaufgenommenen Beziehung zu Thorn-Prikker erwächst ihm die Freude an der Glasmalerei, die zeitweilig seine Kräfte stark beansprucht. 1926 wird er Thorn-Prikkers Nachfolger an der Düsseldorfer Kunstakademie. Freundschaft verbindet ihn mit Nauen, 1932 wird Paul Klee, der alte Gefährte, sein Türnachbar. Bis dann 1933 alles abbricht. Campendonk emigriert nach Belgien und wird später Lehrer an der Rijksakademie in Amsterdam. Nochmals entsteht ein reiches Œuvre, in gewandelter Form, wenn auch aus gleichem Geiste wie bisher. Und doch hat er den Schnitt, den die Emigration für ihn bedeutete, nie verwunden. Immer schon verschlossen, wird er nun vollends weltscheu. In seine neue Produktion gewährt er selten Einblick. Nach Kriegsende bahnen sich die Kontakte mit Deutschland langsam wieder an. Krefeld, Düsseldorf versuchen, ihn für ihre Kunstschulen zu gewinnen. Ausstellungen werden geplant. Alles schlägt fehl. 1957, nach längerem Leiden, stirbt er in Amsterdam.

Campendonk hatte gebeten, keine Gedächtnisausstellung für ihn zu veranstalten. Noch mochte in ihm brennen, daß siebenundachtzig seiner frühen Bilder in deutschen Museen als entartet beschlagnahmt und verschleudert waren, andere sich auf Schutthaufen herumgetrieben hatten. Nun, drei Jahre nach seinem Tode, hat die Stadt Krefeld ihr lange geplantes Vorhaben einer großen Campendonk-Ausstellung verwirklichen können.

Der Werdegang ist leicht erkennbar: in den frühen Bildern Nähe zu Franz Marc und Kandinsky, wobei der helle, heitere Grundton überrascht, der französische Kubismus spielt herein, später dann die Liebe zu Chagall. Unverkennbar der Schnitt zwischen den frühen und späten Bildern, das Spätwerk ist kühler, präziser, gleichwohl auf äußerste konzentriert, souverän in der Meisterung der Mittel, mitunter leicht dekorativ. Doch sind alle diese Trennungen unwichtig. Was uns anrührt, ist die Einheit der Persönlichkeit, die Stetigkeit der Handschrift, das Wissen um das eigne künstlerische Maß.

Campendonk ist nie ein ungegenständlicher Maler gewesen, immer bleibt er im Bereich des dinglich Wahrnehmbaren. Das ländliche Leben, Dorf und Hirtenidylle sind die herrschenden Themen, der Mensch ist Teil der Natur und fest in sie eingebunden. Oft sind die Dinge ganz nah und deutlich, etwa ein springendes Pferd, ein Akt unter Bäumen, ein junges Paar am Tisch; die Melkeimer klappern, die Lampe brennt. Aber wie im Traum Dinge greifbar scheinen und doch sich entfernen, entbehren auch die Campendonkschen Dinge der Realität. Sie glühen auf in Farben, die ihnen in der Natur nicht eigen sind, und durch die Art, wie der Maler seine Objekte einander zuordnet, werden sie zu Zeichen und Symbolen. Alle Campendonkschen Bilder sind Gleichnisse für bestimmte Daseinsformen und menschliche Bewußtseinslagen; in ihrem stillen, zuständlichen Sein führen sie uns, wie Marc einmal gesagt hat, „in Träumen hinter die Bühne der Welt“.

In: Rheinische Post, 30. Mai 1960.

Yvonne Friedrichs Selbstverständnis

Verstehen statt Aburteilen. Yvonne Friedrichs sprach über „Kunstkritik heute“

Zum 50. Teenachmittag der Gesellschaft für christliche Kultur konnte der Erste Vorsitzende J. H. Sommer zahlreiche Gäste im Zweibrücker Hof begrüßen. Das besondere Interesse der Versammelten galt nicht so sehr der Feier der goldenen Fünfzig, als dem Vortrag der Journalistin und Kunstkritikerin Yvonne Friedrichs über das Thema „Kunstkritik heute“. Die Anteilnahme, die diesem Thema entgegengebracht wurde, läßt darauf schließen, daß viele Menschen, die der Kunst der Gegenwart sehr aufgeschlossen sind, doch vor der Schwierigkeit stehen, sie zu beurteilen, abzuwägen und Qualitätsunterschiede festzustellen.

Yvonne Friedrichs ging aus von der Überlegung, daß das echte Kunstwerk sich jeder rationalen Erklärung entzieht, daß folglich die Kritik sich auf Theorien weder stützen kann noch darf. Kunsttheorien wirken nach ihrer Meinung hemmend auf die Kunstkritik, legen ihr ein Korsett an und hindern ihre Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit. Damit wollte sie jedoch nicht sagen, daß der Kritiker nicht unbedingt über die ganze Kunstgeschichte unterrichtet sein müsse. Die umfassende Kenntnis der Kunst der Vergangenheit ist zwar die notwendige Basis für den Kritiker, aber entscheidender ist das Einfühlungsvermögen in das Werk des jeweiligen Künstlers, der Instinkt für das Originale, die Bereitschaft auf alles Neue zu reagieren, sich existentiell, mit der ganzen Person dem Kunstwerk hinzugeben. Yvonne Friedrichs verglich die erforderliche Vielseitigkeit des Kunstkritikers mit der des Schauspielers. Sie bestätigte auch, daß Kunstkritik immer subjektive Züge trug und trägt, lehnte aber jeden hemmungslosen Subjektivismus ab: „Dafür ist kein Platz mehr!“

Da die Kunstkritik von Anfang an soziale Funktionen gehabt hat, untersuchte die Referentin auch deren Aufgabe gegenüber dem heutigen Publikum. Sie kam zu dem Schluß, daß die Kunstkritik das Geistige in der Kunst aufzuspüren und zu vermitteln habe. Sie müsse die den meisten Menschen unverständlich gewordene Sprache der Kunst in eine dem Kunstwerk adäquate, aber dem Publikum wiederum verständliche Sprache übersetzen. Das sei nicht immer einfach, die bloße Information und Beschreibung, verbunden mit einer Schwarz-Weiß-Wertung, sei hier völlig verkehrt. „Die wortreiche Beschreibung trifft nicht das Wesen der Sache.“ Um die Erlebnisfähigkeit des Publikums zu erweitern und zu bereichern, bedürfe es der Interpretation, der individuellen Reaktion und der Reflexion des Kunstwerkes. Nur das nachschaffende Erleben könne dem Publikum das Kunstwerk näherbringen und – bei der Bewältigung dieser Aufgabe könne der Kritiker selbst zum Künstler werden. Das unterscheidet ihn auch vom gefürchteten Kritiker der Vergangenheit. „Aber“, sagte sie, „verstehen ist auch schwerer als aburteilen“, deshalb müsse der Kritiker heute mit unschuldigen Augen dem Kunstwerk begegnen, es in seiner Eigengesetzlichkeit erfahren und aufnehmen.

D. H. in: Rheinische Post, 15. März 1966.

Der künstlerische Auftrag

Man hat den Künstler den Genius genannt. Dieser Name bezeichnet das Überpersönliche, Überindividuelle, und das unbeirrbare Bereitsein eines Menschen, den ihm schicksalhaft zugefallenen künstlerischen Auftrag anzunehmen. Er kann sich ihm nicht entziehen. Sein Ergriffensein hängt ab von einer Macht, die nicht im persönlichen Belieben steht, die sich schenkt oder versagt, die einen auserwählt oder verwirft, nach einem geheimen Gesetz, vor dem unser Wille und die Willkür des Einzelnen hinschmilzt.

Der Künstler ist an seinen Auftrag gefesselt. Wenn wir diesen festlegen wollen, so können wir das nur mit der Aufzählung einzelner Aufgaben: Das Unfaßbare festzuhalten im Bild, für andere zu gestalten, was in diesen sonst ungeformt bliebe und sie sehend zu machen für das wirkliche Leben, das in unserer Zeit so gefährdet ist.

Mut zum Guten

Auf diese Gefahren hinzuweisen ist eine der dringendsten Aufgaben des Künstlers unserer Tage. Jeder weiß wohl, daß eine gute Welt besser ist als eine schlechte, aber beweisen läßt sich dies schwer in einer Zeit wie der unseren, die von Gegensätzen und niederen Leidenschaften erfüllt ist und die eine gemeinsame Untersuchung der fehlerhaften weltlichen Einrichtungen nicht zuläßt. Hier aber bleibt dem Künstler die Möglichkeit, überzeugend auf den Besucher seines Werkes einzuwirken durch Vermittlung des Gefühls, daß er nicht allein ist mit seiner Sehnsucht nach einer besseren Welt. Und damit stärkt und weckt er den Mut zum Guten!

Mut zum Guten! Ja, die Kunst ist abhängig von mutigen Menschen, die ihren Auftrag verantwortungsvoll ausführen und die das Abenteuer riskieren und sich in neu zu erobernde geistige Gebiete begeben, wenn es notwendig wird. Es ist ein Irrtum zu glauben, man könnte sich aus dem üppigen Stilgarten, der sich heute vor uns ausbreitet, eine passende Stilart aussuchen. Diese künstlichen, nicht künstlerischen Blümchen werden keine Früchte des Geistes hervorbringen, an denen unsere Enkel und Urenkel unsere Zeit erkennen können.

Unvergänglichste aller Ausdrucksformen

Jahrtausende haben die Menschen in der Kunst ihre höchsten Empfindungen ausgedrückt. Darum ist sie die unvergänglichste aller Ausdrucksformen. An ihr vermag sich der Mensch über gewesene Epochen und Völker zu orientieren. Sie hat völkerverbindende Kraft in ihrer weiten Ausstrahlung.

Ich selbst durfte das am Ende des letzten Krieges erleben, als die amerikanischen Truppen in unser Eifeldörfchen einzogen, in das uns der Krieg verschlagen hatte. Als Otto Pankok dem verantwortlichen Offizier die bei uns versteckten Verfolgten anvertrauen wollte, da breitete dieser seine Arme aus, um ihn herzlich zu begrüßen und rief: „Pankok, Sie hier?!“ Es war ein kunstinteressierter Amerikaner, der Pankoks Werk liebte. Für uns war dieses Ende des Hitlerdramas ein kleines Wunder. Auch das Eifeldörfchen stand nun unter dem Schutz des Geistes, der aus Pankoks Kunst spricht.

Verantwortung des Künstlers

Die Kultur ist abhängig von der Gemeinschaft der in Ehrfurcht Verbundenen. Darum ist das Erlebnis der Kunst den Menschen so dienlich wie das Erlebnis der Nächstenliebe. Vor einem echten Kunstwerk spüren sie wieder das Gefühl der tiefsten Verbundenheit, die Hölderlin in die dichterischen Worte faßte: „und alle Gedanken schwinden vor dem Bilde der ewig einigen Welt.“

Der künstlerisch empfindende Mensch bewahrt die Verantwortung der Gesamtheit gegenüber, denn er trägt die Last der Mitverantwortung für die Früchte, deren Saat er mitaussät.

Darum muß er oft zum Unruhestifter werden, wenn er die Welt durch die „Großen“ dieser Erde gefährdet sieht, wie das im Augenblick in Vietnam geschieht. Gefahren ziehen aber nicht nur durch die mörderischen technischen Erfindungen immer wieder auf, sondern auch durch die von bösen Interessen gespeiste Verteufelung, der Menschen ausgesetzt sind, die anders denken, fühlen, andere Hautfarben haben und den einen Gott auf verschiedenen Wegen suchen. Ihr Anwalt muß der Künstler sein. Denn was ihn zum Unruhstifter macht und ihn zur Verantwortung dem Leben gegenüber zwingt, das ist seine ungeteilte Liebe, die der ganzen Schöpfung gehört. Sie bestimmt seine Existenz. Darum ist der heutigen Kunst ein Auftrag gegeben, der darin besteht, den ewigen und unantastbaren Werk des Menschen erkennen zu lassen und mit ihm seine Welt, die gefährdete Natur und die bedrohte Landschaft. Denn die Menschen haben sich die Erde und den Himmel untertan gemacht ohne die Liebe, die sie allein befähigen könnte, die ungeheuerlichen großen technischen Errungenschaften zu meistern und segensreich für alle zu nutzen. Das Erschreckende, das wir nun erleben, ist das wachsende Verzagen vieler Menschen, die an ein Entrinnen nicht mehr glauben und in Angst vor kommendem Unheil leben. Angst aber kann ein Riegel werden vor dem Leid der anderen, das so groß geworden ist, daß man sich verschließen möchte. Diese Erfahrung machten wir in der Hitlerzeit.

Geduld behalten

Darum ist es so wichtig, daß die geistigen Menschen nicht aufhören, vor den Folgen der Lieblosigkeit zu warnen, die unsere Welt wie eine Krankheit befallen hat. Vielleicht haben wir den Höhepunkt der Fieberträume von Macht und Gewalt schon hinter uns. Es dürfte doch nicht verwunderlich sein, wenn die Völker endlich aufwachten nach den vielen erfolglosen Versuchen, mit kriegerischen Mitteln eine Ordnung auf Unfreiheit anderer aufzubauen.

Noch wissen wir nicht, ob die Liebe an Intensität zunimmt und ob sie eines Tages, den wir noch erleben möchten, ans Licht dringt wie der Samen, der in der dunklen Erde verborgen ruht und plötzlich zu sprießen beginnt. Wir müssen Geduld behalten und durchhalten.

In: Frau und Frieden. Monatsschrift für politisch interessierte Frauen, 16. Jg., Juni 1967, S. 11

Else Lasker-Schüler

Vortrag gehalten am 19. April 1969 in Haus Esselt

Else Lasker-Schüler war meine Freundin. Den Altersunterschied haben wir nie empfunden. Sie starb im März 1945 in Jerusalem. Im Februar dieses Jahres gedachten wir ihres 100. Geburtstages. Böse konnte sie werden, wenn sie im Gespräch nach ihrem Alter gefragt wurde. Ewig war sie und ohne Anfang und Ende, wie sie selbst behauptete, geboren als Prinz Jussuf von Theben und nur wie durch Zauberei vom Orient fort in die Wiege vom Architekten Schüler in Wuppertal gelegt, wo sie sich dann aber so wohl fühlte, daß es kaum schönere bekennerische Worte gibt wie jene, die Else Laker-Schüler für ihre guten Eltern fand. Spielte sie als Kind mit bunten Knöpfen aus den Fabriken ihrer Wuppertaler Heimat, so war es später das Spiel mit dem Wort, mit dem sie auf eine fascinierende Art jonglierte.

Leicht war das Wort für sie, wie ein Federball und es scheint oft so, als würfe sie es hinaus in die Welt, ohne festgesetztes Ziel, in der Erwartung, daß es doch irgendwo haften bleibe, auf einem Ding, das sich danach sehnt, mit im Rhythmus der Laskerschen Dichtung aufgenommen zu werden. Ihrer beweglichen Fantasie entwuchsen farbenprächtige Bilder, Blüten eines Zweiges der Semiten. Träumerisch und voller Schwermut ließ sie mitempfinden, was ihre Ahnen schon gelitten haben.

Aus vielen Tönen setzt sich dieses Lebenskonzept zusammen. Einer der Hauptakkorde aber bildete in ihrem Leben das tiefe Erlebnis, das ihr zuteil wurde durch die Bekanntschaft mit dem westfälischen Dichter Peter Hille, von dem die Wartefrau der Dichterin anläßlich seines ersten Besuches die treffende Schilderung gab: "Ein Mann aus dem alten Testament ist hier gewesen...".

Als Else Lasker-Schüler später die Freundin von Otto Pankok wurde, schenkte sie ihm eines Tages einen wunderschönen roten Kamm als Zeichen ihrer Liebe. Sie meinte aber bei der Überreichung des Geschenks, daß sie denselben Kamm ihrem Geliebten Peter Hille verehrt habe – doch hätte Peter Hille noch einen großartigeren Bart gehabt. Da wirkte Pankoks Bart wie Lametta.

Wer in meinen Alter ein Leben beschreibt, das in freundschaftlicher Beziehung zum eigenen stand, rührt an ein Stück Sage: Menschen, die an uns vorübergingen und eine gestaltete Welt, die wir noch mit Augen schauten, ist nicht mehr. Ohne ein Erinnern, das so schön mit dem Wörtchen Innerlichkeit zusammenhängt, wäre unser Leben wie auf Sand gebaut. Die Spuren des Lebens sind heute schnell verweht, da ein Ereignis das andere jagt und fast keinem mehr Dauer gewährt wird, wenn nicht unser Herz wie Wachs wäre, das die Abdrücke unserer seelischen Erlebnisse festhält. Mein Bild, das ich von der Freundin bewahre, ist farbenreich. Sie selbst nannte sich den Prinzen Jussuf von Theben, so fremd fand sie sich oft in der Welt, in der sie lebte, so hingegeben dem geheimnisvollen orientalischen Geist, aus dem sie zu schaffen glaubte. Und dennoch, wie liebte sie die Wuppertaler Heimat, in der die Mutter und der Vater Schüler diese fremdartige Blüte pflegten und hegten. Und dankbar sind wir der Dichterin, welche unsere deutsche Sprache durch ihre Arbeit bereicherte.

Der kleine Prinz von Theben spielte in seiner Geburtsstadt Wuppertal gern mit den Knöpfchen und Bändern aus der heimatlichen Industrie, mit den großen und kleinen blauen, grünen, lila, roten, gelben und weißen Knöpfen. Sie legte Knopf an Knopf, je 4 oder 5 – so erzählte sie mirin ebenmäßige Reihen und führte dann das kleine Fingerchen über die Knopfreihen der abgeteilten Knopfstrophen. Wenn sie dann durch die Unregelmäßigkeit der Knopfgrößen mit der Fingerspitze stolperte oder gar mit dem ganzen Finger abglitt, schrie sie laut auf, genau wie sie sich später verletzt fühlte durch einen Vokal oder Konsonanten, der Störungen im Maß oder Gehör undefiniert verursachte. Aber einer der herrlichsten Knöpfe, so erzählte sie, durfte überall liegen, wo er wollte; er war aus Jett, besät mit goldenen Sternlein, und die Kleine staunte ihn an und konnte seine Schönheit kaum fassen. Er war das Himmelreich ihrer Knöpfe und sie ehrte ihn mit dem kostbaren Namen: Josef von Ägypten.

So werden Dichter geboren, so wachsen sie in ihre Mission hinein, spielend und unbewußt. Sie meinte einmal: So oft neckt man mich mit einem Ausdruck, der sich immer wiederholt in meinen Gedichten. Es ist wahrscheinlich der sternbesäte Knopf.

Else Lasker-Schüler erzählte auch so schön aus ihrer Kindheit, daß die Mutter mit ihr das geheimnisvolle Spiel des Einwortsagens geübt. Die Mutter sagte "Tinte" und das Kind sagte "Flinte" oder "Paul" und "Saul". Als ihr Bruder einmal auf "hoch"="Koch" reimte, da war sie außer sich geraten vor Wut über solchen dumpfen Schall der Paarung. Zwei Jahre zählte das Kind, als es den falschen Reim schmerzlich empfand. Mit vier Jahren lernte sie zum Zeitvertreib bei der Gouvernante schreiben. Jedem Buchstaben malte sie ein Tuch um den Hals, da er fror, wie sie glaubte, denn es war Winter. Fünfjährig begann sie zu dichten. Die Mutter fand die kleinen bekritzelten Papierflocken, die aus den Kleidertäschchen fielen, wenn sie die Knöpfchen daraus hervorholte.

Als wir einander zum ersten Mal bei Louise Dumont begegneten, sagte ich ein paar Begrüßungsworte zu ihr. Daraufhin schloß sie mich herzlich in die Arme und rief: "Sie ist aus Westfalen. Ich höre es an ihrer Aussprache, sie kommt aus Westfalen. Ich liebe die Westfalen. Das sind großzügige Menschen. Sie backen die Reibekuchen mit Butter und nicht mit dem fiesen Öl."

Aus dieser ersten Begegnung sollte dann eine tiefe und treue Freundschaft werden. Wie freute sie sich jedesmal, wenn sie mich dabei ertappte, daß ich in den westfälischen Tonfall geraten war und westfälische Ausdrücke brauchte. Stolz erzählte sie gern von dem kleinen westfälischen Städtchen Hexen-Gäsecke, in dem ihr Großvater wohnte, den sie den Wunderrabbi nannte und den sie sehr verehrte. Des Bischofs Lavater Freund war er. Wie schön erzählte die Dichterin von diesem Wunderrabbi, der jeden Abend mit dem Bischof zusammentraf, im Gastzimmer des "Goldenen Halbmond", der nicht abnahm und auch nicht zunahm, genau wie das freundschaftliche Bündnis, das die beiden Hohepriester unverändert vereinigte bis zu ihrem Tod. Von ihrem Rabbiner-Großvater geht in Westfalen die Legende, daß er sein Herz habe aus der Brust nehmen können, was er nach kühlen staatlichen Konferenzen zu tun pflegte, um den Zeiger des roten Zifferblattes wieder nach Gottosten zu stellen.

Ich denke hier an ein Erlebnis, das ich zwischendurch erzählen will. Es war ein bedeutungsvoller Tag in Berlin zu Ende gegangen. Die Vorarbeiten zur Aufführung ihres Schauspiels "Joseph und seine Brüder" hatten Else Lasker-Schüler und mich gemeinsam beschäftigt und wir wollten am Spätnachmittag im Romanischen Café noch ein paar Theaterfreunde treffen. (Das Manuskript "Joseph und seine Brüder" ist bis heute noch nicht wiedergefunden worden.)

Es war damals kurz vor dem verhängnisvollen 30. Januar, der Hitler an die Macht bringen sollte. Aber noch durften wir hoffen, daß ihr Schauspiel "Joseph und seine Brüder" im Berliner Staatstheater uraufgeführt werden könnte. Else Lasker-Schüler war wie berauscht vor Glück. Sie wollte am liebsten selbst den Joseph spielen. Und die alte Frau mit ihren schlanken Gliedern hatte sich so in die Rolle hineinversetzt, daß sie alles um sich her vergaß, das Caféhausmilieu, ihr Alter, und wie ihr Jüngling Joseph nur noch in Versen sprach. Der Theaterdirektor, die Schauspieler, die Dichter und Maler und andere Gäste hörten zu. Wie in einen magischen Kreis gebannt, lauschten wir ihr. Ich sehe noch das zarte Köpfchen vor mir mit dem entrückten Ausdruck des schmerzerfüllten Sehers, der noch so jung die Freveltat an sich geschehen lassen muß.

"Die fremden Männer aber ketteten des Jakobs Sohn,
Bis ihm die Hände drohten, mit dem Eisen zu verrosten."

Als sie damals diese Worte gesprochen hatte, wurde der Kummer zu überwältigend. Als ihre Tränen auf das Marmortischchen tropften, da hatte die anfängliche Schauspielerei ein Ende, und, wie plötzlich erwachend, drückte sie den Theaterfreunden die Hand, klopfte dem vertrauten Kellner liebevoll auf die Schulter und verließ fluchtartig mit mir das Café.

Dann gingen wir still durch die Straßen Berlins, zu ihrem Hotel, dem Sachsenhof, in dem sie Unterkunft gesucht hatte seit dem Tode ihres einzigen Sohnes. Seit diesem Tag hatte sie nicht mehr allein wohnen mögen; sie mußte Menschen neben, unter und über sich haben. Und sie begann ein Leben in Hotels und Caféhäusern.

An jenem Abend in Berlin kamen wir uns sehr nahe. Sie fühlte sich geborgen in meiner Liebe und zeigte es mir. Sie sprach von sich, ihrem Erlebnis, das sie ein Jahr vor dem Tode ihres begabten Malersohnes hatte. Sie hatte damals ein Gesicht – so erzählte sie – König David saß in ihrem Zimmer, in später Abendstunde. Er trug ein schwarzes Gewand und einen schwarzen Turban. Seine Augen waren wie Asche. Er verharrte lange Zeit, neben ihr sitzend. Und sie meinte damals, ungeheuerlichen Erlebnissen gehen ungeheuerliche Ouverturen voran.

Seltsame entrückte Stunden erlebten wir damals zusammen in dem Hotelzimmer. Sie wollte mir ein Herzensgeschenk zuteil werden lassen. In den Hotelmöbeln verstreut waren einige Dinge, die sie mitgebracht hatte und die so ganz zu ihr gehörten und die dem Raum das Persönliche gaben. Und zu diesen Dingen gehörte des Großpapa-Rabbis Ohrensessel. Und auf diesem Sessel durfte ich an jenem denkwürdigen Abend sitzen und das Wunder an mir geschehen lassen wie Else Lasker-Schüler es sich so sehnlichst wünschte, daß meine Seele zusammenschrumpfen sollte, um Platz zu machen für die Seele des großen Juden. Mit Tränen der Rührung saß sie vor mir mit ihrem dampfenden Tee und sah mich mit unendlicher Liebe an, die ich still und demütig auf dem großgeblümten Sammet saß und so bereit war, wenigstens für Augenblicke – wie die Dichterin es ersehnte von der überirdischen Weisheit des ehrwürdigen Rabbis zu kosten, von jener Weisheit, die da lehrt: " Gott schuf die Erde, indem Er sich zusammenzog und damit Raum für sie gewann." Else Lasker-Schüler erzählte auch einen Traum, den sie nie vergessen konnte. Darin fragte Gott sie: Gefällt dir meine Welt? Dann will ich sie dir schenken. Seitdem, so behauptete sie, gehöre ihr die Welt, und seitdem hatte sie grenzenlos damit zu tun, sie anzublicken.

"Mir hilft kein Sträuben; der strenge Frost holt mich, aber auch der tyrannische Sturm, genau wie der holde Julivogel in die Aula der Welt." Das war ihre Weltanschauung, wenn sie schreibt: "Es ist ja alles Ebenbild Gottes und darum sollte man sich vorsehen in der Welt, etwas zu beflecken überall möchte ja von der Gottesseele einströmen und vermag sich doch nur in den klaren Stellen wiederspiegeln. Vielleicht begehe ich eine Indiskretion, da ich das Geheimnis des Menschen und seiner Welt verrate. Der Leib ist nur Illusion. Und auch den Körper der Welt erdichtete die erste Menschenseele. Aber wenn du einmal ein Erdbeben verspüren solltest, ein vorübergehender Zweifel der Seele an ihrer Weltillusion, denke an mich und verschlingt dich auch der Erdleib, um dich nach Augenblicken wieder auszuspeien. – So erklärt sich auch das Wunder der Fakire, überhaupt aller Heiligen, des Balchem und der anderen Wunderrabbis, die durch Enthaltsamkeit den bezwungenen Leib zu entbrennen vermochten." Schwer trug die Dichterin an der Dissonanz ihrer Zeit. Ja, es kam der Tag, an dem sie im Gedenken an den schweren Lebensweg ihres geliebten Dichterfreundes Peter Hiller klagte: "Der Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande, Abendlande!" Und wie haben Peter Hille und Else Lasker-Schüler in der Zeit der bürgerlichen Müdigkeit erfrischend auf den deutschen Geist gewirkt. Else Lasker-Schüler war eine der Ersten, welche die naturalistische Fessel sprengte und wieder in eine geistige, mystische Welt führte. Ihre Sprache war von einer Innerlichkeit, die nur behutsam die Schleier hob von den Dingen, die sie besang und von den Gedanken, die sie ausdeutete.

Bei ihren Freunden feierte sie das große gute Menschenherz. Ich lese ihr Gedicht an Franz Werfel, den auch ich und auch Otto Pankok sehr geliebt haben. Ein Porträt Werfels von Otto Pankok besitzt das theaterwissenschaftliche Institut in Köln/Wahn. Else Lasker-Schüler schreibt über ihn:

Ein entzückender Schuljunge ist er.
Lauter Lehrer spuken in seinem Lockenkopf.

Sein Name ist so mutwillig:
Franz Werfel.

Immer schreib ich ihm Briefe,
Die er mit Klecksen beantwortet.
Aber wir lieben ihn alle
Seines zarten, zärtlichen Herzens wegen.

Sein Herz hat Echo,
Pocht verwundert.
Und fromm werden seine Lippen
Im Gedicht.

Manches trägt einen staubigen Turban.
Er ist Enkel seiner eigenen Verse.

Doch auf seiner Lippe
Ist eine Nachtigall gemalt.

Mein Garten singt,
Wenn er ihn verläßt.

Freude streut seine Stimme
Über den Weg.

Wie oft bei unserem Zusammensein träumte die Dichterin von einer Reise in das gelobte Land; doch sollten die Freunde sie begleiten. Und als die Lage in unserem Land immer schwieriger wurde, da schrieb sie mir, ich müßte die Zeitung in Palästina herausgeben und Otto Pankok würde dort viele Modelle und herrliche Motive finden. Sie konnte sich Palästina nur vorstellen wie eine Provinz der alten Welt, zu der sie gehörte. Ganz losgelöst vom Deutschland ihrer Freunde war ein Leben für sie zuerst noch unvorstellbar. Diese Reise nach Jerusalem war ein schöner Traum seit Kindertagen, mehr eine Dichtung ihrer Fantasie. Als die Last und der Druck der Gewalt immer schwerer wurde, schrieb sie mir, daß sie nur mit mir hinwollte.

Mit einem stillen Menschen will ich wandern
Über die Berge meiner Heimat,
Schluchzend über Schluchten,
Über hingestreckte Lüfte.

Überall beugen sich die Zedern
Und streuen Blüten.
Aber meine Schulter hängt herab
Von der Last des Flügels.

Suche ewige stille Hände:
Mit meiner Heimat will ich wandern.

Und dann kam der furchtbare Tag, an dem fanatische Schriftsteller in ihrem Massenund Rassenwahn die größte Dichterin Deutschlands vor ihrem Hotel in Berlin niederschlugen. Die Nichtsahnende hatte ihr Hotel verlassen, um eine Besorgung zu machen. Das Grauen packte sie. Nur mit dem Geld, das zufällig in ihrer Tasche war, floh sie, ohne in ihr Hotel zurückzukehren, ohne einen Koffer zu packen. Ihr Geld reichte für eine Fahrkarte zur Schweiz. In Zürich angekommen, wandte sie sich an keinen Menschen um Hilfe. Für sich selbst konnte sie schwer etwas unternehmen. Sie schlief unter einem ihrer geliebten Bäume. Ihre armen zarten Hände erfroren bald. Dort fand sie ein Polizist schlafend, auf einer Bank im Park mitten in der kalten Nacht. Der Mann der Ordnung verhaftete sie, und ausgefragt, erfuhr man die tragische Geschichte. Einer der höheren Polizeibeamten kannte ihren Namen, wußte etwas über diese Frau, deren Gedichte schon in den Lesebüchern und Gedichtbänden des Auslands aufgenommen waren.

Hinter meinen Augen stehen Wasser,
die muß ich alle weinen.

Immer möchte ich auffliegen,
Mit den Zugvögeln fort;

Buntatmen mit den Winden
in der großen Luft.

O, ich bin so traurig...
Das Gesicht im Mond weiß es.

Die Geschichte der Else Lasker-Schüler wurde in der Schweiz bekannt und es regten sich helfende Hände. Morgenfeiern wurden von dem Schauspieler Ernst Ginsberg veranstaltet und in literarischen Vereinen Leseabende eingerichtet. Ein großes Kaufhaus in Zürich erlaubte ihr, ohne Zahlung alles im Geschäft zu holen, was sie brauchte. Doch machte sie selten Gebrauch davon. Nur wenn ein Freund sie besuchte, erinnerte sie sich des großzügigen Geschenks und holte auf einem ihrer Bons ein Tüchlein oder ein Kämmchen zur Erinnerung. Für andere nahm sie die Gunst gern einmal wahr, an sich selbst zu denken wurde ihr schwer.

Damals schrieb sie mir: "Der von Angst verdunkelte Mensch gerät aus dem Gleichgewicht. Wer diese Urqual erlebte, weiß, wie die Erde litt, als ihr der Paradiesesschein – die Liebe – vom Haupte glitt." Wenn ich auch von jetzt ab lange Zeit von ihr getrennt blieb, so durfte ich sie doch durch ihre Briefe auf ihrem Stationsweg begleiten. Meine Briefe waren ihr ein Trost.

Bevor der Überfall in Berlin passierte, hatte sie noch zwischen Hoffnung und Verzweiflung geschwankt. So schreibt sie noch am 6.11.32: "...Ich hoffe, bald nach Düsseldorf zu kommen – von Darmstadt aus wo um Weihnachten mein Schauspiel gespielt wird: ‚Arthur Aronymus und sein Vater‘meines 12-jährigen Papas Jugendzeit in seiner westfälischen Heimat: HexenGäsecke."Doch der Brief endete schon mit den Worten: "Ich bin sehr niedergeschlagen immerdar und immerzu. Kommen Sie nach Berlin?"- Nach Weihnachten kamen schon die ersten bösen dämonischen Anzeichen. Traurig teilte sie mir mit: "Mein Schauspiel wegen verschoben." Hitler ersetzte sie durch einen Gedankenstrich. "Auch Darmstadt. Köln wollte meine Wupper aufführen. Bitte fragen Sie, ob es wird! Ich bin verzweifelt!-" Und ich konnte nicht helfen. Kein Theaterdirektor traute sich mehr an eines ihrer Werke.

Und dann begann die überstürzte Emigration. Schließlich, nach bangem Warten, der erste Brief aus Zürich: "Hospiz Augustinerhof. Meine liebste, verehrteste Hulda Pankok, nur die Verzweiflung, wie man überhaupt bestehen kann und die Zurückgebliebenen, ist schuld, daß ich Ihnen, Sie Liebe, nicht schrieb. Und – aberes beginnt sich zu machen und aber, wie geht es Ihnen und dem lieben Mann mit dem Bart? Beinahe wäre ich nun nach Düsseldorf gereist. Kommen Sie doch hierher, wir reisen dann nach Locarno oder Ascona. Bald kann ich es. Dort ist es billiger und wir sind unter uns. Herr Intendant Lindemann darf aber nicht alleine bleiben, er muß mitkommen. Wir alle sind sehr lieb zu ihm. Wie würde er sich nach Ihnen sehnen und dem Bartmaler! Ich war so unglücklich und so zerfetzt und verhungert innen und außen, aber nun ist es viel besser! Und ich habe nur Sehnsucht – da außerdem hier sehr kühlin die Sonne zu reisen, unter schönen Bäumen zu sitzen und bei den Blumen. Ich habe hier in Zürich beständig großes Leid um meinen geliebten Jungen. Zürich war seine Lieblingsstadt in der Schweiz und alles trägt darum, da mir alles dunkel, einen bangen Schattenschleier. Ich bitte Sie, liebste Hulda Pankok, schreiben Sie mir sehr bald und grüßen Sie den Maler und lieben Intendanten. Die ganze Welt eine Finsternis. Darum zündete ich den Stern an. Darum sind uns die Propheten gekommen und Jesus von Nazareth und die vielen Menschen weinten und Dichter dichteten Heiligengedichte. Später im Herbst kommt mit mir nach Palästina! Es soll wunderbar dort sein, oder soll ich vorher dorthin ziehen und Euch, meine Lieben, am Rhein schreiben? Wir wollen dort alle Theater spielen, eine wunderbare liebreiche Truppe immer das heilige Land durchziehen! Und nun alles Liebe; ich weine fast ..... Und es sprach mal der Maler Gert Wollheim so schön von Ihnen beiden. Wissen Sie, wie es ihm geht und ob er weiter kann? Alles Liebe und Schöne und alles was Treue ist. Ihre Else Lasker-Schüler.:" Nirgendwo ist mehr Ruhe und Sicherheit. Doch noch ist es hier für uns ab und zu möglich, ein wahres Wort zu veröffentlichen. Wenn es gelang, schickte man es ins Ausland an die emigrierten Freunde. Wir erhofften immer noch, mit unseren geistigen Mitteln etwas erreichen zu können.

Der zweite Brief aus der Emigration von Else Lasker-Schüler lautete darum: "Ich danke Ihnen für den Essay. Könnten wir uns doch bald wieder begegnen. Kommen Sie doch mit dem Mann im Bart nach dem Tessin. Dort ist Eden und wir sprechen mit den Blumen und pflücken uns Brot und allerlei von den Bäumen. Wohnen zwar nicht auf den Beeten, aber – sehr, sehr möglich in netten reinen Räumen und das Silber fällt dazu mittags von oben. Ich sage am 27.6. hier aus meinen Dichtungen. Da habe ich dann genug kommen noch zwei Zeichnungen für Holland dazu, (sie malte auch) um zwei Monate zu bleiben und ich schreib sofort. Und Herr Lindemann kommt auch. Nie vergeß ich seinen Faust. Näheres: Ich hatte beide Hände halb erfroren und voll von Rissen, da ich ja erste Tage am See, unter einem Baume versteckt, schlief: Konnte garnicht schreiben, denn immer schlimmer wurde es... Immer in Liebe für Sie beide und immer in Treue und immer wir Drei in Liebe und Treue für Louisens liebsten Intendanten und treuesten Begleiter." (Es ist Louise Dumont und Gustav Lindemann gemeint.) Euer sehr, sehr trauriger Prinz Jussuf von Theben." Darunter stand noch: "Was sind alle Schätze der Welt und wäre die Liebe nicht."

Die weiteren Schreiben zeigen ihr wachsendes Heimweh. Und doch darf niemand von uns sie zurückholen. Dort ist geschützter. Pläne werden von uns gemacht, sie zu besuchen.

Einer der nächsten Briefe enthielt nur dieses Gedicht:

Wir beide
Der Abend weht Sehnen aus Blütensüße,
Und auf den Bergen brennt wie Silberdiamant der Reif,
Und Engelköpfchen gucken überm Himmelstreif,
Und wir beide sind im Paradiese.

Und uns gehört das ganze bunte Leben,
Das blaue große Bilderbuch mit Sternen!
Mit Wolkentieren, die sich jagen in den Fernen
Und hei! die Kreiselwinde, die uns drehn und heben!

Der liebe Gott träumt seinen Kindertraum
Vom Paradies von seinen zwei Gespielen,
Und große Blumen sehn uns an von Dornenstielen...
Die düstre Erde hing noch grün am Baum.

Als dieses Gedicht gekommen war, wußte ich, wir mußten zu ihr. Sie war, allein gelassen, am Ende ihrer Kraft. Sie sehnte sich nach den Gespielen. Nach Überwindung vieler Schwierigkeiten haben wir dann endlich die Möglichkeit, in die Schweiz zu fahren. Als wir uns Ascona nähern, wo sie inzwischen wegen des dortigen Kabaretts, in dem sie Gedichte lesen konnte, hingezogen ist, schreibt sie ungeduldige Karten über Max Picard in Gentilino, wo sie uns vermutet: "Meine Liebe. Freue mich so, Sie sind hier mit dem Mann im Bart. Wo sehen wir uns? Ich kann nicht über Lugano fahren. Ich kann des Schmerzes wegen nicht über Lugano. (Hier starb ihr Sohn.) Bitte kommen Sie bald hierher. Ich hatte einen Vortrag im Theater. Bitte schreibt, wann Sie kommen, damit ich da bin. Euer armer Prinz Jussuf von Theben einer der vielen." Und dann folgten Eilkarten, eine nach der anderen und erreichten uns in Gentilino, immer derselbe Ruf: "Kommet zu Jussuf!"

Und wir trafen sie in Ascona. Vor einem der von ihr so sehr geliebten Cafés saßen wir und sahen ergriffen in das müde Gesicht und auf die lieben Hände, die der Frost auf der Flucht so krank gemacht hatte. Jetzt schnitten sie mit kindlichem Eifer reizvolle Muster in eine Papierserviette, die eine junge Italienerin zu den Spaghettis gebracht hatte. Das zierliche Papierdeckchen sollte sehr viel später meine kleine Tochter trösten, wenn der Abschied sich nähern würde. Da drehte sie das Papierdeckchen um einen Mohrenkopf, der mit auf die Reise geschickt wurde. Jedem von uns wollte sie noch gern etwas Liebes bereiten in ihrer gottverlassenen Armut. Und wir mußten sie einsam zurücklassen. Wir konnten nur noch eins, die Freunde in der Schweiz um Hilfe bitten.

Da saßen nun wir Einsamen, mit unserem Herzen voller Liebe, die auf Erden heimatlos geworden waren, in der südlichen Sonne und wärmten uns einander, sprachen von unseren Hoffnungen, die nicht erlöschen wollten, daß wir eines Tages wieder in unserem Deutschland vereinigt sein würden, in dem Deutschland, in dem wir so schön zusammen Theater gespielt hatten und in dem Otto Pankok so viele Porträts von seinen Freunden geschaffen hatte, die nun zum großen Teil so Schweres durchzumachen hatten durch den Ungeist, der zur Macht gekommen war.

Ich sehe den liebevollen Blick wieder vor mir, mit dem Else Lasker-Schüler mich ansah, als sie sich daran erinnerte, wie vorsichtig ich ihr Schauspielmanuskript für die Bühne zusammenzustreichen pflegte und wie sie mir einmal einen Kuß gab, als sie so einen Strich sah, von dem sie behauptete, daß er ganz leise das Herz für neue Ideen öffnete, während andere Bearbeiter ihrer Bühnenstücke ihr das Herz zerrissen hätten. In diesen Tagen sind diese liebevollen Worte ihrer Zustimmung wie ein Streicheln, das mich trösten soll.

Nach unserem Besuch in Ascona kam dieser Brief: "Es ist alles so schwer, sich über Wasser zu halten, abends sinken einem die Augen zu. Ich habe mich so gefreut, Sie alle hier zu haben, auch die kleine Hulda. (So nannte sie unsere Tochter Eva.) Ich bin nach Alexandrien eingeladen und wenn die Griechische Familie mir das Geld schickt, reise ich dann weiter, für drei Monate zunächst. Ich bin noch recht kaputt. Wie geht es Ihnen und dem Manne mit dem Barte? Immer denke ich an Deutschland, das ich so liebe! Geht es Ihnen auch noch gut!?" Unten auf der Seite zeichnete sie ein Vögelchen, dabei steht geschrieben "bin ich!". Trotz dieser bösen Erfahrungen war es uns damals nicht möglich, zu glauben, daß diese Unnatur Bestand haben sollte. Else Lasker-Schüler träumte noch von den goldenen Türmen der heiligen Stadt, die ihr vorerst Obdach geben sollte. Wir rieten ihr damals zu, die Reise nach Israel zu wagen. Glaubten wir doch, daß es gut sei, viel Raum zwischen unserer bösen Welt und ihr zu wissen.

Kurz nach unserem letzten Zusammensein zog sie nach Israel, wo sie fern von uns starb. Mein Freund Dr. Gabriel Cohen erzählte mir, wie Else Lasker-Schüler sich im irdischen Jerusalem eine Traumwelt aufbaute: eine Welt, in der sie Juden und Araber versöhnen wollte, in der für alle armen Kinder der Stadt, jüdische und arabische, Schlafund Badezimmer eingerichtet und Bänke aufgestellt werden sollten. Auch verlangte ihr Aktionsprogramm – das sie in vielen Gesprächen entwickelte und das man nach ihrem Tode aufgeschrieben fand – mehr Essen für die Kinder. Punkt 6 ihres Programmes lautete: "So lange noch ein Kind hungert, verzichtet Gott auf jede Synagoge". Weiter verlangte sie mehr Fürsorge für die lasttragenden Esel. "Man spreche mit einflußreichen Priestern" heißt es in ihrem Vermächtnis. Weiter verlangte sie die Untersuchung der Lungen der kleinen Zeitungsausrufer.

Ja, sie war eine Fantastin, die trotz aller düsteren Erfahrungen sich nicht den Glauben nehmen ließ, daß die Liebe ihren eigenen Untergang übersteht, daß sie immer wieder aufersteht.

Ich suche allerlanden eine Stadt,
Die einen Engel vor der Pforte hat.
Ich trage seinen großen Flügel
Gebrochen schwer am Schulterblatt
Und in der Stirne seinen Stern als Siegel.
Und wandle immer in der Nacht...
Ich habe Liebe in die Welt gebracht,
Daß blau zu blühen jedes Herz vermag,
Und hab‘ ein Leben müde mich gemacht,
In Gott gehüllt den dunklen Atemschlag.
O Gott, schließ um mich deinen Mantel fest,
Ich weiß, ich bin im Kugelglas der Rest,
Und wenn der letzte Mensch die Welt vergießt,
Du mich nicht wieder aus der Allmacht läßt
Und sich ein neuer Erdball um mich schließt.

Quelle: Typoskript, Pankok-Archiv, Haus Esselt.

Gespräch: Hulda Pankok mit Rudolf Schröder

Ansage: Hier ist die Deutsche Welle. – . Manche von Ihnen, liebe Zuhörer, kennen gewiss schon unsere Zeitgenossin Hulda Pankok: – als Journalistin, Kunstkritikerin, Verlegerin und als Gattin des verstorbenen berühmten Malers Otto Pankok, die aufs Engste mit dem Geistes- und Kulturleben unserer Zeit vermittelnd und schöpferisch tätig verbunden ist. Rudolf Schröder besuchte Hulda Pankok in ihrem Hause Esselt bei Wesel am Niederrhein, um ein Gespräch mit ihr zu führen.

Fenster und Türen des schönen einstigen Herrenhauses standen weit geöffnet, als der Gast das Haus betrat. Im Flur waren Hühner, prächtige Hähne, Puter, ja, Pfauen versammelt. Sie waren gleichsam als Mitbewohner dieses samt den anliegenden Scheunen zu einem Künstler- und Atelierhaus umgewandelten Gebäudes näher getreten, um von der Hausherrin, Hulda Pankok, zur gewohnten Zeit ihre Mahlzeiten gereicht zu bekommen. Man begegnet, wie man sieht, in diesem Haus einer Ordnung, die durch die Anwesenheit einer gewissen Unordnung erst wirklich „in Ordnung“ ist, echter Atmosphäre also und dies überall in der ganzen Behausung. Ja, man spürte sofort: hier war man „zuhause“, „behaust“ und kein Flüchtling und Fremdling. Hulda Pankok, fast 75, mit schneeweißem Haar und doch „frisch wie eine Rose im Tau“, wie Gerhart Hauptmann einmal Käthe Kollwitz gekennzeichnet hatte, Hulda Pankok führte den Gast über eine alte, melodisch krachende, ja, unter den Tritten seufzende Holztreppe in ihr Arbeitszimmer. Es ist bis an die Decken angefüllt mit Büchern, mit Bildern, vor allem Kohlezeichnungen und Holzschnitten ihres 1966 verstorbenen Mannes, Otto Pankok, des einstigen Professors an der Kunstakademie Düsseldorf und zugleich des Malers der Zigeuner, die ihn ihren „Molari“, ihren Maler nennen. Im ganzen Raum summte und brummte es vor Poesie wie in einem blühenden Brombeerbusch. Der riesige Schreibtisch von Hulda Pankok trug wahre Gebirge von Büchern, Zeitungen, Zeitschriften, Manuskripten, Briefen aus aller Welt. Der liebe Gott mochte wissen, wie in diesem scheinbar chaotischen Durcheinander zurechtzufinden war, aber: er war anwesend. Mit sicherer Hand griff Hulda Pankok, geborene Droste, Westfalenkind, geboren Anno 1895 als Lehrerstochter in Bochum nach der Frage, woran sie unter anderem zur Zeit arbeite, in die doch offenbar wohlgeordnete Unordnung auf ihrem Schreibtisch, zog ein Manuskript hervor und sagte:

Ich arbeite zur Zeit an einem Vortrag über Else Lasker-Schüler. Sie war meine Freundin. Den Altersunterschied haben wir nie empfunden. Sie starb im März 1945 in Jerusalem. Im Februar dieses Jahres gedachten wir ihres hundertsten Geburtstages. Als wir einander zum ersten Mal begegneten, sagte ich ein paar Begrüßungsworte zu ihr. Daraufhin schloss sie mich herzlich in die Arme und rief: „Sie ist aus Westfalen. Ich höre es an ihrer Aussprache. Sie kommt aus Westfalen. Ich liebe die Westfalen. Das sind großzügige Menschen. Sie backen die Reibekuchen mit Butter und nicht mit dem fiesen Öl“.

Aus dieser ersten Begegnung sollte dann eine tiefe und treue Freundschaft werden. Wie freute sie sich jedes Mal, wenn sie mich dabei ertappte, dass ich in den westfälischen Tonfall geraten war und westfälische Ausdrücke gebrauchte. Stolz erzählte sie gern von dem kleinen westfälischen Städtchen Geseke, in dem ihr Großvater wohnte, den sie den Wunderrabbi nannte und den sie sehr verehrte. Des Bischofs Lavater Freund war er. Wie schön erzählte die Dichterin von diesem Wunderrabbi, der jeden Abend mit dem Bischof zusammentraf, im Gastzimmer des „Goldenen Halbmond“, der nicht abnahm und auch nicht zunahm, genau wie das freundschaftliche Bündnis, das die beiden Hohepriester unverändert vereinigte bis zu ihrem Tode.

Frau Pankok, - ich sah in der Scheune drüben, die Sie zu dieser wunderbaren Ausstellung ausgebaut haben, unter anderen unfassbar vielen Werken Ihres Mannes einen Holzschnitt. Er stellt den großen russischen Dichter Graf Leo Tolstoi dar. Wie ist dieses Werk wohl zustande gekommen?

Ja, mein Mann liebte die Dichtung Tolstois und auch seine Haltung zum Leben.

Und aus dieser Liebe…

Und aus dieser Liebe ist dieses Bild entstanden.

Stimmt es, was ich gehört habe, Frau Pankok, dass sie indirekt auch Kontakt mit Mitarbeitern Tolstois bekommen haben?

Ja, wir begegneten dem letzten Sekretär von Tolstoi, Herrn Bulgakow. Es war ein wunderbarer Mensch, und auch er hat einen Holzschnitt Tolstois mit nach Jasnaja Poljana genommen und das Bild hängt nun in dem Museum Tolstois.

Zu den großen und bedeutenden Frauen, denen Sie, Frau Pankok, begegnet sind, zählte auch, soviel ich weiß, Louise Dumont, die große Schauspielerin und Begründerin des Düsseldorfer Schauspielhauses.

Ja, – sie war meine Duzfreundin. Ich hatte sie ganz besonders lieb. Ich musste bei jeder Generalprobe dabei sein. Sie behauptete, sie wäre ja vom Schein und ich vom Sein.

Frau Pankok, Sie haben unter anderen auch ein Buch über Jugoslawien geschrieben. Wie ist das zustande gekommen?

Ja, diese Geschichte ist einfach märchenhaft. Ich bekam eines Tages eine Einladung nach Jugoslawien von den Frauen dieses Landes und ich kannte keine Frau dort und war erstaunt. So ging ich zum Konsulat und fragte nach, wie diese Zusammenhänge denn wären. Da wurde mir gesagt, dass alles, was mir die Gestapo Böses angekreidet hätte, mir von den Frauen Jugoslawiens positiv gewertet würde. Sie hätten alles gesammelt, was ich in der Hitlerzeit geschrieben hätte. Ich war erstaunt und ging etwas träumerisch nach Hause. Dort besprach ich alles mit meinem Mann und entschloss mich, zu fahren. An der Grenze erwartete mich eine Dame, die sah aus, als sei sie aus einem alten Biedermeierbild herausgestiegen mit einem riesengroßen Strauß und sie begrüßte mich mit den Worten: ‚Die Frauen Jugoslawiens begrüßen Sie und hoffen, dass Sie sich hier wohlfühlen.‘ Sie gehörte zur dortigen deutschen Abteilung des Rundfunks. Sie sprach fabelhaft deutsch und als wir nun herauskamen aus dem Bahnhof, stand da ein Auto mit rotem Leder bezogen. Das Land war damals, – es war 1950 – noch sehr arm, doch der Wagen war ganz voller Blumen, wie eine Hochzeitskutsche. Ich sagte zu ihr: ‚Nein, ich steige nicht ein, denn ich bin doch kein Hochstapler, ich kann Ihnen in keiner Weise mal dienlich sein, ich gehöre keiner Partei an, ich nicht gehöre der Regierung an, ich bin eine reine Individualistin und, was soll ich schon tun?‘ Darauf sagte die jugoslawische Dame: ‚Ja, diese Individualistin haben wir ja eingeladen, die immer das tut, was sie für richtig hält‘. Ich sagte: ‚Dann darf ich ja einsteigen.‘ Und so begannen wir die Fahrt. Die Dame fragte mich, was ich nun sehen wolle. Nun, ich kam in ein fremdes Land und ich sagte, mich würde alles interessieren. So besuchten wir zuerst das Haus des Dichters Prešeren, der zur Zeit Hölderlins gelebt und auch ein ähnliches Schicksal mit seiner Diotima wie Hölderlin gehabt hatte. Wir fuhren durch eine blühende Landschaft zu dem Dichterhaus. Nun, auf diese Weise ist mein Jugoslawienbuch entstanden. Ich hatte eigentlich vor, nur vierzehn Tage zu bleiben, aber es sind sechs Wochen geworden. Ich konnte mich gar nicht trennen, so wunderbar war das Land und so prachtvoll waren auch die Menschen, denen ich begegnete.

Frau Pankok, Sie sind auch Verlegerin?

Ja, nach dem Krieg habe ich einen Verlag aufgemacht, in der Hoffnung, dass ich den Menschen Bücher geben könnte, die sie notwendig brauchten. Wir haben Kunstbücher herausgegeben von Künstlern, die durch die Hitlerzeit gar nicht sichtbar geworden waren oder sogar verfolgt. Dann habe ich unter anderem die Novelle von Goethe herausgegeben. Da hatte Louise Dumont mir eines Tages gesagt: ‚Wenn ich ein Millionär wäre, dann würde ich in millionenfacher Auflage diese Novelle herausbringen, damit jeder Mensch in Deutschland dieses kleine Werkchen liest. Ich habe diesen Wunsch zwar nicht in millionenfacher Ausführung, aber eben doch in ein paar tausendfacher Auflage erfüllt. Zu den besonders erfolgreichen Büchern gehört das Buch „Deutsche Holzschneider“ und die „Zigeuner“ von meinem Mann. Wahrscheinlich hatte dieses Buch so großen Erfolg, weil man nach einer so herzlosen Zeit froh war, so ein liebenswertes Buch in die Hände zu bekommen. Das Hauptthema meines Mannes war ja der Mensch.

Frau Pankok, wir sind damit bei Ihrem Mann, den großen Pan, wie man ihn genannt hat. Die Zigeuner nannten ihn ihren „Molari“, ihren Maler, und er wurde vor allem von den Armen verehrt und in einer Weise geschätzt, wie ich das eigentlich bei keinem anderen Maler unserer Zeit erlebt habe.

Ja, das war seine Freude an der Ursprünglichkeit, des Menschen, so wie er auch an der ursprünglichen Landschaft eine ganz besondere Freude hatte, die noch nicht zerstört war, diese Naivität der Zigeuner, vor allem der Zigeunerkinder, die brachten ihn dazu, ein Bild nach dem andern zu schaffen. Er war immer so vergnügt, wenn er mit den Kindern zusammen war. Übrigens kommt für das Jahr 1970 ein Kalender im Piscator-Verlag heraus, der nur Zigeunerkinder zeigt. Ich glaube, dass er vielen Menschen Freude machen wird.

Zigeunerkinder, die Ihr Mann gezeichnet hat?

Ja, Zigeunerkinder von meinem Mann!

Ihr Mann hat ein Werk herausgebracht „Stern und Blume“. Ich besitze es leider nicht mehr und in diesem Buch sollen nach meiner Erinnerung zehn Gebote für Maler enthalten sein. Wie verhält es sich damit?

Ja, das stimmt. Er hat zehn Gebote herausgegeben. Soll ich sie vorlesen?

Ich bitte darum…

„Du sollst den Kitsch riskieren“, heißt das erste Gebot. Das zweite: „Du sollst nicht für Ausstellungen malen“; das dritte: „Du sollst einen Baum für wichtiger halten als eine Erfindung von Picasso; viertens: „Du sollst dich vor dem persönlichen Stil hüten; fünftens: „Du sollst nur deinen Träumen trauen“; sechstens: „Du sollst deine schlechten Bilder schnell vergessen“; siebentens: „Du sollst deine guten Bilder nicht anbeten“; achtens: „Du sollst vor jedem Bild, das du malst, das Gefühl haben, es wäre dein erstes“; das neunte Gebot: „Du sollst krass ablehnen, was dir nicht passt, und wäre es Rembrandt oder Chagall“; das zehnte Gebot: „Du sollst das Publikum nicht für dümmer halten als dich selbst“.

Ich finde diese zehn Gebote für Maler sind unerhört aktuell. Was meinen Sie dazu?

Ja, ich glaube, das sind Gebote, die eigentlich immer gültig sind.

Frau Pankok, Sie haben – schon der Schreibtisch hier beweist es – offenbar ein riesiges Arbeitsprogramm noch zu bewältigen. Was ist Ihrer Meinung nach darunter das Vordringlichste?

Ja, nachdem wir nun diesen Ausstellungsraum im früheren Atelier meines Mannes fertiggestellt haben und viele Leute – manchmal zweihundert Menschen am Sonntag – hier uns besuchen, da habe ich begonnen, die Aufzeichnungen meines Mannes zu ordnen und zu bearbeiten, mit Anmerkungen zu versehen und auch Hinweise zu geben, die notwendig wären. Dann wollen wir ein Archiv aufbauen, dabei hilft mir Herr Archivrat Schmitz vom Landschaftsverband mit allen seinen Erfahrungen und wir wollen sehen, dass wir die Briefe ordnen, die Fotos und Bilder und, dass eine wissenschaftliche Ordnung hineinkommt.

Frau Pankok, ich habe mir sagen lassen, dass diese ständige Ausstellung in der ehemaligen Scheune beziehungsweise dem früheren Atelier Ihres Mannes besonders stark besucht wird von der Jugend?

Ja, auch viele Jugendliche kommen und haben sich hier schon manchmal angesiedelt und gehen den ganzen Tag nicht fort. Sie spazieren mal durch den Wald, kehren zurück und sehen sich wieder ein einzelnes Bild an, – also so, wie wir es gern haben, dass die Kunst wirklich den Menschen noch bis ins Innerste zum Erlebnis wird.

ABSAGE: Rudolf Schröder führte dieses Gespräch mit Hulda Pankok.

Manuskript der Deutschen Welle, Deutsches Programm Kultur, Sendung vom 7. August 1969, Aufnahme vom 5. August 1969. Bd.-Nr.: A-181 328-69.

Respekt aber keine Bewunderung

Ein Gespräch unserer Kunstkritikerin Yvonne Friedrichs mit Heinz Mack über Albrecht Dürer

„Zero“ und Dürer – lässt sich dafür ein gemeinsamer Nenner finden? Was bedeutet Dürer für einen „progressiven“ Künstler unserer Zeit? Völlig ungewiß über den Verlauf unseres Gespräches sitze ich Heinz Mack in der geräumigen Wohndiele seines jahrhundertealten Bauernhauses in Mönchengladbach gegenüber. Die Synthese von denkmalgeschütztem, mittelalterlichem Fachwerk und gleißenden Aluminiumrastern, Plexiglasstelen und Lichtrotoren scheint verheißungsvoll.

„Herr Mack, haben Sie ein Verhältnis zu Dürer?“

„Mit dieser Fragen werde ich zum erstenmal konfrontiert. Ich habe drei bis vier Schulaufsätze geschrieben. Als sehr kleiner Junge über die Dürerzeichnungen mit der Drahtziehermühle, als Abiturient über die Eisenätzung „Die große Kanone“, natürlich auch über „Ritter, Tod und Teufel“ – womit des Deutschen liebste Bildungsgüter genannt wären. Nach dem Beethovenjahr haben wir nun ein Dürerjahr. Ich halte das Werk Dürers nicht für geeignet, ein ganzes Jahr gefeiert zu werden.“

„Warum? Aus thematischen, formalen oder technischen Gründen?“

„Von der Sache her. Ich glaube kaum, daß es gelingt, Dürer so zu aktualisieren, daß sein Werk ein ganzes Jahr lang fasziniert. Hat man übrigens in Nürnberg, wo man jetzt so bemüht ist, die jüngste Vergangenheit der Parteitage mit Dürer zu übermalen, nicht daran gedacht, daß gerade Dürer wie kaum ein anderer von den Nationalsozialisten gefeiert wurde.“

„Das dürfte doch wohl eher ein typisches Beispiel dafür gewesen sein, wie Kunst in Richtung von Parteipolitik verzerrt wurde.“

„Dürer ist ein nationaler Genius. Er ist der Prototyp des deutschen Künstlers. Das hat seine guten und bösen Seiten. Übrigens: Die Stadt Nürnberg erteilte Dürer nie einen Auftrag. Ja, sie schuldete ihm sogar lange Zeit Geld, da sie sich weigerte, die von Kaiser Maximilian für Dürer ausgesetzte Leibrente auszuzahlen. Daß man jetzt den Großen Dürer-Preis der Stadt an HAP Grieshaber vergibt, ist bezeichnend für die provinzielle Mentalität, die die Aufmerksamkeit der Welt auf sich lenken will. Max Ernst wäre ein würdigerer Preisträger gewesen. Dürers Kupferstich der ‚Bekehrung Pauli’, die ‚Melancholie’ und ganz besonders die Holzschnittfolge ‚Die Unterweisung der Messung’ sind gar nicht so weit von Max Ernst entfernt.“

„Ist Dürer also doch für den modernen Künstler aktuell?“

„Nein. In allen Büchern ist zu lesen, daß Dürer immer bewundert wurde. Ich selbst erweise ihm Respekt als großem Künstler. Meine Generation ist jedoch weit davon entfernt, in ihm unseren größten Meister zu sehen.“

„Wie begründen Sie das?“

„Dürer hat unbestreitbar viel Einfluß auf die deutsche Kunst gehabt, auch durch seine theoretischen Neigungen. Ich persönlich würde Grünewald weit höher einschätzen als Dürer, weil das Werk Grünewalds irrationaler ist. Darunter verstehe ich keinen romantischen Aspekt. Dürer war ein freier, bewundernswerter Forschergeist, doch nicht mit Leonardo zu vergleichen. Er lebte aus dem Geist der Renaissance und formulierte ihn. Aber auf mich heute wirkt er sehr akademisch und trocken – zuviel Grammatik, wenig Sprache. Seine moralische Integrität, seine eindeutige ethische Haltung bleiben unangetastet. Aber dieses Moment der Moral setze ich bei einem großen Künstler als selbstverständlich voraus. Es ist kein eigentlich künstlerisches Kriterium.“

Spezifisch dem „Maler“ Dürer spricht Mack – und damit steht er nicht allein – die höchsten Qualitäten ab. „Die Farbe hält die von Dürer erstrebte Monumentalität nicht aus. Ich schätze ihn als Graphiker und Aquarellisten viel höher ein. In den Aquarellen ist er naiv, spontan, unbefangen, frischer, lebendiger. Es fehlt jeder falsche Ehrgeiz. Hier hat die Farbe sinnliche Präsenz und ist wirklich malerisch empfunden. Typisch dafür erscheint mir das Blatt ‚Arco’. Es erinnert mich sogar an Cézanne. In Dürers eigentlicher Malerei hat dagegen die Farbe keine Primärbedeutung und wird überlegt in Kontrastflächen nebeneinander gesetzt. Es fehlt das, was Dürer selbst in Venedig nicht gesehen hat und was bei Giorgione so großartig ist: daß sich über das ganze Bild eine Farbtemperatur allen Farben gleichermaßen mitteilt.“

„Nun, das kann man ihm, objektive gesehen, als primär linear empfindendem Renaissance-Künstler – nach Wölfflins Definition – nicht übel nehmen. Auch Leonardo verdammt die Maler, die ‚die Reize der Farben gleich schönen Buhlerinnen für ihre Bilder werben ließen’“.

„Ich bewundere, daß Dürer sich in Italien nicht überfahren ließ, daß er Selbstbewusstsein hatte. Er konnte Venedig als freier Mann wieder verlassen. Doch wenn es darum geht, zu werten und Dürer als universalen und größten deutschen Künstler auf den Olymp zu heben, sehe ich diese Universalität im malerischen Werk nicht. Die fast graphische Pinselführung verrät – wie die Liebe zum Kleinen auch in der Graphik – die typisch deutsche Akribie.“

„Dürer lebte in einer Zeit und einem Milieu des Übergangs von mittelalterlicher Befangenheit zur Weltoffenheit der Renaissance. Man spürt in seinem Werk die Entdeckerfreude, mit der er sich dem Diesseitigen, der Natur zuwendet, ohne dabei seine unerschütterliche religiöse Bindung preiszugeben.“

„Auch darin war er einer der deutschesten Künstler, in dessen Brust zwei Seelen wohnten: die Freizügigkeit, der Forschergeist des Erkenntnismalers mit dem offenen Blick für die Natur, andererseits die Aussage des Bekenntnismalers. Diese beiden Elemente in ihrer Spannungsrelation sind typisch für einen großen Teil der deutschen Malerei. Bekenntnismalerei wie Dürers Selbstporträt als Christus – das ist noch Joseph Beuys. Typisch für die gegenwärtige Kunst erscheint mir aber die Objektivation des Irrationalen; die Befangenheit im Subjektiven ist immer eine Schwäche.“

„Diese Objektivität findet sich in hohem Maße doch gerade bei Dürer. Denken Sie nur an die realistischen Porträts und ihre scharfe Charakterisierung.“

„Das ist ein humanistisch-literarisch Aspekt, kein spezifisch malerischer. Trotz der Charakterisierung ist übrigens ihre Variationsbreite verhältnismäßig gering. Dürers Werk ist für mich – mit wenigen Ausnahmen – ohne Faszination, ist keine Quelle der Imagination, weil in ihm keine Imagination realisiert wurde.“

„Sie reagieren sensuell?“

„Ja. Ein Dürer-Bild muß man lange anschauen, weil es reich an Details ist. Dabei erkennt man, daß Natur unmittelbar in die Kunst übertragen wurde. Betrachte ich das Werk eines irrationalen Künstlers, vollziehe ich nicht eine Naturbeobachtung nach, sondern es öffnet meiner Imagination einen weiten Raum.“

„Dürer ist Ihnen also zu real vordergründig?“

„Vieles finde ich ausgesprochen banal.“

„Das ist aus der Zeit heraus zu verstehen. Das Reale war das Neue, ein großes Feld der Entdeckung.“

„Das respektiere ich. Unsere moderne Welt wäre ohne die Renaissance nicht denkbar. Wir befinden uns aber nach wie vor in einem Prozeß der Emanzipation gegenüber der Natur.“

„Sind Sie auch nicht beeindruckt von den großen Holzschnittfolgen, der Passion, der Apokalypse?“

„Ich habe kein Verhältnis zum Holzschnitt. Ich halte ihn für eines der unglücklichsten Medien in der Kunst. Ein Holzschnitt erscheint mir wie das Gerippe eines vertrockneten Blattes, verholzt, hart. Als Linearstruktur mag das bei Dürer sehr schön sein, aber doch manieriert.“

„Gerade die Apokalypse zeigt aber – im Vergleich mit der Kölner Bibel, die Dürer als Vorbild diente -, mit welcher Leidenschaft, mit welcher Dramatik er diese in Holz geschnittenen Bilder aufzuladen vermochte.“

„Es ist ein leidenschaftliches Pathos, das jedoch wieder in der Struktur erstickt und in unauflöslichem Widerspruch zur ‚Grammatik’ der Technik steht. Genial finde ich dagegen fast alle Zeichnungen. Sie sind expressiver, wie das Bild der Mutter Dürers, das die ganze Käthe Kollwitz vorwegnimmt. Oder auch das Selbstporträt mit 14 Jahren. Am meisten schätze ich persönlich die Landschaftsaquarelle und die spontanen Federzeichnungen, die für Dürer nur Skizzen waren. Auch die Kupferstiche – ‚Hieronymus’, ‚Melancholie’, ‚Eustachius’ – beeindrucken mich sehr, wo am meisten das Eingang findet, was ich das Irrationale oder die Imagination nenne.“

„Hier liegt wohl auch der Ansatzpunkt für den starken Einfluß Dürers auf die heutige Wiener Schule des Phantastischen Realismus.“

„Sie ist für mich der Inbegriff einer modischen, anachronistischen, dekadenten Haltung. Im Vergleich dazu war Dürer ein hochgesunder Künstler. Sein moralisch und formal gefestigtes Werk verrät nichts von existentieller Selbstzerstörung.“

„Dennoch lebt auch er in einer Zeit des Umsturzes. Denken Sie an den Prozeß seiner Schüler Jörg Pencz und der Brüder Beham, die 1524 wegen Verbreitung extrem anarchistischer, materialistisch-atheistischer und kommunistischer Ansichten angeklagt und aus der Stadt Nürnberg ausgewiesen wurden. Gerade Nürnberg war ein Sammelbecken solch radikaler Strömungen, die dann zu den Bauernkriegen führten. Dürer hat in seinem Bild der Vier Apostel – der Johannes trägt die Züge des Melanchtons – ein Bekenntnis seiner gegenteiligen Ansicht abgelegt, die den Wirrnissen Ordnung und Harmonie entgegenstellen.“

„Ja, Dürer ist durch diese Zeit – ähnlich wie später Goethe – mit großer Gelassenheit gegangen.“

„Gerade im Augenblick dominiert wieder die Strömung eines Neuen Realismus in der Kunst der Gegenwart.“

„Die Gruppe Zéro hatte einen Neuen Idealismus auf ihr Programm geschrieben. Das war ein Missverständnis. Heute fühle ich mich völlig frei, und ich wünsche mir, daß mein Werk den Menschen daran erinnern könnte, daß es neben dieser von einem Extrem und einem Elend ins andere fallenden Welt eine Welt rein ideeller Natur gibt, die aber sinnlich erfahrbar, beglückend und problemfrei ist. Dieser Wunsch ist menschlich und künstlerisch begründet.“

„Auch Dürer strebte nach der vollkommenen Schönheit und musste schließlich einsehen, daß sie sich durch keine Regel fassen und rational begründen ließ.“

„Ja, das Wort Dürers, er wisse nicht, was das Schöne sei, bestätigt ihn zuletzt als einen Künstler, der die Grenze der Rationalität und damit alle Endlichkeit des Diesseitigen erkannte. Da er der Künstler der deutschen Renaissance war, ist seine Erkenntnis besonders schicksalhaft.“

„Sie plädieren für eine weitgehend abstrahierte, sensibilisierte Schönheit?“

„Nun, ich gehe der Natur aus dem Wege, weil Ihre Schönheit etwas anderes ist als das Schöne in der Kunst. Insofern war die Renaissance-Schönheit, so schön sie auch war, ein Irrtum.“

In: Rheinische Post. Geist und Leben, 15. Mai 1971

Strukturen im weißen Papier

Ausstellung Oskar Holweck

Der Saarländer Oskar Holweck (48) gehörte zu den Künstlern, die seit 1958 in Kontakt mit der Düsseldorfer Zéro-Gruppe standen, mit ihr ausstellten und auch in der Zeitschrift „Zéro“ hervortraten. Zugleich war er damals Mitglied der Neuen Gruppe Saar in Saarbrücken und der Nouvelle Ecole Européenne in Lausanne. 1960 trat er dem Deutschen Werkbund bei. Holweck, der an der Staatlichen Schule für Kunst und Handwerk in Saarbrücken und an der Ecole des Arts Appliqués à l’industrie und der Académie de la Grande Chaumière in Paris studierte, ist seit 1956 Leiter der Klasse Grundlehre an der Werkkunstschule Saarbrücken.

Er war in den letzten 25 Jahren auf vielen internationalen Ausstellungen vertreten, von Amsterdam bis Formosa, Paris, Ljubljana, Venedig, Mailand, Moskau, Washington. Jetzt zeigt die Galerie Wendtorf-Swetec eine Ausstellung seiner Reliefbilder, Zeichnungen und Objekte aus den letzten 15 Jahren.

Holweck gehört nicht zu denen, die sich auf den lauten Märkten in den Vordergrund spielen. Seine mit schlichtesten Medien und einem Minimum an äußerem Aufwand geschaffenen Arbeiten wenden sich an die Sensibilität des Betrachters. Fontana, Manzoni, auch Bernhard Schultze gehören zweifellos zu seinen Anregern. Sein ästhetisches Konzept, das er mit unkonventionellen Methoden und Materialien realisiert, verbindet ihn mit der Gruppe Zéro.

Der Künstler reißt seine sparsamen, fein ausgewogenen Strukturen in weißes Papier – wie zarte, geknitterte und gefältelte Stalaktitenzungen, wellig gebogene Streifen springen sie reliefartig aus der Fläche vor. Diese die Fläche verletzenden und in vibrierende Spannung versetzenden Spuren werden oft mittels Nägeln gezogen, über die Holweck das Blatt spannt und zieht. Sie zeichnen Rhythmen von Licht und Schatten in das reine Weiß wie die in das Papier geknitterten blumigen und strahligen Strukturen oder die positiven und negativen Karo-Faltenreihen.

Daneben gibt es Objekte aus im Zentrum zusammengeklebten weißen Papieren, die sich wie große bauschige Blüten aufblättern. In all dem, auch in den Reihungen sich verwischender und auflösender Linien der Zeichnungen, halten sich formale Freiheit und Disziplin in der Balance. Die zarten optischen Impulse, die hier ausgespielt werden, weisen in den Bereich des Unausgesprochenen, der Stille.

Yvonne Friedrichs In: Rheinische Post. Feuilleton, 3. Mai 1972

Riesige Hände tasten

Plastiken von Michael Schwarze in der Galerie Niepel

Plastiken von vollendeter klassischer Schönheit, die in bruchloser, folgerichtiger Konsequenz in die Phantastik des Surrealen umschlägt, beeindrucken in einer Ausstellung der Galerie Niepel in der Grabenstraße. Der jetzt 33jährige, aus Krefeld stammende Michael Schwarze erweist sich den Plastiken als einer der bedeutenden jungen Bildhauer der Gegenwart, der in den zehn Jahren seines stetigen Aufstiegs unbeirrt einen eigenen Weg verfolgte. Sein Werdegang ist imponierend und zeugt von der Intensität, mit der hier in einer langen Lehr- und Studienzeit auch formal ein hohes Können erworben wurde.

Er begann 1953 mit einer vierjährigen Tischlerlehre, gefolgt von einem zweijährigen Architekturstudium an der Werkkunstschule Krefeld. Anschließend besuchte Michael Schwarze fünf Jahre lang die Berliner Hochschule für Bildende Künste und war Meisterschüler von Professor Karl Hartung. Seit 1964 lebte er als freier Bildhauer in Berlin und wurde 1967 mit dem Villa Romana-Preis, 1969 mit dem Kritikerpreis des Verbandes der deutschen Kritiker Berlin und dem Kunstpreis der Stadt Krefeld ausgezeichnet.

Eine große, ausdrucksvoll bewegte Hand ersetzt oft den Kopf von Schwarzes menschlichen Akten in Bronze oder weißem und bräunlich übermaltem Gips, deren Körper manchmal nur aus einem Bein besteht. Eine Hand, die sich schwermütig zum Boden neigt („Gebückter“) oder wie eine organische Schale die Äpfel des Paradieses umschließt („Eva“), die aus einer aufplatzenden Kugel bricht oder zur Stütze einer Kugel wird.

In flexibler Gestik und phantastischem Bewegungsspiel öffnet sich die Hand dem Raum, ist Trauma, Symbol, Ausdrucksmedium von Emotionen. Auch in einer Reihe von Zeichnungen und Radierungen, in denen riesige Hände und Handfiguren durch Räume tasten, kriechen und Berührung suchen. Zu den schönsten plastischen Darstellungen gehören daneben ein unkonventioneller „Ikarus“ – eine am Boden liegende Figuration aus Kopf, Bein und Flügel – sowie ein sich aus einer aufbrechenden Säule lösendes Mädchen.

Verhaltene Tragik und Melancholie sprechen aus diesen verschlüsselten Bildwerken – menschlichen Situationen im Spannungsraum zwischen Verstricktsein, Beklemmung, Angst und Aufbruch in die Freiheit.

In: Rheinische Post. Geist und Leben, 3. Mai 1972

Zur Akademie gepilgert

Düsseldorfer Einfluß auf die Malerei Amerikas

Seit Beginn dieses Jahres reist eine Ausstellung durch einige Museen der Vereinigten Staaten, die Kunde von der einstigen Düsseldorfer Kunstakademie nach Amerika bringt. Vereinbart wurde sie von dem Düsseldorfer Museumsleiter Dr. Wend von Kalnein und dem Direktor des High Museum of Art in Atlanta, Georgia, Gudmund Vigtel. Vigtel besuchte 1970 auf einer Reise durch deutsche Museen auch die Düsseldorfer Sammlungen. Sein Interesse galt hier besonders den Düsseldorfer Malern, die im 19. Jahrhundert junge amerikanische Kunstschüler ausgebildet hatten. Eine Gegenüberstellung von Arbeiten der Lehrenden und der Lernenden versprach vielseitige Aufschlüsse.

Wend von Kalnein erklärte sich bereit, eine größere Anzahl von Aquarellen und Zeichnungen Düsseldorfer Künstler als Leihgabe nach Amerika zu schicken; in Amerika wurde eine Auswahl von Blättern amerikanischer Künstler zusammengestellt, und zwar ausnahmslos von solchen, die in Düsseldorf studiert hatten. Große amerikanische Institute, u.a. das Metropolitan Museum New York, die Kongreßbücherei Washington, die Harvard-Universität, stellten Leihgaben zur Verfügung. Ein besonderer Kenner der amerikanischen Kunst des 19. Jahrhunderts, für die heute, ähnlich wie in Europa, ein ungewöhnliches Interesse besteht, Donelson F. Hoopes (Los Angeles), wurde zur Mitarbeit herangezogen; er schrieb den klaren und instruktiven Beitrag zum englisch abgefaßten Katalog: „The Düsseldorf Academy and the Americans“. Von deutscher Seite unterrichtet Wend von Kalnein über die Akademie.

Das „goldne Zeitalter“ der Düsseldorfer Akademie begann 1826 mit der Berufung Schadows zu ihrem Leiter. Bald gewann das Institut internationalen Ruhm; besonders aus Skandinavien strömten ihm die Schüler zu. Ihnen folgten die Amerikaner. In den vierziger Jahren setzten wahre „Pilgerfahrten“ junger amerikanischer Künstler nach Düsseldorf ein; man erwartete dort die Summe von allem, was die Amerikaner im Reich der Malerei damals für bewundernswert hielten.

Als erster wichtiger amerikanischer Künstler kam 1841 Emanuel Leutze nach Düsseldorf; er war von deutscher Herkunft, aber schon als Kind nach Amerika verpflanzt worden. 14 Jahre blieb er, mit einigen Unterbrechungen, in Düsseldorf, erst als Schüler Lessings, dann als selber Lehrender. Von Lessing übernahm er die Vorliebe für das große Historienbild und die Landschaft; für beides bringt die Ausstellung, wie dem reich bebilderten Katalog zu entnehmen ist, charakteristische Beispiele. Sie enthält auch eine erste Skizze für Leutzes berühmtes Bild „Washingtons Übergang über den Delaware“, das heute dem New Yorker Metropolitan Museum gehört.

Das Bild entstand noch in Düsseldorf. Leutzes Atelier, so wird berichtet, war eine große Halle, in der sechs Künstler bequem arbeiten konnten. Hier trafen sich vor allem die Amerikaner, die das Fortschreiten der Arbeit verfolgten und darüber nach Amerika berichteten. Leutzes Freund Johnson kopierte das Bild in verkleinertem Maßstab; nach dieser Kopie wurde ein Druck angefertigt, der in ganz Amerika Verbreitung fand.

Leutzes Bild ging in Amerika schon ein beachtliches Renommee voraus, ehe es 1851 dann selber eintraf. Leutze war sicher auch derjenige, durch den das Interesse für die Düsseldorfer Malerei in weite Kreise Amerikas drang. Im Jahre 1849 wurde in New York eine „Düsseldorf Gallery“ eröffnet. Die Bilder, besonders die von Hasenclever, wurden in der Presse enthusiastisch gefeiert; die neuen Sujets, die technische Perfektion wurden bewundert. Die Galerie galt als eine der besten Sammlungen, die je in den Staaten zu sehen waren. Sie bestand bis 1862. Als die Bewunderung für die Düsseldorfer Schule dahinschmolz, wurde der Rest schließlich versteigert.

Neben Lessing und Leutze beeinflußten vor allem Andreas Achenbach, Hasenclever, Sohn, Preyer die jungen Amerikaner. Manche persönliche Freundschaft wurde geknüpft, gemeinsam ging es mit dem Skizzenbuch hinaus in Düsseldorfs Umgebung. Der Maler Whittredge unternahm mit Lessing eine Reise in den Harz. Zwischen den Blättern der Amerikaner und denen der Deutschen gibt es einen erstaunlichen Gleichklang.

Früh wurde freilich bei den Amerikanern auch schon Kritik an der Düsseldorfer Kunst wach. Aus den Memoiren, die einige Amerikaner schrieben, und aus erhalten gebliebenen Briefen sind wir über alle diese Wandlungen genau informiert. Man fand die Düsseldorfer Bilder, besonders die der Historien- und Genremalerei, theatralisch, erstarrt, zu routiniert. Man vermißte, bei aller Detailtreue, die wirkliche Lebensnähe. So kam es, daß die Amerikaner seit den sechziger Jahren mehr und mehr ausblieben oder nur auf der Durchreise Düsseldorf berührten. In München bei Leibl und später in Paris bei Courbet und Manet fanden sie weit mehr das, was sie suchten.

Die Beziehungen zwischen Amerika und der Düsseldorfer Akademie blieben eine Episode. Für die amerikanischen Künstler, die in jungen Jahren in Düsseldorf gelebt und studiert hatten, bedeutete diese Zeit jedoch eine bleibende Verbindung zu den Traditionen der Alten Welt und ein Ausbrechen aus dem eignen Provinzialismus in internationale Weite.

In: Rheinische Post, 10. März 1973.

Keine Wohnung an Homosexuelle?

Es fehlt vor allem an Information

Interviews zu einem Vorurteil

In dem zur dritten Lesung anstehenden Entwurf zur Strafrechtsreform soll es, nach dem Willen seiner Verfasser, weiterhin einen Paragraphen geben, der homosexuelle Beziehung mit männlichen Jugendlichen und Heranwachsenden bis21 Jahre unter Strafe stellt. Nach Meinung der Homosexuellen-Verbände in der Bundesrepublik verstößt diese Regelung gegen den im Grundgesetz verankerten Gleichheitsgrundsatz. Um diese Ansicht einer breiteren Öffentlichkeit bekanntzumachen und gleichzeitig die Meinung der Bevölkerung zum Thema Homosexualität zu erkunden, hatte die Homosexuelle Interessengemeinschaft Düsseldorf (HID) Informationsstände errichte, Flugblätter verteilt undKurzinterviews mit Passanten an der Schadowstraße auf Tonband aufgenommen.

Im Fragenkatalog hieß es: „Meinen Sie, daß Homosexualität bestraft werden sollte?“- Würden Sie einem homosexuellen Paar eine Wohnung vermieten?“- „Würden Sie etwas dagegen haben, daß ein homosexueller Lehrer ihren Sohn unterrichtet und wenn ja, haben Sie auch etwas dagegen, daß ein heterosexueller Lehrer Ihre Tochter unterrichtet?“ Jugendliche wurden auch gefragt, ob sie an der Schule Sexualkunde-Unterricht haben, ob überhaupt mit dem Lehrer ein Gespräch über Aspekte der Sexualität stattfinde.

Das Ergebnis, das beim HID an Hand der Tonbandaufnahmen überprüft werden kann, erstaunte auch die Interviewer, die nicht ohne innere Hemmungen zum ersten Mal in dieser Form an die Öffentlichkeit gegangen waren. Von wenigen Ausnahmen abgesehen sprachen sich die befragten Hausfrauen, Geschäftsleute, Rentner, Schüler, kurz eine zufällig ausgewählte Gruppe von Interviewten gegen jegliche strafrechtliche Verfolgung der Homosexuellen aus, gingen also einen Schritt weiter, als der Gesetzgeber dies zu tun beabsichtigt. Unter den wenigen entgegengesetzten Antworten lautete eine (bezeichnende?): „Ich war nie ein Nazi, aber so ein kleiner Hitler, der täte der Bundesrepublik gut. Ins Zuchthaus gehört ihr, alle.“

Bei den weniger allgemein gehaltenen Fragen entspannen sich oft lebhafte Diskussionen. Eine Wohnung an ein homosexuelles Paar vermieten? Außer dem spontanen „Warum nicht?“ oder „Aber ja!“ gab es Zögern, bei dem deutlich die Frage, was wohl die Nachbarn sagen würden, mitschwang. Verblüffung herrschte, wenn der Interviewer fragte, ob die Gefährdung, die der Befragte in einem homosexuellen Lehrer seines Sohnes sieht, nicht auch dort vorhanden sei, wo ein heterosexueller Lehrer die Tochter unterrichte. Darüber hatten viele noch nicht nachgedacht.

Ganz allgemein ergab sich, daß Frauen vorurteilsfreier zum Thema Homosexualität stehen als Männer. Das zeigte sich auch in den Unterschriftslisten – neben Studenten sprachen sich hauptsächlich Frauen für Straffreiheit der gleichgeschlechtlichen Beziehungen aus. Immer wieder wurde bei der Befragung der Mangel an Kenntnis der Situation und Probleme Homosexueller in unserer Gesellschaft deutlich, und nicht selten hieß es. „Wenn ich mehr darüber wüsste, würde ich auf die Fragen vielleicht anders antworten.“

Bemerkenswertes Nebenergebnis der Befragung: Schüler und Schülerinnen, aber auch Heranwachsende, die vor kurzem die Schule verlassen haben, erklärten übereinstimmend, daß es in ihren Schulen keinen Sexualkundeunterricht gebe, daß über Probleme der Sexualität zwar die Schüler untereinander, nur selten aber mit den Lehrern sprechen.

Von unserem Redaktionsmitglied Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post, 2. Mai 1973

Citadellstraße

Nicht nur Baudenkmäler sind erhaltenswert. Auch intakte alte Straßen sind Kunstwerke.

Ganze Städte werden heute von Künstlern zu Kunstwerken erklärt. Die Bewohner dieser Kunstwerke halten meist nicht viel davon. Oft fehlt ihnen sogar das Auge für das, was bemerkens- und erhaltenswert in ihrer Stadt ist. Dieses Schicksal scheint die Citadellstraße jetzt zu erleiden. Ein junger Fotograf, Sigurd Storch, setzt sich mit den Fotos auf dieser Seite für ihre Rettung ein und hofft auf Bügerinitiative.

Die Citadellstraße – die alte Schreibweise mit „C“ statt „Z“ blieb auf den Straßenschildern erhalten – gehört zwar nicht zu den ältesten Straßen der Altstadt, aber sie ist eine typische Altstadtstraße und, was mehr zählt, sie ist in ihrem ursprünglichen Zustand vollkommen erhalten. Kopfsteinpflaster und verschnörkelte Straßenlaternen ergänzen das Bild der Häuserzeilen mit ihren Bauten, die zum Teil in das 17. Jahrhundert zurückreichen.

Die Maxkirche, Klosterkirche des ehemaligen Franziskanerklosters an der Ecke Schul- und Citadellstraße (Heinrich Heine besuchte hier das Lyzeum) entstand um 1735. Doch schon 1620 war das Berger Tor ans Südende der damaligen Citadelle, an die Ecke Citadell- und Bäckerstraße verlegt worden. Um 1755 schuf Baumeister Anton Schnitzler das Haus der Max-Schule.

Im Laufe der Jahrhunderte im Wandel der Stilepochen sind viele würdige Bürger- und Adelshäuser hier entstanden. Sie trugen so freundliche Namen wie „Im Schenkchen“ (Haus Nummer 3, das ehemals zum Palais Nesselrode gehörte), „Im roten Ochsen“ (Haus Nummer 15), „Im Schloß Benrath“ (Haus Nummer 10, erbaut 1718) oder auch „Im Sonnenaufgang“ (Haus Nummer 12, wo 1838 der Brauer Mathias Schumacher eine Brauerei erwarb, Stammhaus der heutigen Brauerei Schumacher an der Oststraße).

Es ist ein Vergnügen, gemischt mit Bitterkeit, durch die stille Straße zu gehen. Mancher Hauseigentümer verwendet auch heute noch Mühe und Geld auf die Pflege der so ausgewogen und maßvoll gestalteten Fassaden. Traurig aber stimmt der Zustand des Verfalls, der an den meisten Häusern zu beobachten ist, aber auch in ihrem Inneren, wo der Detektiv auf den Spuren der Vergangenheit noch Schätze an wertvollen Stuckarbeiten entdecken kann. Zwecklos, dem von Oberbürgermeister Marx 1895 einen nicht vorhandenen Verkehr geopferten Berger Tor nachzutrauern. Und auch der Trost ist schwach, dass diese Straße viel Pariserisches hat, im selbstgenügsamen Charme ihrer Zurückgezogenheit von dem, was man „modernes Leben“ nennt.

Seltsam genug: Der Beschuss der Stadt 1758 verschonte die Straße; das Hochwasser von 1784 umspülte die Erdgeschosse, richtete aber keinen größeren Schaden an. Bomben und Artilleriegrananten im Zweiten Weltkrieg fanden andere Ziele. Jetzt aber scheint der Niedergang einer intakten alten Straße unausweichlich, wenn nicht Heimatvereine, Denkmalpfleger und die Bürger, für die sie tätig sind, ihr Augenmerk statt auf ein einzelnes Bauwerk einmal auf ein komplexes Stück historischer Umwelt richten. Viel haben wir davon nicht aufzuweisen.

Fakten

Die Citadellstraße liegt in der Karlsstadt, dem ab 1787 entstandenen erweiterten Teil des alten Düsseldorf. Die Karlstadt trägt ihren Namen zu Ehren des Kurfürsten Karl Theodor (1724 bis 1799).

Die Citadellstraße reicht von der Schulstraße im Norden zur Bäckerstraße im Süden. Sie umfasst nur 13 Grundstücke auf der westlichen, acht auf der östlichen Seite.

Benannt wurde sie nach der 1552 von Herzog Wilhelm dem Reichen erbauten Citadelle.

Bei der dritten Erweiterung der Stadtbefestigung, 1620, wurde die Straße in den geschützten Teil der Stadt mit einbezogen.

Zwei bedeutende Bauwerke, das ehemalige Franziskanerkloster mit Kreuzgang und das Palais Nesselrode, markieren den Nordrand.

Im Palais Nesselrorde zeigt heute das Hetjensmuseum seine Keramikschätze. Im Süden schließt sich die Berger Allee an. Eng benachbart ist das Spee’sche Palais mit dem Stadtgeschichtlichen Museum.

Gerda Kaltwasser In: Rheinische Post. Düsseldorfer Stadtpost. „Im Blickpunkt“, 4. März 1972

Ein Museum aus Seerosen, Emaille-Ranken und Majolika-Theken

Metzgerladen im Jugendstil

Für jemanden, der mit Begeisterung gute Wurst herstellt, für eine Jemandin, die sich ein Leben ohne den herzlichen Kontakt zu den Kunden nicht vorstellen kann, mit fachlichem Rat zum Bratenstück und zur Wahl des Aufschnitts – für ein eingefleischtes Fleischerehepaar also muss es nicht leicht sein zu verkraften, dass viele Käufer und noch mehr Vorübergehend den Fleischerladen nur betreten, um zu fragen.“ Ist das wirklich echter Jugendstil?“ Oder um zu sagen: „So einen schönen altmodischen Laden hab ich noch nirgendwo gesehen.“

Helene und Peter London von der Lorettostraße sind solche Kunden inzwischen gewöhnt. Vor wenigen Jahren noch kannten sie andere Fragen: „Wollen Sie denn nicht mal modernisieren? Das muss doch schrecklich sein, solche Staubfänger immer sauber halten zu müssen?“ Oder ganz blank: „Wann schaffen Sie endlich das alte Gerümpel weg?“ Das „alte Gerümpel“ ist eine komplette Einrichtung eines Metzgerladens im Jugendstil. Peter Londons Vater Theodor, ein wohlhabender Mann, hat sie 1906 zum Preis von 28 000 Goldmark gekauft und damals um den Preis nicht gefeilscht. Die Einrichtung mit einem Wurst-Gestänge, mit den herrlichsten emaillierten Eisenranken, mit einer Majolika-Theke, mit einer Glas-Kassettendecke, einem unverwüstlichen Plattenfußboden und Wandkacheln im typischen Stil der Zeit hatte zuvor auf der Weltausstellung in Gent (Belgien) 1906 einen ersten Preis gewonnen.

Preiswürdig 1906 – zu preisen 1974. Peter und Helene London, Kinder alteingesessener Düsseldorfer Familien, wissen inzwischen, dass ihr Geschäft das Wert eines Museums hat. Sie wissen auch, wie schnell sich Geschmack und Vorlieben ändern. Peter London, ganz ehrlich, sagt: „Wenn ich einen Sohn hätte, von dem ich wüsste, dass er das Geschäft mal übernehmen wird, ich hätte das alte Zeug schon kurz nach der Währungsreform rausmachen lassen.“

Wer hätte das nicht zu einer Zeit, als Chrom und glatte Fliesen das Gesicht der Geschäfte, vor allem der Lebensmittelgeschäfte, zu formen begannen. Als nur das als sauber und akzeptabel galt, was auch blitzend war wie ein Chirurgenbesteck. Inzwischen blitzt es uns zu sehr, ist alles zu glatt und eintönig. Ein Kachelband mit Seerosenrelief, von keinem Granatsplitter zerstört, darüber ein symmetrisches Rankenmuster, davor das Gestänge mit üppig wucherndem Rankenwerk – daran kann das Auge sich festhalten, daran wird auch etwas deutlich von der Liebe nicht der Gewinnsucht, die einmal bürgerliche Geschäfte zu Treffpunkten der Bürger machte. Liebe zur Natur und zum Detail, aber auch der Stolz zwischen Speck und Blutwurst nicht verwelkende Natur in Großstadteinrichtungen einfügen zu können, das wirkte wohl mit, als Geschäfte in dieser Art eingerichtet wurden. Jugendstil als Stil einer Großstadt-, einer Massengesellschaft: Nirgendwo kann er geschlossener und eindrucksvoller studiert werden als hier an der Lorettostraßen.

Doch was geschieht, wenn die Londons einmal Schluß machen möchten mit der Plackerei? Dr. Irene Markowitz vom Stadtgeschichtlichen Museum hat das Ganze schon neidvoll für ihr Museum in Augenschein genommen. Doch wer kann das bezahlen? Vor allem, wer in Düsseldorf wird die Mittel aufbringen, dieses kunsthistorische Beispiel ohne Beispiel zu erhalten, möglichst sogar in Funktion?

Helene London, die ihren Laden liebt, hat eine Zukunftsvision, die mit ein paar Finanzspritzen Wirklichkeit werden könnte: „Als Schönstes könnte ich mir vorstellen, dass der ganze Laden in ein altes Haus in der Altstadt übernommen würde. Nicht als Museum, sondern als ein feines Aufschnittgeschäft.“ Vergangenheit, die wir lieben, sollte leben.

Gerda Kaltwasser In: Rheinische Post. Düsseldorfer Stadtpost. 13. April 1974

Zum 75. Geburtstag 1974

Mittlerin einer sich weitenden Kunstwelt. Zum Geburtstag der Kritikerin und Schriftstellerin Anna Klapheck

Als Anna Klapheck 1927 aus Leipzig an den Rhein kam nach Düsseldorf, war sie die Frau Richard Klaphecks, des Kunsthistorikers der Düsseldorfer Akademie, eine junge Frau, deren anziehende Erscheinung sich mit dem frischen Charme einer sich formenden Persönlichkeit rasch die gesellige Welt der lebendig pulsierenden Stadt zu erobern wußte.

Heute bald ein halbes Jahrhundert danach, ist Anna Klapheck die Mutter des Malers Konrad Klapheck, der längst jenseits der Düsseldorfer Kunstszene in die internationale Zone des künstlerischen Lebens der Gegenwart aufgerückt ist.

Die Jahrzehnte nach dem Kriege aber gehörten in wachsendem Maße Anna Klapheck selbst. Damals musste die am 12. Mai 1899 in Erlangen geborene Tochter eines Arztes, der 1923 in Moskau am Krankenlager Lenins gestanden hatte, lernen, ihr eigenes Leben zu formen und zu meistern. Es ist die Zeit, als die promovierte Kunsthistorikerin den Weg in die Presse, zur Rheinischen Post, fand. Für viele Menschen wurde sie hier zur Mittlerin der sich immer mehr weitenden Welt der Kunst (Ausstellungen der Ruhrfestspiele, des Kulturkreises der Deutschen Industrie, der Kasseler Documenta). Wenige Jahre danach fand sie dann den Weg zur Düsseldorfer Kunstakademie, wo sie der nach Freiheit strebenden Jugend die großen Maßstäbe der Geschichte vor Augen zu stellen verstand (1952 bis 1964).

Nach Lehrjahren im Leipziger Museum und im noblen Kunsthandel (C. G. Boerner) war Anna Klapheck einst die so ganz andere Welt der Düsseldorfer Akademie mit Walter Kaesbach an der Spitze oder die Sphäre des Schauspielhauses der Dumont zur neuen Lebensbasis geworden. Die Erinnerung der wenigen schönen glücklichen Jahre vor 1933 an der Seite Richard Klaphecks überglänzen noch immer ihr Dasein. 1933 hatte Mataré oder Campendonk sein Amt an der Akademie verloren. 1939, kurz vor dem Zweiten Weltkrieg, starb er, viel zu früh, ein rheinisch fabulierfreudiger, letzthin konservativer Geist.

Die Stunde der Kunstschriftstellerin sollte, nach einem frühen, reizvollen Moselbuch, erst gegen Ausgang der fünfziger Jahre schlagen. Mit dem Band „Mutter Ey“ (Droste Verlag 1958), der Gestalt, Leben, Umwelt und künstlerischen Kreis der „meistgemalten Frau Deutschlands“ zu beschwören unternahm, gelang gleich der Griff ins Rheinische und Düsseldorfische. Mit sicherem Blick – von persönlichen Erinnerungen der Künstler-Mutter durchflochten – war die hoffnungsfrohe Zeitspanne des Jahrzehnts nach dem Ersten Weltkrieg eingefangen: die berühmten Hauptfiguren von Wollheim, Pankok oder Trillhase über Max Ernst und Otto Dix bis hin zu Jankel Adler, Hundt und Pudlich, die ersten Jahre des „Jungen Rheinland“, wie die Kämpfe, Kräche und Prozesse innerhalb der Künstlerschaft um das „rote Malkästle“. Umsichtig waren hier auch die Dokumente jener unruhigen, längst unwiderbringlich vergangenen Jahre gesammelt in Gestalt von Versen und Fotos., Zeitschriften, Zeichnungen und Karikaturen, Bildern und Plastiken.

Für den stillen, der Dingwelt verschworenen, spät zu äußerem Erfolg gelangenden Maler Bruno Goller (übrigens der Lehrer Konrad Klaphecks an der Düsseldorfer Akademie) schlug Anna Klapheck im gleichen Jahr in der Reihe der vom Kultusministerium des Landes Nordrhein-Westfalen herausgegebenen Reihe der „Monographien zur bildenden Kunst unserer Zeit“ eine nachhaltig wirkende Bresche.

Einem anderen Einzelgänger, dem aus Polen stammenden, 1949 in der Emigration in England gestorbenen Maler Jankel Adler, der in dem Jahrzehnt vor 1933 einer der anregendsten Köpfe innerhalb der rheinischen Künstlerschaft gewesen war, galt 1966 eine weitere Monographie derselben Reihe. Über den „Sinn des Tores“ verstand Anna Klapheck in einem den „Türen und Toren“ Ewald Matarés gewidmeten Bildband (Scherpe Verlag) zu meditieren.

In der seit einem Vierteljahrhundert nicht abreißenden Kette der Publikationen über Düsseldorf setzte schließlich 1972 ihre im Rahmen der angesehenen Städtebücher des Deutschen Kunstverlages herausgekommene Darstellung der Landeshauptstadt einen markanten Akzent. Der Band dürfte ähnlich wie das 1914 in der Reihe „Stätten der Kultur“ erschienene Buch von Heinz Stolz für lange Zeit beispielhaft bleiben.

Der Kreis hat sich gerundet. Wie Anna Klapheck einst von Richard Klapheck auch für Düsseldorf gewonnen wurde, so hat sie selbst Düsseldorf, seiner Kunst und Kultur, in ihrem mannigfaltigen Wirken als Kritikerin, Historikerin und Schriftstellerin den Tribut gezollt. Dieser Blick auf ihr Leben mag so zugleich Dank und Gruß für eine Lebensleistung umschließen.

M. A. Stommel In: Rheinische Post. Feuilleton, 10. Mai 1974.

Wirklichkeit hinter der Oberfläche

Die zweite Generation der Wiener Phantastischen Realisten

Die zweite Generation der Wiener Phantastischen Realisten wird in der in Düsseldorf bisher umfangreichsten Ausstellung bei Norbert Blaeser, Königsallee 92a (Stadtsparkassen-Passage), vorgestellt: über 100 Bilder, Gouachen, Aquarelle, Zeichnungen und Radierungen von Helmut Heuberger, Peter Klitsch, Reny Lohner, Peter Proksch, Kurt Regschek und Werner W. Schulz. Die Preise liegen zwischen 1200 und 30 000 Mark – außer bei der Graphik.

Die vielschichtige, altmeisterliche Technik, das präzise bis ins minuziöse malerische Detail erfaßte, ins gegenständlich-figürliche gebannte Phantastische und Wunderbare, das sich als Gedanke, Emotion, Imagination hinter der Oberfläche des „Wirklichen“ verbirgt, haben diese in den zwanziger und dreißiger Jahren geborenen Künstler von ihren Vorgängern übernommen. Dabei hat man den Eindruck, daß manches unverkrampfter und in der Thematik weniger klischeehaft geworden ist, dafür intelligenter und dem Mystischen zuneigend.

Spitzenwerke kommen von Peter Proksch: das geheimnisvolle, das Dualitätsprinzip allen Lebens symbolisierende Gemälde „Die magischen Zwei“, in dem Mann und Frau, Land und Meer, Himmel und Erde, Sonne und Mond spannungsvoll aufeinander bezogen sind. Eine beeindruckende Leistung sind die in dreijähriger Arbeit entstandenen meisterhaften zwölf Radierungen zu dem satirisch-phantastischen Roman „El Criticon“ des spanischen Jesuitenpaters Baltasar Gracian (1584-1659), in denen Lebensweisheit und -einsicht geistvoll reflektiert und anschaulich werden.

Reny Lohners feinfiedrig und faserig in fast tänzerische Rhythmen aufgelösten Märchenlandschaften, über denen große Traumvögel schweben, sind am preziösesten im kleinen Format, wie etwa die in feinsten Farbnuancen irisierende Silberstiftzeichnung einer „Sphinx“ oder das Öl-Tempera-Bild „Vor einem Zelt“.

Kurt Regscheks von einem Tuch überschattete, von durchsichtigen Schleiern und flutendem Ornamentgrund umspielte „Eurydike“ erinnert an Klinger und den Jugendstil. Helmut Heuberger, Doktor der Philosophie und malender Autodidakt, der sich zum „Protest der Stille“ bekennt, baut seine poetischen Traumlandschaften wie Kartenhäuser oder Theaterkulissen auf: Schloßruinen, Muschelhäuser oder blaue Türme auf Klippen.

Mit einem ostasiatischen, von rauschhaften exotischen Farben umlohten Mädchen ist Peter Klitsch vertreten. In märchenfarbige Wellenstrukturen zerlegt Werner Schulz seine verwunschenen Landschaften, die offensichtlich an Hundertwasser orientiert sind.

In: Rheinische Post. Feuilleton, 23. Mai 1974

Hrdlicka und das Dämonische

„Ich habe keine Visionen, ich lese Zeitung“, soll Alfred Hrdlicka einmal gesagt haben. Er bezieht Stellung zu dem, was um ihn herum passiert. Im Gegensatz zu manchen Zeitungslesern, die nach der Lektüre auch katastrophaler Nachrichten zur Tagesordnung übergehen, fühlt sich Hrdlicka im Innersten aufgewühlt.

In geradezu selbstquälerischer Leidenschaft nehmen die dunkelsten Triebe des Menschen in seinen Arbeiten Gestalt an, verdichten sich in spannungsgeladenen Menschengruppen, in erregten Schraffuren, flackerndem Helldunkel der Radierungen, in übersteigertem, brutalem Realismus der Plastiken Angst, Bedrohung, Grausamkeit, psychische Abnormität, sexueller Exzeß. Der Mensch wird einseitig als Ungeheuer gesehen, als Vollzugsorgan oder Opfer verbrecherischer Mächte und chaotischer Leidenschaften.

Nachdem 1971 der Graphiksalon Söhn eine große Auswahl der bis dahin erschienenen Graphiken Hrdlickas gezeigt hatte, sind jetzt in der Junior Galerie (Orangeriestr. 6) einige der neuesten Radierfolgen und Zeichnungen neben mehreren Bronzen ausgestellt.

Im Mittelpunkt steht der komplette Zyklus „The rake’s progress“ (Das Leben eines Wüstlings), der an das berühmte sittengeschichtliche Werk von Hogarth aus dem 18. Jh. anknüpft, und die 1973/74 entstandenen 52 Radierungen „Wie ein Totentanz“, ein Kommentar zum 20. Juli 1944.

Hrdlicka (geb. 1928 in Wien), der Schüler von Gütersloh, Dobrowsky und des Bildhauers Wotruba, der als Radierer an die Technik Rembrandts anknüpft, erweist sich hier aufs neue als ein Nachfahre Goyas in der schonungslosen Entlarvung des Diabolischen. Um das so konzentriert zu offenbaren - meisterlich im Technisch-Formalen -, bedarf es wohl einer so temperament- und wesensbedingten Einseitigkeit der Weltsicht.

In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 11. März 1975

Vom optischen Chaos zum Organismus

Photoskulpturen und Zeichnungen von Klaus Kammerichs im Kunstverein

Wenn sich im 19. Jahrhundert renommierte Maler – wie Lenbach etwa, oder Zille – der Photographie als Vorlage und Hilfsmittel für ihre Bilder und Zeichnungen bedienten, so taten sie dies verschämt und hinter verschlossener Tür. Im Mittelalter, ja noch bis in die Barockzeit hinein, war es durchaus nicht ehrenrührig, sondern gang und gäbe, daß auch die berühmtesten Künstler Motive aus den in allen Werkstätten aufliegenden Kupferstichen, Modellzeichnungen oder Musterbüchern kopierten. Der Brauch, mit Mustern, Modellen und technischen Hilfskonstruktionen zu arbeiten, geht bis ins früheste Altertum zurück.

Die Photographie, die zunächst als gefährliche Konkurrenz der Malerei gefürchtet wurde und später die abstrahierenden und das äußere Bild der Wirklichkeit verfremdenden Kunstrichtungen mit auslöste, ist inzwischen durch Collage und Assemblage, durch Pop-, Land-Art und Photorealismus sogar nominell in das Kunstwerk integriert.

Der Düsseldorfer Künstler Klaus Kammerichs kann für sich in Anspruch nehmen, eine ganz spezielle Verwertung und Manipulation des Photos erfunden zu haben. Als seine ersten „Photoskulpturen“ 1971 in einer Ausstellung der Galerie Niepel auftauchten, war das eine kleine Sensation. Man bestaunte ihre eigenwillige Technik – eine wahre Sisyphos-Arbeit. Wichtig sind die Arbeiten Kammerichs’ aber auch historisch als vermittelndes Bindeglied zwischen informeller Struktur und realistischer Figuration, denn beide Elemente sind in reinster Form gleichzeitig in jeder seiner Skulpturen enthalten.

Dies beruht auf einem seltsamen, verblüffenden Effekt, den der Betrachter selbst steuern kann: geht er dicht an die Reliefs und Plastiken heran, zerfallen sie in zerklüftete Strukturlandschaften mit spitzigen Klippen und dunklen Schluchten, in denen das Auge umherirrt und vergeblich Sinn und Halt sucht. Bei zunehmender Entfernung verdichtet sich das optische Chaos zum geschlossenen Organismus und schließlich zum problemlosen Abbild profaner Wirklichkeit.

Die Distanz schafft Klarheit. Punktuellen Strukturen eines numinosen plastischen Rasters fügen sich in einer „Briefmarkenserie“ zusammen zum Porträt von John Kennedy oder Friedrich dem Großen, Heinemann oder Hitler, Ulbricht, Franco, Elisabeth II. von England, auch zum Selbstbildnis oder zu einem Tigerkopf. Banale Gegenstände des täglichen Lebens – Wasserhahn, Telefon, Taschenlampen – werden zum „Aha-Erlebnis“. Am erstaunlichsten sind ganze Reliefwände in Abmessungen von 2x5 Metern mit kompletten Rugby- und Eishockey-Mannschaften oder einer Radrennfahrergruppe der „Tour de France“. In ihnen wird die ganze Dynamik, die sich in Kammerichs’ Technik verbirgt, herausgeholt.

Ihr Geheimnis liegt in einer räumlich-plastischen Abstufung der Grau- und Helldunkelwerte einer zugrundeliegenden Photographie, wobei die hellsten Töne als plastischste Erhöhungen in den Vordergrund rücken, die dunkleren sich in die Tiefe stufen. Kammerichs setzt also nicht die Photographie unmittelbar in Skulpturen um, sondern die Reliefschichtung ergibt sich aus den Tonwerten. Alle Arbeiten sind mit Draht in mühsamster Präzisions- und Geduldarbeit aus Hartschaumplatten ausgesägt und in Graunuancen, seltener farbig, bemalt.

In den jüngsten Arbeiten ist der optische Verwandlungsprozeß noch komplizierter geworden. Kammerichs nimmt Abstand vom banalen Wirklichkeitsabklatsch als Endresultat einer kinetischen Sehschule. Die Silhouette von Realitätsausschnitten, die er von zwei Standpunkten aufgenommen hat, überschneidet und durchdringt sich in der Plastik. So entstehen würfelartige komplexe Skulpturen: ein „Silberwald“, eine „Hobelbank“, ein „Frühstück im Freien“, in denen sich für diese verblüffende Technik neue Perspektiven eröffnen.

Klaus Kammerichs, 1933 in Iserlohn geboren, ist gelernter Photograph, war als Bildjournalist tätig, bevor er an der Düsseldorfer Werkkunstschule und Kunstakademie studierte. Der spätere Werbeleiter erhielt 1962 einen Lehrauftrag für Photographie an der heutigen Düsseldorfer Fachhochschule, an der er seit 1973 Professor im Fachbereich Design ist.

In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 12. März 1975

Der Sieger

Vor dreißig Jahren - Kriegsende im Erzgebirge

Vielleicht waren es die letzten Schüsse des Krieges überhaupt, die an jenem milden Maiabend 1945 über unsern „Ochsenkopf“ hinwegdröhnten und ihre rauchende Spur sinnlos nach Osten sandten. Von dort her kam die weiße Straße, sie durchschnitt die eben grünenden Felder, die unter so großer Bangigkeit bestellt worden waren. Oft waren wir diese Straße gegangen. Nun war sie menschenleer, in stummer Erwartung.

In den Lichtungen des „Ochsenkopf“ hatten wir im vergangenen Sommer wilde Himbeeren gepflückt und an feuchten Morgen unterm Moos Täublinge und Birkenpilze eingesammelt. Nun sahen wir von der jenseitigen Höhe des Erzgebirges hinüber zu dem vertrauten Berg, der mit den verderbenden Mächten im Bunde schien. Zwischen ihm und uns, in die Talgründe verstreut, lag das Dorf. In ihm nistete die Angst, und doch waren die abendlichen Geräusche die gleichen wie immer: das Zufallen der Stalltüren, das Anschlagen der Hunde, der dünne Schlag der Schulglocke. Auch hier kräuselte sich blasser Rauch in die Luft, vom Herdfeuer, aus den niedrigen Stuben, aus der Geborgenheit.

Hinter uns, scharf abgesetzt gegen den rötlichen Abendhimmel, stand die dunkle Wand der Wälder, die hinüber nach Böhmen reichen. Einsameres Land als dieses gibt es kaum in Deutschland. Mit der einbrechenden Dunkelheit tauchen hier und da, irgendwoher, entwaffnete deutsche Soldaten auf, meist zwei oder drei zusammen, weiße Stoffstreifen am Arm. Sie fragen nach Weg und Richtung und entschwinden lautlos. Mit aufsteigenden Sternen läßt das Brausen vom Berge drüben nach. Die weiße Straße, noch immer leer, leuchtet im Mondlicht.

Am Morgen, der in blauem Glanze anbricht, ist es geschehen. Aus den Häusern wehen die kleinen weißen und roten Fahnen. Auf der weißen Straße wälzt es sich heran. Der Sieger ist da.

Nach allem Furchtbaren, das geschehen ist, kann es kaum anders sein, als daß Auflösung und Übergabe unter allen Zeichen der Entfesselung vor sich gehen. Es kommen Tage ohne Maß. Wir sind dem Sieger preisgegeben, und er ergreift sein erobertes Recht mit kentaurischer Kraft und satanischer Lust. Wir laufen in die Wälder und verstecken uns auf den Heuböden. Wir verbergen die Trauringe im Schuh und die Uhren im Mehlsack. Mütter stecken ihre halbwüchsigen Töchter in Jungenkleidung. Doch der Sieger wittert bald den Betrug.

In den ersten Tagen nach dem Zusammenbruch stand oft die Frage auf, ob man nicht hätte weggehen sollen, hinüber zu den Siegern der anderen Seite, wo es doch vielleicht Verständigungsmöglichkeiten gab. Und immer wieder die Antwort: der Krieg ist zu Ende, unsere Häuser sind in Asche. Wir waren mit unseren Kindern seit Jahren auf der Flucht, Flucht vor Bomben, Granaten, brennenden Städten, hatten hier eine bescheidene Heimstatt gefunden. Muß man nun auch noch vor Menschen fliehen?

Eines Tages, um die Mittagsstunde, fährt eine Reihe von Bauernwagen den Hang hinauf zu unserem einsamen Haus. Jeder Wagen ist mit zwei Pferden bespannt, auf jedem Gespann sitzen zwei oder drei Soldaten der Roten Armee. Von einem der letzten Wagen springt ein russischer Leutnant ab, klein und sehnig von Gestalt. Ihn begleitet ein Sergeant, groß und breitschultrig. Als Dritter ein Dolmetscher, der die Verhandlung führt. Innerlich darauf gefaßt, das Gutshaus nun verlassen zu müssen, erfahren wir voll Erstaunen, daß sie von uns nichts weiter verlangen als einen langen Tisch, Stühle und für jeden Soldaten Teller und Löffel. Wenig später dampft ein Kessel vor der Scheune. Am Abend dringen schwermütige Volkslieder durch unsere offenen Fenster. Der Sergeant, der zugleich der Koch ist, kommt mit dem halbvollen Kessel spät noch einmal ins Haus. „Für die Kinder“, sagt er auf deutsch.

Am nächsten Morgen holen die Soldaten alle verfügbaren Mähmaschinen aus dem Dorf zusammen, fahren über die weiten Koppeln herauf und herunter, das hohe Gras fällt zusammen. Für den nächsten Tag werden wir Frauen vom Leutnant zur Arbeit bestellt. In Reih und Glied mit den geübteren Frauen des Dorfes müssen wir das Heu schichten, während die Russen als Aufseher auf ungesattelten Pferden die Koppeln entlangjagen. So also ist es, besiegt zu sein. Dann nimmt uns die Arbeit in Anspruch. Nach ungeschicktem Anfang werden die langen Reihen Heu mit der Zeit gerader und besser. Der Himmel wird grau und drohend, wir sind zum Umfallen müde. Aber das Gewitter wird kommen, und unser Heu darf nicht naß werden. Die ersten Tropfen fallen. Wir schaufeln wie besessen und bringen die Arbeit noch eben zu Ende. Beim Heimgang gestehen wir uns, daß wir fröhlich sind. Am Abend holt uns der Leutnant an den langen Tisch in die Scheune.

So wächst langsam eine Verbundenheit heran, die schließlich das ganze Dorf erfaßt. Leutnant Michail ist der Träger dieser sich bildenden Ordnung. Wir erfuhren nie, wie weit sein militärischer Auftrag ging, vermutlich wußte er selbst es nicht genau. Ohne jede Pose, nur dem eignen Gewissen verpflichtet, ging er ans Werk. Auf seinen kurzen festen Reiterbeinen steht er zwischen seinen riesigen Soldaten: dem gutmütigen Iwan, der Koch und Sergeant in einer Person ist, dem schwarzen Fjodor, dem dunkelhäutigen Karimo mit den blinkenden Zähnen, dem blonden Stanislaw aus der Ukraine, der in der Gefangenschaft ein paar Brocken deutsch gelernt hat.

Einfache Menschlichkeit

Leutnant Michail kennt seine Leute Zug um Zug, spart nicht mit Drohung und Strafen. Im Zivilberuf war er, wie wir allmählich erfahren, Lehrer, doch er sprach nur russisch. Seine Mutter sei noch des Schreibens unkundig gewesen. Wo die Sprache als Verständigungsmittel entfällt, gewinnt die Gestalt reine Sichtbarkeit. Leutnant Michail besaß die tiefe und einfache Menschlichkeit, die das russische Volk durch alle Wandlungen nie ganz verloren hat. In ihm lebte Aljoscha Karamasoff, unser aller Bruder.

Der Sommer ist auf der Höhe, die Arbeit auf den Koppeln beendet. Viel gab es inzwischen zu schlichten, denn auch im engsten Kreis geht es um Schicksal. Da sind Leute im Dorf, die von jeher einen kleinen Anteil an den Wiesen haben und sich ihre zwei oder drei Heufuhren alljährlich nach Hause fahren dürfen ?. Nach und nach kommen sie zum Leutnant, der nun der Kommandant für den ganzen Bezirk geworden ist. „Ist der Mann arm?“ fragt er als erstes. „Sehr arm“, lautet die Antwort. Dann soll er viel haben. Noch öfter fragt er: „Ist der Mann gut?“ und erhält meist nur zögernde Antwort.

Schlimm erging es dem rothaarigen Lorenz aus der verwahrlosten Hütte im Oberdorf. Der fing an, sich an entlegener Stelle heimlich sein Heu zu beschaffen. Der Leutnant erfuhr es, bis hinüber ins Haus hörte man sein Fluchen. „Du bist ein Dieb, ich könnte dich erschießen!“ Er packte den Rothaarigen am Kragen und sperrte ihn einen Tag lang im Keller ein. Dann ließ er ihn laufen, wortlos und traurig.

Die Soldaten aus dem fremden Land sind stark und gesund. Mit ihnen gemeinsam auf den Feldern und in den Scheunen arbeiten die Mädchen. Als der Krieg begann, waren sie zwölf und dreizehn, nun sind sie achtzehn und neunzehn. Auch sie sind jung und voll Kraft. Die Abende sind lang und hell, die Stuben liegen eben zur Erde, nirgends um die Häuser ist ein Zaun. Es flüstert und lacht durch die Sommernächte. Der Leutnant sieht dies alles, aber wo es nicht um Bedrohung und Unrecht geht, da ist es nicht seine Sache.

Da ist Magdalene, noch ein halbes Kind. Wie sehr wünscht sie sich, daß der Leutnant sie bemerkt, daß er sieht, wie sich beim Aufladen der schweren Fuder ihr Kleid spannt über der Brust. Ein Briefchen liegt herum. „An Leutnant Michail Simjonowitsch“ steht mit kindlichen Buchstaben auf dem Umschlag. Als der Leutnant ihn öffnet, fallen ein paar Rosenblätter heraus. So geht es ein paar Tage. Magdalene wird immer verwirrter, steckt sich rote Blüten hinter ihr kleines Ohr. Eines Abends kommt Magdalenes Mutter, eine stille Frau, der Mann gefallen. Sie steht lange beim Leutnant, der Dolmetscher wird diesmal nicht herbeigerufen, denn was die zwei sich zu sagen haben, findet auch so seinen Weg vom einen zum anderen. Magdalene arbeitet weiter in der Scheune. Der Leutnant macht vor allen Mädchen Spaß mit ihr. Er springt durchs hohe Scheunentor auf die Erde, als ihr die Heugabel heruntergefallen ist. Nichts weiter. Und die spitzen Worte, die die Mädchen schon bereit hatten, verstummen.

Der Kapitän ist im Auto gekommen, um den Leutnant abzuholen. Eine Dolmetscherin bringt er mit. Das Kommando des Leutnants ist beendet. Die Kinder bewundern die Uniform des großen Kapitäns mit den vier Sowjetsternen auf der Schulter und den Medaillen auf der Brust, aber sie bleiben scheu. Im Dorf spricht es sich herum: Der Leutnant geht fort, und alle fühlen, daß etwas fehlen wird.

Der Kapitän hat ein Zimmer im Gutshaus belegt. Am Abend wird hier der Tisch gedeckt, wir Frauen werden zum Essen geladen. Iwan schmort in der Küche und tut, als kenne er uns nicht. Um zehn wird endlich aufgetragen, Fisch und Fleisch, Wodka und Wein. Das weiße Bett des Kapitäns ist für die Nacht schon vorbereitet. Die Luft ist stickig vom Rauch der Zigaretten.

Der Kapitän fragt, ob eine von uns etwas auf dem Klavier spielen könne, einen Tanz oder ein Lied. Maria spielt einen Walzer von Chopin. Der Kapitän geht unruhig auf und ab durchs Zimmer. Er legt den Uniformrock ab und lehnt sich im weißen Hemd tief in den Sessel zurück. Aus flackernden Augen sieht er uns der Reihe nach an. Das Gespräch ist mühsam, uns ist sehr bang. Wir fragen den Kapitän durch die Dolmetscherin, wo er zu Hause sei. In Kriwoj Rog, wo die schweren Kämpfe waren. Wir sprechen nicht gern vom Krieg und fragen nach etwas anderem. Aber der Kapitän spricht weiter von Kriwoj Rog. Die Sätze werden bedrohlicher, zögernd übersetzt die Dolmetscherin. Seine Frau floh mit dem Kind, er weiß nicht, wo sie sind. Seine Mutter und seine Schwester wurden von den Deutschen auf grausame Art umgebracht. Da wächst es riesengroß auf: das Gespenst der Schuld, des Hasses und der Vergeltung. Ein Block schiebt sich heran und versperrt jeden Weg der Verständigung. „Wir wußten es nicht“, sagt Marie leise.

Der Leutnant ist blaß geworden. Sein schönes Gesicht hat den schmerzlichen Zug, den wir an ihm kennen. Aber es geht eine seltsame Kraft von ihm aus. Mit einem Male wissen wir, daß er uns schützen wird. Der Kapitän, der viel getrunken hat, ist eingeschlafen. Der Leutnant murmelt ein paar russische Worte. Wir sehen die Dolmetscherin an. „Gott wird richten“, hat er gesagt. (Geschrieben 1945).

Anna Klapheck in: Rheinische Post. Geist und Leben, 10. Mai 1975.

Vom nackten Hans und anderen Leckereien

Ein alteingesessener Düsseldorfer kommt nach der Spätschicht in ein freundliches Innenstadtrestaurant, bestellt ein Altbier und „‘ne halve Hahn“. Nach 15 Minuten, er hat inzwischen das dritte Bier vor sich stehen, will er sich vorsichtig nach dem Verbleib des Happens erkundigen. Da serviert ihm der Ober mit elegantem Schwung und einem fröhlichen „Guten Appetit“ – ein halbes Hähnchen, frisch und knusprig, mit Schweizer Rösti und gemischtem Salat. Der Ober – ein sehr guter nebenbei bemerkt – war Ostfriese. Und er war erst wenige Tage in Diensten eines Restaurants in Düsseldorf am Rhein. Deshalb ist dieses Erlebnis auch nicht den Friesenwitzen zuzuzählen.

Wer, wenn er nicht gerade hier geboren ist, kann sich vorstellen, daß ein „halver Hahn“ ein Mainzer Käse im laufenden Zustand mit Zwiebeln, Kümmel und einem Röggelchen ist. Die gehackten Zwiebeln, womöglich in einer Essig-Öl-Marinade, werden auch „Musikk“ genannt, mit der Betonung auf der ersten Silbe. Die „Musikk“ findet sich auf den Spezialitätenkarten Düsseldorfer Altbierlokale zum Beispiel zum Schwartenmagen. Einfache Leberwurst mit Musikk hingegen wird „Stockfärv“ genannt. Dabei muß die Leberwurst über Nacht in der Marinade liegen, die noch mit Lorbeerblatt, Nelke, Pfeffer- und Senfkörnern gewürzt wurde.

Aber Stockfärv oder Läwerwooschschlat – Leberwurstsalat – sind auf den Speisekarten kaum mehr zu finden. Wohl der „Näcke Hennes“, der nackte Hans, wenn auch nicht unter dieser Bezeichnung. Das ist nämlich einfache Blutwurst, die sogenannte Blootwoosch oder Flönz mit Zwiebeln, Senf und Röggelchen. Man sieht’s an den wenigen Beispielen, die Düsseldorfer halten etwas von der deftigen Hausmannskost. Einfach und billig, so ist sie von den Vorvätern auf uns gekommen, denn Düsseldorf war nicht immer die von allen beneidete reiche Metropole eines (problem)-reichen Bundeslandes. Als das arme Fischerdorf 1288 zur Stadt erhoben wurde, war damit nicht automatisch Reichtum verbunden. Und auch in den Jahrhunderten später ging es eher eingeschränkt zu in den Bürgerhäusern.

Die Vorliebe für die alten rheinischen Spezialitäten hat sich nicht nur erhalten, sie ist in den letzten Jahren wieder stärker geworden. Viele Gaststätten in der Altstadt, aber auch an der Oststraße, am Wehrhahn und in den Außenbezirken pflegen den Eintopf aus Gemüse, Kartoffeln und Fleisch. Der Rheinische Sauerbraten fehlt auf den wenigsten Speisekarten. Nur die alten Namen, die wurden eingehochdeutscht.

Eigentlich schade. Wer würde nicht gern mal in „Pollezeifenger“, Polizeifinger, beißen. Das klingt nicht so hart wie „Bullen“ und erleichtert doch das Gemüt. Polizeifinger sind Möhren oder gelbe Rüben, mit Kartoffeln, Zwiebeln und Räucherspeck gekocht. Anders die „Schnieder-Courage“, die Schneider-Courage. Da werden die Möhren und Kartoffeln mit weißen Bohnen, Rindfleisch und Speckwürfeln angerichtet. Mit den Möhren hatten’s die Düsseldorfer überhaupt. Beim „Dolle Jacob“ werden die Möhren und weißen Bohnen gesondert gegart, beim Mohrepuspas wird das Fleisch gespart, statt dessen wird der Eintopf aus Möhren, Kartoffeln, weißen Bohnen, mit verschlagenen Eiern und Sahne angereichert. Etwas für starke Esser mit viel körperlicher Bewegung. Ganz schön schlau nach modernen Erkenntnissen der Ernährungswissenschaft war dieses Essen. Möhren sind reich an B-Vitaminen, Karotin; weiße Bohnen enthalten viel Vitamin-C und ersetzten dadurch das für die einfachen Leute nur selten erschwingliche Fleisch.

Heutzutage haben die Gerichte nicht mehr die gemütlichen alten, anzüglichen Namen. Der Eintopf wird nicht Eintopf, sondern Gemüse „bürgerlich“ genannt. Das Stielmus heißt Stielmus, nicht „Zenthötches“ wie in alten Zeiten. Und ein Gastwirt, der noch Panhas zum Sauerkraut serviert, wird Panhas nicht als „Knabbeldanz“ anpreisen. Denn das würden nicht mal Düsseldorfer mehr verstehen.

Wie schön, daß wenigstens der Riefkooke noch Reibekuchen, der Pillekooke noch Pillekuchen heißt, ein „Pfannkuchen“, der aus rohen Kartoffelschnitzen-Eierteig besteht. In die Richtung gehört auch die „Pann Schiewe“, Bratkartoffeln aus dünn geschnittenen rohen Kartoffelscheiben. Hier übrigens, wie auch bei den beliebten Muscheln in den Monaten mit „r“ (September bis Februar) findet der Gast endlich die wahrscheinlich lange gesuchte Verbindung zur französischen Küche. Denn Kartoffelgerichte dieser Art wie auch Muschelspeisen von derb bis delikat finden sich in Frankreichs Provinzen. Und die Düsseldorfer haben sich in ihrem Geschmack immer eher nach Westen denn nach Osten ausgerichtet.

Übrigens – auf dem Weg zum Pillekooke in der Altstadt empfiehlt es sich, als Vorspeise ein Matjesröllchen mit Zwiebeln auf dem Markt zu essen. Danach ist Düsseldorfer Altbier, nach alter Art gebrautes Bier, nicht mehr zu umgehen.

Gerda Kaltwasser In: Düsseldorf. Das Magazin für Gäste und Freunde der Landeshauptstadt Düsseldorf, 1977, Heft 4, S. 37

Die Objekte sprechen lassen

Düsseldorfs „Stadtgeschichtliches Museum“ in neuer Gestalt

Das nach mehrjähriger Bauzeit nun in nahezu vollständiger Gestalt neueröffnete „Stadtgeschichtliche Museum“ ist zum ebenbürtigen Partner der übrigen Düsseldorfer Kulturinstitute geworden. Doch hat es eine unbestrittene Sonderstellung. Obwohl es voll ist von Kunst und vom Bau her selbst beinahe ein Kunstdenkmal, will es doch kein „Kunstmuseum“ sein. Und noch weniger ein bloßer Stapelplatz historischer Objekte. Die Kunst soll der Historie dienen, sie farbig und lebendig machen, getreu dem Wort von Jacob Burckhardt: „Jede Zeit schreibt ihre Geschichte in den Kunstwerken, die sie schafft.“

Das Museum blickt auf eine mehr als 100jährige Geschichte zurück. Auf Betreiben der Bürgerschaft wurde es 1874 als „Historisches Museum“ gegründet, großzügige Schenkungen bildeten den Grundstock. So wie es den Namen wechselte, hat es auch sein Domizil häufig wechseln müssen. Die vorausgegangene Unterbringung im Schloß Jägerhof war wohl reizvoll, für die Darstellung historischer Zusammenhänge aber denkbar ungeeignet. Da bot sich der Stadt in den sechziger Jahren die Gelegenheit, den großen, wenn auch stark kriegsgeschädigten Komplex des einstigen Palais der Grafen Spee zu erwerben, der denn auch gleich zur Aufnahme des Museums bestimmt wurde. In mühevoller Arbeit wurde zunächst der um einen Innenhof gelagerte Ostflügel museumsgerecht hergerichtet und 1975 der Öffentlichkeit übergeben. Mit dem völlig neuerbauten Westflügel bietet der gesamte Bau nun ein einheitliches Bild.

Die Darstellung reicht von den Bodenfunden der Vor- und Frühgeschichte bis annähernd zum Jahre 1914. Nach Möglichkeit soll in einem späteren Erweiterungsbau die letzte Phase der Stadtgeschichte veranschaulicht werden. Immer war man bemüht, die Objekte selbst sprechen zu lassen, Schwerpunkte zu setzen, Öffentliches und Privates nebeneinanderzustellen. Vordringlich blieb immer der Gedanke, daß wir uns in einem Privathaus befinden und ein Stück Privatheit in den historischen Ablauf hineinzunehmen ist. Alten Tapetenresten war man auf der Spur, kostbare Möbel wurden erworben, so der Oeder-Schrank und die Salonmöbel aus dem Palais Schaumburg, beides aus der Zeit des Jugendstils. Aber auch aus unbeachtetem Trödel kam manches wirkungsvolle Stück ans Licht.

Wichtig schien es auch, in den Sammlungen die Stadtgeschichte mit der Landesgeschichte zu verbinden. Düsseldorf war die meiste Zeit Sitz der Regierung, eine verzweigte Dynastengeschichte spielt in die Stadtgeschichte hinein. An das bürgerliche Düsseldorf, an die Zeit Jan Wellems, seiner Vorgänger und Nachfolger erinnern die Räume des Ostflügels. Auch hier konnte Neues eingefügt werden. So erstrahlen die nach dem Kriege gefundenen drei Sandsteinfiguren der „Jahreszeiten“ (die vierte fehlt) in neuem Glanz und erinnern an den reichen Skulpturenschmuck der einstigen höfischen Gärten, von dem so vieles durch unglückliche Verkettung später abtransportiert worden ist.

Der neuerbaute Westflügel läßt die Geschichte des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts aufleben. Hier klingen Namen und Ereignisse an, die uns noch voll gegenwärtig sind: die von den Bürgern so ungern akzeptierte preußische Verwaltung, die Freiheitsbewegung von 1848 mit dem Namen Freiligrath und Lassalle und die im gleichen Jahr erfolgte Gründung des „Malkastens“. An Heine wird erinnert, wir stoßen auf den Flügel, auf dem Schumann, bereits krank, zuletzt noch gespielt hat.

Wir erleben den Aufstieg Düsseldorfs zur Großstadt und werden immer wieder auf die für die Stadt so charakteristische Verbindung von Kunst und Industrie hingewiesen. Aus zahlreichen Porträts sehen sie uns an: die Wirtschaftsführer und Firmengründer, die Künstler, die der Stadt das Gepräge gaben und zum Ruhm der großen Ausstellungen beitrugen. Noch war es eine intakte Welt, in der sich das Leben abspielte – eine liebenswürdige Sammlung alter Plakate vergegenwärtigt uns, was den Menschen damals wichtig war: Sängerwettstreit, Schützenfeste, Verlosung im Malkasten, aber auch bereits die berühmten Niederrheinischen Musikfeste und die Kunstausstellungen.

Im Erdgeschoß des Neubaus fanden die Denkmäler der Vor- und Frühgeschichte eine neue Unterkunft, eine karolingische Flügellanze gehört zu den seltenen Stücken. Im übrigen gibt es hier einen großen Raum für Sonderveranstaltungen: Zum Auftakt wird das aktuelle Thema „Menschen und Ereignisse der 20er Jahre“ demonstriert. Literatur, bildende Kunst und Musik drängten damals nach neuen Ausdrucksformen und legten den Grund zu unserem modernen Weltbild. Daß die bildende Kunst in der alten Akademiestadt den Vorrang hatte, liegt auf der Hand, und so nehmen die Bilder und Skulpturen aus dem Kreis des „Jungen Rheinland“ und der Künstlergruppe um die resolute Künstlermutter Johanna Ey einen besonders breiten Raum ein. Doch auch die Gesoleibauten, Haus Eulenberg, das Theater der Dumont-Lindemann sind in das großangelegte Spektrum einbezogen. Bis zur Neuorganisation der Kunstakademie unter Kaesbach und zur Berufung von Paul Klee nach Düsseldorf reicht der Bericht.

Bei aller Lebendigkeit der Darstellung will das Museum doch auch eine Studiensammlung sein. In Schubladenvitrinen ist vieles aufbewahrt, was nicht dauernd gezeigt werden kann. Eine Kostbarkeit besonderer Art sind die kolorierten Illustrationen des Graminaeus zur „Jülich’schen Hochzeit 1585“, ein fortlaufender Bildbericht, der nur dadurch zu geben war, daß das seltene Exemplar des Buches zum Zweck der Restaurierung vorübergehend auseinandergenommen wurde.

Gedankt werden muß am Schluß all denen, die in mühevoller Arbeit diesen Museumsbau zum glücklichen Abschluß brachten: an erster Stelle der Leiterin Frau Dr. Meta Patas und ihrer Mitarbeiterin Dr. Irene Markowitz, aber auch den vielen anderen Helfern, die mit persönlichem Einsatz zum Gelingen beigetragen haben.

Anna Klapheck
In: Rheinische Post. Wissenschaft und Bildung, 18. Januar 1978

Ein Zwiegespräch auf zwei Ebenen

Rolf-Gunter Dienst stellt in Schloß Morsbroich aus

In der Stille des von Schneegestöber-Vorhängen umwehten Schloß Morsbroich scheinen die Bilder und Zeichnungen von Rolf-Gunter Dienst gut aufgehoben. Der in Baden-Baden lebende Maler, Zeichner, Kunstkritiker, Schriftsteller, Redakteur zeigt dort im Städtischen Museum Leverkusen eine Ausstellung mit über 90 Bildern und Zeichnungen aus den letzten vier Jahren. Die tanzenden Flocken draußen im Park, hinter denen sich Gezweig und Farben alter Bäume und der Rasenflächen verwischten, hatten so manchen Bezug zu Diensts Arbeiten: Ihrer Verführung zur Meditation kann man nicht widerstehen.

Auch in den Bildern werden Gewebe gewirkt, die den vollen Blick auf das Dahinterliegende nicht zulassen – eine zarte Barriere, die Behutsamkeit empfiehlt und alles Deutliche verwischt. Doch durch die leicht verzogenen, „handgestrickten“ Maschen erhascht man einen Blick von Welt, der gefiltert ist und der sich bricht in der Irritation beweglicher Strukturen. Ein Zwiegespräch auf zwei Ebenen setzt ein.

Rolf-Gunter Diensts skripturale Pinselstrukturen gehorchen dem Zufall der Eingebung und neigen doch zugleich dem Gesetz der Serie zu. Sie sind als Elemente individuell verschieden, aber zugleich anonym. Sie ordnen sich zu Zeilen gleich handgeschriebenen Buchstaben, doch man kann sie nicht entziffern oder lesen. Sie ergeben keinen literarischen Sinn. Es sei denn, daß die Titel der Bilder oder Zeichnungen Gedachtes anzeigen, etwa in den Serien „Epitaph für Ad Reinhardt“ mit 72 Acrylbildern, oder „Wenn Claude Monet statt Alice Hoschedé Gertrude Stein geheiratet hätte, oder eine Seerose ist eine Seerose ist eine Seerose“, die zwölf Bilder umfaßt. Diese aufgereihten Phantasiebuchstaben-Elemente lehnen sich offenbar ein wenig an chinesische Schriftzeichen an. Und schon das weist in die Richtung, wie sie wohl „gelesen“ werden sollen.

Der Schreiber Rolf-Gunter Dienst vollzieht in ihnen die Synthese mit dem Maler. Seine geschriebenen Bilder sind nur sehend, tastend, empfindend zu begreifen. Oder sind sie überhaupt nur Medien, die Zonen verfeinerten Sinnenerlebnisses vor uns öffnen, die in der Selbsterkundung zarteste Erlebnisschwingungen ins ästhetisch Wahrnehmbare transponieren, gemischt aus Graphismen und höchst empfindlichen lyrischen Farbvibrationen?

Die „Schrift“ als solche scheint nur wichtig in bezug auf die Farben. In ihnen erhascht der Maler seltene, verwunschene Stimmungen, geheimnisvoll Schönes; er visualisiert Reize sehr subtiler Art. Bezauberndes gelingt ihm auf der Skala der Gelbtöne in der oben genannten Reihe „Wenn Claude Monet ...“ Blaßgelbes, grünlich Gelbes bis Orange der skripturalen Maschen läßt Tupfen variablen Violetts, von Lavendelblau, Karminrot oder verlöschendem Pinkrosa durchschimmern - seerosenhaft, oder wie immer man es deuten will.

Die dunklen kleinformatigen „Epitaphe für Ad Reinhardt“ versinken in Schwarz-Blau, Braun, zwischen denen manchmal auch Hellrot durchblitzt oder ein fremd und wunderbar aufscheinendes Yves-Klein-Blau. Das erinnert an gewirkte Teppiche, hat manchmal einen seidigen Glanz, scheint sich zu verändern, wenn man daran vorbeigeht. Gliedernde lineare Elemente zwischen den malend geschriebenen Zeilen erinnern zuweilen an eine Treppe, an ein Kreuz.

Der autobiographische Zug in diesen Bildern - als Auffangen und Reflektieren von Stimmungen gemeint - wird auch in den Bleistift- und Federzeichnungen deutlich. Auch sie entstanden zyklisch unter dem Motto „Aus einem Tagebuch - immer an einem anderen Ort“. Was in den Bildern in Zeilen geordnet ist, bewegt sich hier frei in Verdichtungen und Lockerungen über die ganze Fläche - zellenhaft, oder auch wie verwehte kleine Blätter, die ständig sich Veränderndes suggerieren. Mark Tobey gehört hier wohl sicher zu den Anregern.

Rolf-Gunter Dienst, der gebürtige Kieler (1942), lebte mehrere Jahre in den Vereinigten Staaten, wo er auch verschiedene Gastdozenturen hatte, ebenso wie in Australien und Kanada und an den Kunsthochschulen in Braunschweig und Frankfurt/Main. Der Autor mehrerer Künstlermonographien und Kunstbücher hat in seinen Bildern das niedergeschrieben, was man in Texten nur zwischen den Zeilen lesen kann.

In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 16. Februar 1978

Wenn nicht Wort, dann Form

Barlach-Ausstellung bei Ludorff

Im 40. Todesjahr von Ernst Barlach (1870 bis 1938) zeigt die Galerie Ludorff (Königsallee 22) eine umfangreiche Ausstellung mit 120 Arbeiten des Künstlers – Plastiken, Zeichnungen und Druckgraphik. Daß hier allein zehn seiner berühmtesten Bronzen neben einer Porzellanplastik (Russische Bettlerin mit Schale, 1906) versammelt sind, ist eine Seltenheit. Sie kommen alle aus einer norddeutschen, jetzt aufgelösten Privatsammlung.

Im Zentrum der „Singende Mann“ von 1928, der dem ganzen Raum seine Gelöstheit und Freiheit mitteilt. Schon 1912 machte Barlach die erste Entwurfszeichnung für die Plastik. Hier besonders wird deutlich, was der Künstler in einem Brief äußerte: „Es ist mein Glaube, daß dasjenige, was nicht durch das Wort auszudrücken ist, durch die Form in den Besitz eines anderen übergehen kann.“

Barlach hat Bronzen in größerer Zahl erst nach dem mit dem Galeristen Flechtheim geschlossenen Vertrag seit 1930 gießen lassen. Bei Ludorff finden wir unter anderem die expressive kleine „Kußgruppe III“ von 1921: die in ihrer schlichten Hingabe an den Augenblick der Begegnung so ergreifende Gruppe „Christus und Thomas“ (1926); den strengen, stelenhaften „Singenden Klosterschüler“ (1931) oder den vom Hauch des Geistigen angerührten „Buchleser“ (Lesender Mann im Wind) von 1936.

Die Ausdruckskraft der Linie, ihr rhythmisches Umgreifen figürlicher Volumen erlebt man besonders in einigen signierten frühen Kohlezeichnungen von 1912, den „Vier Knienden“, der „Strickenden Bäuerin“ und dem „Schlafenden Paar mit Hund“, expressiv noch gesteigert in dem „Liegenden Hirten unter einem Tuch“ von 1918.

Einer der Schwerpunkte des umfangreichen Graphikangebotes sind unter den 70 signierten Blättern die vollständige Serie der sieben Holzschnitte „Die Wandlungen Gottes“, die in einer Auflage von 100 auf der Berliner Pan-Presse gedruckten Exemplaren 1922 bei Cassirer erschienen. Die Zeichnungen dazu entstanden zwischen 1913 und 1920. Komplett wird auch die Folge von 35 Lithographien Barlachs zu ausgewählten Gedichten Goethes angeboten. Der Lithographienzyklus, an dem neben Barlach (der 31 Steinzeichnungen lieferte) auch Liebermann, Hans Meid und Karl Walser mitarbeiteten, erschien 1924 in 100 numerierten Exemplaren ebenfalls bei Cassirer. Die Beiträge von Slevogt und Kokoschka wurden nicht mehr veröffentlicht, Cassirer war inzwischen gestorben.

Unter den signierten Einzelblättern, beginnend mit der herben „Stehenden Frau auf halber Kellertreppe“ von 1912, sind es vor allem auch einige Lithographien zum „Armen Vetter“ (1919), die durch ihre beschwörende Unmittelbarkeit und spannungsvolle Verdichtung von Empfindungen faszinieren.

In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 22. Februar 1978.

Ich gehe langsam durch die Stadt (Januar)

Alle reden vom Schnee. Lambertus nicht. Schneeprobleme tauen weg. Die anderen bleiben. Zum Beispiel die mit den auf Radwegen geparkten Autos.
Lambertus fielen sie besonders an der Erkrather Straße auf. Wenn da nämlich nicht gerade Schnee liegt, ist ein antikes Kopfsteinpflaster auf der Fahrbahn zu betrachten, das nicht mal bei den Leuten in ihrer vierrädrigen Blechkiste nostalgische Gefühle weckt. Noch viel weniger bei den Leuten auf den zweirädrigen Blechgestellten. Wie dankbar wird da so ein Radweg begrüßt, selbst wenn sein Asphalt angenagt und abgeknabbert ist. Mütter lassen ihre Kinder beruhigt mit dem Rad zur Schule fahren, weil sie ja auf dem Radweg geschützt sind.
Aber wie geschützt ist ein Radfahrer auf dem Radweg? Lambertus beobachtet die Fahrkünste erwachsene wie jugendlicher Radfahrer nur mit Herzklopfen. Schwungvoll geht es da hinunter auf die Pflasterfahrbahn, weil da wieder ein Wagen auf dem Radweg steht. Auf der Fahrbahn aber fahren Autos, dicht an dicht. Die Radfahrer balancieren wieder auf ihrem Radweg, aber nur für ein paar Meter, dann ist ein geparkter Kleinbus im Weg.
Slalom für Kunstfahrer. Keine Kripo steckt den sorglosen Radweg-Parker ein Protokoll hinter die Windschutzscheibe. Aber einem Radfahrer, der statt auf die Fahrbahn auf den Bürgersteig ausweicht – dem kann ein Protokoll schon drohen.

Lambertus
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Stadtpost, 6. Januar 1979

Ratlos vor dem "Anderssein"

Beratungsstelle für Homosexuelle in Düsseldorf

Wie anders darf man sein, ohne aufzufallen? Eine homosexuelle Frau – landläufig „lesbisch“ genannt – hat in unserer Gesellschaft meist nur üble Nachrede riskiert. Es gab und gibt keine Strafverfolgung. Es gab und gibt keine Strafverfolgung. Die Neigung zum gleichen Geschlecht gilt bei der Frau in unserer Gesellschaft als „permissiv“ –man kann’s vergessen. Eine solche Neigung hat ja keine katastrophalen Folgen. Und wen interessiert schon, daß es eine homosexuelle Frau, wie der homosexuelle Mann, sehr viel schwerer hat, einen Partner für das Leben, für das Zusammenleben zu finden?

Die Eltern denken sich meist nichts dabei, wenn ihre Tochter mit Freundlinnen und mit Männern kaum Umgang hat. Ein Mädchen, das keinen Mann zum Freund hat, kann auch kein unerwünschtes Kind bekommen. Das Thema gehört, wie jede Familienberatungsstelle bestätigen kann, seit Erfindung der Pille noch nicht zu den Akten einer überlebten Vergangenheit.

Es ist kein Wunder, daß die Beratungsstelle für Homosexuelle, die es seit dem vergangenen Jahr in Düsseldorf gibt, nur selbten von Frauen angerufen wird. Obwohl die Probleme gleichgeschlechtlicher Neigung bei Frauen nicht geringer sind als bei Männern. Die Beratungsstelle (Telefon 0211 / 353591) beschäftigt sich mit sexual-soziologischen Fragen. Sie wurde von Rolf Gindorf ins Leben gerufen, der 1972 in Düsseldorf die Gesellschaft zur Förderung Sozialwissenschaftlicher Sexualforschung gründete und später das Institut zur Lebens- und Sozialberatung. Die Gesellschaft beschäftigt sich nicht nur mit der Erforschung der Homosexualität. Vor wenigen Tagen hielt sie – wie gemeldet – in Königswinter einen wissenschaftlichen Kongreß über „Sexualität und Gewalt“ ab, bei dem es unter anderem um das Thema der Gewalt gegen Frauen ging: zum Beispiel, aber nicht nur, in der Ehe.

Erfahrungen in Beratungsstellen von „Pro Familia“, Erfahrungen aber auch, die Pfarrer Dr. Hans-Georg Wiedemann und andere Mitarbeiter der Düsseldorfer Telefonseelsorge gemacht haben, ließ die Gesellschaft zur Förderung Sozialwissenschaftlicher Sexualforschung (GFSS)zu dem Schluß kommen, daß Homosexuellen eine eigene Beratungsmöglichkeit geboten werden müsse. Anders als zum Beispiel in den Vereinigten Staaten, wo zumindest in einer breiten bürgerlichen Schicht der Gang zum Psychiater oder Psychotherapeuten nicht ungewöhnlich ist, tut sich der Bundesbürger auch dann schwer, mit seinen Problemen zu einer Beratungsstelle zu gehen, wenn er im Rahmen der gesellschaftlich anerkannten Formen der Sexualität Probleme hat. Wieviel mehr jene anderen, die nicht „normal“ sind.

Wer seine Schwellenangst überwunden hat, erlebt dann oft neue, eher bedrückende als hilfreiche Gespräche. Gerät er nicht durch Zufall an einen Schicksalsgenossen, eine Schicksalsgenossin, wird er auch bei Ärzten, Sozialpsychologen, Pfarrern, Therapeuten oft große Wissenslücken in einem Bereich der menschlichen Entwicklung feststellen, der, wenn nicht dumme Witze, dann peinlich behutsames Darüberhinweggehen provoziert.

Die Mitarbeiter der Beratungsstelle berichten, daß in keinem einzigen Fall der Beratungssuchenden Sexualität im Vordergrund gestanden habe, vielmehr eine Ratlosigkeit, die sich aus dem ergebe, was man „andersartig“ nennt. Nach dem Telefongespräch, das sich lange hinziehen kann, wird ein persönliches Gespräch vereinbart. Meist bleibt es nicht bei einmaligem Gespräch. Es haben sich Gespräche in Wochen- oder Monatsabständen empfohlen. Die Gesprächspartner kommen wieder, oft über 100, 200 Kilometer Entfernung, denn die Düsseldorfer Einrichtung ist bisher die einzige in der Bundesrepublik.

Die Homosexuellen-Beratungsstelle sieht sich einem Problem gegenüber, das auch anderen sozialpsychologischen Beratungsstellen immer wieder zu schaffen macht. Ihre Klientel besteht aus Angehörigen des Mittelstandes. Sie erreicht nicht jene Bevölkerungsschichten, in denen es der Mensch nicht gelernt hat, sich und die ungelösten Fragen, die ihn quälen, die sein Verhalten in der Gemeinschaft beeinflussen, auszudrücken.

In diesen, den sogenannten „unteren Schichten“ der Bevölkerung ist das Unverständnis weit größer als in der Mittel- oder Oberschicht., wo in den vergangenen Jahren, man kann fast genau sagen seit Änderung der Homosexuellen-Paragraphen 175 und 175a im Jahre 1969 im Strafgesetzbuch, sich eine Haltung achselzuckender Duldung durchsetzt. Je geringer der Bildungsstand, desto stärker der psychische und physische Druck auf den Homosexuellen, desto schwieriger auch für ihn, mit seiner Andersartigkeit fertigzuwerden.

Die Gesellschaft insgesamt ist aber auch noch weit davon entfernt, homosexuelle Liebe und Lebensgemeinschaften als gleichberechtet neben anderen Arten des Zusammenlebens anzuerkennen. Noch gibt es Schwierigkeiten am Arbeitsplatz, die über gelegentliches Frotzeln durch Kollegen hinausgehen. Noch gibt es Vermieter, die zwei Männern, die eine Wohnung mieten wollen, das Wohnrecht verweigern oder ihnen kündigen. Bei Straftaten, in die Homosexuelle verwickelt sind, spricht die Polizei gleich von „einschlägigen Kreisen“. Treffpunkte der Homosexuellen sind häufiger als andere Gaststätten Ziel von Razzien.

Solcher Druck ist trotzdem von geringerer Bedeutung als die ganz persönlichen Probleme. Oft erkennen Eheleute erst im Verlauf etlicher Ehejahren, daß er oder sie gleichgeschlechtliche Neigungen haben. Nicht immer sind die Ehepartner dann ohne fremde Hilfe zu Aussprache und Erkennen des Problems fähig. Gindorf weiß von Fällen, in denen Männer erst im Alter von 50 Jahren in der Lage waren, den Eltern klarzumachen, daß sie homosexuell waren.

Die GFSS drängt daher auf eine Sexualaufklärung für Kinder und Jugendliche, in der das Thema Homosexualität nicht ausgespart wird. Spätestens in den weiterführenden Schulen, ganz besonders auch in den Berufsschulen, müßten Jungen und Mädchen über das Wesen gleichgeschlechtlicher Neigungen aufgeklärt werden, um Missverständnisse und Unverständnis abzubauen, aber auch, um den betroffenen JugendlichenHilfen zu geben, sich über den eigenen Zustand Klarheit zu verschaffen. Pastor Wiedemann spricht über das Thema Homosexualität im Konfirmandenunterricht und mit den Eltern der Konfirmanden. Zu diesem Zweck wurde von der GFSS auch eine Kurzinformation für Eltern veröffentlicht.

Über Bedeutung und Umfang der Aufklärungsarbeit muß nicht diskutiert werden. Es wird auf Grund von Umfragen angenommen, daß 13 Prozent der männlichen Bevölkerung homosexuell veranlagt ist. Über die Zahl homosexueller Frauen gibt es keine halbwegs zutreffenden Zahlen.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post, 10. März 1979

Zum 80. Geburtstag 1979

Kunst-Geschichte miterlebt. Zum 80. Geburtstag von Prof. Anna Klapheck

In den letzten Wochen hat Anna Klapheck Bilanz gezogen. Nicht aus Eitelkeit oder Wehmut oder aus dem Gefühl heraus, nunmehr zukunftslos zu sein. Die Sache vielmehr wollte es; Vorarbeiten zu dem Buch „Dreißig Jahre rheinische Kunstszene“ (so der Arbeitstitel), das im Herbst bei DuMont erscheinen soll. Und während sie ihre Loseblattsammlung neu sortierte, die in den Aktenordnern scheinbar endgültig abgelegte Vergangenheit ästhetischer Erkenntnisse und bildnerischer Anstrengungen einer Revision unterzog, muß ihr deutlich geworden sein, was wir, ihre Leser, ohnehin wussten: dass nur sie diesen summierenden Blick zurück leisten kann.

Mit ihren seit 1946 in der Rheinischen Post erschienenen Kritiken hat Anna Klapheck die (Kunst-)Geschichte der Nachkriegszeit mitgeschrieben. Welch ein beneidenswertes Kontinuum an Erfahrungen vermittelten Erkenntnissen, der Förderung und Einflussnahme, der vorsichtigen Parteinahme und entschiedenen Wertung, der zeitgenössischen Betroffenheit und nicht nachlassenden Neugierde! Welch ein Glücksfall jedoch auch für eine Zeitung und deren Leser. Daß für den Tag Verfasstes – nichts anderes heißt ja Journalismus – manchmal sogar Jahrzehnte überdauern kann, wird Anna Klaphecks Kritikenband beweisen.

Die relativ spät begonnene, publizistische Karriere markierte zwar nicht unbedingt einen biographischen Knick in ihrem an Erlebnissen, an Begegnungen mit Berühmtheiten vollgestellten Leben. Sie war der am 12. Mai 1899 in Erlangen geborenen Tochter eines Internisten aber auch nicht gerade vorgezeichnete. Eher schon die – erst 1952 betretene – Laufbahn als Wissenschaftlerin. Sie beendete ihr kunsthistorisches Studium in Marburg mit der Promotion, absolvierte dann in Leipzig Lehrjahre im Kunsthandel, an einem Museum. Als Richard Klaphecks (sein zweibändiges Standard-Werk „Kunst am Niederrhein“ wurde kürzlich wiederaufgelegt) kam sie 1927 nach Düsseldorf.

Es war die legendäre, längst verklärte Zeit der Kunstakademie, an die ihr Direktor Walter Kaesbach große Malerpersönlichkeiten binden konnte, als deren Professor für Kunstgeschichte und „ständiger Sekretär“ Richard Klapheck bis 1933 fungierte. Den gleichen Lehrstuhl besetzte die Witwe des bereits 1939 Gestorbenen von 1952 bis 1966. Und ihr Sohn Konrad (Schüler des erst spät „auf dem Markt“ anerkannten Malers Bruno Goller, über den Anna Klapheck wiederum eine Monographie verfasst hat), wird ab dem Sommersemester an derselben Akademie tätig sein, an der früher seine Eltern lehrten.

So, als öffentlicher Auftrag und angenommener Auftrag, verfugt sich heute bloß noch selten das Schicksal einer Familie mit dem eines Instituts, des Staates, der Allgemeinheit. Das sich selbst in die Pflicht nehmende Verantwortungsgefühl und Engagement ist ein mit dem Ende des 18. Jahrhunderts aufkommendes (und inzwischen natürlich als anmaßend „bildungsbürgerlich“ diffamiertes) Phänomen unserer Kultur, dem diese Wesentliches zu verdanken hat.

Ersatz oder Nachfolger sind nicht in Sicht. Der einzelne hat sich verunsichert, verschreckt in sein privates Kultur-Refugium zurückgezogen. Draußen wachen Bürokraten über den Subventionsschlüssel. Wie lange er noch ein Sesam-öffne-dich sein kann, steht dahin. Pessimismus ist angebracht. Die Epoche des nur Notwendigen, nicht mehr auch eines derart notwendigen Überflusses wie Kunst und deren Vermittlung, wird wohl schon bald anbrechen.

Als in der Festschrift zum 200jährigen Bestehen der Düsseldorfer Kunstakademie (1973) der Part zwischen den beiden Weltkriegen zu vergeben war, übernahm ihn Anna Klapheck. Wer denn sonst? Das mit persönlichen Erinnerungen durchsetzte, aber nie auftrumpfende Kapitel ist gewiß das interessanteste und aufregendste des umfangreichen Gedenkwerkes. Wesen und Rang von mittlerweile in die Kunstgeschichte eingegangenen Personen sind unvermessen charakterisiert, werden unmittelbar anschaulich: Nauen, Campendonk, Thorn Prikker, Oskar Moll, Eduard Mataré (über dessen „Tore“ und Türen“ Anna Klapheck 1966 so tiefsinnig, Symbolen nachspürend reflektiert hat) und vor allem Paul Klee. „Der Schweigsame lachte sein unvergeßliches Lachen.“ Fremdes wird uns vertraut gemacht, nahe gebracht, ohne daß dabei je die Distanz zur Vertraulichkeit durchbrochen würde.

Den gleichen Zeitkreis zwischen Aufbruch und jäher (politischer) Zerstörung hatte die Autorin schon einmal in „Mutter Ey“ abgeschritten, einem 1958 bei Droste publizierten (und 1977 als Reprint wieder ausgegrabenen) Bändchen über die mütterlich-resolute Kaffeehausbesitzerin und spürnasige Kunsthändlerin. Die Sympathievorgabe der Dokumentaristin für die „meistgemalte Frau Deutschlands“ ist unverkennbar. Aber ebenso ihre Einfühlung ins Rheinische, ihre humorvolle Liebeserklärung an die sonderbare Stadt Düsseldorf, die sie dann in der traditionsreichen Reihe „Deutsche Lande. Deutsche Kunst“ porträtiert hat (1972).

Es wirkt mehr als Fügung denn wie ein Zufall, daß an diesem Wochenende im Kunstmuseum der Landeshauptstadt die Ausstellung „Düsseldorfer Malerschule“ eröffnet wird. Anna Klapheck hat ihr auf der Seite „Geist und Leben“ ein Vor-Wort gewidmet. Es ist, selbstverständlich, bewundernswert klar formuliert, ordnet Wissen souverän und breitet es anstrengungslos vor uns aus. An einer Stelle weitet sich der Griff in die Geschichte ins Persönliche (nicht Private): „Ich habe ... gekannt“.

Das ist es. Der unersetzliche, eben nicht erlernbare Spiegelhintergrund eines durchdachten (Er-Lebens). Wir alle hoffen, daß er uns wenigstens noch eine Zeitlang erhalten bleibt.

Reinhard Kill In: Rheinische Post. Feuilleton, 12. Mai 1979.

Schrittmacher der Romantik

Vor-Wort zur Schau „Düsseldorfer Malerschule“

„Die Geschichte hat also . . . den Propheten unrecht gegeben, die den Düsseldorfern als den Bringern des Vollendeten huldigten. Denn kein Hahn kräht mehr nach ihren Werken“. Dies schrieb der bedeutende Kunsthistoriker Cornelius Gurlitt in seiner 1899 erschienenen, mehrmals neu aufgelegten Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts.

Lange Zeit schien es, als solle Gurlitt recht behalten. Die einst so bewunderten Geschichtsbilder, nun zu historischen „Schinken“ degradiert, die gemütvollen biblischen Szenen und das hochgerühmte „Genre“ verschwanden aus der Öffentlichkeit, die Preise sanken, und in den Museen wanderte das meiste in die Depots. Einzig die Porträts und die Landschaften behielten eine gewisse Gültigkeit, doch ist in ihnen das „Düsseldorfische“ nicht so rein ausgeprägt.

Nur „zeittümlich“?

Gurlitt hatte dem Akademiedirektor Wilhelm Schadow, dem Haupt und Gründer der Schule, dem Nachfolger von Peter Cornelius, immerhin noch eingeräumt, er sei eine „zeittümliche“ Erscheinung und bleibe als solcher „bemerkenswert“. In den späteren Darstellungen des 19. Jahrhunderts (Hildebrandt, Hamann, Beenken, Hofmann) ist das Kapitel „Düsseldorfer Schule“ nahezu gestrichen. Die lokale Forschung befaßte sich wohl mit einzelnen Künstlern, doch seit Schaarschmidts Werk „Zur Geschichte der Düsseldorfer Kunst“ von 1902 hat man 60 Jahre lang nichts Zusammenfassendes über das Thema geschrieben. Zu erwähnen ist einzig der kluge Walter Cohen (er fiel dem Hitlerregime zum Opfer), der in seinem schmalen Bändchen „Hundert Jahre rheinischer Malerei“ (1924) die in ihrer Einseitigkeit ungerechte Verurteilung der Düsseldorfer Malerschule nachdrücklich mißbilligt.

So war von dem ganzen Glanz der Schule, die ein halbes Jahrhundert lang kosmopolitische Ausweitung hatte, eigentlich nur eines übrig geblieben: die bis heute dem Stadtnamen so gern angeheftete Bezeichnung „Kunststadt“. Was ist eigentlich eine Kunststadt? Niemand hat je von einer Kunststadt Rom oder Paris gesprochen. Der Begriff „Kunststadt“ ist erwachsen aus dem bürgerlichen Bildungsbewußtsein des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, als Kunst nahezu gleichbedeutend war mit Tafelmalerei, Kunstschule und Bilderausstellungen. Gewiß hätte es ohne Jan Wellem und seine Galerie keine Kunstakademie gegeben. Aber das mit Kunstwerken vollgestopfte alte Herzogschloß am Rhein öffnete erst 50 Jahre nach Jan Wellems Tod seine Pforten für den allgemeinen Besuch. Künstler, Gelehrte fanden sich ein. Zur „Kunststadt“ wurde Düsseldorf erst durch seine Malerakademie des 19. Jahrhunderts, deren Werke nun auch das Bürgertum erreichten.

Den Beteiligten an dieser Entwicklung mag freilich kein Zweifel am historischen Rang ihrer Epoche gekommen sein. Schadow verkündete, daß seit Raffael und Michelangelo nichts Besseres gemacht worden sei als der „Jeremias“ seines jungen Freundes Bendemann. Und lief denn nicht alles aufs beste? Aus allen Ländern strömten die Kunsteleven nach Düsseldorf. Die Kunstgeschichte hat uns zwar gelehrt, daß das Publikum im Vergleich zum Künstler „eine Uhr ist, die nachgeht“ – in Düsseldorf trat der seltene Fall ein, daß sich Publikum und Künstlerschaft in voller Übereinstimmung miteinander fanden. In der unter Schadows mächtigem Regime herausgebildeten Kunst fand der Bürger die eigene Auffassung von „Schönheit“ und die eignen Moralbegriffe bestätigt.

Kleinere Meister

Bald war es der Ehrgeiz eines jeden Bürgers, die Wände seines Hauses mit den vaterstädtischen Bildern in den breiten Goldrahmen zu schmücken. Und wenn es zu den Werken der Berühmten nicht reichte, so gab es genug kleinere Meister, deren Gemälde auch bei schmalerem Geldbeutel erschwinglich waren. Zufrieden waren auch die Rahmenmacher, (1854 Gründung Conzen), die in der Kunst des Vergoldens Meisterschaft erreichten. Zufrieden war der mit Macht einsetzende Kunsthandel (ab 1850 die „Permanente Kunstausstellung“ bei Schulte, 1867 Gründung Paffrath). Der 1829 gegründete „Kunstverein“ wurde zum Zentrum aller an Kunst interessierter Kreise. Zufrieden waren die Besitzer der Altstadtkneipen, in denen sich das international zusammengesetzte „Künstlervölkchen“ tummelte.

Die riesige Nachfrage ließ schließlich auch die Künstler zum Wohlstand kommen. Rund um den Hofgarten entstanden ganze Straßenzüge von Malerhäusern, kenntlich an den großen Atelierfenstern nach Norden, in denen von der Kunst des Hausherrn relativ sorglos gelebt werden konnte. Ich habe die letzten dieser Häuser noch gekannt: die mit Bildern übersäten Wände der hohen Zimmer, die angegrauten Stuckdecken, die mit Teppichen belegten Ateliers mit ihrem Geruch nach Terpentin und nach Mottenpulver, das in die schweren Kostümkisten gestreut war. Der Hausherr in der Samtjacke, liebenswürdig, gebildet, oftmals Sammler alter Möbel und alten Geräts, mit zunehmenden Jahren immer verwunderter über die Wandlung der Zeit. Der Zweite Weltkrieg hat nichts davon übrig gelassen.

Nicht aus dem Publikum, sondern von den Künstlern selbst kam die erste Kritik. Ihnen blieb das Mißverhältnis zwischen Ruhm und Leistung auf die Dauer nicht verborgen. Rethel schied aus der Akademie aus, weil er mit Schadows starrer Lehre nicht übereinstimmte. Skeptisch beurteilte der Dichter Immermann die Allmacht Schadows und schrieb in seinem Buch „Düsseldorfer Anfänge“ (1840), daß man sich krümmen und wenden müsse, „um das öffentliche Geheimnis nicht laut werden zu lassen: daß Schadow kein Genie sei“. Angesichts der Fresken der Apollinariskirche in Remagen bemerkt er respektlos: „Tragen denn diese zärtelnden Engel . . . die Bürgschaft langen Lebens in sich?“

Auch die politischen Ereignisse brachten vorübergehend Unruhe in das friedliche Eiland. Daß der „Malkasten“ ein echtes 48er-Kind ist, hervorgegangen aus dem Hochgefühl des „tollen“ Jahres, wird oft vergessen. Die freie Künstlerschaft, die sich hier zusammengefunden hatte, stand anfangs in offener Opposition zu Schadow und seiner Akademie. Später ließ sich Schadow dann doch als Mitglied aufnehmen, und der Freundschaftsbund zwischen Akademie und freier Künstlerschaft war besiegelt.

Dennoch mußte eines Tages der Abstieg kommen. Die Übergabe der Akademieleitung von Schadow an Bendemann (1859) änderte zunächst freilich wenig. Nur erhielt die Landschaftsmalerei, die unter Schadow noch zu den „minderen“ Künsten zählte, unter Schirmer und seinen Schülern erhöhte Bedeutung. Das Vordringen des Naturalismus und in der Folge auch des Impressionismus war unaufhaltsam. Man war müde geworden einer Kunst, die nur auf „Inhalt“ und den hohen „Gedanken“ zielte, die der historischen und literarischen Bildung bedurfte, um ein Bild verstehen zu können, (etwa Sohns „Tasso und die beiden Leonoren“, Hildebrandts „Ermordung der Söhne Eduards IV.“). „Die Kunst flieht, wenn ihr eure Taten mit dem historischen Zeltdach überspannt“, schrieb Nietzsche in seinen „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ (1873). Das Auge verlangte endlich sein Recht.

Es hat merkwürdig lange gedauert, bis man sich in Düsseldorf von den überkommenen Vorstellungen löste. Sittenbild, Historienmalerei, und die nazarenische Richtung behaupteten sich bis ins neue Jahrhundert. Erst in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg fand Düsseldorf Anschluß an die europäischen Kunstströmungen.

Düsseldorf war mit die erste Stadt, die nach den Verwüstungen des Zweiten Weltkrieges in leidlich verschonter Umgebung sein Museum wieder eröffnen konnte. Bereits 1948 zeigte der damalige Museumsdirektor Dr. Doede eine Ausstellung „Hundert Jahre Düsseldorfer Malerei“, bei der die aus ihren Bergungsorten zurückgeholten, um Leihgaben vermehrten Werke der eigentlichen „Düsseldorfer Schule“ dominierten. Doch damals lagen uns ganz andere Dinge am Herzen. Mit Pathos und „Inhalt“ waren wir zwölf Jahre lang abgespeist worden, nun wollten wir endlich wissen, was sich in der Welt draußen inzwischen ereignet hatte. Die Bilder in den breiten Goldrahmen erschienen uns wie eine liebenswerte, letztlich jedoch belanglose Erinnerung.

Doch die Geschichte korrigiert sich immer aufs neue. Das 19. Jahrhundert wurde „aufgewertet“, der historische Abstand führte zu neuen Maßstäben. Künstler, die jahrelang ein herabsetzendes, bis ans Lächerliche reichendes Etikett mit sich herumzutragen hatten, zeigten sich in Ausstellungen plötzlich in verändertem Licht: Böcklin, Makart, die Nazarener. So gewann auch die „Düsseldorfer Malerschule“ unerwartete Aktualität, und die Preise stiegen sprunghaft.

DDR-Darstellung

Das Düsseldorfer Museum legte 1969 die von Irene Markowitz sorgfältig bearbeitete Bestandsaufnahme des eigenen Bilderbesitzes vor. Eine erste zusammenfassende Darstellung des lange beiseite geschobenen Themas kam merkwürdigerweise – aber so merkwürdig ist es auch wieder nicht – aus dem anderen Teil Deutschlands: Wolfgang Hütts „Die Düsseldorfer Malerschule“ (Leipzig 1964). Der Zusammenhang zwischen der Düsseldorfer Malerei und der „Gesellschaft“, von der sie getragen war, ist sicher eng, und der Verfasser versäumt es denn auch nicht, „den geschichtlichen Prozeß von der Warte des historischen Materialismus aus“ darzustellen und den „gesellschaftskritischen Tendenzen“ der Düsseldorfer Kunst, die zeitweilig zweifellos auch vorhanden waren, nachzuspüren. Trotz mancher Einseitigkeit ist das Buch nicht ohne Interesse.

Und nun erwartet uns die große Inszenierung der „Düsseldorfer Malerschule“ im Düsseldorfer Kunstmuseum. Sie ist die Abschiedsgabe des scheidenden Museumsdirektors Wend von Kalnein, der sich seit Jahren mit dem Thema befaßt hat und besonders den internationalen Verknüpfungen der Schule nachgegangen ist. Wir schulden ihm aufrichtig Dank für die geleistete Arbeit.

Diese Zeilen wurden geschrieben, ehe die Ausstellung zu besichtigen war und auch ohne Kenntnis des angekündigten Katalogs, der sicher für lange Zeit ein gültiges Kompendium der Düsseldorfer Malerei sein wird. Was uns diese Kunst heute noch zu sagen hat, darüber müssen nun die Bilder selbst Auskunft geben.

Anna Klapheck
In: Rheinische Post.12. Mai 1979

Tempel der Wahrheit und der Schönheit

Vor 100 Jahren wurde die neue Kunstakademie eingeweiht

Kriege und Katastrophen, so will es die Geschichte, zerstören nicht nur, sie bewirken auch Neues. Die Düsseldorfer Kunstakademie hat dies mehrmals erfahren. Im Oktober 1794 vernichtete ein auf Düsseldorf gerichtetes Bombardement der Franzosen große Teile des alten Herzogschlosses am Rhein. Es wurde wieder aufgebaut, und als Peter Cornelius durch königliches Dekret 1821 die Leitung und Reorganisation der Schule übernahm, wurde ihr das Schloß als Domizil zugewiesen. Der Ruhm der „Düsseldorfer Malerschule“ ist mit diesem Gebäude verbunden.

Knapp 80 Jahre später, 1872, zerstörte ein verheerender Brand drei Flügel des Schlosses (nur das Galeriegebäude, in dem die Reste der nach München transportierten Sammlung aufbewahrt wurden, blieb verschont), mit den Bildern auch die Sammlung der Zeichnungen und Kupferstiche, der Ramboux’schen Kopien alter Meister, der Gipse und die Bibliothek. Der Maler Andreas Müller, Verwalter der Sammlungen, habe, so wird berichtet, den Inhalt des eignen Ateliers geopfert, um die Sammlung zu retten. Viele Ateliers brannten völlig aus.

Abermals richteten sich die Gedanken zunächst auf einen Wiederaufbau, doch bald wurde, vor allem innerhalb des Kollegiums, der Wunsch nach einem neuen Gebäude an anderer Stelle immer dringlicher. Nach langem Zögern, das besonders die Kosten betraf, gab das Ministerium schließlich seine Zustimmung. Als Gelände wurde schon bald das schmale Grundstück an der Südseite des sogenannten „Sicherheitshafens“ bestimmt, das den für die Künstler von damals außerordentlichen Vorteil einer langen, unverbaubaren Nordfront bot. Zum Architekten wählte man den jungen Hermann Riffart aus Köln. Mit dem Bau wurde 1875 begonnen, am 20. Oktober 1879, vor 100 Jahren also, wurde das Haus festlich eingeweiht. (Baukosten: 1 315 000 Mark).

Das Gebäude, mit einer Front von 158 Meter Länge, trägt die Merkmale seiner Entstehungszeit. Als „historisierendes“ Baudenkmal wurde es von der späteren Generation mißachtet und übersehen, der „Dehio“ erwähnt es nicht. Heute empfinden wir den Bau als einen wichtigen Akzent im Stadtbild und als ein Monument, das Repräsentanz mit nobler Zurückhaltung und die Würde eines Palastes mit einem „Zweckbau“ im Schinkelschen Sinne verbindet. Eva Brües ist der Baugeschichte nachgegangen (in der Schrift zum 200jährigen Bestehen der Akademie).

Es gehört Mut dazu, auf schmalem Grundriß eine Gebäude nur auf eine lange, von West nach Ost reichende Schauseite hin zu komponieren. Drei Risalite, Erinnerung an den barocken Schloßbau, springen unauffällig vor, ohne den Ateliers das Licht zu entziehen. Ein reiches, im einzelnen der italienischen Renaissance nachgebildetes Schmucksystem mit Säulen, Pilastern, Nischen und Bögen belebt den Baukern und nimmt ihm doch nichts von seiner Ruhe. Mut bedeutet es auch, einen „Palast“ dieser Art mit keinem wirkungsvollen Haupteingang in der Mitte zu versehen (die räumliche Situation ließ dies nicht zu) – der Eingang liegt vielmehr unauffällig an der östlichen Schmalseite.

Zwischen Erdgeschoß und 1. Stockwerk läuft ein Fries entlang, dem 62 Künstlernamen eingemeißelt sind. Um die Rangfolge der Künstler und ihre Platzierung gab es heftige Dispute, einig war man sich darin, die Namen Rafael, Michelangelo, Leonardo, die „Krone der Malerei“, am Mittelrisalit anzubringen. Die Lebenden bleiben ausgeschlossen, doch findet man die Namen Cornelius und Schadow und sogar Winckelmann und Schinkel.

Die Anordnung im Inneren ist vom praktischen Gebrauch bestimmt und blieb bis heute annähernd beibehalten. Gleichmäßig reihen sich die Ateliers aneinander, größere für die Monumentalmalerei, kleinere für die Tafelmalerei. Lehrer- und Schülerateliers waren nach Möglichkeit benachbart, damit die Lernenden an der Arbeit des Lehrers teilnehmen konnten. Die Aula wurde nach langem Hin und Her in den 2. Stock verlegt, wo anfangs die Reste der kurfürstlichen Sammlung öffentlich zu besichtigen waren. Später brachte man sie ins Erdgeschoß, und die Aula erhielt ihre eigne „harmonische Ausschmückung“ mit Kaminen, Deckenbildern und einem Fries des Akademiedirektors Peter Janssen. Der letzte Krieg hat alles, was davon übrig war, zerstört.

Acht Jahre nach Fertigstellung des Gebäudes wurde der Hafen zugeschüttet und auf dem neugewonnenen Gelände in Art eines Gewächshauses ein „Freilichtatelier“ errichtet, in das auch lebende Tiere Einlaß fanden. Unter schützendem Dach erfreute man sich des „Pleinair“.

Über die Einweihungsfeier des neuen Gebäudes haben wir einen ausführlichen Bericht von Karl Woermann, dem Vertreter der Kunstwissenschaft, der auch die Festrede hielt. Seltsam sind bei diesem „Festact“ Wilhelminisches Pathos und nachdenklichere Töne vermischt. Zu Beginn ein Dank an den Kaiser, den „Großherzigsten, Allergnädigsten Beschützer alles Guten und Schönen“, die Büsten des Herrscherpaares waren zu seiten der Rubensschen „Himmelfahrt Mariä“ postiert. Vaterländische Gesinnung sprach auch aus den Reden der Exzellenzen.

Woermann hingegen beschwor die Freiheit der Kunst und wandte sich gegen „die verknöcherten Methoden“ vergangener Zeiten. Er gedachte der „genialen Neuerer“, die sich durch das Studium der Natur dem Regelzwang entzogen. Das neue Haus, so schloß er, sei „ein heiliger Tempel der Wahrheit und der Schönheit“. – Mit einem Festessen in der Tonhalle klang die Feier aus, und unser Chronist versäumt es auch nicht, das Festmenü zu nennen: außer Suppe und Dessert bestand es aus fünf Gängen, darunter Krammetsvögel mit Sauerkraut, Rheinsalm, Rehfilet und Brüsseler Poularden.

Der Neubau war eingerichtet für 22 Lehrer und maximal 220 Schüler, heute sind es rund 50 vollbeschäftigte Lehrer und zur Zeit 580 Schüler. Seit dem bescheidenen Wiederbeginn 1946 im halbzerstörten Gebäude sind eine große Anzahl neuer Disziplinen zu den alten hinzugekommen: Bühnenkunst, Photographie, Film, dazu wissenschaftliche Fächer im Rahmen der Kunsterziehung. So erweist sich das alte Haus zunehmend als zu klein. Ein teilweiser Ausbau des Dachgeschoßes und das kleine Atelierhaus westlich des Gebäudes (nach Plänen von R. Schwarz) reichen nicht aus. Andere Erweiterungspläne blieben in der Schublade.

Seit 1958 sind Verhandlungen im Gang, wonach das Land von der Stadt das benachbarte Grundstück und Haus der „Pfandleihe“ erwerben möchte. Hier böte sich Raum für die dringend benötigten künstlerisch-technischen Werkstätten und Labors. Der alte Bau würde damit entlastet und könnte den Charakter einer rein künstlerischen Ausbildungsstätte zurückgewinnen. Man kann nur hoffen, daß die langen Verhandlungen bald zu einem befriedigenden Abschluß kommen.

In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 20. Oktober 1979.

Wörterbuch der Gegenwarts-Kunst

Der Kritiken-Band von Anna Klapheck (1979)

Dauer kann das für den Tag Geschriebene nicht beanspruchen; oft ist es am nächsten Tag bereits vergessen. Aber selbst solche Gesetze kennen ihre Ausnahmen. Auf einmal bemerkt man, daß das, was so flüchtig schien, Jahre und Jahrzehnte hindurch gültig, kraftvoll und lebendig blieb: als Dokument erlebter und reflektierter Zeitgenossenschaft, dessen Wert und Aussagekraft weit über den ursprünglich gegebenen Rahmen hinausweist.

Zu einem derartigen Dokument ist Anna Klaphecks Artikelsammlung geworden, die sie selbst ein „Buch der Erinnerung“ nennt: „Vom Notbehelf zur Wohlstandskunst – Kunst im Rheinland der Nachkriegszeit“(DuMont Buchverlag, 238 S., 24.80 DM); Anna Klapheck, in diesem Jahr 80 geworden, war und ist ein Glücksfall für die Kunstszene dieser Region und für die Rheinische Post, deren Kritikerin sie seit vielen Jahren ist. 1946, als Deutschland in Trümmern lag und auch die Verbindungsstränge zu der jungen und umwälzenden Kunst unseres Jahrhunderts längst verschüttet waren, meldete sich mit ihr eine Kunsthistorikerin zu Wort, die die Kunstentwicklung in den 20er und 30er Jahren hautnah miterlebt hatte und die nun als fast Fünfzigjährige nicht nur sehnsüchtig auf die Heimkehr der geschätzten Werte in die Museen wartete, sondern die auch offen war für alle sich neu abzeichnenden Tendenzen. Diese Verbindung von wacher Erinnerung und engagierter Neugierde erwies sich als wegweisende Klammer der Kunstberichterstattung und als sicherer Wall gegen provinzielle Einbrüche.

Die schreibende Kunsthistorikerin, später auch Professorin für Kunstgeschichte an der Düsseldorfer Kunstakademie, schwang sich dabei mit ihrem Wissensvorsprung nie zur dozierenden Lehrmeisterin auf. So wie sie mit kurzen und prägnanten Sätzen Situationen und Ereignisse vor dem Auge des Lesers plastisch werden ließ und Künstlerpersönlichkeiten skizzierte, so stellte sie in knappen, zielbewußten Bemerkungen Zusammenhänge her.

Dies ist nun alles nachzulesen, ja, nachzuerleben. Gerade für denjenigen, der die frühen Trümmerjahre, in denen der Kunstbetrieb mit seinen Improvisationen etwas Pionierhaftes hatte, nicht bewußt miterlebt hat, entsteht in dieser lockeren Folge von Artikeln über Ausstellungen, Galerien-Eröffnungen und Künstlergedenktage ein höchst anschauliches Bild einer außergewöhnlichen Zeit. Vor allem Anna Klaphecks Geschick, selbst in den kürzesten Artikeln etwas von der Persönlichkeit der Künstler und Kunstvermittler mitzuteilen, die Atmosphäre einzufangen, bringt einem die von ihr beschriebene und kritisierte Kunst so nahe.

So entsteht in diesem Buch jenseits der Kunstkritik ein Bild der Nachkriegszeit. Es ist ein Bild, das sich bewußt auf Düsseldorf und das nähere Rheinland bescheidet. Hier hat Anna Klapheck ihre zweite Heimat gefunden und hier kennt sie sich aus. Ihr kritischer Blick ging, oftmals auch für unsere Zeitung, weit über diesen Raum hinaus, zur documenta etwa oder nach London und Paris. Doch die Beschränkung auf die rheinischen Kunstkritiken beinhaltet auch ein Bekenntnis zu einer unverwechselbaren Landschaft, die allein Persönlichkeiten und Figuren wie Mutter Ey, Ewald Mataré, Joseph Beuys, aber auch Max Ernst hervorbringen konnte.

Das Persönliche, das Menschliche und Verbindliche sind Elemente, die diesen Artikeln Faszination verleihen, weil sie die Kunst zu einer beziehungsreichen, menschlichen Größe werden lassen.

Indem Anna Klapheck nicht aus der heutigen Hin-Sicht eine kleine Geschichte der rheinischen Kunst schrieb, sondern mit ihren aus und für den Augenblick geschriebenen Betrachtungen ein Mosaik der Kunstbeschreibung schuf, stellt sie sich auch heute mit ihrem jeweiligen Urteil der Kritik. Sie kann es guten Gewissens tun. Auch dort, wo sie irrte und sich selbst dann korrigierte. Beispielsweise liest man mit Vergnügen, wie sie 1957 die erste Begegnung mit den monochromen Bildern von Yves Klein bei Schmela in Düsseldorf ironisierend-abwartend verarbeitet, und wie sie drei Jahre später bei der erneuten Betrachtung von Kleins Arbeiten in Leverkusen eine Position bezieht, die nun zunehmend an Festigkeit gewinnt.

Die Offenheit, die Anna Klapheck bei Neu-Begegnungen für sich selbst beansprucht, läßt sie auch ihren Lesern. Sie hilft beim Kennenlernen, Sehen und Verstehen, blockiert aber keine Zugänge durch Über-Interpretationen. Allerdings hat diese Offenheit ihre Grenzen, wo es um Qualität geht. Wo sich Zweit- und Drittrangiges aufspielt, da sagt sie es unmißverständlich.

Das wichtigste Argument für dieses Buch aber: es verlangt nicht nach einem Wörterbuch der zeitgenössischen Kunst. Es ist eines.

Dirk Schwarze In: Rheinische Post. Feuilleton, 8. Dezember 1979.

Absage an Vorurteile

Wenn der Ausflugsjet, von Abu Simbel kommend, in der Morgenfrische bei Assuan landet, wird Touristen manchmal ein Anblick zuteil, den die Pharaonen während viertausendjähriger Herrschaft in Oberägypten nicht kannten, der noch vor einer Generation undenkbar war: Weiße Wolken machen der jungen Sonne das Himmelsblau streitig. Die Wolken, die manchmal sogar etwas Niederschlag bringen, entstehen über dem Nasser-See, dem See, der durch den neuen Assuan-Staudamm entstanden ist. Noch immer sind die Ägypter stolz auf ihren Staudamm. Die Bewunderung der Touristen für dieses Werk ist ebenso berechtigt wie für die kaum mit Laiensinnen erfaßbare Leistung, mit der der Tempel von Abu Simbel mit seinen riesigen Steinfiguren versetzt wurde, ehe sich der See mit Nilwasser füllte.

Aber die Diskussion über den Nutzen des Staudammes entbrennt immer heftiger. Der Nutzen, den er der seit Jahrtausenden fruchtbaren, aber auch allen Wetterabweichungen ausgelieferten Uferregion des Nils bringen sollte, steht gegen die Zerstörung eines Gleichgewichtes auf biologischem Gebiet, das von den Anbaumethoden der Fellachen in den letzten sechstausend Jahren kaum ins Wanken gebracht worden ist. Die Methoden haben sich nicht geändert, mit dem Holzpflug wird gepflügt, mit der Hand gesät, mit Wasserrädern und der Archimedischen Schraube Wasser auf die Felder geleitet. Mit der Sichel wird geerntet. Dahinter droht das Wunderwerk des Staudamms. Er läßt das Wasser stetig fließen. So stetig, daß der Grundwasserspiegel ständig ansteigt und Tempelbauten wie den von Medinet Habu in Gefahr bringt. In spätestens zehn Jahren wird der Tempel, der 3000 Jahre überdauert hat, zerstört sein. Eine Rettung würde Milliarden Ägyptische Pfund kosten. Omm Seti allerdings, eine Engländerin von 82 Jahren, die sich so in Geschichte und Religion des Pharaonenreiches hineingelebt hat, daß sie als Staatsrentnerin neben dem Tempel wohnen darf, weiß billigere Rettungswege. „Man müßte einen künstlichen See zwischen Nil und Tempel anlegen, um das Grundwasser aufzufangen und abzuleiten. Aber das wollen die Leute in den Dörfern nicht. Sie fürchten, ihre Kinder fallen hinein und ertrinken. Dabei haben sie so viele Kinder.“ Den Einwand, die vielen Kinder seien die Lebensversicherung des armen Mannes, weil von den vielen viele sterben, läßt sie nicht gelten. „Hier stirbt kein Kind mehr, dafür sorgen kostenlose Schutzimpfungen und die medizinische Versorgung. Meine Nachbarn haben zehn, zwölf Kinder, und die werden alle groß.“

Touristen, die – meist in Gruppen – durch Ägypten reisen, haben überall Gelegenheit, den Aufprall von Entwicklungen der letzten zwanzig, der letzten zehn Jahre auf Jahrtausende alte Strukturen kennenzulernen. Vielen ist das gleichgültig. Sie wollen Sonne, Erlebnis, alte Kultur in faßbarer Dosierung und mit Komfort. „Man sollte die Einheimischen aussperren, wenn die Touristen kommen“, sagten Mutter und Tochter auf der Bananeninsel im Nil bei Luxor. Die beiden deutschen Touristinnen fühlten sich, wie viele andere Touristen, von der „Bettelei“ der Plantagenarbeiter und ihrer Kinder so belästigt, daß sie keinen anderen Ausweg wußten. Eine siebzigjährige Deutsche las den beiden in biblischem Sinn die Leviten: „Wir sind hier die Eindringlinge.“ – „Ja, aber wir bringen das Geld. Wir, die westlichen Touristen.“ Wir waren es wohl auch, die dem kleinen Mädchen im Nubierdorf als erste das Zicklein in den Arm gedrückt haben, um die niedliche Idylle zu fotografieren. Jetzt kommen die Kinder mit den Zicklein an die Touristen-Busse und sagen „Foto, Foto“. Und halten schmutzige Kinderhände auf, während die Fliegen in den Augenwimpern sitzen. Aber gegen die Augenkrankheit gibt es Medikamente und das Betteln ist wirklich sehr lästig. Das müßten diese Leute doch merken...

Die nach westlicher Vorstellung ungewohnten Verhaltensweisen der Ägypter verleiten viele Touristen zu Fehlschlüssen und Fehlverhalten. Es ergeht ihnen wie den ersten Spanientouristen vor 25 Jahren in den engen Gassen Barcelonas - sie wagten sich nur mit stoßbereit geballter Faust in der Tasche voran. Der Deutsche, durch lange Isolation von der übrigen Welt nur noch an seinesgleichen gewöhnt, vermochte „fremdländische“ Typen nicht mehr einzuschätzen.

So ergeht es vielen, selbst weitgereisten deutschen Touristen in Ägypten. Die Freundlichkeit der Menschen dort läßt sie unsicher werden, ihr ständiger Drang zum Feilschen bewirkt Unwillen bis zur Bösartigkeit. Viel zu hohe Erstforderungen für minderwertige Ware bringt vielen das Wort „Betrüger“ auf die Lippen. Das absolute Chaos des Kraftfahrzeugverkehrs in der 12-Millionen-Stadt Kairo jagt dem ampelgesteuerten Westler ebenso einen Schauer über den Rücken wie die Menschentrauben, die an den roten Linienbussen hängen, die mit zerbrochenen Fenstern und oftmals nur noch an ein paar Drähten hängenden Motoren durch die Stadt jagen. Dazu die Menschenpulks auf den Vorortzügen, auf den Dächern der Überland-Taxis. Auf dem Dach ist es billiger.

Da stellt sich Aufatmen ein, wenn eine Kamelkarawane, beladen mit frisch geernteten Zuckerrohrbündeln, über die Straße zieht oder der Fellache auf eilig trippelndem Eselchen gegen Abend vom Feld heimkehrt.

Aber das Offensichtliche täuscht. Das Verkehrschaos in Kairo löst sich immer wieder auf, meist sogar ohne schwere Unfälle. In den engen schlecht gepflasterten Straßen geht auch der touristische Einzelkämpfer, ob Mann oder Frau, sicherer als in mancher mitteleuropäischen Großstadt. Eigentumsdelikte oder gar solche mit Körperverletzung gegenüber Fremden sind selten. Viel häufiger ist Höflichkeit und herzlich einladendes Lächeln. Auch in den ärmsten Gegenden, auch dort , wo magere Ziegen, zerrupftes Federvieh zwischen den armseligen Häusern am Stadtrand umher rennen.

Je entfernter vom Tourismus, desto weniger Aufdringlichkeit, desto mehr freundliches Entgegenkommen. Versuchen Sie es mal mit einem mühsam erlernten ägyptischen Grußwort in einer dieser schmutzstarrenden Gassen – eine schönere Steigerung des Selbstwertgefühls durch aufmunternde Zurufe ist kaum vorstellbar. Meist werden Sie gleich eingeladen, zu Tee oder Kaffee. Nehmen Sie an. An Postkartenständern sind überall Ansichtskarten mit dem Bildnis von Staatspräsident Sadat zu sehen. Sie brauchen nicht zu kaufen. Aber sagen Sie, daß Sie Sadat für „a good man“ halten. Der Verkäufer wird Ihr Freund sein. Aber versuchen Sie nicht, einem Mann in den Arm zu fallen, der bettelnde Kinder mit Stockhieben von tankenden Touristenbussen fernhält. Man würde Sie nicht verstehen.

Begriffe wie Schmutz und Elend erhalten in Ägypten andere Dimensionen. Der Kampf gegen Sand, Lehm und Abfall stellt sich als Unternehmen dar, gegen das die Säuberung des Augiasstalles durch Herkules wie ein Kindergartenspiel erscheint. Aber auf jedem Balkon auch in den ärmsten Straßen weht ständig frisch gewaschene Haus- und Körperwäsche. Die Mütter kämpfen den endlosen Kampf immer neu, genau wie die müden alten Esel der Kairoer Müllabfuht.

Auch das Elend hat andere Gesichter. Es muß niemand hungern. Obdachlose, die auf Straßen und Plätzen schlafen, gibt es kaum.

Reisen in Ägypten setzt nicht so sehr Toleranz als vielmehr Einfühlungsvermögen und Absage an Vorurteile voraus. Reisen in Ägypten bringt menschlichen Gewinn, denn es läßt uns ein Volk kennenlernen, daß unter der Last der Schwierigkeiten seinen Stolz nicht verloren hat. Nicht jeder Ägypter heißt Hassan oder Mohammed, sowenig wie jeder Deutsche Fritz heißt. Aber jeder Ägypter fühlt in sich noch das Blut der Pharaonen, deren wunderbare Tempel und Gräber, deren Fertigkeit im Ausnutzen der Gaben der Natur und hochentwickelten menschlichen Geistes wir heute noch staunend erleben, im Ägyptischen Museum, das eine klägliche Rumpelkammer und ein Zauberberg märchenhaften Ausmaßes ist; zwischen den Pyramiden von Gizeh bei Sonnenuntergang, in den Tempeln von Luxor und im Tal der Könige bei sengender Mittagshitze, bei Sonnenaufgang im Sand vor den Felsengöttern von Abu Simbel. Es kann nicht überraschen, wenn auch dieser Pharaonenvergangenheit, der mancherlei Fremdherrschaft, dann die große Umwälzung durch den Islam und dann wieder Fremdherrschaft folgte, - wenn aus den Erfahrungen von 6000 Jahren Geschichte eine neue Religionsphilosophie erwächst, eine von der „Dreieinigkeit“ aus pharaonischem Jenseitsglauben, hebräisch-christlicher Hinwendung zum Jenseits und mohammedanischem Prophetentum. Und daß diese versöhnende Philosophie durch den jungen Ägyptologen Wahit aus Kairo nahegebracht wird. Er kennt übrigens auch das alte Geheimzeichen gegen Schlangen und Skorpione. Es wirkt, selbst wenn man es nur in den Sand malt. Wahit hat es als junger Archäologiestudent selbst ausprobiert.

Von unserem Redaktionsmitglied Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Touristik, 26.02.1980

Vom Räumchen zum Herrenhaus

Erinnerungen an Alfred Schmela

Schon vorher hatte es allerhand Geraune gegeben: da war ein nahezu unbekannter Maler, oder vielleicht war er auch Architekt, und mit Bildern handelte er wohl auch gelegentlich – dieser Mann von knapp vierzig wollte demnächst mitten in der Altstadt eine Galerie aufmachen, ein bißchen in der Art der kleinen Pariser Avantgardegalerien in den engen Gassen rund um St. Germain-des-Près.

Eine neue Galerie, das war damals, als es nur etwa ein halbes Dutzend Galerien in Düsseldorf gab, eine aufregende Sache. Genau einen Monat zuvor hatte der ernste Jean-Pierre Wilhelm drüben in der Kaiserstraße seine „Galerie 22“ eröffnet, auch da gab es jüngste Kunst zu sehen, und es wehte von Frankreich herüber. Und nun abermals eine festliche Vernissage, Hunsrückenstraße, gleich neben dem Kom(m)ödchen, das verhieß eine kleine Sensation. Ein französischer Text war vorher ins Haus geflattert, der die „Propositions Monochromes“ des französischen Malers Yves Klein ankündigte. Düsseldorf rückte also mächtig vor im internationalen Kunstgeschäft.

Unvergessen jener milde Juni-Abend 1957. Das Räumchen erwies sich als beträchtlich zu klein, nur schubweise wurde man eingelassen, so machte das ganze Sträßchen mit im heiteren Spiel. Lachend kamen die meisten wieder heraus aus dem Sälchen, denn was es da zu sehen gab, die einfarbig rot und blau angestrichenen Tafeln des Herrn Yves, der selbst zugegen war, das konnte doch nur ein Spaß sein oder allenfalls ein verspäteter Neuaufguß von Dada. Herr Schmela, der bärtige Hausherr, nahm es auch gar nicht übel, daß seine Eröffnung zum heiteren Fest geriet. Im stillen wird er wohl gedacht haben: wartet nur ab, aus dem Spaß kann bald auch Ernst werden.

Es dauerte nicht lange, und „Yves le Monochrome“ war berühmt als Begründer einer weltweiten neuen Kunstrichtung, und heute, ein Vierteljahrhundert später, gehören Bilder des frühverstorbenen Yves zu den begehrtesten Objekten auf dem internationalen Kunstmarkt. So war es eigentlich immer: was bei Schmela Premiere hatte, war bald darauf in aller Munde.

Hier drehten sich Tinguelys Rädchen, als auch dieser Name noch kaum Klang hatte, hier veranstaltete, als „Aktionen“ noch Seltenheit waren, Mathieu sein „Schau-Malen“, hier zeigte Christo seine ersten Verpackungen, Arman seine Häufungen von Alltagsobjekten. Und so kam einer nach dem anderen, meist in eigener Person, aus allen Ländern und bald auch aus den USA, ins kleine Hauptquartier in der Hunsrückenstraße. Nicht zu vergessen auch die Düsseldorfer Zero-Gruppe und Joseph Beuys, die in Schmela ihren ersten Betreuer hatten. Hätte man bei jeder Ausstellung zugegriffen, man besäße heute, für nicht allzuviel Geld, ein kostbares Museum moderner Kunst.

Bald war Schmela heimisch geworden in Paris, London und New York und wuchs immer mehr über Düsseldorf hinaus. Ende der sechziger Jahre begann er mit dem Bau eines eignen Galeriehauses in der Mutter-Ey-Straße, des ersten ganz als Galerie geplanten Gebäudes. Während der Bauzeit betrieb er den Kunsthandel von seiner Wohnung in Oberkassel aus. Dort feierten wir am 23. November 1968 seinen 50. Geburtstag. Blumen, Flaschen häuften sich auf den Tischen. Seine engeren Künstlerfreunde wuchteten eine schwere Kiste nach oben, die mit viel Umstand geöffnet wurde: ein nacktes Mädchen entstieg ihr, entschwand aber eiligst im Nebenraum.

Schmela lachte herzhaft, er hatte Sinn für derbe Späße, liebte Alt-Bier und deftiges Essen. Trotz allen äußeren Erfolges, und längst ein Mann von Welt geworden, gab er sich bis zuletzt als ein Kind des Volkes. Wie ein französischer Kleinbürger spielte er sonntags Boule mit den Freunden. Seiner Witterung für die Kunst entsprach eine erstaunliche Menschenkenntnis. Er wußte immer, mit wem er es zu tun hatte, ich habe nie ein ordinäres Wort von ihm gehört. Unter rauher Schale war er verletzlich, im Umgang mit Frauen, auch mit seiner eignen tapferen Frau, konnte er sogar zartfühlend sein.

Wie es dann weiterging, wie er 1975 das stattliche Lantzsche Herrenhaus inmitten eines großen Parks in Lohausen bezog und dort ein Freilichtmuseum für moderne Plastik aufzubauen begann, darüber ist schon berichtet worden. Wieder bewunderte man seine Mut, seine Entschlußkraft. Nachdenklich aber sagte er einmal zu mir: „Da reden die Leute von Glück und Dusel und haben doch keine Ahnung, wieviel Schweiß das alles gekostet hat.“

Wenige erinnern sich noch, daß er sich 1963 auch im Auktionsgeschäft versucht hat. Die Veranstaltung im Großen Saal des Malkasten trug gesellschaftlichen Glanz. Vor mir liegt der schön ausgestattete Katalog, der viele stolze Namen enthält, bis hin zu Picasso. Ein Stilleben von Max Ernst (1925) wurde für 23 000 Mark, ein früher De Chirico für 40 000 Mark zugeschlagen, Magritte war für einige tausend Mark zu haben. Warum die Aktion dennoch kein rechter Erfolg war, ist schwer zu erklären. Vielleicht war der Zeitpunkt nicht günstig, die Konkurrenz zu groß. Schmela, unterstützt von seiner Frau, hielt gelassen durch und ließ sich keinen Unmut anmerken, aber es blieb bei dieser einen Auktion.

Ein Jahr ist es her, da traf bei schönstem Sommerwetter die gesamte rheinische Kunstwelt, die Künstler, die Sammler, die Händler, die Museumsleute, im Lantzschen Park zusammen. Schmela und seine Frau waren wie stets die generösen Gastgeber. Die hellen Kleider schimmerten unter den Bäumen wie auf einem impressionistischen Gemälde. Noch wirkte Schmela gesund wie eh und je und steckte voller Pläne. In der Erinnerung erscheint uns dieser heitere Sommertag wie eine Abschiedsfeier. Dann wurde es stiller um ihn, man sah ihn seltener, bei den letzten Begegnungen war eine eigne Weisheit zu spüren. Nun hat ihn der Tod allzu früh aus unserer Mitte gerissen. Er hinterläßt viel, aber er hinterläßt auch eine große Lücke.

Anna Klapheck
In: Rheinische Post. Feuilleton, 23. Juli 1980

Naive Reize

Dubuffet-Ausstellung in der Kölner Kunsthalle

Aus dem Jahre 1935 stammen jene in Öl gemalten „Stadt- und Landmarionetten“ und die Folge der „Métro“-Gouachen, mit denen die große jetzt in der Kölner Kunsthalle gezeigte Retrospektive-Ausstellung Jean Dubuffets einsetzt, des nunmehr achtzigjährigen Erfinders der „Art brut“: der rohen, ursprünglichen Kunst, die sich an den unreflektierten künstlerischen Äußerungen von Kindern und Geisteskranken, von Naiven und Primitiven eher orientiert als an den gewohnten Wertvorstellungen.

Die von der Berliner Akademie der Künste zusammengestellte Ausstellung mit 360 Werken Dubuffets, aus über 70 öffentlichen und privaten Sammlungen, in ununterbrochener Folge von 1943 bis 1980, ist nach einer Retrospektive dieses Künstlers vor zwanzig Jahren in Hannover die erste dieser Größenordnung im deutschsprachigen Raum. Damals wurden nur 90 Arbeiten gezeigt.

Geht man vorbei an den chronologisch sich folgenden Werkgruppen, hat man von Anfang bis Ende den Eindruck, daß hier einer das Theater oder vielleicht noch eher den Zirkus dieser Welt in seinen komischen, beängstigenden und poetischen Aspekten zugleich ironisch-karikierend und mit liebevollem Einverständnis registrierte und dabei zeit seines Lebens das große Staunen nicht verlernte. Immer ist bei ihm das Eigenartige zugleich Ausdruck von etwas untergründig Gemeinsamen. Dubuffet war 43 Jahre alt, als er in fröhlichen Farben perspektivelos seine Métro-Gouachen malte: Menschen, eng zusammengedrängt, frontal, irgendwie verbunden durch eine allen gemeinsame Abwesenheit und Anonymität. Er ritzt, kratzt nach Art der Sgraffiti in Pasten aus Asphalt, Teer und Bleiweiß, Zement, Gips, Lack, Leim, Kalk, Sand, Kohlenstaub, Kieselsteinen etc. die Menschen von Paris mit ausgesprochenem Blick für die Komik und Tragikkomik deformierter Silhouetten. Man spürt: er mag sie alle, diese schlichten Zeitgenossen. Mit dem Röntgenblick eines verstehend Liebenden bringt er gleich einem Magier in den hintergründigen Porträts seiner Freunde – Jean Paulhan, Michel Tapié „als Sonne“, Antonin Artaud, seines Galeristen René Drouin – hinter dem Individuellen jenen inneren Kontakt zu einer surrealen Welt ins Bild.

Und dann, nach den Sahara-Aufenthalten Dubuffets, diese wie legendäre Erscheinungen aus den Bildgründen auftauchenden „Clowns der Wüste“. Sie haben alle teil an mysteriösen archaischen Seinsräumen, die den meisten von uns längst verschlossen sind. Oder die in ihrer Poesie unwiderstehlichen „Grotesken Landschaften“, deren eigentlich ganz in die Erde eingebetteten Strichmännchen stillvergnügt, ja selig die Freuden des Landlebens wie ein ungewohntes und ganz vergessenes Wunder erleben. Zu erdigen Landschaften scheinen auch breit und unförmig hingelagerte Frauenkörper zu werden. Gezeichnete Porträtköpfe wirken wie geologische Exkursionen der Zeichenfeder. In verzückten Strukturen, inspiriert von der Landschaft um St. Paul de Vence, wo er sich ein Atelier baut, verherrlicht der Künstler Himmel und Erde, collagiert Männchen aus Schmetterlingsflügeln, huldigt dem „Wald“, dem „Gartenboden“, der „blühenden Erde“ mit berückenden Collagen aus gesammelten Pflanzenteilen. Eine irreale Ausstrahlung haben auch die in einer Serie zusammengefaßten „Kühe auf der Weide“. Nach den Assemblagen entstehen die freistehenden „Statuen“, die doch so fragil und unbeständig sind wie jener so tief betroffen machende „Blinde“ aus Silberpapier.

„Ich vertraue den wilden und ungekünstelten Reizen gegenüber jeder Schminke und allen Friseuren“, sagte Dubuffet. Neben den Strukturen der Natur hat er immer wieder diejenigen der menschlichen Psyche und der Gesellschaft in dynamischen Rhythmen von Linien als phantastisches abstraktes Phänomen aus dem Gegenständlichen herausgelöst – in „Paris Circus“ etwa oder den seit 1962 entstehenden Bildern, Skulpturen, Zeichnungen, Räume des „L’Hourloupe“-Zyklus. Nach dem langen Gebrauch von erdigen Farben kehrt Dubuffet hier wieder zur Buntheit, wenn auch auf wenige Grundtöne beschränkt, zurück. In ein Puzzlespiel unendlicher Linien eingebettet, das auch die Plastiken verwirrend überzieht und sicher von den Comic strips beeinflußt ist, erscheint hier das menschliche Tun und Treiben in seiner Unbeständigkeit fragwürdig und illusionistisch.

Als Groteske stellt der Künstler es auf eine imaginäre Bühne in seinem berühmten „Coucou-Bazar“ – aus bemalten Plastikelementen zusammengesetzten menschlichen Figuren, Tieren, Wagen, Mischwesen teils auf Rädern, teils von Menschen getragen, die sich als phantastisches Ensemble zu einer von Dubuffet selbst komponierten Musik bewegten – erstmals 1973 im Guggenheim-Museum New York. Auch diese „Praticables“, die in der von Dubuffet gestifteten Fondation in Périgny-sur-Verres aufbewahrt werden, sind in Köln, wenn auch unbewegt, zu sehen. Dazu Großphotos seiner skulpturalen Architekturen, wie der einzigartigen „Closerie und Villa Falbala“ in Périgny: einem reich gegliederten, strukturell bemalten, eher einem Felsgebirge oder einer Eishöhle gleichenden, nach außen völlig geschlossenen Refugium als Gegenentwurf zur rationalen Wohnmaschine unserer Zeit: ein Ort zum Träumen und zur Besinnung.

In: Rheinische Post. Feuilleton, 19. März 1981.

Otto Pankok

Gedanken zur letzten Ausstellung 1935 im Westfälischen Kunstverein in Münster 1981

Heute ist es kaum vorstellbar, welcher Mut 1935 dazu gehörte, Otto Pankoks „Passionszyklus“ von 60 Bildern auszustellen. Mit der Ausstellung „Die Westfront 1933“ in Essen wurde die Verfolgung eingeleitet, unterstützt durch Hetzartikel der Nazizeitung „Das Schwarze Korps“.

Pankoks Passionsbilder wurden abgehängt und zuerst nicht durch Bilder anderer Künstler ersetzt. Die leeren Stellen sollten die Künstlerkollegen vor unüberlegten Handlungen warnen.

Wohl war sich Otto Pankok über seinen geringen Einfluss klar und über seinen einsamen Posten, dennoch wollte er seinen Widerstand nicht aufgeben. Er schrieb darum an den Reichsleiter Alfred Rosenberg:

Sehr geehrter Herr Rosenberg,

Einer Ihrer Mitarbeiter in der Reichsleitung des Kampfbundes für deutsche Kultur, Herr Dr. Eckart, war in diesen Tagen in Essen, um die aufgehängten Bilder vor der Eröffnung der Ausstellung „Westfront 1933“ zu begutachten. Auf Befehl des Herrn Dr. Eckart wurden meine Bilder aus der Ausstellung entfernt:

  1. Einzug in Jerusalem.
  2. Christus in Gethsemane.
  3. Christus wird gegeisselt.
  4. Kreuzabnahme.
  5. Pieta.

Dieses Vorgehen gegen meine aus reinem Herzen entstandenen Werke könnte ein Vergehen gegen einen Maler sein. Es ist aber mehr. Ich bin mir mit allen Menschen, die meinen Zyklus sahen, bewußt, daß in diesen Bildern eine Tradition aus der reinen und schönsten deutschen Vergangenheit wieder auflebte. Wenn diese meine Bilder das Licht des Tages scheuen müssen, dann muß auch die große Vergangenheit ausgelöscht werden, dann muß das Volk vor Cranach, Dürer, Grünewald und Konrad Witz geschützt werden. Dann sind die Dome und Museen zu schließen.

An die Stelle meiner Christusbilder ersuchte mich Herr Dr. Eckart Landschaften zu hängen. Dieses Ansinnen zeigte mir, daß es ihm darauf ankam, das Bild der Ausstellung zu verharmlosen, den Anblick großen, ewigen Geschehens auszumerzen zugunsten angenehmer Lyrik. Ich bin aber des Glaubens, daß es ein Irrweg ist, wenn ein Künstler inmitten einer Zeit voll ungeheurer Aktivität und ungeahnten Geschehens, sich privaten lyrischen Gefühlen hingibt, und diese Dinge im Volk weitergibt, ihm damit sagend, daß die Kunst abseits vom Leben und von den geschichtlichen Vorgängen steht, daß sie harmloses Spiel sei und nicht der Extrakt der Zeit, wie sie es in Jahrtausenden vor uns gewesen ist.

Sollen sich die Künstler weiterhin vor dem deutschen Spießer beugen und ihre Lebensarbeit darin sehen, ihm seine Kleinbürgerwohnung mit hübschen Stillleben und Sonnenuntergängen zu dekorieren, so ist Herr Dr. Eckart auf dem richtigen Wege gewesen. Sieht man in der Kunst aber einen Niederschlag des großen Lebens und der großen Ideen der Zeit, sollen in ihr die Mitlebenden sich selbst, ihre Freuden und Leiden, Klärung und Tröstung finden, so geschah hier Unrecht und Sünde gegen den Geist der Kunst, und gegen das Volk.

Mit vorzüglicher Hochachtung, Otto Pankok

Der Erfolg dieses Briefes war der Ausschluß aus vielen künstlerischen Gemeinschaften. Die staatlichen Museen wurden schon überwacht. Pankok fand keinen Raum mehr, wo er sein Werk zeigen konnte.

Doch in dieser Situation meldete sich zu Pankoks Überraschung Professor Wackernagel vom Westfälischen Kunstverein in Münster und Dr. Kruse, Direktor des Museums in Mülheim-Ruhr. Sie teilten ihm mit, daß sie noch eine Ausstellung wagen wollten.

Inzwischen hatte auch der Verleger Kiepenheuer, Berlin, sich bemüht, vom damals noch bestehenden christlichen Kunstdienst die Druckerlaubnis zu erhalten. Sie wurde ihm für das Passionsbuch zugesichert, verbunden mit einer finanziellen Hilfe.

Ich fuhr nach Berlin zu Stephan Hirzel, welcher für den Kunstdienst zuständig war. Er rief sofort seine Mitarbeiter zusammen, die von dem Buch begeistert waren. Diese Phantasten waren davon überzeugt, daß sie im christlichen Raum noch zuständig seien. –

Der Kunstverein in Münster verwirklichte jetzt auch die Pankok-Ausstellung und stärkte damit den Mut der Künstler und erlöste sie für kurze Zeit aus der zunehmenden Resignation.

Die nachfolgende Mülheimer Ausstellung wurde sofort geschlossen, so daß die Ausstellung in Münster die letzte Möglichkeit war für Otto Pankok, durch seine Kunst die Menschen anzusprechen. Zehn Jahre, bis 1945, mußte er verstummen.

Inzwischen hatte Kiepenheuer den Druck des Passionsbuches begonnen. Pater Friedrich Muckermann, einer der mutigsten Männer des Widerstandes und ein aufgeschlossener Gelehrter, hatte die Einführung zum Buch übernommen. Doch noch bevor der Text gedruckt war, mußte er emigrieren. Pankok übernahm das Vorwort selbst und damit die alleinige Verantwortung für das Buch.

Das Vorwort begann: „Als die Sonne in dem schwarzen Meer erlosch und kein Stern am Himmel aufging, als die Wolken schwer niederfielen auf die Erde und des Donners Zorn aufbrach, da zitterte ich in der Finsternis. Da ward meine Harfe Klage und meine Pfeife Weinen.“

Und diese Traurigkeit war berechtigt. Das Buch erschien und es wurde sofort verboten. Man hatte gemerkt, welche gefährliche Waffe gegen das Böse dieses Buch zu werden drohte – das von Hand zu Hand weitergeleitet und überall diskutiert wurde.

Die Zeichnungen waren inzwischen in die Schweiz gebracht – nicht in guter Absicht, wie ein Schweizer Maler-Architekt Otto Pankok vorgelogen hatte. Doch eine verantwortungsvolle, verschwiegene Schweizer Kriminalpolizei jagte dem Dieb die Zeichnungen wieder ab und rettete damit die Passionsbilder – ein kleines Wunder.

Einen geringen Teil der Bücher rettete der Drucker Peter Marliani. Er trug in aller Heimlichkeit die Passionsbücher zum Landeshaus in Düsseldorf, wo er der Druckerei vorstand. Mit der Begründung, über die Drucksachen wachen zu müssen, schlief er auf den Büchern, die sein Bett füllten.

Pater Friedrich Muckermann schrieb über Pankoks Passionswerk: „Weltgeschichte ist es in der Tragik, die immer wieder Folterkammern bereithalten wird für die Söhne Gottes, Weltgeschichte, die immer wieder die satanischen Kräfte ins Feld führen wird gegen die göttlichen, Weltgeschichte, die den Erfolg ihrer brutalen Gewalten in Händen hält, und in der doch siegreich bleibt der Mensch der Passion, der aus dem Abgrund der Geschöpflichkeit wieder zum Kind des Schöpfers erhobene, der im Leiden wiedergeborene. – Aber auf dieser Erde wird dieser Sieg immer nur innerlich bleiben; denn noch hat der Fürst der Welt seine Stunde.“

Und Otto Pankok sagt: „Das ist der Schlüssel zur Kunst; die Starken müssen unten gehen, denn sie sind dazu da, die Welt zu tragen“.

In: Westfalen, 59. Bd., Münster: 1981, S. 136-137

Hörgeschädigte

Sie sind allein unter Hörenden. Sie finden kaum Berufe. Sie brauchen Geduld und Zuwendung

Es gibt in Düsseldorf sieben Gehörlosenverbände. 670 Gehörlose sind „amtlich erfasst“. 670 Gehörlose sind „amtlich erfasst“. Die tatsächliche Zahl liegt sehr viel höher, da vielfach Eltern lange zu verbergen suchen, daß ihr Kind taub – und damit meist auch stumm – ist. Frühe Förderung aber ist hier, wie bei allen anderen Arten der Behinderung, wichtig. Die Gehörlosen leiden sehr unter ihrer Isolation, sie sind „allein unter Hörenden“, die oft ihre starke Behinderung kaum wahrnehmen, sich über die Konsequenzen nicht klar sind. Vielleicht liegt es daran, daß die Gehörlosen von den „tauben Ohren der Stadtväter“ sprachen, als Vertreter des Stadtverbandes der Gehörlosen ins RP-Pressehaus in Heerdt kamen. Wie wenig sie beachtet werden, zeigt die Tatsache, daß auch bei der vom Sozialamt in der AOK-Zentrale an der Kasernenstraße eingerichteten Behindertenberatung niemand auf Beratung von Gehörlosen eingestellt ist. Bei so wenig Interesse im lokalen bereich wundert es kaum, daß die Gehörlosen auch bundweit wenig Beachtung finden mit ihren Forderungen. Wichtige Forderung, und wahrscheinlich kaum auf Ablehnung durch die Hörenden stoßend, ist die nach schriftlicher Untertitelung der Nachtrichtensendungen im Fernsehen. Dafür findet heute, am Samstag, eine Unterschriftensammlung an einem Informationsstand im Fußgängerbereich Schadowstraße statt.

Die Spatzen streiten sich laut am Futterhaus. In der Kurve kreischen die Bremsen der Straßenbahn. In der kleinen Dorfkirche spielt ein Feriengast die Orgel. Das sind Geräusche, kaum wahrgenommen. Allenfalls das Orgelspiel, wenn ein Könner am Werk ist, lässt aufhorchen. Aufhorchen? Für Gehörlose, speziell für solche, die taub sind von Geburt an, ist dies ein Begriff ohne Bedeutung. Werals normal Hörender sich einmal für kurze Zeit klarmacht, wie stark er von dem abhängig ist, was seine Ohren wahrnehmen und als Information ans Gehirn weitergeben, als lebenswichtige Information oft, der wird erschrecken vor der Vorstellung, nicht hören zu können. Und er wird sich wundern, daß in diesem so strapazierten „Internationalen Jahr der Behinderten“ kaum von Hörgeschädigten die Rede gewesen ist.

Es ist wichtig, über Hilfen nachzusinnen, nicht über Hilfen aus der Technik. Die sind so teuer, daß ein Hörgeschädigter sie sich nicht leisten kann, so zum Beispiel die vor einigen Jahren entwickelten Schreibtelefone oder das Videotextgerät zum Farbfernseher. Das Hörgerät ist nur bei bestimmten Schädigungen des Gehörs wirksam.

„Niemand“, so klagen die Betroffenen, „ist auf unsere Probleme eingestellt. Am Arbeitsplatz entstehen Mißverständnisse, bei Behörden nimmt sich niemand die Zeit, Anordnungen, Vorschriften zu erklären.“ Hinzu kommt bei den meisten eine starke Sprachbehinderung. „Meist werden wir für blöd gehalten, weil wir nicht schnell genug verstehen.“

Obwohl bei Gehörlosen Begabungen und Talente ganz dem Bevölkerungsdurchschnitt entsprechen, stehen ihnen nur wenige Berufe offen, etwa der des Zahntechnikers. Es gibt kaum Aufstiegs-, kaum Weiterbildungsmöglichkeiten. In Düsseldorf ist es bis heute nicht gelungen, wenigstens einen festangestellten Gehörlesendolmetscher oder eine Gehörlosendolmetscherin für die Ämter bereitzustellen. Im Gespräch war einmal der Vorschlag, einen Mitarbeiter des Sozialamtes als Gehörlosendolmetscher ausbilden zu lassen. Aber dafür war kein Geld vorhanden. Es gibt auch in Düsseldorf und schon in vielen anderen Städten, einen Treffpunkt oder ein Informationszentrum für Gehörlose. „Uns wird gesagt, wir sollten uns integrieren. Integrieren Sie sich mal, wenn sie akustisch von der Welt abgeschnitten sind. Zunächst ist es für uns wichtiger, daß wir uns gegenseitig auch fördern können. Es fehlt in Düsseldorf eine höhere Person, die sich für die Gehörlosen einsetzt.“

Hinzu kommt, daß es in der Bundesrepublik die Gebärdensprache, mit der sich Gehörlose verständigen können, lange Zeit als veraltet, unmodern galt, sogar bei Gehörlosen selbst. Alles Heil wurde von der Technik erwartet. Übrigens ganz im Gegensatz zu den so technikbessenen Vereinigten Staaten. In Deutschland können angehende Gehörlosenlehrer diese Gebärdensprache nicht einmal gründlich erlernen. Erst kürzlich wurde in Münster ein Kursus für Sozialarbeiter eingerichtet.

Am Schwierigsten wird es für die Gehörlosen, wenn es um stark abstrakte Begriffe geht, etwa bei Steuererklärungen. Sie können in der Gebärdensprache nicht Wort für Wort übersetzt werden, der Gehörlosendolmetscher muß sie vielmehr selbst vorher begreifen, ehe er sie durch Handzeichen einem Gehörlosen verständlich machen kann.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Stadtpost, 12. Dezember 1981

Wer hat Werke und andere Dokumente? Peter Ludwigs – ein verfolgter Künstler

Kulturinstitute planen eine Ausstellung

Erst in jüngster Zeit hatten die Düsseldorfer Gelegenheit, mehr über jene Künstler zu erfahren, die unter den Nationalsozialisten verfolgt, verfemt, gefoltert, zum Teil getötet worden sind. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg hatte es erste Erinnerungsversuche gegeben, so in der Ausstellung „Lebendiges Erbe“ 1946. Später hieß die Devise „verdrängen“ oder „vergessen“.

In der Reihe der Künstler, die das Stadtmuseum dem Vergessen entreißen will, wird sich im November Peter Ludwigs einfügen, ein Bildhauer und Maler aus dem Kreis um Wollheim und Pankok, später um Schwesig und Barz. Das Stadtmuseum, das Kunstmuseum und die Kunsthalle bemühen sich gemeinsam darum, den Düsseldorfern ein Bild dieses Künstlers zu vermitteln, als freie Mitarbeiterin hat Inge Ludescher die Forschungsarbeit übernommen. Es ist eine Suchaufgabe: Gesucht werden Bürger, die im Besitz von Arbeiten des Malers und Bildhauers Peter Ludwigs sind. Gesucht werden aber auch Zeitgenossen, die noch über persönliche Erinnerungen, Briefe, Dokumente des Künstlers verfügen.

Peter Ludwigs, 1888 in Aachen geboren, hatte die Kunstakademien in Aachen, Lüttich, Brüssel und Düsseldorf besucht und zunächst die Bildhauerei bevorzugt. In Düsseldorf heiratete er, mußte dann in den Krieg ziehen, kehrte zurück und zählte zu den Mitbegründern der Gruppe „Junges Rheinland“ bei Mutter Ey, fand auch bald Kontakt zum Aktivistenbund.

Seine Arbeiten zeigen früh ausgeprägtes soziales Engagement, er war KPD-Mitglied, gründete 1928 die Arbeitsgemeinschaft Revolutionärer Bildender Künstler Deutschlands, war in allen wichtigen Ausstellungen vertreten und wurde schließlich Schriftführer des Reichsverbandes Bildender Künstler, Ortsgruppe Düsseldorf. Das Ausstellungsverbot der Nazis, 1933 ausgesprochen, traf einen Mann, der bekannt war. Schon bald war er ein armer Mann, der von 50 Mark Unterstützung im Monat leben mußte.

Ludwigs arbeitete trotzdem im Widerstand mit. Im März 1937 wurde er wegen Vorbereitung zum Hochverrat verhaftet, 1938 wieder entlassen, 1943 erneut verhaftet und in die Ulmer Höh gebracht. Er mußte schwer arbeiten. Der hochgradig Zuckerkranke überstand diese Zeit nicht. Er starb am 2. Juli 1943.

Das Kunstmuseum bewahrt den von Ludwigs Witwe vermittelten Nachlaß. Im Stadtmuseum gibt es ein großes Ludwigs-Ölbild „Die Mutter“, das wohl die Mutter der Freundin Karl Scheswigs auf dem Hof der „Ulm“ zeigt. Diese mutige Frau brachte den inhaftierten Künstlern oft Essen. 12 Bilder, die noch 1946 in der Ausstellung „Lebendiges Erbe“ gezeigt worden waren, werden heute ebenso gesucht wie Skulpturen.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Stadtpost, 23. Januar 1982

Maler-Dialog mit dem Kreuze

Arnulf Rainers „Kruzifikationen“ im Suermondt-Ludwig-Museum Aachen

In der Karnevalszeit schwarze Gegenzeichen: Arnulf Rainers „Kruzifikationen“ im Suermondt-Ludwig-Museum Aachen. Die 55 Arbeiten, entstanden zwischen 1951 und 1980, stehen hier in der Nachbarschaft – wenn auch wohlweislich nicht in unmittelbarer Konfrontation – mit den dort bewahrten mittelalterlichen Kruzifixen und Kreuzigungsdarstellungen, als Ausdruck dafür, daß da auch ein Zeitgenosse von heute über die Jahrzehnte hinweg um die Auseinandersetzung mit dem Kreuz nicht herumkam.

„All diese Bildwerke erheben nicht den Anspruch, eine spezifische Bildnerei für sakrale Räume zu sein. Sie stammen aus sehr persönlichen Wurzeln. Anlaß war eine subjektive Betroffenheit“, schreibt Rainer im Katalogvorwort. „Kreuz und Nacht“ hat er es betitelt. So heißt auch seine 1961 erschienene Publikation, nachdem er sich in den fünfziger Jahren mit der Mystik, der Theologie und Kunstgeschichte des Kreuzes beschäftigt hatte. „Ich war mir über vieles im Unklaren, stehe selbst in Nacht, Finsternis und Nebel“, bekennt Rainer.

Er ist ein Abkömmling jener Tachisten und abstrakten Expressionisten der fünfziger Jahre, die in ihre „automatischen“, vom Verstand unkontrollierten Pinselgesten ihr Unbewußtes projizierten, immer in bohrender Suche nach dem eigenen Ich, die doch keinen Grund im einmal aufgerissenen Bodenlosen findet. Bei Rainer führt dies oft zu wahren Exzessen der Monomanie.

Alle Varianten seiner „Übermalungen“, seiner „Bodyworks“ und „Face Farces“, seiner „Fuß- und Fingermalereien“ oder „Untergrundarchitekturen“ beschreiben solche dialogischen Prozesse zwischen Selbstverlust und Selbstfindung. Sie sind Versuche, den permanenten Zerfall aufzuhalten, sind verwegene Drahtseilakte über dem Abgrund. Neben geradezu mönchischer Verinnerlichung ist dabei aber auch das Moment gestikulierender Zurschaustellung im Spiel.

Zwischen diesen beiden Polen sind auch die „Kruzifikationen“ angesiedelt, diese Identifikationen Rainers mit dem Kreuz wie auch mit dem Gekreuzigten.

Sofort am beeindruckendsten, weil jeder Theatralik fern, sind die in den fünfziger und sechziger Jahren entstandenen schlichten, stillen, auf alles Figürliche verzichtenden Holzkreuze. Rainer hat sie in unterschidlichen Formen und Proportionen aus einfachen Brettern verschiedener Breite und Länge in horizontalen oder vertikalen Rhythmen stufenartig zusammengesetzt, hat sie mit schwarzer oder nachtblauer Farbe befleckt, diese wie einen Strom finsterer Trauer darüber rinnen lassen oder sie ganz wie unter düsteren Schleiern des Unsagbaren versinken lassen.

Nur ein wenig rohes Holz, ein wenig blutrote Lebensfarbe oder lichtes Himmelblau bleiben zuweilen sichtbar, eine Ahnung auch manchmal von körperlicher Schattenhaftigkeit, wie bei einem „Zugedeckten Christus“ von 1968. Manche sind ganz urig primitiv und dörflich-volkstümlich, etwa ein „Kreuz aus Transportkistenholz“ (1967/68), manche von getragenem, ernstem Pathos, wie das „Große Vertikalkreuz“ von 1968.

Mit Stoff- und Ölfarbe auf Baumwolle und Leinwand ist ein großes „Weinkruzifix“ (1957/78) gemalt, in dem eine angedeutete schwarze Figur vor rot vertropfenden Rinnsalen und Gittern mit dem Kreuz verschmilzt. Solche Konzentration auf das Wesentliche, solches Ergriffensein des Malers strahlen auch einige kleinformatige Zeichnungen in schwarzer Tusche oder Mischtechnik und Radierungen aus, etwa die „Kreuzübermalung“ von 1955, ein „Verdecktes Kreuztabernakel“ (Mischtechnik / Radierung) von 1961 oder ein „Verhüllter Christus (1972), bei dem Strichgeflechte gleich einem angedeuteten Dornenkranz ein von Schwarz ganz ausgelöschtes Gesicht umrahmen. Auf mehreren Zeichnungen der siebziger Jahre erscheinen hinter dem Kreuzzeichen – das sich einmal, umgekehrt, in ein Schwert verwandelt oder auch zum zuckenden, schmerzhaften Blitz wird – der photographierte Kopf oder die Figur Reiners selbst.

Am Anfang seiner später sehr dramatisch und wild ausfahrenden, auch großformatigen und farbig expressiven „Kruzifikationen“ stehen einige schwarze Ölkreidezeichnungen über wenig Farbe von 1951, in denen das Kreuzerlebnis seinen abstrakten Ausdruck findet in schmerzhaft von einem zentralen Punkt in den Raum ausstrahlenden Strichgesten. Nur wenige der späteren, oft eher zur Groteske ausartenden und auf Effekt zielenden Übermalungen von photographierten und reproduzierten Christusköpfen oder Kreuzigungen von 1979 (zum Teil auf Aluplatten) erreichen die Glaubwürdigkeit und Betroffenheit der frühen Arbeiten. Sie gleichen oft mehr Dali-Haften Spiegelfechtereien. Im Katalog (20 Mark) sind alle Exponate abgebildet.

In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 25. Januar 1982.

Dämon im Reisfeld

Japanische Photographie in der CCD-Galerie

„Japanische Photographie“ von sechs zeitgenössischen Künstlern – diese Ausstellung wird gewiß auch manchen nicht professionell Interessierten in die CCD-Galerie (Hüttenstraße 47) locken. Daß Japan, der rasante Aufsteiger im Weltmarkt der Photoindustrie, auch künstlerisch manch Eigenes zu bieten hat, wird selbst in einer so begrenzten Ausstellung deutlich. Gegenüber den auch hier erkennbaren Übernahmen aus dem Westen ist es gerade das Bodenständige, der alten Tradition Entwachsene, was besonders beeindruckt.

Am reinsten bewahrt wird es – bei gleichzeitiger Angleichung an moderne, konstruktiv-abstrakte Strukturen und puristische Vereinfachung – von Takeji Iwaniya (geb. 1920), einem der Klassiker der japanischen Photographie, von dem es auch zahlreiche Buchveröffentlichungen gibt. Im Ausschnitt eines Tempel-Innenhofs mit Holzsäule und auf den Boden geworfene Gitterschatten, in der Strenge, strukturellen Feinheit und Präzision eines geschnitzten Dachrandes, eines verfugten Wanddetails ist typisch Japanisches bildhaft erfaßt.

Dinge werden zum abstrakten Zeichen, zum Symbol einer von Disziplin und Sensibilität bestimmten Geisteshaltung in Aufnahmen von Mattengefechten, einem Reisstrohbesen, von Kimono, Fächer und Eßstäbchen.

Auch in den Beauty-Photos-Farbaufnahmen japanischer Cover Girls des auch bei uns bekannten, durch viele Preise ausgezeichneten Mode- und Werbephotographen Hideki Fujii ist bei allem „Styling“ doch ganz konzentriert japanisches Wesen eingefangen. Die zarten Mädchen, oft im Kimono, mit den weißgepuderten, wie unter Masken des Geheimnisses verborgenen, fernöstlichen Mona-Lisa-Gesichtern, strahlen jene kultivierte Beseeltheit, gemischt mit einem Hauch von Melancholie, aus, die man in der kalten Sachlichkeit europäischer Mode- und Werbephotos vergeblich sucht.

In gefährliche Nähe des Süßlichen gerät allerdings Fernöstliches zuweilen in Shinya Fujiwaras farbig und stimmungsmäßig mit dem Morbiden spielenden „Traumkleidern, Traumakrobaten“: Aufnahmen zu seinem 1978 bei Parco erschienenen Buch „Yumet suzure“ zeigen photographische Poesien über selbstentworfene Kimonos, die sich zuweilen über halb entblößten Mädchenkörpern in Fäden auflösen und zerfasern.

Eikoh Hosoe, der sich seit über 20 Jahren mit der künstlerischen Photographie beschäftigt, interpretiert in seiner 1970 als Buch erschienenen Photo-Serie „Kamaitachi – eine extravagante Tragikomödie“ eine alte japanische Geschichte und verbindet sie mit Erinnerungen an seine eigene Kindheit, „als er die Geheimnisse des Lebens auf dem Lande entdeckte“. Auch heute spuken dort noch abergläubische Vorstellungen. Hier ist es der Dämon Kamaitachi, der einen vereinsamten Menschen zum Wahnsinn treibt. Manches von diesem Hintersinn, den der westliche Betrachter nur ahnen kann, wird da zwischen Realität – Reisfeldern, Bauern, Händlern, Tempel – und verborgenen Spannungen eingefangen.

Um die psychische Problematik von Homosexuellen geht es in der 1971 erschienenen Folge „Ordeal by Roses“, in der Hosue europäische Bildsymbole aus der Renaissance, etwa Botticellis „Geburt der Venus“, und des Barock effektvoll aufnimmt und im Labor übereinander kopiert. Die Photos sind dem Dichter Yukio Meshima gewidmet, der 1970 Selbstmord beging.

Die schon Anfang der sechziger Jahre entstandene, doch erst 1970 als Buch edierte Photoserie „Embrace“, raffinierte, einem perfekten ästhetischen Formalismus huldigende Kompositionen von Körperdetails, sind Beiträge zum Thema Sex, die in Japan einen Sturm der Entrüstung auslösten.

Ganz anders Shoji Ueda (geb. 1913), der älteste hier vertretene Photokünstler. Er ist zugleich Maler. Vor allem in seiner schon zwischen 1930 und 1940 geschaffenen Schwarz-Weiß-Serie „Sanddünen“ vermeint man jene Bezüge zwischen Figur und Raum wiederzuerkennen, wie sie für die Malerei des Magischen Realismus der zwanziger Jahre in Europa charakteristisch sind. Vereinzelt hat Ueda die Personen in diesen stillen Bildern inmitten von Sanddünen arrangiert – den Maler, Geiger, Spaziergänger, das spielende Kind, das kleine Mädchen neben der Blume: eine besinnliche Szenerie.

In den erst unlängst entstandenen Farbphotos „Brillant Scenes“, die mit Weichzeichnner nach ähnlichen Prinzipien komponiert sind, ist dieser überzeugende Eindruck eher verwässert.

In: Rheinische Post. Feuilleton, 18. März 1982

Deutsche Symbole

Jörg Immendorff in der Düsseldorfer Kunsthalle

Noch nie ist die Düsseldorfer Kunsthalle so total zum Bild-Raum-Panorama geworden wie jetzt in Jörg Immendorffs bisher größter deutscher Ausstellung, die ausschließlich seiner letzten, seit 1977 erarbeiteten Werkfolge „Café Deutschland/Adlerhälfte“ gewidmet ist. 19 großformatige Bilder im Format 282 x 400 cm, von denen die letzten fünf 1982 geschaffen wurden. Begleitet wird die Serie von Zeichnungen und Ölstudien sowie bemalten Plastiken in Lindenholz, darunter einige, in denen der in Düsseldorf lebende Künstler seine große Skulptur für die Kasseler „documenta“ – eine bronzene Version des Brandenburger Tors – vorbereitete. Sie ist letztlich der Kulminationspunkt von „Café Deutschland“, einem erregenden Zeitkommentar in Bildern über das deutsch-deutsche Verhältnis.

Diese Ausstellung ist ein Paukenschlag. Die lebhafte Resonanz, die sie im vollen Haus bei einem sichtlich überraschten, teils begeisterten, teils kritisch betroffenen Publikum fand, zeigte, daß da etwas angerührt wurde, auf das man wohl lange gewartet hatte. Nun, da sie da sind, fragt man sich angesichts der Bilder: Wie war es möglich, daß dieses gravierende, uns alle betreffende Zeitthema erst jetzt in der deutschen Kunst aufgegriffen wurde? Natürlich ist es in Einzelarbeiten immer wieder einmal behandelt worden. Doch erst jetzt scheint die Zeit wirklich dafür gekommen zu sein.

Was an den Bildern schon auf den ersten Blick fasziniert, ist die emotionale Kraft, die sie trägt und erfüllt, die auf den Beobachter überspringt und ihn fesselt, noch bevor er begreift, was hier im einzelnen dargestellt wird. Es ist diese Intensität der Hingabe, die mühelos riesige Bildformate und komplizierte, verschlüsselte Kompositionen mit dem Schwung der Empfindung und des spontanen Pinselstrichs zu Organismen und Räumen zusammenschmilzt.

Alles bleibt da überschaubar in den Details, ist greifbar real, zugleich malerisch und plastisch. Und doch ist es reine Vision, in der tatsächlich Erlebtes – persönlich und zeitgeschichtlich-politisch Relevantes – sich mischt mit Fiktiven oder sich wandelt in Bildsymbole und Gleichnisse. Das aber macht diese Bilder – und auch die Plastiken – so spannend, daß man sich von ihnen einfange lässt, begierig ist, sie zu lesen und zu entschlüsseln, um ihnen auf den Grund zu kommen.

Keine platte politische Agitation also, wie man sie von früheren Arbeiten Immendorffs (etwa in der Münsteraner Ausstellung von 1973) kannte, und von der man sich überfahren fühlte. Hier ist es gelungen, sehr komplexen, auch politisch wesentlich offenerer gewordenen Aussagen eine künstlerische Dimension zu geben. Und man sollte auch nicht von „schlechter Malerei“ sprechen (auch wenn einige kleinformatige Ölstudien zum Teil unterschiedlich in der Qualität sind): Ähnliches hat man schon den Expressionisten vorgeworfen. Der Anstoß zu dieser Folge und zugleich zu einem Wandel in der Konzeption seines Werks gab der italienische Maler Renato Guttuso, der 1976 auf der Bienale in Venedig Immendorffs Ausstellungsnachbar war, insbesondere Guttusos kurz danach kennengelerntes „Café Greco“. Darin wird dieser legendäre römische Künstlertreffpunkt zum Schauplatz imaginärer Situationen, die Künstler und Kunst betreffen.

Entscheidend für die Konzeption des „Café Deutschland“ war dann ein Treffen mit dem Maler A. R. Penck in Ost-Berlin. Die Freundschaft mit dem DDR-Künstler, der später in die Bundesrepublik übersiedelte, wurde ihm zum Symbol für die Probleme des deutsch-deutschen Verhältnisses, für die Teilung Deutschlands und ihre ersehnte Überwindung.

Immendorff, 1945 in Bleckede an der Elbe geboren, war mit dieser Spaltung von frühester Kindheit konfrontiert. An der Düsseldorfer Kunstakademie, wo er zuerst in der Bühnenbildklasse von Teo Otto, dann bei Beuys studierte, wuchs er in die Studenten-Protestbewegung der sechziger Jahre hinein. „Café Deutschland“ brachte dem bisherigen Hauptschullehrer, dem im Kunstmuseum Basel (1979), in der Kunsthalle Bern (1980) und zuletzt im Steldelijk Van Abbemuseum Eindhoven (1981) Einzelausstellungen gewidmet wurden, nun den entscheidenden Durchbruch.

„Café Deutschland“ ist der symbolische Aktionsraum, der zum Spannungsfeld der konfrontierten „Systeme“ diesseits und jenseits der Mauer und der in ihnen lebenden Menschen wird. Es ist eine fortlaufende Geschichte in Bildern, in die auch einzelne, politische Tagesereignisse chronologisch verflochten sind, die aber wiederum nur das Typische lebendig machen. Andererseits aber entrückt eine sehr persönliche Symbolsprache das Geschehen dem trivialen Wirklichkeitsabklatsch. Der Charakter dieser Bilder ist nicht illustrativ, sondern vehement erlebnishaft, schließt immer auch Wunsch und Hoffnung der Überwindung des Gespaltenen ein, vor allem durch die häufige Anwesenheit des durch Mauer und System getrennten Freundespaares Immendorff und Penck im Bild.

Das beginnt schon in der 1977 entstandenen ersten Szene „Grenze“, in der die beiden Freunde neben der Passkontrolle an einem durch die Mauer halbierten Ping-Pong-Tisch stehen (er existierte wirklich). Im Hintergrund vor der Fahne Leibesvisitation durch einen Vopo. Überdimensional neben dem als Hoffnungsvision winzigen Brandenburger Tor ein Mensch, der die Spitzhacke gegen die Mauer schwingt. In einer andere Komposition steckt Immendorff Penck, der visionär vor dem Tor erscheint, die Hand durch die Mauer entgegen. Zwei Totempfähle – mit eingeschnürten Menschen über der symbolischen „Systemzwinge“ (einem Schlagzeugbecken) auf der einen, einem Wachturm auf der anderen Seite – markieren die Grenzen der beiden deutschen Staaten.

Während uns in einem Bild von 1978 George Brecht von seinem Geburtstagstisch im „Café“ die brennende Kerze zur „Erleuchtung“ der Menschen in beiden Teilen Deutschlands zuwirft, tritt in den späteren Café-Szenen eine zunehmende Vereisung des Klimas, der Bilder ein. Der weiße Schneestern, auf den Blutstropfen fallen, auf dem die Säule der „Quadriga“ mit stürzenden schwarz-rot-goldenen Pferden wankt neben im Schnee steckenden Schlagstöcken und der kanonenbestückten „Systemzwinge“, wandelt sich in den „Schwarzen Stern“, auf dem alles zusammenstürzt. Übrig bleibt die von einem „Sammler“-Fuchs weggetragene Eisscholle, auf der nur noch Reflexe der „Café-Deutschland“-Vision erscheinen, bewacht von einem Grenzpfahl-Adler. Tabula rasa. „Was stellen wir rein?“, fragt Immendorff in der Skizze zu diesem End-Bild.

In: Rheinische Post. Feuilleton/ Wissenschaft und Bildung, 1. April 1982

Ich gehe langsam durch die Stadt (Februar)

Längst hat Lambertus es eingesehen – er ist ziemlich altmodisch. Altmodische Leute, das zeigt die Erfahrung, die nicht erst Lambertus’ Generation macht, wundern sich häufiger als jene, die jede neue Entwicklung hinnehmen und keinen Grund zum Wundern haben.
Lambertus wundert sich über manchen Neubau, der in der Innenstadt entstanden ist und nach des Bauherrn Willen Büros aufnehmen soll. Viele dieser Komfort-Büro-Etagen stehen ziemlich lange leer und ungenutzt. Der verwunderte Lambertus erfährt, das sei nicht so schlimm, schließlich handele es sich um Abschreibungsobjekte. Ach so.
Aber was ist mit den Erdgeschossen? Seit Soziologen festgestellt haben, daß Stadtteile, in denen nur Büros existieren, veröden, läßt der kluge Investor im Erdgeschoß Läden bauen. Klein und teuer und deshalb nur schwer zu vermieten oder zu verpachten.
Statt in aparte Boutiquen, freundliche Tante-Emma-Läden eintreten zu können, fühlt sich Lambertus alle paar Meter aufgefordert, in riesige, bunt belegte Brötchen zu beißen. Die heißen zwar nicht Brötchen sondern Baguettes, werden aber auch aus Mehl und Wasser gebacken. Oder eine amerikanische Speiseeiskette will ihm unbedingt bei Temperaturen unter Null ein Kompaktangebot von fünf verschiedenen Schokoladeeis-Sorten unter den Gaumen reden.
Nun scheinen Lambertus die Brötchen wie das Eis zum Fress-Stress der an Verödungssymptomen leidenden Büro-Angestellten zu gehören. Abendliche Belebung der Innenstadt hat er durch sie noch nicht feststellen können.

Lambertus
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Stadtpost, 26. Februar 1983

Dramen des Innern

Ölbilder von Cesar Klein in der Galerie Bläser

Wieder einmal stellt die Galerie Norbert Blaeser (Bilker Straße 5) einen Künstler vor, dessen überwiegend in der Zeit zwischen den Weltkriegen entstandenes Werk in der Abgeschiedenheit seines Ateliers nahezu dem Vergessen anheimgefallen ist: den 1876 in Hamburg geborenen, 1954 in Pansdorf bei Lübeck gestorbenen Maler Cesar Klein. Anregung zu dieser Retrospektive mit 20 Ölgemälden gab das im expressionistischen Stil gemalte Bild „Ruhe auf der Flucht“ (1918), das der Galerie-Inhaber im schleswig-holsteinischen Landesmuseum Schloß Gottorf entdeckte und das als Leihgabe auch in der jetzigen Verkaufsausstellung zu sehen ist.

Es entstand unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg in Berlin, als Cesar Klein dort zu den Mitbegründern der November-Gruppe gehörte. Der Künstler, der im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts an der Hamburger Kunstgewerbeschule, dann an den Kunstakademien in Düsseldorf und Berlin studiert hatte, war als freischaffender Maler 1903 aus Leipzig nach Berlin zurückgekehrt. Dort stellte er in der Sezession aus, war auch 1912 an der Kölner Sonderbund-Ausstellung beteiligt und gehörte 1914 zum Vorstand der Kölner Werkbund-Ausstellung.

1919 wurde Cesar Klein als Lehrer an die Berliner Akademie berufen und hatte in den folgenden Jahren unter anderem Einzelausstellungen in der Kestnergesellschaft Hannover und bei Gurlitt in Berlin. 1933 gehörte Klein zu den ersten, die die NSDAP vom Lehramt beurlaubte. Später zog er sich nach Pansdorf bei Lübeck zurück. Trotz seiner Nachkriegsausstellungen in den Kunsthallen von Hamburg, Kiel und anderen Großstädten sind Name und Werk von Cesar Klein noch wenig im Bewußtsein der Kunstfreunde präsent – unterlagen deshalb aber auch nicht kaum dem Verschleiß im Kunstbetrieb.

Die großformatige „Ruhe auf der Flucht“ in einer romantischen Gebirgs- und Flußlandschaft, deren Farben im letzten Tagesschein der Sonne rot und orange aufleuchten, während die Mondsichel über einem schon bläulich verschatteten Bergmassiv, über dem Zelt, dem davor sitzenden Josef, dem grasenden Esel, der im Zentrum des Bildes auf einem Hügel sitzenden zarten Madonna mit Kind aufgeht, ist bei aller Farbexpressivität eher still und verinnerlicht.

Solche introvertierte Empfindungsintensität, dabei nun eher subtil und klangvoll nuancierte, Seelisches reflektierende Farben, kennzeichnen auch die Bilder der zwanziger Jahre, mit ihren klar gegliederten und gegeneinander abgegrenzten, oft collagenhaft geschichteten Farbflächen mit kubistischem Einschlag. Die typisierend wiedergegebenen Figuren orientieren sich – im Stil der zwanziger Jahre – am klassischen Schönheitsideal.

Wir werden in diesen Gemälden Zeugen von Szenen, die mit innerer Dramatik aufgeladen sind. Sie scheinen aus dem Leben gegriffen und wirken doch inszeniert, als handele es sich um Theatergeschehen mit tragischem Hintergrund. Darauf deuten auch der in der Hand gehaltene Fächer, der unheimliche schwarze Schatten hinter einer „Frau mit Hündchen“ (1929) oder die volkstümlich-bäuerliche, wohl balkanesische Tracht der „Zwei Frauen mit Brief“ (1928): Weich fließende Linien, der Ausdruck von verhaltenem Schmerz und stillem Mitgefühl scheinen sie zu verbinden.

In den dreißiger Jahren hat sich der in Ungnade gefallene Künstler auf mythisch-symbolische Figurendarstellungen und Szenen zurückgezogen, die oft wie große beschwörende Zeichen reglos im Raum stehen, nicht selten vor kulissenartigen Prospekten oder Rahmen. Wieder wird man an Bühnenauftritte erinnert, die nun in eine fast kosmische Weite projiziert sind, auch an silhouettenhafte oder in Holz geschnitzte, farbig ornamentierte und strukturierte Figurinen.

Bezüge zum Kubismus, zur Pittura Metafisica, zu Henry Moore, auch zu den Zeichnungen von Archipenko und zu Picasso sind erkennbar in Bildern wie „Versuchung“ (1933), „Maternità“ (1945), „Botschaft der Taube“ (1947), „Eros“ (1947), „Lemuren“ (1949) oder „Sibylle“ (1953). Üppig barocke tänzerische Theatralik, Gestalten der Commedia dell’arte begegnen uns in dem schwungvollen „Tanz“ von 1951.

Man kann in diesen Gemälden die vielfältige künstlerische Tätigkeit Cesar Kleins auch auf den Gebieten von Bühnenbild, Wandmalerei, Glasfenster, Mosaik, Intarsien ahnen. Er schmückte viele öffentliche und private, profane und sakrale Gebäude und Räume aus. In diesen mit einer Ausnahme figürlichen Bildern verdichtet sich sehr stark der Geist des ersten Nachkriegs-Jahrzehnts mit seinem Erkunden unbekannter Seelengründe, seinem Hang zum Mythischen. Aber auch die Rückbindung an die frühen zwanziger Jahre wird in eigenwilliger Weise deutlich.

In: Rheinische Post. Stadtpost / Düsseldorfer Feuilleton, 19. März 1983.

Räume und Farben

Graubner-Schau im Düsseldorfer Kunstpalast

Man erlebt die Verwandlung einer nüchternen Halle in einen beseelten Raum. Gotthard Graubner setzte sich mit diesem Raum, seinen kalkweißen Wänden, seiner erdrückenden und zugleich alles verflüchtigenden Höhe und Weite auseinander, rang mit ihm „wie mit einer starken Persönlichkeit“, denn er sollte sich durch die Bilder „artikulieren“. Graubner hat seinen Widerstand bezwungen, seine Weite herabgestimmt, geradezu zusammengezogen um die Bilder. Sehr tief gehängt, im rhythmischen Wechsel von Gruppierungen, Formatgrößen, Zwischenräumen, Farbkontrasten vermitteln sie den Eindruck von Farbverwandlungen, Nähe zum Menschen, vom Glück der Begegnung. Es gelang, die Bilder in den Raum, den Raum in die Bilder zu integrieren. Umraum verliert sich im Farbraum, wird Wesensraum.

Wird beredte Stille, wortloser Dialog mit dem, der gekommen ist, sich auf Gotthard Graubners Meditationen in Farben einzustimmen, die der großen Halle, dem Kunstpalast im Düsseldorfer Ehrenhof, eine neue Seele einhauchen. Sie atmet in Farben die zugleich Raum, Stoff und Geist sind – oder Spur, die von einem zum anderen den Weg weist. „Nicht der Gongschlag ist das Entscheidende, sondern der Nachhall.“

Immer ist es das Dazwischen, das in diesen Farbflüssen, Farbräumen, imaginären Farbkörpern und –schichtungen, den sich tief ins schrundig Stoffliche eingrabenden, abstrakten Farblandschaften, artikuliert wird: die Spannung, das Vibrato, die Schwingungen, die den Ton, den Klang, die Bewegung und Modulation, die Intensität und Dichte, die Helligkeit und Dunkelheit, das leichte und Schwere, Warme und Kalte des Farbwesens bestimmen. Es ist schon erregend – visuell und imaginär den organischen Verschmelzungsprozeß der lasierenden Farben in den Bildern nachzuvollziehen, die sich an den Fließrändern oft schichtweise einzeln ausweisen, um dann zu einem Farbraumorganismus von wunderbarer Transparenz in immer neuen überraschenden Mischungen zueinander zu fließen, sich zu verdichten und wieder voneinander zu lösen.

Abgehoben von abbildhafter Bedeutung oder literarischen Inhalten, sind Graubners Farborganismen Gleichnisse von Schöpfungsvorgängen: ein Spiel sich harmonisierender Energien. Sie sind so auch Spiegel der Kräfte und ausstrahlenden Impulse der Natur und deren Entsprechung im menschlichen Wesen – nicht als rationale Analyse, sondern wie ein Atmen mit der Natur. Schon in frühen Zeichnungen aus den fünfziger Jahren hat Graubner an dem Motiv von Bäumen vor allem interessiert: Was bringt den Baum zum Wachsen?

Nicht als Stadt-, sondern als Landkind bezeichnet sich der 1930 in Erlbach (Vogtland) geborene Künstler, den Erlebnisse mit der Landschaft, mit Wolkenhimmel und Kornfeld früh geprägt haben. Später, an den Kunstakademien von Dresden und Düsseldorf, suchte und fand er seine „Ahnen“ in Turner, C. D. Friedrich, Rembrandt, Tizian, Velazquez, Goya, Rothko, Newman.

„Bei Tizian ergab sich eine Zusammengehörigkeit aller Farben, von denen jede einzelne nuancenreich belebt wird“, erwähnt Graubner. Durch die geschichteten Lasurfarben dringe „die Anschauung von Welt ... bis in den Kern des Wesens der Malerei“. Dabei zeige die Farbe, „was sie – nuancenreich und formbewegt dargestellt – über die Körperlichkeitsbezeichnung hinaus als Energie und geistige Macht“ vermöge. Farbe sei ihm Thema genug, sagt Graubner.

Nach seiner ersten Düsseldorfer Einzelausstellung in der Galerie Schmela 1960, den Ausstellungen im Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen (1969) und in der Kunsthalle (1977) bringt jetzt die Schau im Kunstpalast „Arbeiten auf Papier“ von Graubner. Mit 73 Exponaten umfaßt sie den Zeitraum von 1952 bis 1982, doch mit Schwerpunkt der Arbeiten aus dem letzten Jahrzehnt, darunter die seit 1972 entstandenen großformatigen „Fließblätter“. Einige davon sind in Verbindung mit seinen Ausstellungen in Venedig und New Delhi entstanden und erinnern in ihrer Arbatmosphäre an diese Orte: Tintoretto oder die Farbklänge Indiens, gemischt aus leuchtendem Rot, Orange, fahlem Violett und sandig-soinnigem fruchtigem Gelb, Ocker.

In den Fließblättern wird besonders deutlich, daß es in Graubners Werk keine Rangunterschiede zwischen Bildern und „Arbeiten auf Papier“ gibt, in denen der Künstler neben Bleistift, Aquarell, Gouache auch häufig Öl- und in jüngster Zeit auch Acrylfarbe verwendet. Nicht selten sind sie auf Keilrahmen aufgezogen. Auch im Format erreichen sie große Diemensionen. In dem von Coco Ronkholz in Verbindung mit Graubner gestalteten Katalog werden diese Arbeiten auf Papier überdies lückenlos vorgestellt; von den frühen Baum- und Aktzeichnungen, den aquarellierten „Zeichen“, den „Schwammgouachen“ über die Farbkörper, Kissenbilder, „Trampoline“ bis zu den Frottagen und Fließblättern. Auch die differenzierte Materialauswahl, seine Tonigkeit und Struktur scheinen immer von der Farbe inspiriert zu sein. Welche ein Weg von den frühen kleinen, im lichten Farbraum schwebenden Aquarell-Zeichen, einem flaumig-duftigen, rosigen „Nabel“-Bild bis zu den späten Diptychen und Triptychen mit ihren von Bild zu Bild überspringenden Farbmodulationen, -bewegungen, -metamorphosen, -kontrasten. „Fließblätter“ sind dramatische, von tiefen Furchen verletzte Seelenlandschaften, Furchen des Materials, die ins Fleisch gehen bis aufs Mark, schwer von ausblutenden, von Schwarz verletzten, leuchtenden Farbflüssen. Es ist Graubners heftige, sich in Farbenergie verdichtende Reaktion auf die Gegenwart. „ich mußte ein Leben lang auskommen mit diesen Kräften“, sagte Graubner.

In: Rheinische Post. Feuilleton / Wissenschaft und Bildung, 22. März 1983.

Das Kopfnicken der Katastrophe

Hanns Dieter Hüsch mit neuem Programm in der Freizeitstätte Garath

Ein Waldschrat, ein Gartenzwerg mit Teufelsblick, ein großer Moralist und ringelnatzischer Lyriker – Hanns Dieter Hüsch, seit Jahrzehnten Einzelkämpfer auf Kabarettbrettern, hat sein Publikum in der Freizeitstätte Garath seit langem; es schrickt zusammen, wenn er donnert, es lauscht atemlos bei jedem Pianissimo des Vortrags und es weiß, wann noch so heiß empfundenes Mitgefühl sich nicht in Applaus entladen darf. Es hat damit manchem Konzertpublikum in der Tonhalle etwas an Bildung voraus.

Hanns Dieter Hüsch hat „Ein neues Programm“. Wieder mit Gesang und Orgel. Der Spiegel, den er vorhält, nicht nur den anderen, der besteht aus unserem Alltagsreden und flach-flotten Modefloskeln. Beim Hineinschauen trifft’s einen: „Oh Schreck, das bist ja du.“ Zum Beispiel: „Was ich schon an Geld ausgegeben habe, um meine trockene Haut zu pflegen, darf ich eigentlich niemandem erzählen.“

Zum Nachdenken: „Wir sind ja auch das Land, in dem immer was gemacht wird. Egal wie, egal wo, egal wann. Ich kenne kein anderes Land, in dem immer alle so viel und so viel Neues und so viel Anderes machen wie bei uns.“

Hüsch scheut sich nicht, von früher zu erzählen. Sein Erinnern an Kindheit, Kindermädchen in sparsam bürgerlicher Umgebung, an die kleinen, reichen Freuden beim Füttern der Schwäne, an Wohnküche mit Sofa, an Klo auf dem Treppenabsatz lassen die jungen Leute, die doch angeblich den alten Quatsch nicht mehr hören können, bereitwillig ins Bewusstsein dringen. Man muss andererseits nicht Grüner sein, um über das da nachzudenken: „’Wo gebaut wird, muss man Bäume pflanzen’, sagt ein türkisches Sprichwort, Le Corbusier bemerkt dazu: ‚Bei uns entfernt man sie.’“

Hüsch findet Worte für unsere Ängste und Ahnungen: „Die Welt hat kein Dach über dem Kopf. Wir sitzen unter Stehlampen und warten auf das Kopfnicken der Katastrophe.“ Er ruft uns zur Tapferkeit auf: „Wenn die Krieger kommen, geh ihnen entgegen mit offenen Händen voll Brot und Salz, Wein und Obst, dass sie sich verlaufen im Knüppelholz deiner Tugenden, dass sie sich verirren im Labyrinth deiner Freundlichkeit.“ Doch was, Hanns Dieter Hüsch, hilft alle Tapferkeit, wenn die „Krieger“ Raketen sind, die weder Wein noch Freundlichkeit von der Bahn ablenken können?

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 23. März 1983

Bedrückende Phantastik

Kunst von Geisteskranken in der Galerie Heike Curtze

In seinem 1938 erschienenen Buch „Kunst und Rasse“ verglich der Maler, Architekt, Schriftsteller und Direktor der Weimarer Kunsthochschule Paul Schultze-Naumburg Bilder von Nolde, Modigliani, Picasso, Kirchner mit Photographien kranker, mißgestalteter Menschen und argumentierte, daß diese Künstler ihre Vorbilder „in Idiotengestalten, psychiatrischen Kliniken, Krüppelheimen“ gefunden hätten. Sie gehörten zu denen, deren als „entartete Kunst“ verfemte Werke im gleichen Jahr zu Tausenden aus den deutschen Museen entfernt oder zerstört wurden.

Der ehemalige Anstreicher Adolf Hitler hatte den Künstlern „grauenhafte Sehstörungen“ bescheinigt oder ihnen bewußten Betrug unterstellt, der mit Bestrafung oder Sterilisation geahndet werden müsse. Dies bekräftigte 1939 der Ordinarius an der Heidelberger Psychiatrischen Universitätsklinik Carl Schneider, indem er feststellte, daß die „entartete Kunst“ der Irrenkunst außerordentlich nahe stehe.

Diese Einstellung markiert den total gegensätzlichen Standpunkt zu dem in die Zukunft weisenden, 1922 erschienenen Buch von Hans Prinzhorn „Bildnerei der Geisteskranken“, in dem der Verfasser – damals Assistent am gleichen Heidelberger Institut – seine dort angelegte Sammlung künstlerischer Arbeiten von Geisteskranken therapeutisch auswertete. Fast gleichzeitig hatte der Schweizer Arzt Walter Morgenthaler das künstlerische und schriftstellerische Werk des schizophrenen Bauernknechtes Adolf Wölfli in der Anstalt Waldau bei Bern bekannt gemacht („Ein Geisteskranker als Künstler“, 1921).

An diese positive, therapeutisch hilfreiche Beurteilung der Kunst von Geisteskranken, deren künstlerisch-schöpferische Qualitäten vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg immer differenzierter erforscht, gefördert und herausgestellt wurden, knüpft auch Leo Navratil an. In der von ihm geleiteten psychiatrischen Abteilung des Niederösterreichischen Landeskrankenhauses für Psychiatrie und Neurologie Klosterneuburg hat er geduldig die Kranken zu der für sie so lebenswichtigen schöpferischen Arbeit ermuntert, die ihnen hilft, ihr Ich freizulegen. Zahlreiche Publikationen reflektieren sein Wirken, darunter „Schizophrenie und Kunst“ (schon 1965). Seit 1970 veranstaltet er vielbeachtete Ausstellungen künstlerischer Arbeiten der Patienten aus der Klinik in Galerien, Museen, auch im Krankenhaus selbst, übrigens mit großem Verkaufserfolg.

Zeichnungen von zwölf dieser psychiatrischen Patienten aus Gugging sind jetzt in einer Ausstellung „Zustandsgebundene Kunst“ in der Düsseldorfer Galerie Heike Curtze zu sehen. „Zustandsgebunden“ sind sie eben, weil man sie trotz ihrer immer wieder frappierenden künstlerischen Expressivität und erstaunlichen individuellen Eigenart nicht mit Arbeiten gesunder, unter „normalen“ Verhältnissen lebender Künstler vergleichen kann.

Am bekanntesten ist inzwischen Johann Hauser (geb. 1926 im slowakischen Bratislava), der seit 1949 in der Anstalt lebt und um 1960 zu zeichnen begann. Die meisten seiner in Erinnerung an Wirklichkeitseindrücke sehr sicher und eigenwillig vereinfachend umgeformten Zeichnungen entstehen in den manischen Phasen seiner Krankheit. Dann sind sie bunt, raumausgreifend, impulsiv, wie etwa ein Porträtkopf, der sich spiralig-wirbelig über den Rand ausdehnt. In den depressiven Phasen zeichnet er dann so einprägsame, sparsame, ernste, streng komponierte Blätter wie einen langen schwarzen abstrahierten Fisch, der vertikal über der Signatur mit pilzartiger Umrandung schwebt. Hauser erreicht nicht selten eine geradezu monumentale Surrealität, so auch in einem traurigen gelben Engel mit blauem Stern auf dem Kopf.

So verschlossen, introvertiert und kontaktlos zur Außenwelt wie der seit 1955 hospitalisierte Bauernsohn Frank Kernbeis sind auch seine sensiblen Blei- und Buntstiftzeichnungen: ein geflügeltes Tier ohne Augen und Gesicht oder eine kaktusartige Pflanze und sehr lyrisch-zarte, rhythmisch empfundene, abstrahierte Blumen. Eigenartige fragile Gitterarchitekturen, eine abstrahierte Katze, einen Menschenkopf in Rot und Violett, der zu einem als rote Gitterkonstruktion gebildeten Körper gehört, zeichnete Fritz Koller (geb. 1929), Sohn eines Landwirts, der seit seinem 22. Lebensjahr in der Klinik lebt: Menschliches, verstrickt in zwanghafte Geometrie.

Bei Oswald Tschirtner, der das Abitur mit Auszeichnung bestand und gern Priester geworden wäre, brach die Krankheit offenbar während des Kriegsdienstes und der Gefangenschaft aus. Er fühlt sich als Todgeweihter, der um Christi willen Leid tragen muß. Langgezogen, zart, fast zärtlich sind seine Tuschfederzeichnungen von Menschen, die in streifige Räume eingespannt sind. Ohne Körper stehen zwei schmale, lange Kamelhälse oder eine menschliche Kopfgestalt auf ihren Beinen. Eine Frauenhalbfigur hält ein Lämmchen oder eine Katze liebevoll im Arm, eine „Flucht nach Äypten“ entstand in abstrahierender, sensibler Deformierung nach einer Vorlage.

Die neueste Entdeckung ist J. F. (Johann Fischer), dessen höchst merkwürdige silhouettenhafte Tiere – Hühner und Hahn, ein Elefant ohne Kopf – sich dem Gedächtnis einprägen. Ganz präzise, fein gezeichnete Hausfassaden im Blumengarten mit einem jungen Liebespaar auf der Bank davor und einem Vogelschwarm zeichnete Otto Prinz, der in den letzten Jahren nur von drei Päckchen Zigaretten und einer Flasche Cola am Tag lebte und kürzlich starb. Auch er war als Soldat während des Ersten Weltkriegs erkrankt.

Johann Korbec verbindet seine illustrativen Aquarellzeichnungen dekorativ mit integrierten handgeschriebenen Texten. Anton Dobay reflektiert sein Ich in einer dunklen, schwarz-grün-violett gestrichelten abstrakten Raumvibration. Auch Johann Garber füllt die ganze Bildfläche mit seinen gezeichneten Erzählungen: phantastischen Tieren, Drachen, Hasenköpfen, fliegenden Erzengeln, Zwiebelturm-Kirchen, Frauen am Fenster.

In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 7. April 1983.

Altern – ein bohrender Abschiedsschmerz

Arno Schmidts nachgelassener Roman „Julia, oder die Gemälde“ - Tippfehler oder Verschreiber aus Absicht?

Prinzessin Julia tritt aus einem Gemälde im großen Saal des Bückeburger Schlosses. Sie, ein Nymphchen, eine Lolita, tritt damit in das Leben, wird Ziel sehnsüchtiger Gedanken und Gefühle eines 65jährigen Schriftstellers namens Leonhard Ihering, könnte auch heißen: Arno Schmidt.

„Julia, oder die Gemälde“ ist der Titel des nachgelassenen, unvollendeten Werkes von Arno Schmidt, der Anfang Juni 1979 im Alter von 66 Jahren gestorben ist. Die Arno Schmidt Stiftung hat das Werk im Haffmans Verlag veröffentlicht (100 Seiten, Personenverzeichnis, Planskizze, DM 130,-, Vertrieb über 2001-Versand) im Großformat als unkorrigiertes Schreibmaschinenmanuskript, wie Schmidt es über 100 DIN-A-3 Seiten hinterlassen hat. Also auch mit Fehlern, die dem Leser das zusätzliche Vergnügen verschaffen, herauszurätseln, ob ein beabsichtigter Verschreiber des Autors vorliegt, der dieses Vexiermittel liebt, oder ob er tatsächlich unbeabsichtigt danebengetippt hat. Unbeabsichtigt gewiß auf Seite 74, wo zweimal ein „daß“ als „das“ getippt steht – Genugtuung für einen Redakteur, dem im Zeitalter der neuen Technik (der Journalist als sein eigener Setzer und Korrektor) ein solcher Vertipper sofort als mangelnde Kenntnis in der Orthographie angelastet wird.

Kaum erschienen, hat das Buch höchst widersprüchliche Urteile ausgelöst, ganz abgesehen vom Streit über die Herausgaberechte zwischen Haffmans Verlag und dem Verlag S. Fischer, in dem die meisten Schmidt-Werke, vor allem die Taschenbücher, herausgekommen sind.

Die einen sind enttäuscht vom immer bitterer und besserwisserischer werdenden Ton des Schriftstellers, von seiner Neigung zu einer Art Alters-Lüsternheit. Andere zollen dem immer noch verblüffenden Universalgeist, dem „Gehirntier“, vorsichtige Hochachtung. Viele sind verwundert, in Arno Schmidt, dem Mann der Mathematik, der pedantischen Genauigkeit, der Detailbesessenheit, einen Romantiker zu entdecken, einen, der nicht nur seinem Hang zu gefürchteter Ironie freien Lauf läßt, wie sie den Romantikern eigen ist, sondern einer, der auch nach romantischer Art ein bißchen spinnt(isiert).

Doch erstaunen kann das nur jene, die Arno Schmidt „gekettet an Daten und Namen“ sahen, wie der Titel eines literaturwissenschaftlichen Werkes über ihn lautet. Wer ihn vorbehaltlos gelesen hat, geriet immer schon ins Jubeln über eine bis ins Weltall blühende Phantasie, die etwa aus „KAFF, auch Mare Crisium“ mehr machte als einen beim Eintritt ins Raumfahrtzeitalter genau berechneten kritischen Roman. Und wer die dankenswerterweise vom 2001-Verlag herausgegebenen, von Arno Schmidt entdeckten „Haidnischen Alterthümer“ gelesen hat, dem mußte sich Schmidt als gar nicht einmal „heimlicher“ Romantiker offenbaren. Die literarische Romantik als Nährboden der Science Fiction, auch das ist eine Entdeckung Arno Schmidts (Ludwig Tieck: „Die Vogelscheuche“, Johann Karl Wezel: „Belphegor“).

Er macht es anfangs mit „Julia“ seinen Lesern nicht leicht. Tatsächlich ist er, der immer seine Stacheln gegen zuviel Öffentlichkeit gesträubt hat, zuletzt gallenbitter in seiner Bargfelder Abgeschiedenheit geworden. Und wo man beim Lesen lachen möchte, wird ein sarkastisches Krächzen draus. Das nicht ohne Selbstgefallen ausgebreitete enzyklopädische Wissen, das auch Entlegenstes umfaßt, läßt den normal Wissenden zurückschrecken vor dem Schmidt-Berg. Und wie schafft er es, zum Donnerwetter, in seinen Büchern immer wieder eine menschliche Gesellschaft aufzutreiben, die seinem Wissen halbwegs gewachsen ist, selbst wenn es sich im Gruppenbild der weniger handelnden als redenden Personen um die Rollenträger des alltäglichen Mittelmaßes handelt?

Doch plötzlich, nach Abwehr, nach Verärgerung über scheinbare Menschen- und Zukunftsverachtung, wirkt der alte Schmidt-Zauber, wird der Leser in den Sog eines Denk- und Fühlprozesses gezogen, der ihn nicht mehr losläßt. Er entwirrt immer leichter das kunstvolle Gespinst aus Realität und Überwirklichkeit, platter Sex entwickelt sich zu wehmütiger Erotik, immer wieder schimmert für den, der gerade am Anfang des Alters steht, die Erkenntnis durch, daß Altern wohl wirklich ein bohrender Abschiedsschmerz ist, mit dem Arno Schmidt bewußt gekämpft hat, wohl wissend, daß jeder in diesem Kampf unterliegen muß.

Deshalb haben gewiß jene nicht Recht, die ihm vorwerfen, in „Julia“ mehr als in allen früheren Büchern das Ende der Menschheit, zumindest ihrer Kultur, akzeptiert zu haben.

Gewiß, da gibt es Sätze wie „Gott iss nischt heilig“, oder „Nichts kann man machen – gar nichts“. Aber dagegen steht ein ganz selbstverständliches Denken in die Zukunft in 1000 Jahren. Ihering-Schmidt: „Gewiß; nach dem Tode eines Schriftstellers entstehen zunächst immer erst einmal Leer-Stellen, blinde Flecke, die langsam nachrücken, manchmal auch nicht – wann wird man wohl erkennen, daß SCHILLING einer der größten deutschen Humoristen gewesen ist und gleichzeitig voll unschätzbarster Zeitbilder: in tausend Jahren wird man ihn brauchen wie LUKIAN!“

Oder wie endzeitlich ist der Satz auf Seite 88: „Es ist so gut wie alles noch zu leisten?“ So schreibt keiner, der wirklich das Ende für gekommen hält. Wer das behauptet, auf den trifft auch ein Zitat aus „Julia“ zu, er ist nämlich „altklug, ohne klug gewesen zu sein“.

Bei allem Abschiedskampf ist es also doch der alte Arno Schmidt, der Mann, der das Radioprogramm so gut kennt wie seinen geliebten Cooper und alle Fehler in der zuverlässigsten Logarithmen-Tafel. Der Mann, der nicht nur einen sitzengebliebenen Primaner zu einem Mathematikbesessenen macht, sondern auch seine Leser dazu treibt, nach über 30 Jahren die Raum- und Zahlenlehre der Oberprima (heute Sekundarstufe II) nebst Logarithmentafel wieder in die Hand zu nehmen und die arg zerfledderte Qual von damals mit neuen Augen zu betrachten.

Dann der Beimwortnehmer Schmidt. Wie hüpft der sprungbereite Geist bei der Schöpfung „Mekka-Liese“ oder dem „Millionarren“. Gar nichts Besonderes ist das, aber erst, wenn’s einer erfunden hat.

Jene Kritiker, für die das Einsortieren in Kästchen das Wichtigste ist und die Arno Schmidt gern ins linke Kästchen sortierten, kriegen auch gleich noch einen Satz vorgesetzt, der nicht ins Kästchen paßt: „Mit diesem Mangel an Nuancen wirkt ihr grauenhaft.“ Gemeint ist die Deutsche Demokratische Republik, aber anziehen kann sich’s, wer mag.

All das, Weltschau und Weisheit, Resignation und Rückschau, sind verpackt in eine vordergründig einfache Geschichte. Ein paar Leute, Weltkind Ihering in der Mitten, finden sich zufällig in einem kleinen Hotel in einem Ort, der „eine Art Bückeburg“ ist, im Sommer 1979, zur Ferienzeit. Zu den real existierenden Personen kommen die zum Leben erweckten Schloßbewohner, Julia vor allem, aber auch der belesene Kastellan, der eigentlich eine Durchlaucht ist, dann die Traumgestalt „1001“ mit ihrem Väterchen, dem Bootsführer auf dem Steinhuder Meer.

Verpackt aber auch in ein Schreibmaschinen-Skript, das in sich selbst Rätsel aufgibt. Wie macht der das? So fragt sich der Schreibmaschinen-Malträtierer, der Mühe genug hat, ein einigermaßen lesbares Maschinen-Skript vorzulegen. Langzeilen eng, Langzeilen mit Zwischenräumen. Kurzzeilen als Pakete rechts und links eingefügt, noch kurzzeiligere dazwischen. Die Ebenen des Denkens und Handelns, des Redens und Schilderns schieben sich übereinander, ineinander, jede Seite zeigt eine äußerst vielseitige Kameraführung, die alles gegenwärtig macht, ohne den Leser von eigener Mit-Arbeit zu befreien. Freilich: „Die Leute weigern sich einfach, aus irgend etwas eine Lehre zu ziehen.“

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post am Wochenende. Geist und Leben, 9. April 1983

Ein Mann der verborgenen Güte

Zur Ausstellung Gerhard Kadow in der Kunsthalle

Es hat dem Maler Gerhard Kadow (1909-1981) gewiß nicht an äußerer Anerkennung gefehlt. Schon daß er als Schüler von Klee und Kandinsky fünf Jahre dem Bauhaus zugehörte und mit dem Ehepaar Kandinsky weiterhin freundschaftlich verbunden blieb, ist als Auszeichnung zu verstehen. Von 1938 bis 1949, durch drei Jahre Kriegsdienst unterbrochen, war er Lehrer an der Textilingenieurschule Krefeld – Fluchtburg für einen jungen Künstler, der zwar am Bauhaus sein Diplom als Handweber erworben, aber auch „entartete“ Bilder gemalt hatte. Die Malerei wurde erst nach dem Kriege wieder aufgenommen. Von 1950 bis 1967 lehrte er an der Werkkunstschule Krefeld (1961 Professorentitel), von 1968 bis 1974 an den Kölner Werkschulen. In späteren Jahren erhielt er Aufträge für Glasfenster und Wandmalerei. 1978 war er Ehrengast der Deutschen Akademie Villa Massimo in Rom.

Also durchaus kein „verkannter“ Künstler. Er selbst war es, dem es fast mit List gelang, sich der Öffentlichkeit zu entziehen und seine private Existenz zu verteidigen, so sehr, daß sein Name in weiteren Kreisen nahezu unbekannt blieb. Er hatte treue Freunde, und seine Schüler verehrten den etwas wunderlichen Mann der verborgenen Güte. Sein kleines Krefelder Reihenhaus, angefüllt mit kostbaren Dingen, die behutsam aufeinander abgestimmt waren, wurde zum eigentlichen Rahmen dieses Lebens, der ihn nach dem Tode seiner Frau (1979), der Textilkünstlerin Elisabeth Kadow, vollends umschlossen hielt.

Universale Bildung

Gerhard Kadow, des Schreibens durchaus kundig, hat sich mehrfach über sich selbst geäußert. Da stößt man erstaunlich oft auf die Worte „Einheit“ und „Ganzheit“, Begriffe, die vom Bauhaus-Denken nicht ganz fern sind. Sie bestimmten bis zuletzt sein Tun. Da gab es die Einheit von Technik und Kunst; der Träumer und Geschichtenerzähler fühlte sich immer zugleich als „Diener der Technik“. Vom „Gesetz“ ist die Rede, das unbedingt eingehalten werden müsse; es trifft im Verlauf der Arbeit zusammen mit dem Gefühl, er erlaubt Freiheit, „ja Freiheit“, woraus dann das „Ganze“ entsteht.

Kadow blieb den in Dessau erlernten textilen Künsten zeitlebens treu; er hat gewebt und gestickt, er hat bis zuletzt eigenhändig geklöppelt. Er besaß eine nahezu universale Bildung, die auch Musik und Dichtung einschloß. Seine kunstgeschichtlichen Vorlesungen an der Krefelder Schule waren eine kleine Sensation, denn sie wichen beträchtlich ab von der gängigen Kunstgeschichte und rückten Gestalten und Epochen ins Blickfeld, die damals, in den fünfziger Jahren, kaum einer auszusprechen wagte: Jugendstil, Max Klinger, Gustave Moreau. Er schwärmte für Wagner. Zum vollen Zusammenklang seiner vielen Neigungen aber kam es in seinen Bildern.

In Zusammenarbeit mit dem Clemens-Sels-Museum Neuss (Dr. Irmgard Feldhaus) hat nun die Düsseldorfer Kunsthalle unter Jürgen Harten die lange fällige Kadow-Ausstellung inszeniert. Die Veranstalter wurden unterstützt von Gabriele Uerscheln, die eine Dissertation über den Maler vorbereitet. Die Ausstellung, von einem vorzüglichen Katalog begleitet (15 Mark), enthält 69 Gemälde und Handzeichnungen, dazu einige Stickereien und Spitzen sowie Entwürfe für Fenster und Wandmalereien.

Altarmäßiger Aufbau

Der erste Eindruck ist der, etwas ungemein Kostbarem zu begegnen. Die Bilder, Hinterglas und Öl auf Holzfaserplatte, sind kleinen Formates; ins Auge fallen die schönen, alten Rahmen, denen Kadow allenthalben nachspürte und die ihm auch von Freunden zugetragen wurden. Manches Bild soll er für einen bestimmten Rahmen gemalt haben. Jedes Bild ist sorgsam, fast miniaturhaft fein ausgeführt, ist eine kleine Welt für sich. Und doch ergeben alle zusammengenommen – da ist wieder die Kadowsche „Einheit“ – einen edlen schimmernden Fries. Freilich verlangen sie vom Betrachter die unzeitgemäße Tugend des genauen, besinnlichen Schauens.

Kadow hat seine Zugehörigkeit zum Bauhaus geradezu hartnäckig behauptet. Sicherlich ist die starke Wirkung Klees auf den Zwanzigjährigen unverkennbar. Sie findet ihren Nachhall auch in den Bildtiteln, die für Kadow, den engagierten Wortfinder, eine wichtige Rolle spielten. Im „Zwiebeltheater“ sind wir noch nahe an Kleeschen Formulierungen; später rückte er ab vom bewunderten Vorbild. Doch sollte man geistige Abhängigkeiten nicht allzu hochspielen und eher als Prägung durch Ältere verstehen. „Wir haben doch alle unsere Väter“, sagte Picasso.

Der Weg des Bauhauses führte von Feiningers „Kathedrale“ zum Funktionalismus, Kadow gelangte von Gebilden der schweifenden Phantasie zu solchen der gebändigten Form. Anfangs schwimmende, fast Arp’sche Figurationen, in Nebel oder hinter schwankenden Gittern, zunehmend dann bildnerische Ordnung und fast altarmäßiger Aufbau. Das alte Gesetz von Kette und Schuß macht sich nochmals bemerkbar.

Einige hundert Besucher waren zur Eröffnung der Ausstellung in die Kunsthalle gekommen. Beweis genug, wie Kadow, der vermeintlich unbekannte, seine heimliche Gemeinde längst besitzt.

In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 19. April 1983.

Ich gehe langsam durch die Stadt (Oktober)

Es muß wohl mit dem gesteigerten Interesse an Stadt- und Heimatgeschichte, mit der Begeisterung für Hausrat aus alter Zeit, kurzum, mit der seit Jahren unvermindert anbrandenden Nostalgie-Welle zu tun haben, daß die Düsseldorfer ihre Stadt entdecken.
Erntete man früher auf die Frage nach der oder jener Kirche, dem oder jenem besichtigungswerten Haus oder Platz meist Schulterzucken, erhielt höchstens auf die Frage nach dem nächsten Altbierausschank erschöpfende Auskunft, so hat sich das inzwischen geändert.
Gut, die Lokale mit dem leckeren Dröpken sind auch noch heute bekannt. Lambertus aber hört häufig auf den Straßen, in der Straßenbahn noch andere Töne. Da erklärt jemand seinem Besuch von auswärts: „Und hier findet ihr Kultur auf jedem Schritt: Opernhaus, Kunsthalle, die neue Landesgalerie. Auch die Andreaskirche ist sehr schön.“ Am Karlplatz schwenkt ein wackerer Düsseldorfer den rechten Zeigearm, um seinem Gast die Maxkirche und Düsseldorfs Antiquitätenviertel auszudeuten. Am Musikpavillon vor dem Carsch-Haus lacht Lambertus’ Journalistenherz, wenn er den Gesprächen der Passanten anhört, daß sie seine Berichte gelesen haben.
Lambertus freut sich, daß die Stadt bei ihren Bewohnern ankommt. Wenn er aber durch die feingemachten Altstadtstraßen mit den hunderten Pollern Marke Gaslaterne und dem in Müsterchen gelegten Pflaster geht, fragt er sich, ob das noch seine Stadt ist. So fein wie heute war die Altstadt noch nie.

Lambertus
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Stadtpost, 27. Oktober 1984

Ich gehe langsam durch die Stadt (Oktober)

20. Oktober 1984

Ein Glück, Lambertus hat seine Kastanien schon in der Tasche. Zwar plagt ihn noch nicht das Zipperlein, gegen das die Roßkastanien in der Hosentasche ja Wunder wirken sollen, aber der Anblick der glänzenden, schön gefleckten braunen Früchte, das wohlige Gefühl, sie in der Hand liegen zu haben, gehören für Lambertus zum Herbst. Nicht nur mit Kopfschütteln, mit Erschrecken hat Lambertus jetzt erfahren, daß es gelungen ist, Roßkastanienbäume ohne Kastanien zu züchten. Sie grünen zwar, sie blühen zwar, aber vermehren können sie sich nicht, können folglich im Herbst nicht mehr die grünen Stachelbälle zur Erde plumpsen lassen, aus denen beim Aufprall die dicken brauen Samen quellen.
Schlimmer als die impotente Kastanienart aber klingt für Lambertus, daß in Krefeld diese Kastanien nun „aus Versicherungsgründen“ angepflanzt werden sollen. Hat wirklich schon mal jemand eine Beule von einer fallenden Kastanie bekommen? Doch allenfalls von einem Knüppel, den Jungen in die Baumkronen werfen, damit mehr Früchte herunterfallen. Lambertus ohne Roßkastanien in der Hosentasche? Das Forstamt ohne die für die Winterfütterung im Wildpark gelagerten Kastanienberge? In Düsseldorf werden solche „Versicherungsgründe“ nicht greifen, hofft...

Lambertus
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Stadtpost, 20. Oktober 1984

Ich gehe langsam durch die Stadt (Dezember)

Der Knabe auf dem Fahrrad, der sich zwischen den Sonntagsspaziergängern auf dem Niederkasseler Deich durchschlängelte, war seines Zweirads noch nicht ganz sicher. Er schwankte, kippte seitlich in eine Ackerfurche, stieß dabei mit Lenker und Pedal ein paar Fußgänger an. Sie klopften Erde von den Mänteln und lächelten. Auch der Knabe lächelte ein wenig verlegen, packte sein Rad und führte es ein paar Schritte, ehe er wieder aufstieg.
Es war ein japanischer Junge. Aber das ist bei uns in Düsseldorf, ist zumal im linksrheinischen Düsseldorf kein ungewohnter Anblick. Lambertus staunte vielmehr über die Spaziergänger, die, ohne zu schimpfen und zu meckern, über das Mißgeschick hinweggingen. Lambertus ertappte sich bei der Überlegung, was er wohl zu hören bekommen hätte, wenn es sich bei dem unsicheren jungen Radfahrer um – na, sagen wir mal um einen kleinen Düsseldorfer oder gar um einen kleinen türkischen oder griechischen Jungen gehandelt hätte.
Die Überlegung, meint Lambertus, ist erlaubt. Denn es ist schon bewerkenswert, wie unterschiedlich wir reagieren. Lambertus will sich da nicht ausnehmen. Unsere japanischen Mitbürger, die Kinder vor allem, bekommen eine gehörige Sympathievorgabe. Sie wirken nicht so sehr exotisch als vielmehr freundlich, diszipliniert, ruhig. Ein kleines Mißgeschick löst da kaum Unmut aus.
Wäre es ein deutscher Junge gewesen, der Bengel wäre gehörig ausgeschimpft worden. Jedenfalls wäre hinter ihm her geschimpft worden: „Wieder einer von diesen Burschen, die keine Rücksicht kennen, keine Achtung vor Erwachsenen haben, sich alles herausnehmen . . .“ Kennen wir’s nicht alle, was da so auf die Kinder von heute gehäuft wird? Und bei „diesen Gastarbeiterkindern“, da hört doch schlichtweg alles auf, die sind ja – da fehlen einem die Worte. Was wohl das Schlimmste an Mißachtung ist, was wir zu bieten haben.
Die Konsequenz? Lambertus meint, daß Sympathievorgabe allen Kindern gehört. Auch den Rüpeln? Schimpfende Erwachsene sind für sie kein anfeuerndes Beispiel. Diesen nicht nur weihnachtlichen Gedanken gibt zu bedenken

Lambertus
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Stadtpost, 23. Dezember 1984

Huldigung für Hulda Pankok

Die Mitstreiterin Otto Pankoks wurde 90 Jahre alt

Als Hulda Pankok zur Feier ihres 90. Geburtstages im Düsseldorfer Stadtmuseum ans Rednerpult trat, wurde es mäuschenstill im großen Saal. Auch die Neunzigjährige hatte nichts von der kaum zu definierenden Ausstrahlung ihrer Persönlichkeit verloren. Die kleinen Episoden, die sie zwanglos aus ihrem Leben an der Seite ihres Mannes Otto Pankok erzählte, das ohne Bruch doch zugleich auch ganz ihr eigenes war, sind Hinweise auf eine Gemeinsamkeit im Geist und Schaffen, bei der Geben und Nehmen sich auf den Waagschalen austauschten. „Ich habe nicht in seinem Schatten, sondern in seinem Licht gestanden“ – wer das sagt als Frau, muß sehr stark sein, sicher in sich ruhend, wie Hulda Pankok.

So sind Menschen, „die noch ganz bei sich selbst sind“, wie sie der Maler, Zeichner und Graphiker, der Bildhauer und Schriftsteller, der Düsseldorfer Akademieprofessor Otto Pankok liebte und überall suchte und fand: bei den Zigeunern im Düsseldorfer Heinefeld, mit denen er jahrelang lebte, den einfachen Menschen in den noch nicht zivilisationskranken Landstrichen Europas, den Fischern, Hirten, Handwerkern, Tagelöhnern in Jugoslawien, der Bretagne, Spanien und anderswo; den Juden, den Verfolgten der Nazidiktatur, zu denen auch Otto und Hulda Pankok gehörten. In Wort und Werk haben beide die Botschaft der Humanität unter die Menschen getragen. Aber nicht nur das: sie haben sie auch gelebt, haben danach gehandelt und dafür gelitten. Leben und Werk waren eins.

Immer wenn man auch heute nach Haus Esselt kommt, jenem ganz der Natur anheim gegebenen, mit ihr verwachsenen, noblen und schlicht bäuerlichen alten Herrensitz bei Hünxe-Drevenack, wo Otto Pankok mit Frau und Tochter Eva, der Malerin, seit seiner Pensionierung 1958 bis zu seinem Tod 1966 lebte, fühlt man sich geborgen. Alles kommt da, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, ins rechte Lot. „Bei uns werden die Menschen alle wieder natürlich, und jeder kann so sein wie er ist – er braucht keine Maske.“ Dieses Wort Hulda Pankoks zitierte Carl Lauterbach, der alte, treue Freund der Familie, in seinem Festvortrag.

Ja, so ist es. Hulda und Otto Pankoks Vermächtnis ihrer Gemeinsamkeit lebt weiter, wird bewahrt und gepflegt im Otto-Pankok-Museum, das seine Witwe und Tochter mit Hilfe der Otto-Pankok-Gesellschaft 1968 in einem Wirtschaftsgebäude von Haus Esselt, dem ehemaligen Atelier des Künstlers, eröffneten. Es wurde 1977 in eine Stiftung an das Land Nordrhein-Westfalen eingebracht. Jährlich kommen viele Tausende von Menschen in dieses Refugium, aus allen Himmelsrichtungen und über Grenzen hinweg. Sie empfinden das Heilende in diesem Stückchen Welt, in dem man die so verblüffend einfache Formel für die Lösung kompliziertester Spannungen und Probleme individueller oder auch gesellschaftlicher, politischer Art gefunden hat: Menschlichkeit. Hier ist sie nicht nur Phrase, sondern Lebensbedürfnis.

Die Kraft, das zu wollen und zu schaffen, kam dem Künstler und Menschen Otto Pankok und der einstigen Journalistin und Feuilletonistin, der Schriftstellerin und späteren Gründerin und Inhaberin des Düsseldorfer Drei-Eulen-Verlages Hulda Pankok, aus einem leidenschaftlichen und tiefen Einssein mit der Natur, die auch im Wesen des Menschen, seinen Leiden und Freuden, seinem Schicksal wirksam ist. Lange bevor diese Erkenntnis wieder zum Allgemeingut geworden ist, hat Otto Pankok in Werk und Wort auf ihre drohende fortschreitende Zerstörung und ihre notwendige, dem Leben dienende Bewährung hingewiesen. Keine Idylle ist da gemeint, auch kein Wildwuchs, kein Chaos, sondern ein Einswerden von Natur und Humanität. „Kein Gesetz, auch das beste nicht, kann die Liebe ersetzen“, hat Otto Pankok einmal gesagt.

Hulda Pankok, als Tochter eines Lehrers aus Passion und einer Theaterkritikerin am 20. Februar 1895 in Bochum geboren, jüngere Schwester des späteren Düsseldorfer Verlegers und Begründers der Zeitung „Der Mittag“, hat ihren Mann nach ihrer Ausbildung als Bibliothekarin, nach Studien in Literatur, Kunst, Philosophie und Nationalökonomie in Düsseldorf kennengelernt und 1921 geheiratet. Sie teilte Pankoks frühe wilde Jahre als engagierter Mitbegründer des Jungen Rheinland, war selbst als Theaterkritikerin im Düsseldorfer Kulturleben aktiv, schrieb auch über Frauenfragen. Bis zu seinem Verbot 1934 gehörte sie dem Vorstand des Bundes der Mütter und Erzieherinnen an, der sich für Völkerverständigung und Schüleraustausch über die Grenzen hinweg einsetzte.

Hulda und Otto Pankok wurden zum Mittelpunkt eines lebenslangen großen Freundeskreises. Carl Lauterbach erinnerte sich an die Geburtstagsfeste im Haus an der Brend’amourstraße 65 in Oberkassel, wo sich auch Louise Dumont, Gustav Lindemann, Herbert Eulenberg, die Bildhauerin Eva Brinkmann, der Komponist Karl-Ludwig Müller (der Gedichte Otto Pankoks vertonte), der Radierer Werner von Scheidt und seine Frau, die Dichterin Martha Saalfeld, trafen; Theo Champion auch, Werner Gilles, der Schul- und Jugendfreund Pankoks, oder Hannes Küpper aus Essen, der Herausgeber des „Scheinwerfer“.

Als die goldenen zwanziger Jahre in die braunen dreißiger mündeten, gerieten auch Otto Pankok und seine Frau in die Mühlen der Zeit. Hulda Pankok wurde 1936 das Reden und 1938 jede schriftstellerische Tätigkeit verboten. Die damals verfemte, nahezu 60 Kohlebilder umfassende „Passion“ Otto Pankoks haben Hulda und Eva Pankok im vergangenen Jahr der Stadt Düsseldorf als Dauerleihgabe gestiftet. Sie wird im wiedereröffneten Kunstmuseum in einem eigenen Raum ständig ausgestellt: auch sie eine aus dem Leid der Verfolgung geborene, erschütternde Mahnung zur Menschlichkeit. Der Freundeskreis des Stadtmuseums übergab anläßlich des Geburtstagsempfangs Pankoks Kohlezeichnung „Die scheidende Jüdin“. Gleichzeitig konnte Dr. Manfred Droste, der Neffe der Jubilarin, den ersten Band „Die Holzschnitte“ des im Droste-Verlag erscheinenden kompletten Werkverzeichnisses Pankoks vorstellen.

Yvonne Friedrichs
In: Das Tor, Heft 4/ 1985, 51. Jg., S. 20, 22.

Bauen und die Lust am Schönen

Zum 80. Geburtstag des Architekten Prof. Helmut Hentrich

Fragte man ihn nach seinem Beruf (falls es wirklich jemand nicht wissen sollte), dann würde er ohne Zögern antworten: Architekt. Bauen ist in der Tat der Lebensgrund von Professor Helmut Hentrich, der am 17. Juni 80 Jahre alt wird und vor zwei Jahren auf seine fünfzigjährige Tätigkeit als freischaffender Architekt zurückblicken konnte. Bauen aber meint bei Hentrich, wenn wir sein Leben überblicken, mehr als das Entwerfen von Häusern und den Umgang mit Lineal und Zirkel, Bauen ist für ihn ein Tun, das alle Lebensbereiche umfaßt – die alte Ars Magna, die Mutter aller Künste.

In Bauluft ist Hentrich aufgewachsen. Sein Vater – sein „alter Herr“, wie er liebevoll-altmodisch gern von ihm spricht – war Stadtbaurat in Krefeld, eine Stellung, die das gesamte Bauwesen der Stadt umfaßte, zugleich Selbständigkeit, ein ansehnliches Einkommen und eine geräumige „Villa“ als Wohnung für die Familie einschloß. Ein großbürgerlicher Lebenszuschnitt war dem jungen Helmut, dem mittleren von drei Brüdern, zugefallen. An das Haus schloß sich ein großer Garten an, man hatte Dienstboten, Geselligkeit, Musik, im Sommer wurde an die See gereist, zuweilen auch mit der großelterlichen Kutsche in die Umgebung gefahren. Und gut „Bismarcksch“ war man natürlich auch.

An seinem beruflichen Leben ließ der Vater den wißbegierigen Knaben gern teilnehmen, nahm ihn mit auf die Baustellen, ließ ihn früh in den Fachzeitschriften schnuppern. Dann gab es noch den Patenonkel Professor Deneken, den Leiter des Kaiser-Wilhelm-Museums, der über so herrliche Dinge verfügte und vor dem Kinde, das lieber mit Holzklötzchen spielte als mit dem neumodischen Blechkram, die Ahnung von der Magie eines Museums aufsteigen ließ. Achtjährig hatte der Junge begonnen, die Bauten in und um Krefeld zu zeichnen, vierzehnjährig stand der Gedanke, Architekt zu werden, bereits fest.

Der Erste Weltkrieg setzte allem ein Ende, und als die Inflation die Bauerei weitgehend lahmlegte, meinte der Vater, ein Jurastudium böte doch weit bessere Aussichten. Gehorsam belegte der junge Student juristische Vorlesungen, erst in Freiburg, dann in Wien, doch der alte Wunsch befestigte sich immer mehr. Der Vater war großzügig; 1925 ließ sich Hentrich in die Technische Hochschule von Berlin aufnehmen und wurde Schüler von Hans Poelzig.

Von Poelzig und dessen Gegenspieler Tessenow spricht Hentrich mit Dankbarkeit. Er lernte von Poelzig, ohne doch von ihm abhängig zu werden, daß Zweckform und Phantasie einander nicht ausschließen; an Tessenow fesselte ihn die Harmonie der Ziele, die zu dieser Partnerschaft geführt haben, es ist vielmehr der Gedanke von der Notwendigkeit zur Kooperation, durch die allein ein Höchstmaß an Leistung erbracht wird.

In diesem kleinen Imperium von etwa 150 Mitarbeitern sind jeweils zehn zu einer Gruppe zusammengefaßt, der ein anstehendes Objekt zuerteilt wird. In regelmäßigen „Partnergesprächen“ wird das Erarbeitete überprüft, gewissermaßen eine Jury im eigenen Haus. In der Rechtsform einer Kommanditgesellschaft, in deren Leitung auch zwei jüngere Kräfte aufgenommen wurden, ist für die Mitarbeiter ein hohes Maß an persönlicher Sicherheit gewährleistet. Der Bauhüttengedanke des Mittelalters, wonach jeder Einzelne dem Ganzen diente, ist hier in moderner Form wieder aufgenommen.

Die Reihe der aus dieser Arbeitsgemeinschaft hervorgegangenen Bauten ist nahezu unübersehbar und von weltweiter Ausdehnung; sie reicht vom schlichten Wohnhaus bis zum Wolkenkratzer und zur weitläufigen Städteplanung. Für Hentrich selbst mit seinem ausgeprägten Sinn für Tradition ist die Erhaltung eines Altstadtgiebels manchmal wichtiger als die Errichtung eines mächtigen Konzernsitzes. Als ich ihn einmal nach seinen Lieblingsbauten fragte, meinte er fast verlegen: Neben dem Standard Bank Centrum im afrikanischen Johannesburg, seinem ersten großen Auslandsauftrag, sei es eben doch das Düsseldorfer Thyssenhaus, dem sein Herz gehöre; er weiß sehr gut, daß der schlanke, zu jeder Tageszeit anders wirkende Bau neben dem Reiterstandbild auf dem Marktplatz zum Wahrzeichen der Stadt geworden ist. Dabei sei die schwierige Neugestaltung und Umwidmung der Rheinhalle zur Tonhalle nicht vergessen. – Das Stadtmuseum zeigt zur Zeit eine Auswahl von Plänen, Fotos und Modellen aus dem Schaffen Hentrichs. Darüber wird gesondert zu berichten sein.

In einigen Vitrinen wird in dieser Ausstellung auch des Sammlers Hentrich gedacht. Muß man ihn wirklich noch vorstellen, den allseits gegenwärtigen Spender und Mäzen, den Sammler, der mit der Leidenschaft des Jägers und dem Wagemut des Spielers einem seltenen Stück auf der Spur ist, der noch heute auf den Flohmärkten und in finsteren Gassen voll altmodischem Trödelkram mit sicherem Blick seltene Schätze ans Licht zieht? Auf seinen vielen Auslandsreisen haben sich ihm ganz neue Gebiete erschlossen: Ostasiatica, Schätze aus Indien oder Gemälde aus Haiti.

Hentrichs Sammeln ist freilich eigener Art: Er zieht sich mit seinen Kostbarkeiten nicht ins Private zurück, im Gegenteil, wenn ihm ein Sammelgebiet einigermaßen abgerundet erscheint, gibt er es fort, nicht als „Leihgabe“, sondern als handfestes Geschenk. So wanderte die berühmte, 2500 Stück zählende Glassammlung ins Düsseldorfer Kunstmuseum, wo sie nun würdig präsentiert wird; das Kayserzinn ging nach Krefeld; japanische und europäische Keramik ins Hetjensmuseum. Es ist ein Sammeln um des Sammelns willen, hervorgegangen aus der nicht endenden Lust am Schönen, die ihn von Jugend an erfüllt und an der er auch andere teilnehmen lassen will. „Die Leute halten mich für unermeßlich reich“, sagte er einmal, „die Sache ist nur die, daß andere ihr Vermögen zur Bank tragen, ich hingegen gebe mein Geld aus.“

Sein Meisterstück war die Wiederherstellung des Schlößchens Groot Buggenum im holländischen Limburg. Vor einigen Jahren erwarb er das verfallene Haus, restaurierte es von Grund auf, wobei keine Türklinke außer acht blieb, füllte es mit kostbaren Dingen und schuf schließlich noch einen Garten mit Pflanzen aller Art, Wasserbecken, Brückchen, Skulpturen, heimlichen Wegen und gepflastertem Hof – ein Stück „Dixhuitième“ von Mozartschem Klang. Doch als das Ganze fertig war – vermachte er es dem holländischen Staat. Königin Beatrix kam persönlich nach Buggenum, kletterte hinauf bis zum Turm und war entzückt über die großzügige Gabe. Das kleine Schloß soll später einmal Gästehaus der Provinz Limburg werden.

Aber dies „später“ ist noch weit. In Buggenum wird der Hausherr mit seinen Freunden wie alljährlich Geburtstag feiern, um das Wohl jedes einzelnen Gastes bemüht sein, selbst eher unauffällig im Hintergrund bleibend.

Glückwunschartikel dieser Art beginnen oder enden meist damit, daß dem Jubilar, sofern er im vorgerückten Alter ist, Jugendfrische bescheinigt wird. Das könnte man auch bei Hentrich. Ich meine, daß gerade bei ihm die Würde und Weisheit, die Disziplin und Gelassenheit des Alters es sind, die ihn zu einer außergewöhnlichen Persönlichkeit machen und ihn, hoffentlich noch lange, seine überreichen Aufgaben bewältigen lassen.

In: Rheinische Post. Feuilleton, 14. Juni 1985.

Ein Grandseigneur

Erinnerung an Alex Vömel

Still, nach außen fast unbemerkt, ist Alex Vömel, 87jährig, von uns gegangen. Er hatte mittags noch am Treffen der Rotarier teilgenommen, abends in einem Restaurant gegessen, morgens fand man ihn tot im Sessel sitzend. Nach dem jähen Hinscheiden von Hella Nebelung ist es der zweite schwere Verlust, der innerhalb weniger Tage die rheinische Kunstwelt getroffen hat.

Vömel war Träger großer Tradition. 53 Jahre lang hat er die Galerie durch alle Wechselfälle des Geschehens geführt, selbst in den schlimmsten Hitlerjahren betrieb er sie im Verborgenen weiter und hat es klug verstanden, Kunstfreunden wie den von der Heydts in Wuppertal, Hermann Lange in Krefeld, Haubrich in Köln zum Aufbau ihrer Sammlungen zu verhelfen – in jenen Zeiten, als Kunstwerke ersten Ranges für dreistellige Summen zu erwerben waren. „Bei uns ist der Kunsthandel nie abgebrochen“, schrieb er einmal. Er verband Courage mit Gelassenheit; seiner zielsicheren, untadeligen Persönlichkeit gelang es sogar, mit einiger List den damaligen Machthabern die in der Galerie beschlagnahmten Werke wieder zu entreißen.

Auf vielen Tischen liegt noch die kleine, graue Broschüre „Alfred Flechtheim, Kunsthändler und Verleger“ (Neudruck eines Aufsatzes von 1964), die er den Freunden vor wenigen Wochen ins Haus sandte. Darin zeichnet er den Lebensweg des berühmten Kunsthändlers Alfred Flechtheim nach, und damit ein Stück seines eigenen, eng mit Flechtheim verbundenen Lebens. Flechtheim, 1878 als Sohn eines Getreidehändlers geboren, hatte sich früh der Kunst verschrieben, er nannte sie „eine Leidenschaft, stärker als alles andere“. Im ersten Katalog seiner 1913 in der Düsseldorfer Alleestraße 7 eröffneten Galerie finden sich, neben Grußworten von Vollard, W. Uhde, Däubler und Herbert Eulenberg, Namen wie Cézanne, van Gogh, Gauguin, Picasso.

Flechtheim, Teilnehmer am Ersten Weltkrieg, war während der Rheinlandbesetzung durch die Franzosen infolge lächerlicher Vorwürfe auf die Auslieferungsliste geraten und mußte eilends die Stadt verlassen. Er gründete Filialen in Köln, Frankfurt, Wien; die Düsseldorfer Galerie blieb „die Keimzelle“ des Unternehmens. Er übergab sie dem 25jährigen Alex Vömel. Dieser war in seiner Lehrzeit bei Kahnweiler in Paris bereits mit den großen französischen Malern in Berührung gekommen, und so richtete er sein Augenmerk zunächst auch auf die französische Kunst. „Er brachte die französische Luft an den Rhein“ und zu den Sammlern.

Durch die Berufung Kaesbachs an die Düsseldorfer Akademie kam frischer Wind in das ehrwürdige Institut. Mit den durch Kaesbach hierher berufenen Künstlern kam Vömel rasch in Beziehung. Neben Campendonk und Zschocke war es vor allem Paul Klee, mit dem er in enge Verbindung trat. Als Klee noch keinen eigenen Hausstand hatte, aßen er, Campendonk und Klee häufig in der inzwischen verschwundenen „Rose“ in der Rosenstraße zu Mittag. Als Autobesitzer, damals noch nicht ganz selbstverständlich, machte er mit Klee ausgedehnte Fahrten an den Niederrhein, die Klee veranlaßten, die ihm neue, ihn fesselnde Landschaft in sehr naturnahen Skizzen festzuhalten. Weiterhin war er mit dem Bildhauer Mataré in nahem Austausch, als einer der ersten stellte er dessen Aquarelle aus. Die Beziehung festigte sich, als er für sich und seine Familie in Büderich, genau gegenüber Mataré, sein Haus erbaute.

Zu seinem 70. Geburtstag vereinte sich 1964 die Künstlerschaft in eine „Hommage à Alex“, in der alle zu Wort kommen, die zum Vömelschen Lebenskreis gehörten. Viele Künstler, unter ihnen Calder, Heckel, Pudlich, Gerhard Marcks fügten Originalzeichnungen bei. Renée Sintenis (eine Tochter Vömels heißt nach ihr Renée) nennt ihn einen „Schutzengel der Kunst“, Erich Heckel einen „Seelsorger“, von einem „Grandseigneur der Kunst“ spricht Felix Klee und webt, einen Bildtitel seines Vaters aufnehmend, einen „Teppich der Erinnerung“.

Vömel wußte, daß die Zahl derer, die sich an „damals“ erinnern, immer kleiner wird. Er konnte wunderbar erzählen, geistreich und witzig, und konnte treffsichere Verse schmieden. Für den Besucher, der ihn noch in jüngster Zeit jeden Vormittag in der Galerie antraf, war jedes Zusammensein wie ein kleines Fest. Viele junge Leute, Museumsleiter, Kollegen, Doktoranden suchten ihn auf, um noch etwas von seinen Erinnerungen zu erhaschen. Geduldig gab er Auskunft. Er war auch der Feder mächtig: Neben den Erinnerungen an Flechtheim liegt ein nachdenklicher, 1964 im Druck erschienener Vortrag vor, „Freuden und Leiden eines Kunsthändlers“. – Nun ist er selbst Erinnerung geworden.

Anna Klapheck
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 26. Juni 1985

Seine Werke sind er selbst

Erinnerungen an Beuys

„Ach, Sie sind aus Düsseldorf und haben mit Kunst zu tun – lebt dort nicht dieser Beuys?“ Manches Mal bin ich so ähnlich gefragt worden und antwortete stets seelenruhig: „Ja, ein liebenswerter Mensch, ich kenne ihn gut, wir sind befreundet.“ Was beim Frager prompt einen gewissen Unwillen hervorrief. Er hätte lieber schreckliche Dinge über „diesen Beuys“ gehört.

Beuys war, so seltsam es auch klingen mag bei einem Beweger und Unruhestifter, ein stiller Mensch. Ich sehe ihn bei einer Fluxusveranstaltung in der Düsseldorfer Kunstakademie, den toten Hasen auf der Schulter, langsam die wenigen Stufen zum Podest hinaufsteigen, ernst, konzentriert; für das Spektakel sorgten die anderen. Er konnte ganz unauffällig in der Runde sitzen, ein Zuhörer und Frager, Anteilnahme ausströmend. Familie war ihm wichtig, und er liebte es, wenn sie alle, Frau und zwei Kinder, am Eckplatz zusammensaßen und er das selbst gekochte Essen auf den Tisch brachte.

Als wir vor knapp fünf Jahren, am 12. Mai 1981, mit einem großen Straßenfest, von morgens bis abends, seinen 60. Geburtstag feierten, da strömte es von allen Seiten hinein in den offenen Hof. Doch eigentlich ging es fast bürgerlich zu, mit gedeckten Tischen, vorzüglichem Braten und mit Kuchen, Wein, Bier und Kaffee. Beuys hielt sich im Hintergrund, ging aber von einem zum anderen als sorgsamer Wirt. Auch aus Kleve, wo er aufgewachsen ist, war die Familie gekommen und die Schwiegermutter aus Bonner Professorenhaus.

Als er an unsern Tisch kam, lachte er sein echtes Beuys-Lachen, mit großen, blitzenden Zähnen. „Viele kenne ich gar nicht“, sagte er, „die kommen einfach so herein. Recht so, das Bier reicht, alle können kommen.“ Ich hatte in der Rheinischen Post einen kleinen Geburtstagsgruß geschrieben, da war am Abend eine fremde Stimme am Telefon, mit rheinischem Sprachklang und ein bißchen ungelenk: „Gefiel mir, wie Sie über den Beuys geschrieben haben. Der ist nämlich ganz anders, als die Leute denken. Den kenne ich seit Jahren und habe für ihn gearbeitet. Das ist ein guter Mensch, dem kann man alles sagen, der ist immer für einen da. Sollen doch nicht ewig nur von dem Hut reden, er trägt ihn nun mal.“

Als Mataré-Schüler wußte sich Beuys in jungen Jahren dem Lehrer völlig anzupassen. Er war kein Revoluzzer, kein aufsässiger Student. Geduldig half er dem Älteren beim Einsetzen der Mosaiksteine in die Reliefs der Kölner Domtüren. „Mein Schüler Beuys bemüht sich auf das beste . . . er wird einmal ein sehr guter Bildhauer werden. Er hat ein ausgesprochen rhythmisches Gefühl und bewundernswerte Ausdauer“, schreibt Mataré am 2. Dezember 1950 in sein Tagebuch (veröffentlicht 1973). Zeitweilig hatte Beuys sein Atelier draußen in Büderich neben dem von Mataré, er gehörte ganz zur Familie, half, tätig wie er ist, bei der Gartenarbeit, besorgte Samen und Stecklinge und war um Frau Mataré liebevoll bemüht. In freien Stunden spielte man Boccia. Er hielt Mataré die Treue, auch als dieser den Wegen des Schülers nicht immer folgen konnte.

Seine Anfänge weisen nach Kleve, die Stadt seiner Kindheit und nach Düsseldorf, wo er bis zuletzt gewohnt hat. Hier war es Alfred Schmela, der sein Talent früh erkannte und den Grund zu seinen Erfolgen legte. Aber auch dies geschah langsam, zögernd. Beuys war kein stürmischer Eroberer. In der von Paul Wember 1958 im Krefelder Haus Lange veranstalteten Ausstellung „Niederrheinische Künstler“ ist uns der Name Beuys – er war immerhin schon 37 – zum erstenmal deutlicher bewußt geworden. Schmela war in der Auswahlkommission und hatte es mit Mühe erreicht, drei Objekte von Beuys in die Ausstellung hineinzukriegen. Der „Kunstpreis der Stadt Krefeld“ wurde gleichzeitig vergeben, ich gehörte der Jury an. Auf der Terrasse stand eines der Objekte von Beuys, ein, wenn ich mich recht erinnere, gewundenes Eisenband mit Rollen, drohend, beunruhigend. Nach hartem Kampf kam es zur Abstimmung, Heinz Mack erhielt den Preis. Wember und ich gestanden uns, wir hätten für Beuys gestimmt.

„Der interessiert mich“, hatte Schmela mit sicherem Instinkt sogleich erkannt, aber es dauerte noch lange, bis er Beuys für seine Galerie gewinnen konnte. Ehepaar Schmela, so erzählt es Monika Schmela, machten sich mit Tochter Ulrike auf den Weg nach Kleve, wo Beuys damals sein Atelier hatte. Er empfing sie mit einem herzhaften selbstgekochten Gericht. Dann pilgerte man über die lange Pappelallee hinaus ins Alte Kurhaus, wo Beuys arbeitete. Zeichnungen, Aquarelle, Objekte kamen zum Vorschein, eine verwesende Ratte im Karton, alles geheimnisvoll und neuartig. Schmela gelang es nicht, Beuys ein paar Arbeiten zu entreißen. Einige Tage später brachte Beuys dann doch etliche Blätter in die Galerie. Sie waren schwer verkäuflich, in jedem Fall billig.

Erst Jahre später kam es zur ersten Galerieausstellung, viele weitere sind ihr gefolgt und haben den Ruhm von Beuys begleitet, ja, immer aufs neue gefestigt. Langsam begriff man, daß diese toten Dinge Relikte des Lebens sind, daß ihre dunklen Titel auf das Rätsel unserer Existenz hinweisen. Beuys selbst gibt keine Erklärungen: „Das sieht man doch“. Als ich einmal mit ihm sprach und mich selbst um Deutung bemühte, etwa ob der verpackte Flügel (lange vor Christo) vielleicht das Verstummen von Klang und Musik andeute, lachte er: „Ja, so kann man es auch ansehen.“

Beuys war, wie gesagt, eher ein stiller Mensch, der nur selten in Wut geriet. Und doch dieses Spektakel, diese Anfeindungen, diese nicht endenden Gespräche über ihn? Wie geht das zusammen? Beuys hatte in seltener Weise Präsenz. Wo er hinzutrat, wurde er bemerkt, und alles, was er geschaffen hat, steht in unmittelbarer Beziehung zu seiner Person, ist ein Stück von ihm selbst, erhält erst von ihm Strahlkraft und Leben. Bei seiner Ausstellung im Guggenheim Museum New York, so hat man mir erzählt, sei das verwöhnte amerikanische Publikum am Eröffnungsabend hingerissen gewesen: Beuys selbst stand inmitten seiner Werke. Am nächsten Morgen, als er abgereist war, seien viele Besucher enttäuscht gewesen, der Funke sprang nicht über.

Beuys ist tot, die Kunstwelt ist ärmer geworden. Das Werk, das er geschaffen hat, ist wie ein Schauspiel, über dem der Vorhang nun heruntergegangen ist, ein fast sakraler Vorgang, denn Beuys war ein religiöser Mensch. Sein Zeichen war das Kreuz. Er war früh mit dem Tode vertraut, worauf mehrere seiner Bildtitel hinweisen. („Endzeit des 20. Jahrhunderts“ – letzte Ausstellung bei Schmela). Seine Zeichnungen und Aquarelle sind ein unverlierbarer Besitz. Ob manche seiner Objekte nur Niederschlag schöpferischer Augenblicke sind, ob sie, eng an ihren Schöpfer gebunden, ein überdauerndes Eigenleben gewinnen, wird sich erweisen.

Anna Klapheck
In: Rheinische Post. Geist und Leben, 1. Februar 1986

Zum Tode von Anna Klapheck am 26. Februar 1986

Die Vermittlerin. Zum Tod von Prof. Anna Klapheck

Vor sechs Tagen erschien ihr letzter Artikel in der Rheinischen Post. Ihre Besprechung der Erinnerungen eines Sohnes an seinen berühmte Vater, von Jimmy an Max Ernst, hatte uns Jüngere beeindruckt wie immer, beinahe eingeschüchtert. Also auch den hat sie persönlich gekannt. Welch reiches, erfülltes Leben war ihr zuhanden, über dessen Bausteine sie unverändert souverän verfügte. Und indem sie Vergangenheit mühelos in die Gegenwart hob, machte sie uns Leser auch zu Teilhabern ihrer zur Erkenntnis vertieften Erlebnisse. Wem, außer ihr, was das möglich?

Kurz vorher hatte sie, auf ihre unnachahmliche Weise, auf den Tod von Joseph Beuys reagiert. Das Tagesgeschäft, die von ihm erzwungene schnelle Fertigkeit des Worts, war ihre Sache längst nicht mehr. Sie nahm für sich das vom Termindiktat abgehobene Recht der gelassen in sich hineinhorchenden Überschau in Anspruch. Das erforderte von der Redaktion manchmal Geduld. Aber sie hat sich stets gelohnt. Wir haben Anna Klapheck bewundert, verehrt, auch geliebt.

Nun ist sie, die an Beuys’ Geburtstag (!) am 12. Mai 87 Jahre geworden wäre, plötzlich gestorben. Es war ein rascher, sich nicht ankündigender Tod. Bis fast zum letzten Augen-Blick bestimmte sie frei über sich selbst, war sie umgeben von ihren Bildern und Büchern. Das mindert die Erschütterung, die Trauer kaum, auch nicht das zunächst ungläubige Erschrecken. Schien der Triumph dieses Kopfes – mit den unvermindert wachen, neugiereigen Augen hinter dicken Gläsern – über den gebrechlich gewordenen Körper nicht lange noch gewährleistet?

Anna Klapheck schrieb meist (und am liebsten) als Betroffene. Sie mußte sich Menschen, Künstlerpersönlichkeiten zuneigen können, von ihnen in ihrem Wesenskern berührt werden, um ihr Werk dann verstehend verständlich zu machen. In dieser Dolmetscher-Funktion war sie unübertroffen; nicht Kunstkritikerin, Mittlerin wollte sie sein. Sie dozierte nie, auch wenn sie in ihrer Schule des Sehens den Leser über das Kennenlernen zum Begreifen verführte. Sie ließ ihn an ihren Betrachtungen teilhaben, die sie in knappen, zielsicheren Ausweitungen zum großen, nicht selten verblüffenden Zusammenklang bündelte. In der Anschauung des Einzelnen das Ganze nicht aus dem Blick zu verlieren – wo, wenn nicht bei Goethe hätte sie das lernen können, dessen auch entlegenste Werke sie gelesen, gespeichert hatte?

Sie war engagiert, wahrte aber die Distanz. Sie war mit vielen, mittlerweile in die Historie aufgenommenen Künstlern bekannt, sogar befreundet. Das nahm ihr jedoch nicht das unvoreingenommene Interesse, die Offenheit für neue Tendenzen. Sie hatte soviel Vergangenheit und war doch immer noch voller Zukunft.

Anna Klaphecks Kritiken erschienen seit 1946, mithin seit dem Gründungsjahr, in der Rheinischen Post. Vor sieben Jahren hat sie ihre Loseblattsammlung neu sortiert, zum summierenden Blick zurück geordnet und als „Buch der Erinnerung“ herausgegeben: „Vom Notbehelf zur Wohlstandskunst – Kunst im Rheinland der Nachkriegszeit“ (DuMont Verlag). Daß für den Tag Verfaßtes mitunter sogar Jahrzehnte überdauern kann, beweist dieser Kritikenband, der für jeden Kunstinteressierten eine faszinierende, ungemein lehrreiche Lektüre ist. Weil Anna Klaphecks Rezensionen eben nicht bloß dokumentieren, wie das damals wieder anfing, sondern weil sie Beziehungsstränge zum Vorher ziehen kann, in vorsichtiger Parteinahme und entschiedener Wertung selber zur Handelnden wird. Diesen Rang erreicht heute in einem oft genug zum Geflecht von Beziehungen verkommenen Kunstbetrieb niemand mehr. Sie war die Letzte.

Die, relativ spät begonnene, publizistische Karriere, markierte zwar nicht unbedingt einen biographischen Knick in ihrem an Begegnungen mit Berühmten vollgestellten Leben. Sie war der in Erlangen geborenen Tochter des Internisten und Neurologen Adolf Strümpell aber auch kaum vorgezeichnet. Eher schon die – erst 1953 betretene – Laufbahn als Wissenschaftlerin. Anna Klapheck hatte ihr kunsthistorisches Studium in Marburg mit der Promotion über „Der Heilige Hieronymus im Gehäuse“ beendet, dann in Leipzig Lehrjahre im Kunsthandel, an einem Museum absolviert. Als Frau Richard Klaphecks (dessen zweibändige „Kunst am Niederrhein“ Ende der siebziger Jahre wiederaufgelegt wurde) kam sie 1927 nach Düsseldorf.

Es war die legendäre Zeit der Kunstakademie, an die ihr Direktor Walter Kaesbach große Maler binden konnte, als deren Professor für Kunstgeschichte und „ständiger Sekretär“ Richard Klapheck fungierte, bis die Nazis ihn 1934 abhalfterten. Den gleichen Lehrstuhl besetzte die Witwe des bereits 1939 Gestorbenen, erst als Dozentin, von 1962 bis 1966 als Lehrstuhlinhaberin. Und ihr Sohn Konrad (Schüler des erst spät „auf dem Markt“ anerkannten Malers Bruno Goller, über den Anna Klapheck wiederum eine Monographie verfasst hat) ist seit Sommer 1979 an derselben Akademie tätig, an der früher auch seine Eltern lehrten.

So, als öffentlicher Auftrag und angenommene Aufgabe, verfugt sich bloß selten noch das Schicksal einer Familie mit dem der Allgemeinheit, eines Instituts. Als in der Festschrift zum 200jährigen Bestehen der Düsseldorfer Kunstakademie (1973) der Part zwischen den beiden Weltkriegen zu vergeben war, übernahm ihn, natürlich, Anna Klapheck. Das mit vielen persönlichen Reminiszenzen durchsetzte, aber nie auftrumpfende Kapitel ist gewiß das aufregendste des umfänglichen Gedenkwerks. Unvermessen charakterisiert, unmittelbar anschaulich werden: Nauen, Campendonk, Thorn-Prikker, Oskar Moll, Ewald Matatré, über dessen „Tore und Türen“ Anna Klapheck 1966 so tiefsinnig, Symbolen nachspürend reflektiert hat, und dessen Aquarelle sie noch vor zwei Jahren herausgegeben hat (Schirmer-Mosel Verlag). Und über Paul Klee heißt es einmal: „Das Schweigsame lachte sein unvergeßliches Lachen.“ Fremdes wird uns vertraut gemacht, nahe gebracht, ohne dass Anna Klapheck je die Grenze zur Vertraulichkeit durchbräche.

Den gleichen Zeitkreis zwischen Aufbruch und jäher politischer Zerstörung hatte die Autorin schon einmal in „Mutter Ey“ abgeschritten. Diese „Düsseldorfer Künstlerlegende“ erschien erstmals 1958 (im Droste Verlag), liegt mittlerweile bereits in der vierten Auflage vor. Die Sympathievorgabe der Autorin für die mütterlich-resolute Kaffeehausbesitzerin und spürnasige Kunsthändlerin, für diese „meistgemalte Frau Deutschlands“ ist unverkennbar, Aber ebenso ihre Einfühlung ins Rheinische, ihre humorvolle Liebeserklärung an die sonderbare Stadt Düsseldorf, die sich in der traditionsreichen Reihe „Deutsche Lande. Deutsche Kunst“ porträtiert hat (1972).

Auch in Gesprächen wurde der Griff in die Geschichte oft zum Rückgriff auf Persönliches (nie Privates): „Ich habe noch gekannt . . .“ Das war es. Der unersetzliche, eben nicht erlernbare Spiegelhintergrund eines durchdachten Er-Lebens, das sie in ihren Artikeln derart bewundernswert klar formuliert, anstrengungslos vor uns ausgebreitet hat. Wenn am Sonntag die Ausstellung zum 40jährigen Bestehen des Landes Nordrhein-Westfalen und der Rheinischen Post eröffnet wird, „1946 – Neuanfang: Leben in Düsseldorf“, wird ihr schönes, klares Greisinnen-Gesicht nicht mehr unter den Zuhörenden sein. Wenn am 14. März die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen ihr neues Domizil vorstellt, wird Anna Klapheck nicht mehr kennerisch-lebhaft von Bild zu Bild gehen, stehen bleiben, wie scheinbar leicht dahin wunderbar Richtiges sagen. Sie fehlt uns schon jetzt.

Reinhard Kill In: Rheinische Post. Feuilleton, 27. Februar 1986.

Ein Düsseldorfer Gewissen

Stimmen, Würdigungen und Zitate zum Tod von Professor Anna Klapheck

Prof. Anna Klapheck ist tot, im Alter von fast 87 Jahren ist sie gestorben (s. Feuilleton). Die Leser der Rheinischen Post schätzen ihr Urteil über Bildende Kunst und die Art, wie sie es begründete. Goethe-Kenner fanden durch ihre Berichterstattung aus dem Goethe-Museum neuen Zugang zu ihrem Klassiker, Düsseldorfer Museumsdirektoren würdigen Anna Klapheck.

Prof. Werner Schmalenbach, Direktor der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen: „Anna Klapheck war eigentlich, seit ich in Düsseldorf bin, und das sind fast 25 Jahre, so etwas wie die Grande Dame der Kunstkritik weit und breit. Sie war eine von denen, die der deutschen Sprache mächtig waren, was heute nicht mehr für jeden gilt, sie war eine Frau, die von Kunst und Künstlern geliebt wurde. Sie schrieb nicht nur mit zwei Augen im Kopf und den richtigen Worten auf der Zunge, sondern mit hoher Verantwortung. Man wird schon bald spüren, daß sie fehlt.“

Jürgen Harten, Direktor der Kunsthalle der Landeshauptstadt: „‚Ich bin die letzte, die ihn noch gekannt hat’, sagte Anna Klapheck über Jankel Adler. Einer der wenigen bewegenden Nachrufe auf Joseph Beuys stammte aus ihrer Feder. Uns fehlt ihr Düsseldorf Gewissen. Gegenüber der Kunst hat sie Klarheit des Urteils mit menschlicher Güte verbunden und Maßstäbe gesetzt, großzügig, zurückhaltend, unprätentiös und immer hilfsbereit.“

Prof. Jörn Göres, Direktor des Goethe-Museums (Sammlung Kippenberg): „Anna Klapheck kannte die Sammlung Kippenberg noch aus ihrer Leipziger Zeit. Sie hat dort die Entstehung der Sammlung miterlebt. Sie kannte auch die in Düsseldorf lebenden Töchter Kippenberg. Auf diese Weise waren enge Berührungen gegeben. Sie war für die Rezensionen prädestiniert, sie war in der Sammlung zu Hause. Ich möchte das, was sie schrieb, mustergültig nennen. Wir haben eine Sammlung ihrer Berichte unter dem Titel ‚Viele Gäste wünsch’ ich mir’ veröffentlicht.“ Göres hat das Buch mit einem Vorwort versehen. Rückblickend sagt er: „Ich war immer glücklich, wenn ich bei unseren Veranstaltungen ihren weißen Schopf sah: dann wußte ich, da wird was draus. Ich habe manches von ihr gelernt.“

Anna Klapheck ist 1958 in Düsseldorf populär geworden mit ihrem im Droste-Verlag erschienenen Buch „Mutter Ey – eine Düsseldorfer Kunstlegende“, das inzwischen vier Auflagen erlebt hat. Sie hat „das Ey“ und den Kreis der Künstler um die Kaffeestube in der Altstadt gut gekannt. In dem Buch sind Bilder und Erinnerungstexte vereinigt, die die Gestalt der Johanna Ey lebendig werden lassen. Zum Beispiel hier: „Rund ist das Ey, rund wie Johanna Ey. Ihr Geburtstag am 4. März fiel in die Zeit der österlichen Eier. Mit Mutterschaft und neuem Leben hat ein jedes Ei zu tun, und so war ihr die „Mutter Ey“ auch schon vom Namen her vorherbestimmt. Und mütterlich, ein Ur-Ei, ein Geschöpf nahe der Natur und von ihren Kräften gespeist, das war Johanna Ey gewiß. Kinderbekommen und Kinderhaben spielt in ihrem Denken eine gewichtige Rolle, Frivolität und Obszönität in diesen Dingen sind ihr zuwider, so derben Scherz sie auch sonst verträgt . . . Ihre Mütterlichkeit wuchs mehr und mehr hinaus über das Familiäre, jeder, der zu ihr kam, bekam sie zu spüren. Die Künstler fühlten sich bei ihr geborgen. Ein Japaner, der zu Besuch war, schrieb ins Gästebuch: „Nun bin ich auch dein Sohn.“ Ganz gleich, was und wo Anna Klapheck schrieb, sie selbst trat zurück hinter dem Gegenstand, über den sie schrieb.

Gerda Kaltwasser In: Rheinische Post. Düsseldorfer Stadtpost, 27. Februar 1986.

Kultur als erlebte Geschichte

Zum Tode der Düsseldorfer Kunsthistorikerin und Kritikerin Anna Klapheck

Bis zuletzt hat sie lebhaft am Kulturleben ihrer Stadt teilgenommen – und auch ihre Beobachtungen veröffentlicht. Jetzt ist ihre Stimme, die stets Gewicht hatte und Respekt einflößte, verstummt: Die Kunsthistorikerin, -kritikerin und -schriftstellerin Anna Klapheck ist in Düsseldorf gestorben. Im Mai wäre sie 87 Jahre alt geworden.

Ihr Schreiben über Kunst und Kultur war stets Anteilnahme, aus dem direkten Erleben entsprungen, egal ob es sich um Künstlermonographien handelte oder um Berichterstattung für die Tageszeitung. Anna Klaphecks Beobachtungsfeld war das Rheinland und vor allem Düsseldorf, die Stadt, in der sie seit 1927 gelebt hat. An den von ihr aufgezeichneten Erlebnissen kann der Leser die Vielfalt, die Lebendigkeit und die Tragweite künstlerischer Entwicklungen in dieser Region nachvollziehen.

Zusammengefaßt legte Anna Klapheck ihre Zeitdokumente der Nachkriegszeit 1979 bei DuMont vor: „Vom Notbehelf zur Wohlstandskunst“. In der Bilanz wird ihre besondere Gabe als Chronistin deutlich, die mit ungewöhnlichem Spürsinn für das Außerordentliche ausgestattet war und mit bewunderter Könnerschaft der Vermittlung. Anna Klaphecks Kunstkritik war nie Bevormundung oder trockene Analyse, aber genausowenig Kulissengeplauder. Sie war – und ist es über den Tag der Veröffentlichung hinaus – persönliche Teilnahme, Betroffenheit, Erläuterung.

Ihr Wissen, das sie auch an der Kunstakademie in Düsseldorf zwischen 1952 und 1966 weitergab, hatte sie während ihres Studiums der Kunstgeschichte, Archäologie und Philosophie aufgebaut. 1925 promovierte sie bei Richard Hamann in Marburg über den „Heiligen Hieronymus im Gehäuse“. Zwei Jahre nach Abschluß ihres Studiums heiratete die in Erlangen geborene Tochter eines Internisten den Kunsthistoriker und Professor an der Düsseldorfer Akademie Richard Klapheck. Ihr Sohn, der Maler Konrad Klapheck, ist jetzt Lehrstuhlinhaber an demselben Kunstinstitut.

Daß der Düsseldorfer Mikrokosmos sich durchaus ins Allgemeingültige, ins Unendliche weiten kann, belegen die Kunstzeugnisse der Klaphecks. Der geistige Austausch war, nach dem frühen Tod von Richard Klapheck, zwischen Mutter und Sohn eng und beständig, wobei beide totale Selbständigkeit bewahrten. Das waren stets oberste Gebote der Kunstautorin Anna Klapheck: Unabhängigkeit und Liberalität. Offenheit und Beweglichkeit eines geformten und im besten Sinn neugierigen Geistes kennzeichnen ihre Schriften: Die Bücher über „Mutter Ey“ (Droste-Verlag), über Bruno Goller oder Jankel Adler (beide bei Bongers) ebenso wie ihre Tagesartikel.

Im Gedächtnis werden auch die klaren Züge ihres Gesichts bleiben mit jenem erwartungsvollen Ausdruck des Wissen-Wollens; ihre kleinen wie nebenher gesprochenen Bemerkungen, die einem ganz neue Blickrichtungen eröffnen konnten; die Atmosphäre ihres Hauses in der Düsseldorfer Mozartstraße, ihres Gartenzimmers, wo sie zwischen ihren liebsten Büchern und Bildern – fast wie Hieronymus im Gehäuse – bis zuletzt gastfreundlich lebte.

Amine Haase In: Kölner Stadt-Anzeiger, Nr. 50, 28. Februar 1986.

Hunger nach Kunst

1946 – Neuanfang: Zeitungsleute erinnern sich

Prof. Dr. Anna Klapheck hatte Kunstgeschichte, Archäologie und Philosophie studiert. In den zwanziger Jahren lernte sie in Düsseldorf den Künstlerkreis um Mutter Ey kennen. Seit 1952 war sie Dozentin an der Kunstakademie. Im Feuilleton der Rheinischen Post schrieb sie unvergessene Kritiken. Sie starb vor wenigen Tagen.

Wir hungerten und wir froren, aber wir waren glücklich. Wir durften schlafen, und kein schriller Sirenenton jagte uns nachts in den Keller. Wir konnten die Fenster auch bei Dunkelheit weit offenhalten, und das zerknitterte, gehasste Verdunklungspapier verschwand im kleinen eisernen Ofen. Wir brauchten das Kissen nicht mehr über den Telefonhörer legen, wenn wir miteinander sprachen, es gab keine Aufpasser, keine Spitzel, keine Denunzianten mehr. Wir waren frei – der Krieg war zu Ende.

Mein Sohn ging nun in die Sexta des Humboldt-Gymnasiums, nachdem er seine Bildung in der erzgebirgischen Dorfschule bezogen und dort, wie die anderen Dorfjungen, für irgendwelchen Unfug auch gelegentlich Prügel bezogen hatte. Noch immer war unsere Straße unter Trümmern begraben, ein schmaler Trampelpfad schuf die Verbindung zur Außenwelt. Aber, o Wunder, die Trümmer begrünten sich, rosa Weidenröschen sprossen in Fülle hervor, ich pflückte Sträuße direkt vor der Haustür. In den verwilderten Gärten, deren Mauern vielfach eingestürzt waren, fanden sich Erdbeeren und Johannisbeersträucher. Ich nahm, wie einst die Siedler in Amerika, ein herrenloses Stück Land in Besitz, grub es um und steckte ein paar Bohnen hinein, Sie gingen tatsächlich auf und wir hatten zwei köstliche Mahlzeiten.

Und nun, wo der Schreibtisch da war, der Wasserstrahl lief und nach einiger Zeit sogar eine Wasserspülung in Gang kam, erwachte bei uns allen, die wir zwölf Jahre abseits gestanden hatten, ein gewaltiger Hunger nach geistiger Arbeit. Der Kopf war ausgeruht, wir waren merkwürdig gesund in dieser Zeit des Mangels, alle Kräfte waren frei. Es war nicht schwer, Arbeit zu finden. Es gab viele schmerzliche Lücken unter den Kollegen, einige waren noch in Gefangenschaft, die Verbindung von Ort zu Ort war gering. Manches bot sich mir an, doch ich zog es vor, zunächst möglichst frei zu bleiben. Also faßte ich den Journalismus ins Auge, in dem ich vor dem Krieg schon einige Erfahrungen gesammelt hatte.

Noch war das Zeitungswesen für den Außenstehenden unübersichtlich, die von den Engländern herausgegebene Neue Rheinische Zeitungerschien anfangs nur zweimal in der Woche in geringem Umfang, auf schlechtem Papier und in winzigen Lettern gedruckt. So geriet ich zunächst an das Rhein-Echo. Die Redakteure saßen in einem einzigen Raum, um einen großen Tisch versammelt, die alten Schreibmaschinen dröhnten, Unterhaltung war schwierig. Über die Düsseldorfer Kunstereignisse schriebe sie selbst, sagte mir die Redakteurin, aber vielleicht könne ich mich ein wenig in der Umgebung umsehen, so habe die wiederbegründete „Rheinische Sezession“ zur Zeit in Aachen ausgestellt – Düsseldorf verfügte noch nicht über geeigneten Ausstellungsraum.

Die erste Nachkriegsreise nach Aachen ist mir unvergeßlich. Der linksrheinische Zugverkehr begann auf dem alten Oberkasseler Bahnhof. Also erst einmal über den schwankenden Steg, den die Engländer für die Fußgänger über den Rhein errichtet hatten, und weiter zum Bahnhof. In schuckelnder Fahrt, in ramponierten Waggons erreichte ich am Abend Aachen. Die Redaktion hatte mich zur Nacht vorsorglich in einem Kloster angemeldet, die Nonnen nahmen mich freundlich auf, wollten nicht einmal Geld. Ich erhielt eine schmale Zelle zum Schlafen und eine vorzügliche Milchsuppe zum Abendessen.

Das Wiedersehen mit den Bildern der rheinischen Freunde beglückte mich. Bewegend war der anschließende Gang zum Münster. Der Ostchor war noch nicht wiederhergestellt und mit einer Bretterwand gegen das Oktogon abgeschlossen. So kam der karolingische Rundbau, in dem nach der frühen Besetzung Aachens durch die Alliierten ein erstes gemeinsames Te Deum stattgefunden hatte, in seiner Urform zur Geltung, so wie später nie wieder. Am 29. Juni 1946 erschien mein erster in der Nachkriegszeit geschriebener Artikel: „Die Rheinische Sezession in Aachen“.

Die Bibliothek der Kunstakademie war mitsamt dem Dia-Archiv aus ihrem Bergungsort unbeschädigt zurückgekehrt und im Keller des angeschlagenen Hauses am Eiskellerberg wieder aufgestellt worden. Es war gut geheizt dort, und so hatte ich bald meinen festen Platz zwischen den Büchern. In der Lichtbildsammlung stellte ich mir einen Vortrag zusammen unter dem Titel „Wiederbegegnung mit Kunstwerken“, in dem ich vor allem die „Entarteten“ und Verfemten berücksichtigte. Das Archiv enthielt aus der Vorkriegszeit ganz leidliches Material zum Thema, ein paar neue Dias – Picasso, Max Ernst – konnte ich mir anfertigen lassen.

Mit diesen Dias und einem sorgfältig ausgearbeiteten Text fuhr ich nun in die kleinen Städte der Umgebung, bald konnte ich den vielen Angeboten kaum mehr nachkommen, denn jede Stadtverwaltung wollte doch modern und zeitgemäß sein und zeigen, daß sie der Nazi-Kunst abgeschworen hatte. Wieder gab es mühsame Bus- und Bahnfahrten, ich übernachtete (an ein Hotel war nicht zu denken) bei den Honoratioren der jeweiligen Stadt, sah meinen Namen an den Litfaßssäulen und hatte volle Säle. Ich bekam 200 Mark für jeden Vortrag, dafür kaufte ich ein halbes Pfund Butter auf dem Schwarzmarkt. Mancher Bürgermeister steckte mir auch noch ein paar Äpfel aus seinem Garten zu.

Beim Blättern in den alten Zeitungsgeschichten, beim Anblick des brüchig gewordenen Papiers trat mir die Epoche von 1946/47 wieder deutlich vor Augen. Sie war durch Not und Mangel gekennzeichnet, aber entbehrte dennoch nicht einer gewissen Romantik. Wir hatten das Glück, wieder zu Haus zu sein, und wir waren frei.

Anna Klapheck in: Rheinische Post. Düsseldorfer Stadtpost, 1. März 1986

Lawine des Kircherns

Bernt Hahn las Hermann Harry Schmitz

Im Kammermusiksaal des Palais Wittgenstein herrschte gespannte Stille. Aber nicht lange, dann kicherten hier und dort die Gäste; das Kichern schwoll immer wieder an zu stürmischem Gelächter. Die Heiterkeit hielt auch in der Pause an und ergriff selbst den Rezitator des Abends, Bernt Hahn, so sehr, daß er einmal nicht weiterlesen konnte, sich erst einmal ausprusten musste. Anlaß der Heiterkeit waren die Grotesken des Düsseldorfers Hermann Harry Schmitz, der nach einem kurzen Dasein voller Leiden vor 75 seinem Leben ein Ende setzte, der aber bis heute bei einer großen Lesergemeinde jeden Alters unsterblich geblieben ist. In der vorigen Woche sind im Züricher Haffmans-Verlag diese Werke in drei Bänden neu erschienen (60 Mark) – Anlaß für das Heinrich-Heine-Institut, das Stadtmuseum und das Kulturamts, Schmitz-Grotesken lesen zu lassen.

Bernd Kortländer vom Heine-Institut stellte Autor und Neuerscheinung kurz vor. Bernt Hahn, den sein Generalintendant für knappe zwei Stunden aus der Generalprobe im Großen Haus entlassen hatte, las neben dem Flügel mit der Büste des Groteskenschreibers, einer Porträtbüste, der anzusehen ist, daß Hermann Harry Schmitz ein ebenso scharfer Denker wie Beobachter gewesen ist.

Was ist zu sagen etwa zur Geschichte vom „Ersten Tag an der Table d’hòte“, die man heutzutage als gemeinsame Speisetafel im Hotel oder in der Pension bezeichnen würde im Gegensatz zum Essen à la carte? Da gibt es einen Herrn Schmitz, der sich auf die unglaublichste Art und Weise in ein Nudelknäuel verstrickt. Da gibt es auch eine Kölnerin, die als „brilliantenbeladne Korpulenz“ charakterisiert wird. Schmitz nimmt da gleich die Gelegenheit wahr, auf unnachahmlich übertreibende Art das Köln-Düsseldorfer Konkurrenzverhältnis auf den Arm zu nehmen. In anderen Geschichten treten ein Charleß Nulpe, ein Jean Maurice Ragout Fin auf und geraten in absurde, übertrieben komische Situationen.

Aber solcherlei Komik durch Übertreibung zu beschreiben, führt zu nichts. Lesen muß man das, lesen, am besten laut. Deshalb bitte, bitte, mehr davon und am liebsten bald. Die Fundgrube enthält keine Ladenhüter.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 17. Oktober 1988

Tourismus in China: Mit Maos Mütze auf die Mauer

China – das bedeutet für uns Menschenmassen und strenge Geburtenregelung. Wir denken an Tempel, an tropische Wälder. Der eine schüttelt sich beim Gedanken an gebratene Hunde, der andere beim Gedanken an hundertjährige Eier. China, das erinnert auch an Katastrophenmeldungen. Noch in diesem Frühjahr war von Dürrekatastrophe in der einen, schrecklicher Überschwemmung in einer anderen Provinz zu lesen. China ist eine Welt für sich, fremd, liebenswürdig, lebenslustig und von furchteinflößender Energie. Diese Herausforderung übersteigt jene durch den Nachbarn Japan bei weitem.

Nichts ist gegenwärtig so schnell überholt wie ein Reiseführer über die Volksrepublik China. Wenn das Buch in den Handel kommt, stimmten nur noch die historischen Daten, die kunstgeschichtlichen Kapitel. Handel und Wandel, das Alltagsleben der ehemals blauen Ameisen entwickeln sich atemberaubend geschwind und nicht geradlinig, sondern in Form artistischer Purzelbäume. Mit der Folge, daß es in China heute schon Probleme gibt, die wir mit unserem Gesellschaftssystem identifizieren.

In der Hauptstadt Beijing wachsen die Wohnblocks gleich hinter den alten Flachbauten, die eng ineinandergeschachtelt um kleine Höfe gebaut sind, empor. Ist ein Hochhaus fertig, werden die alten Häuschen abgerissen. Gegen den Protest ihrer Bewohner, die die Entwurzelung fürchten. Es gibt nicht nur Mietwohnungen, auch Wohneigentum. Doch vor allem die älteren Leute fühlen sich heimatlos und verloren in den neuen Waben.

„Das Alte“ stammt inzwischen nicht mehr nur aus der Zeit vor der Revolution, alt ist auch schon die Zeit Maos. Ungeniert wird die Mao-Mütze mit dem roten Stern und anderen Abzeichen als Souvenir verkauft und nicht nur von West-Touristen getragen. Das junge chinesische Liebespaar, das einen freien Tag in der Schlange von vielen hundert einheimischen und fremden Touristen auf der Großen Mauer verbringt, setzt selbstverständlich so eine Mütze kess auf die Ohren. Mao hat viel getan für das chinesische Volk, Mao ist tot. Sie aber wollen leben; wenn möglich, täglich ein wenig besser.

Fanggitter

Es scheint möglich zu sein. Kühlschrank und Farbfernseher sind die meistbegehrten Konsumziele. Private Kraftwagen gibt es kaum. Die Chinesen sind noch immer ein Volk auf Fahrrädern, ohne Beleuchtung, aber mit phonstarken Klingeln, die zu einem begehrten Mitbringsel der Touristen wurden. In Beijing haben alle Lastwagen seitlich zwischen den Rädern ein Fanggitter, um die Zahl der tödlichen Unfälle mit Radfahrern – monatlich etwa 15 – zu verringern.

In den Touristenzentren – neben Beijing, Shanghai, Nanjing ist das vor allem Xi’An wegen der weltberühmten Ausgrabungen der Terrakotta-Armee – schießen die Luxushotels nach amerikanischem Muster und mit amerikanischem Kapital aus dem Boden. „Joint venture“ ist das Zauberwort. Die Amerikaner scheinen auf die chinesische Zukunft zu setzen. Mit Grund. In diesem Jahr hat der Touristenstrom die Qualität einer Sturmflut erreicht.

Sie drohte zeitweise die noch junge Tourismusorganisation im Land hinwegzuspülen. Vor allem in den bisher wenig erschlossenen Westgebieten Chinas fehlt es an Hotels, aber auch an Dolmetschern, vor allem deutschsprachigen. Unbekümmert vertrauen die meist noch jungen, eben den Universitäten entwachsenen Fremdenführer darauf, daß „doch alle Deutschen englisch sprechen“. Das Ergebnis ist unwilliges Murren in den Bussen mit wissenshungrigen Touristen, denen wieder einmal die Erklärung einer Buddha-Statue in den Dunhuang-Grotten entgeht. In Peking in den kaiserlichen Palästen und Gärten oder in XiÀn zwischen den tönernen Soldaten des Kaisers Quin Shi Huang Di ist das anders. Dort gibt es soviel zu sehen und (auch auf Deutsch) zu hören, daß am Anfang einer Reise „auf der alten Seidenstraße“ von Chinas Ostprovinzen in den Westen anderes Murren laut wird: „Wir wollen auch die Leute heute kennen lernen.“

Dazu ist dann reichlich Gelegenheit, vor allem bei Tag- und Nachtfahrten in Zügen, in denen die Reisenden meist regelrecht in Lagen gestapelt unterwegs sind. Sie liegen unter und auf den Bänken, schlafen stehend, geduldige Babies auf dem Arm, in Gängen und Toiletten, lassen ohne Zorn, oft mit einem Lächeln, das Drängeln der glücklicheren Reisenden über sich ergehen, die einen Platz im Schlaf- und Speisewagen haben, sich von dem einen zum anderen Aufenthaltsort aber meist einen Weg durch bis zu 20 Waggons bahnen müssen. Wer diesen Weg einmal hinter sich hat, unternimmt ihn nicht ein zweites Mal, verzichtet lieber auf die nächste Mahlzeit.

Verkehrsprobleme

Die Bahnstrecke quer durchs Land ist eingleisig, nur an den größeren Stationen gibt es ein Gleissystem. Schwere alte Dampfloks ziehen den fast kilometerlangen Zug durch Wüsten und gewaltige Gebirge, bei größeren Steigungen werden zwei Loks vorgespannt. Hin und wieder bekommt der Zug einen Schluckauf: Dann fliegen Koffer aus den Netzen, stürzen die großen Thermoskannen mit immer glühheißem Wasser für den Tee in den Gang.

Das Eisenbahnnetz in dem riesigen Land ist kaum entwickelt. Entgleist ein Zug, ist die Strecke oft tagelang blockiert. Die Straßen werden außerhalb der Ortschaften zu nur mühsam befahrbaren Pisten. In den Wüstengebieten sind sie wegen der starken Stürme im eisigen Winter unbefahrbar, selbst schwere Lastwagen würden umgeweht. Der Liniendienst der staatlichen Fluggesellschaft CAAC wird auf weite Strecken zum Bedarfsluftverkehr. Ist die Maschine von Peking nach Urumqui, der Hauptstadt der autonomen Provinz Sinkiang, nicht genügend gebucht, fällt der Flug aus, die Reisenden sitzen im fernen Urumqui oder noch ferneren Kashgar fest, müssen auf Bahn oder Omnibus umdirigiert werden. Das Improvisationstalent der Chinesen wird immer wieder gefordert. Für die Touristen, aber auch die Geschäftsreisenden, die in immer größerer Zahl unterwegs sind, bedeutet das Abenteuer und Ungewißheit, vor allem aber Zeitverlust.

Doch wieso Verlust? Es gibt soviel zu erleben. Die Westprovinzen unterscheiden sich stark von den Gebieten, die von den buddhistischen Han-Chinesen bewohnt werden. Statt der Tempel bestimmen moslemische Moscheen das Bild der Ortschaften. Die Lebensart hier ist geruhsamer, erinnert an die Türkei, an arabische Länder. Auf dem Speisezettel steht Lammfleisch. Reis tritt in den Hintergrund gegenüber den Fladenbroten. Die Märkte sind bunt und reich bestückt mit Gemüse, Obst, Fleisch und köstlichen Süßwasserfischen. Auf Esels- und Maultierkarren werden Waren und Menschen transportiert. Mit Begeisterung liefern sich die Kutscher, oft noch Kinder, mit ihren Touristenfrachten auf zweirädrigen Karren Wettrennen auf Straßen voller Schlaglöcher und Wasserrinnen. Kleine Geschenke – der einfache Kugelschreiber ist freilich kein beeindruckendes Angebot mehr – werden von der ganzen Familie bewundert. Feilschen um den Preis ist selbstverständlich, aber die Anfangsforderungen sind noch nicht so phantastisch wie in Touristengegenden Ägyptens oder Nordafrikas. Wie lange noch? Die Touristen, die die niedrigen Preise mit üppigen Trinkgeldern ausgleichen, sorgen schon dafür, daß auch der kleine Kashi bald merkt, wohin der Hase läuft.

In den schon erschlosseneren Gebieten, etwa am Anfang der Großen Mauer, ist die „Touristen-Anmache“ bereits Alltagsgeschäft. Hier ist’s auch erheblich teurer als in den westlichen Provinzen. Auch das übrigens ein Ergebnis der freieren Wirtschaft. Unter Mao galten Einheitspreise, war allerdings die Versorgung einheitlich karg, soeben zum Leben ausreichend.

Neue Kaufhäuser

Heute werden fast täglich neue Kaufhäuser eröffnet, nicht nur Freundschaftsläden, wo der Tourist mit dem eigens für ihn geschaffenen Geld Seide und Lackarbeiten, Jadeschnitzereien und Schmuck oder Vasen aus Cloisonnée kaufen kann. Auf den Märkten und im Kaufhaus wird mit Renminbi, der einheimischen Währung, bezahlt. Es gibt einen grauen Markt, auf dem der Touristen-Yüan günstig gegen Renminbi getauscht werden kann. Wer sich auskennt, kann auf diese Weise außerordentlich billig leben. Junge und nicht mehr so junge Rucksacktouristen wissen dies zu schätzen, genau wie die preiswerten Massenunterkünfte in großen, mit Matratzen ausgelegten Schlafsälen.

Wer nicht mit dem Rucksack reist, braucht stabiles Gepäck und zumindest eine Krawatte – Damen vergleichbar Formelles. Denn in Xi’An lockt neuerdings eine große China-Schau mit Bankett: „The Tang Dynasty“.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Reise-Journal, 5. November 1988

Nur die Hausgeister der Flora durften auftreten

Bilderbogen über 90 Jahre auf der Schulbühne

Sie priesen nicht mit viel schönen Reden das 90jährige Bestehen ihrer Schule, sie demonstrierten es auf der Bühne der gut hergerichteten Aula ihres ehrwürdigen Schulhauses: Die Mädchen und Jungen der Realschule an der Florastraße, die einst als Mädchen-Mittelschule begonnen hatte. Schulleiterin Adelheid Kolb begrüßte die Gäste, darunter Ratsherr Hans Funk (CDU) vom Schulausschus und Vertreter des Stadtbezirks 3, in dem die Floraschule eine bedeutende Stelle als Lehrinstitut hat. Die Bilker Heimatfreunde waren vertreten, aber auch der für die Existenz einer Schule so wichtige Nachwuchs, die Kinder einer Grundschule des Bezirks.

Dann ging’s gleich hinein in die Geschichte. Kunsterzieher Walter Borgerding hatte es übernommen, durch das Geschehen zu führen. Da gab es manches zu belächeln. Aber die blauen Schulmützen aus Kaisers Zeiten wirkten eigentlich ganz modisch. Der Chor kommentierte die Entwicklung musikalisch. Schulleiterin Kolb hatte gebeten, die Szenenfolge nicht durch Beifall zu unterbrechen. Spätestens beim Walzer mit richtigem Turnierpaar konnten die Gäste ihre Hände nicht mehr ruhig halten. Es musste geklatscht werden. Erster Weltkrieg mit Fußlappen nähen und Binden wickeln für die Soldaten an der Front. Schulfest unter französischer Besatzung, da durfte kein politisches Wort fallen, durften nur „die Hausgeister der Flora“ auftreten. Nazizeit mit Hitlergruß und Drohungen, wieder Krieg, Bomben, von denen die Floraschule zum Glück weitgehend verschont blieb.

Neunzig Jahre ist sie jung, das Schulhaus selbst ein Baudenkmal, mit noch erhaltenem mehrfarbigem Plattenfußboden im Treppenhaus und einem blühenden Schulleben, von dem sich am Nachmittag bei Kaffeetafel und Rundgang einige hundert „Ehemalige“ überzeugen konnten.

Gerda Kaltwasser In: Rheinische Post. Düsseldorfer Stadtpost, 17. April 1989

Ein flammender Tanz

Barbara Heinisch in der Galerie Zimmer

Barbara Heinisch, 1944 in Rathenow/Mark Brandenburg geboren, gehört zu den Künstlerinnen, die durch die Intensität und Ernsthaftigkeit des Erlebens die Neue expressive Malerei zu immer verdichteterer Bild- und Aussagekraft steigerten. Die ehemalige Schülerin von Beuys und Hödicke, die Auszeichnungen wie den Deutschen Kritikerpreis, Berlin, das PS-1-New-York-Stipendium, Berlin, und das Kunstfonds-Stipendium, Bonn, vorweisen kann, zog 1986 von Berlin nach Düsseldorf, wo sie von der Galerie Elke und Werner Zimmer (Oberbilker Allee 27) vertreten wird.

Ihre jetzt dort gezeigte Ausstellung mit Bildern aus zehn Jahren (1979-1989) läßt erkennen, welche Reife und Souveränität sie inzwischen erreicht hat. Auch ihr selbst erfundener und entwickelter aktionistischer, dialogischer Malprozeß ist in ein neues Stadium eingetreten. Barbara Heinisch malte früher ihre großen Tempera-Bilder (auf Nessel) in direkter gestischer Berührung mit ihrem Modell, das hinter der Leinwand agierte, tanzte, sein Wesen, seine Emotionen, seine Gegenwart und ihre Ausstrahlung in Bewegungen einbrachte und darstellte: Sie drückten sich ab und wurden von der Künstlerin malend aufgefangen. Doch keineswegs nur als reine motorische, dynamische Geste, sondern als energetisches Phänomen, als direkte Übertragung spiritueller und sinnlicher Energien an der Nahtstelle zwischen dem lebenden Körper und dem gemalten Bild.

Farbspuren im leeren Raum

Aus dieser Zeit solcher direkter Induktion stammt noch „Sprungkraft“ von 1979, ein Schlüsselbild jener Periode der blitzschnell nach Körperabdrücken gemalten Bewegungsabläufe. Sie stehen als Farbspuren im leeren Raum mit viel freigelassenem Nesselgrund und beziehen noch nicht das Umfeld als total visualisierten malerischen Organismus ein wie in den späteren Bildern. Kam hier die Inspiration durch ein männliches Modell, so ist das ebenfalls frühe dreiteilige „Totem und Tabu“ mit seinem roten, sich verströmenden Zentrum eine Beschwörung des Weiblichen. Es weist auf Ursprünge, Geburtsvorgänge hin.

Die seit 1987 entstandenen Bilder sind zwar weiterhin Dialogmalerei im Zusammenspiel mit Modellen, doch nicht mehr direkt auf den Körper gemalt. Der oft ekstatische Impuls teilt sich dem ganzen Bild mit, das sich in der Bewegtheit von Gestik und expressiven Farben verselbständigt.

In einer Kirche gemalt

In dem großen Tempera-Bild „Genesis“ von 1988 scheinen sich die farbdurchglühten violetten, goldgelben, erdfarbenen Figuren in einem rituellen, sakralen Tanz flammend und zugleich meditativ in einem gemeinsamen Imaginationsraum zu begegnen. Als durchsichtiger Farbraum schimmert er auch durch ihre Körper. Figuren, Bewegung und Bildgrund verschmelzen, Licht umfängt alles. Barbara Heinisch hat dieses Bild nach Musik von Ligeti in einer Kirche gemalt mit Robert Solomon vom Tanztheater Düsseldorf als Modell, während der ekstatische „Tanz“ (1987) nach Saxophonmusik, gespielt von Sibylle Pomorin, und mit der Kölner Tänzerin Mane Lu Leisch entstand.

In „Lichtsturz“ (1987) mit seinem von sakralem Licht getroffenen, unter der Kraft dieses Strahls zusammenstürzenden oder nach ihm greifenden Figuren verarbeitete die Künstlerin einen eigenen Traum. Immer wieder fordern sie Engel, Geistwesen und Lichtfiguren zur malerischen Auseinandersetzung heraus. Sie ist so intensiv, daß man in den Bildern geradezu eine Identifikation mit den Modellen zu verspüren meint.

Der „Sonnentanz“ von 1987 entstand als kraftvoll-vitales, farb- und lichtdurchglühtes Gegenbild - mit demselben Modell - zu „Tanz der Dämonen“: einer Ballung von Schrecken, Grauen und Leiden in morbiden, ausgelaugten Farben als Darstellung eines psychodramatischen Prozesses mit maskierten Figuren und als Reflex eines von ihrem Modell erlebten Motorrad-Unfalls. Gemalt wurde das Bild am Rosenmontag angesichts des närrischen Treibens auf den Düsseldorfer Straßen.

In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 27. September 1989

Von Manet zu Johns und den Jungen

Jubiläumsausstellung zum 15jährigen Bestehen in der Galerie Wittrock

Mit einer kostbaren Ausstellung von 15 Gemälden und Zeichnungen sowie 15 Graphiken feiert die Galerie Wolfgang Wittrock (Sternstraße 42) ihr fünfzehnjähriges Bestehen. Sie schlägt die Brücke vom französischen Impressionismus, Symbolismus und Fin-de-Siècle über die deutschen Expressionisten, über Beckmann, Picasso, Dali, Klee zu junger und jüngster Kunst der Gegenwart.

Zur Ausstellung, die auch einige Leihgaben aus Privatbesitz enthält, vor allem frühe Gemälde der Expressionisten, erschien ein Katalogbuch mit 30 Farbabbildungen aller ausgestellten Werke. Wittrock hat selbst darin den Werdegang seiner Galerie beschrieben. 1974 machte er sich in Düsseldorf selbständig und begann mit einer Photoausstellung von Brassai. Eine Reihe erfolgreicher, von Wittrock organisierter Ausstellungen für Museen in Stuttgart, Bern und München wurde 1985 gekrönt durch die Toulouse-Lautrec-Ausstellung für das Museum of Modern Art, New York.

Entscheidend bereichert wurde das bis dahin vor allem graphisch orientierte Galerieprogramm 1983 durch den Eintritt von Margret Heuser, der langjährigen Mitarbeiterin des verstorbenen Kunsthändlers Wilhelm Grosshennig. Ihren Erfahrungen sind die wichtigen Ausstellungen mit Bildern der Expressionisten des Blauen Reiter und der „Brücke“ zu verdanken.

Nicht wenige der jetzigen Exponate in der Galerie erinnern an Ausstellungen der Galerie in ihrem ehemaligen Domizil in der Sternstraße 16. Zum Beispiel eine Kreide-Lithographie „Les Courses“ von Manet, ein Probedruck der Auflage von 1884 im ersten Zustand: in samtig-schwarzem Strich werden hier das Pferderennen und seine Zuschauer zu einer lebhaft bewegten Struktur zusammengefaßt. Redons ätherische Lithographie „Beatrice“ (1897) entstand nach einem Pastell und wurde von A. Clot in Paris in ganz wenigen Exemplaren gedruckt.

Munchs berühmtes Motiv „Das kranke Kind“, das er bis 1927 immer wieder in Ölbildern und Graphiken variierte, erlebt man hier in der ungemein sprechenden, sinnlich-subtilen gestischen Strichführung der Zeichnung in farbigen Kreiden und Pastell auf Karton von 1896. Berechnende Verruchtheit, umschmeichelt von duftigem Charme verhüllender Gewänder, hat Toulouse-Lautrec in seiner signierten Vier-Farben-Lithographie auf Chinapapier von 1897 „Elsa, dite la Viennoise“ erfaßt.

Zu diesem Graphikangebot höchsten Ranges gehören auch Noldes extrem seltene Lithographie „Junge Dänin“ (1913): ein Frauenporträt, zerschmelzend fast im sinnlichen Reiz der Verführung, Dämonie und Melancholie, oder berühmteste Blätter von Picasso („Le Repas frugal“, 1904, „La Minotauromachie“, 1935), Kirchner („Akt mit schwarzem Hut“, 1912), Heckel („Männerbildnis/Selbstporträt“, 1919), Beckmann („Der Nachhauseweg“, 1919) bis hin zu Jasper Johns’ („Decoy I“, 1971), Felix Droeses in ihrem Symbolgehalt ergreifenden „Vogelpredigt (Hesekiel): Sammelt Euch“ von 1983 und Matthias Mansens „Situation, Straße, Hinterhaus“ (Paris, 1988),

Otto Muellers „Halbakt Zigeunermädchen“ (um 1925) in seinem unwiderstehlichen, in weichen farbigen Kreiden eingefangenen Charme mag überleiten zu so großartigen Bildern wie Jawlenskys „Dunkelblauem Turban“ (1910), Heckels flammenden frühen, noch von van Gogh und den Fauves beeindruckenden „Blühenden Apfelbäumen“ von 1907, Schmidt-Rottluffs „Weißem Haus in Dangast“, 1910, Franz Marcs „Fabeltier II (Pferd)“, 1913, August Mackes heiter-bestechender kleiner „Kolonnade mit Segelboot I“ (1913), Paul Klees spätem, den schwarzen Zeichen des Schicksals verfallenem Bild „Dieser Stern lehrt beugen“ von 1940 oder Emil Noldes farbglühendem, doch schon dem Vergehen anheimgegebenen „Herbstblumen“ (1931).

Gegenüber solcher künstlerischer Herausforderung enttäuschen aber auch die ausgewählten Bilder von Baselitz („Flügel“, 1972/73), Klapheck („Ballade“, 1984) und eine große Gouache von Helfried Hagenberg („ohne Titel“, 1989) keineswegs. Sie behaupten sich.

In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 28. September 1989

Monumente aus Reimen

Christoph Hauschild: Lyrische Heine-Porträts

Statuen bedeutender Persönlichkeiten sind im allgemeinen aus Stein oder Bronze. Manchen setzen auch Dichter oder Schriftsteller ein Standbild aus Reimen. Bei Heinrich Heine, selbst wortgewaltig wie kaum ein zweiter in der deutschen Sprache, musste die Fahndung nach solchen literarischen Denkmälern zu Überraschungen führen. Jan-Christoph Hauschild, Mitarbeiter am Heine-Institut und an der Düsseldorfer Heine-Ausgabe, bekannt auch als Büchner-Forscher, enthüllte jetzt vor der Heinrich-Heine-Gesellschaft solche poetischen Statuen für den so geliebten wie gehaßten Dichter.

Auf Heine, von dem über 700 Gedichte bekannt sind (der Düsseldorfer Lokalredakteur Karl-Ludwig Zimmermann, genannt Zips, hatte ihn an Zahl noch übertreffen wollen, was aber nicht gelang), wurde mit Vorliebe in „Heine’scher Manier“ gereimt. Was dabei herauskam - rund 500 Beispiele sind bekannt - war „selten Gold, meist Strass“, meinte Hauschild. Ein Gedicht von Gustav Schwab, das Hauschild deutlich schwäbelnd vortrug, war allerdings eher ein Un-Denkmal, schon deutlich antisemitisch. Ganz anders Georg Herwegh, den Heine als „eiserne Lerche“ verspottet hatte, die dann ihrem Kritiker ein wahrhaftiges, gedichtetes Monument schuf.

Paul Heyse, den Hauschild rheinisch reden ließ, beschäftigte sich hellseherisch mit „Heine in Düsseldorf“ wie auch Arnold Weiss-Rüthel, dessen grimmiges Gedicht „Heine-Denkmal“ 1925 in der „Weltbühne“ abgedruckt wurde, und das er „dem Kaiser, Hitler und Ludendorff“ widmete. Daß der Schriftsteller später ins KZ kam – wen wundert’s?

Peter Rühmkorf, Träger der Heine-Ehrengabe der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Gesellschaft, schrieb 1959 ein bewegendes Heine-Gedenklied, zu einer Zeit, als das noch nicht so selbstverständlich war wie heute. Und auch der scharfzüngige Gerd Semmer dachte 1959 an Heinrich Heine, den Geschmähten und fast Vergessenen, als er über „Düsseldorf an der Düssel“ schrieb, die Hauptstadt des Wirtschaftswunders.

Hauschild ließ auch eine zeitgenössische Stimme von „drüben“ zu Wort kommen. Peter Hacks, der sonst so gesprächige, wird in dem Gedicht auf das Heine-Denkmal in Ost-Berlin ganz knapp, ganz präzise. Hauschild bedauerte, daß es in Düsseldorf kein Heine-Denkmal gibt, bei dem man dem Dichter den Arm um die Schulter legen kann. Aber hat nicht der Bildhauer Bert Gerresheim sein Heine-Monument am Schwanenmarkt als „begehbare Gesichtslandschaft“ geschaffen, damit Heine ganz ergriffen werden kann?

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 28. Oktober 1989

Masuren – noch ein Stück der alten Welt

Das Reiseland Polen ist zu entdecken, jetzt, da die ärgsten Versorgungsschwierigkeiten beseitigt sind. Im Sommer locken Ermland, Masuren mit Seen und Wäldern. Der Zwangsumtausch wurde abgeschafft. Wenn auch die Preise ständig steigen, für den Touristen aus dem Westen sind Lebensmittel, öffentliche Verkehrsmittel und Kfz-Treibstoff noch immer unvorstellbar billig.

Auf dem Bahnhof von Preußisch-Eylau, dem heutigen Ilawa, standen unsere Freunde mit frisch gepflückten Feldblumensträußen. Der Hausherr begrüßte die Damen mit dem in Polen auch heute noch selbstverständlichen Handkuß. Wir hatten eine angenehme Reise hinter uns. Der Ferien-Autoreisezug, den TUI in Hannover einsetzt, erspart dem westlichen Autotouristen in Richtung Polen die noch immer aussichtslose Suche nach einer Übernachtungsmöglichkeit in der DDR oder im polnischen Grenzgebiet. Der Zug setzt sich gegen 21 Uhr in Bewegung, jedes Abteil enthält vier Liegemöglichkeiten, Frühstück ist im Preis enthalten.

Durch die Grenzformalitäten nachts wird der Reisende kaum geweckt. Freundliche Grenzbeamte werfen einen kurzen Blick auf Visum und Reisepaß. Der Zugbegleiter hat schon vorher die Kraftfahrzeug-Papiere kassiert, falls der Zoll eines der Autos inspizieren will. Es passiert so gut wie nie. Der Zugbegleiter gibt auch wichtige Ratschläge. Er hilft sogar, wenn jemand mitten in der Nacht entdeckt, daß er ohne Visum unterwegs ist. Die Sonne strahlt auf die von den Rungenwagen rollenden westdeutschen Autos und auf einen liebevoll restaurierten Bahnhof aus der Jahrhundertwende.

Kaffee nach Gramm

Hier werden wir in 14 Tagen unsere letzten Sloty in Hefeteilchen, polnische und albanische Zigaretten, in glühheißen Kaffee (es gibt ihn in zwei Qualitätsstufen, das Kaffeemehl wird nach Gramm abgewogen) und einen letzten Teller Bigosch, Sauerkraut, umsetzen. Jetzt ist keine Zeit. Außerdem haben unsere Gastgeber in Kühltaschen und Thermoskannen alles dabei für ein Picknick. Die beiden, vor zehn Jahren aus politischen Gründen zu Frührentnern gemacht, müssen sparen. Draußen essen und trinken ist zu teuer. Für sie. Wir hingegen halten unsere tausende Slotyscheine in Händen und wissen nicht, wie wir sie loswerden sollen. Daß das Leben so billig sein kann…

Mitreisende, soweit sie ohne Auto unterwegs waren, hatten schon ab Grenze an jeder Station den Zug verlassen. Ältere Leute waren es meist, oft in Begleitung der Kinder. Für die einen war es Heimkehr, für die anderen erste Begegnung mit einer anderen Welt. Niemand gab lautstark Ansprüche zum besten. Viele aber schwärmten vom Land ihrer Jugend. Eine Schwärmerei, die drei Düsseldorfer auf der Fahrt ins Ermland und nach Masuren schon vom Zug aus teilten.

Allenstein, das polnische Olstyn, ist die größte Stadt in Ermland und Masuren, eine Industriestadt mit den fürchterlichen Miethauskomplexen, wie sie die Stadtränder hüben wie drüben, wenn auch häßlich in unterschiedlichen Graden, markieren. Mrogowo, das frühere Sensburg, liegt landschaftlich reizvoll, hier gibt es ein Vier-Sterne-Hotel am Wasser, mit allen Sportmöglichkeiten. Die Übernachtung im Doppelzimmer mit Frühstück kostet fast 200 Mark. Busausflüge in den nahen Wallfahrtsort Heiligelinde, ins fernere Danzig, aber auch nach Masuren, wo es am ursprünglichsten ist, nach Augustow oder Suwalki zum Beispiel, werden angeboten.

Wir wohnen in einem Knusperhäuschen mitten in einem Wald, der nur an einer Stelle einmal endet und in weite, sorgfältig bestellte Felder übergeht. Zum Schwimmen haben wir in unmittelbarer Nachbarschaft die Wahl zwischen der Kleinen und der Großen Babant, zwei Seen, in denen sich die Wipfel von Eichen, Birken, Fichten spiegeln, aber auch die gestreckten Silhouetten fliegender Störche, die auf der Suche nach der nächsten Heumahd sind. Wo gemäht wird, finden sich reichlich Mäuse. Reh- und Rotwild kommt allabendlich in die Nähe des Knusperhäuschens. Nachbarskinder bieten frischen Fisch aus den Seen an, Aale, Karauschen, Schleien, sicher ein wenig am Rand der Legalität der Natur abgeluchst.

Diese Natur ist ein Kapital, eines, das sich durch Brachliegen verzinst. Viele Polen, die nachdenklichen vor allem, wissen das. Sie möchten vorsichtig, nicht überstürzt vorgehen. Möchten die touristische Zersiedelung verhindern. Herrliche Campingplätze in Wäldern und an Seen gibt es bereits. Walderdbeeren und Pfifferlinge gedeihen üppig ringsum. Bienenzucht und Honigproduktion haben einen hohen Standard. Niemand muß mehr hungern, am wenigsten die Touristen.

Das Straßennetz ist ausgezeichnet. Ein paar weitere Hotels sind wünschenswert. Aber nur an ganz wenigen Stellen sollen Feriendörfer entstehen. Die westdeutsche Tourismusindustrie hat längst bei den Gemeindeverwaltungen angeklopft, hat goldene Berge versprochen. Bisher weitgehend vergebens. Wie lange noch in einem Staat, dessen Finanzkraft erschöpft ist?

Die Polen sind Meister im Ergreifen von Gelegenheiten. Das ist die einzige Überlebensstrategie für den Einzelnen. Wenn es keinen Kitt gibt, werden die Scheiben eben mit gut ausgekautem Kaugummi aus den Paketen westlicher Freunde befestigt. Aber solche Improvisationskunst hilft der Volkswirtschaft nicht auf die Beine. Jeder kauft nur das Allernötigste, weil das Nötige zu teuer ist. Deshalb ist der Versuch unserer beiden 60jährigen Freunde, es beruflich noch einmal in der freien Wirtschaft zu versuchen, ein Drahtseilsakt ohne Balancierstange.

Not in den Städten

Die große Hoffnung der Polen ist die Bundesrepublik. Enttäuscht haben sie sich von ihren traditionellen Freunden Frankreich und England abgewandt, von denen sie sich in Notzeiten betrogen und übervorteilt fühlten. Die DDR, das ehemalig sozialistische Bruderland, ist ihr Freund auch nicht, in Polen wird das sehr klar gesehen. Werden wir, können wir im Westen die Hoffnungen erfüllen?

25 Prozent Preissteigerung in einem halben Jahr bei knapp 100 Mark Rente. Ist damit zu leben? In den Städten werden die Touristen immer wieder um ein paar Mark angesprochen, in deutscher Sprache von alten Leuten, die mit dieser Rente leben müssen. Auf dem Land ernten die meisten in Feld und Garten, was sie brauchen. Dort klappt auch die übrige Versorgung besser, etwa mit T-Shirts aus China und Rotwein aus Spanien. Weil Stadt und Land nach dem Gießkannenprinzip versorgt werden, auf dem Land aber keiner so etwas kauft.

Außer Deutsch wird von der älteren Generation Französisch, von der jüngeren oft Englisch gesprochen. Ohne Vergleiche zu ziehen, ohne das Aufrechnen des nicht Aufrechenbaren werden in Gesprächen Erinnerungen wach. Erinnerungen an böse Erfahrungen mit Nazis wie mit sowjetischen Unterdrückern. Und es gibt nicht wenige Polen, die „könnten auf einem deutschen Paß bestehen“. Aber sie wollen Polen bleiben in der Hoffnung, daß ihr Land alle Schwierigkeiten überwindet.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Reise-Journal , 4. August 1990

Wie eine seelische Folterkammer

Jannis-Kounellis-Ausstellungen in Amsterdam und Den Haag

„Via del Mare“, der Weg des Meeres – man stelle sich den einmal vor: Schon wird man getragen von unendlicher Bewegung. Jannis Kounellis, der 1936 in Piräus geborene, seit 1956 in Rom lebende Grieche, hat seine jetzige große Ausstellung in acht Räumen des Amsterdamer Stedelijk Museums „Via del Mare“ genannt. Man geht durch das Szenarium der Schau wie durch eine seelische Folterkammer. Die Sprache der Dinge und Objekte selbst, der Materialien in ihrem Verweis-Charakter, ihren Reihungen und Schichtungen, ihrem Zwiegespräch mit dem Raum ist überwältigend.

Eingerollt in Stahl: gezeichnete Menschenköpfe, Totenköpfe; 16 an einer langen Wand aufgereihte große Stahlplatten, darauf gepreßt, zwischen vertikale Eisenschienen und Steine, mit Eisen gefüllte Jutesäcke (1988). Um einen Pfeiler kreist auf einer Eisenspirale eine Eisenbahn. Das Fenster dahinter ist zum Teil mit Stahlplatten verschlossen. Einritzungen in der Wand sind mit Teer gefüllt. „Hommage an Piranesi“ nennt Kounellis diese Rauminstallation, die er 1977 für das Studio Tucci Russo in Turin machte. Natürlich fehlt auch die berühmte „Carboniera“ nicht, der mit Steinkohlen gefüllte Stahlträger für die Galleria L’Attico in Rom (1971). Für das Museum Zeitgenössischer Kunst in Bordeaux entstanden 1990 mächtige mit Kohle gefüllte Stahl-Container.

Arte povera, Kunst mit „armen“ Materialien, die doch hier mit Weltgeschichte, historischen, kulturellen, sozialen und autobiographischen Erinnerungen und der Ausdruckskraft ihrer Materialität aufgeladen sind – Kounellis ist einer ihrer hervorragendsten Repräsentanten. Burri, Fontana, Manzoni, die ihm nahestanden, hat er längst überflügelt.

Über einer Bodeninstallation von 1988 mit rund 12 000 aufgereihten Likörgläsern liegen organische Bleiformen, die Wachsen, Werden, Vergehen, Transformation signalisieren; mit den Gläsern spielt das Licht. Für das Museum von Capodimonte in Neapel fertigte Kounellis 1990 die großartige Installation mit über 50 alten Terrakotta-Krügen, großen und kleineren, einst Vorratsgefäße für Wein oder Öl. Mit Seewasser und Blut gefüllt, als lebensvolle, erdgebundene Formen stehen sie auf dem Boden, kontrastierend zu an den Wänden darüber an Eisenplatten hängenden, mit Kohle gefüllten Jutesäcken.

Wie Kounellis einst in seiner berühmten römischen Installation von 1969 lebendige Pferde in den Ausstellungsraum brachte, so begegnet man jetzt seinem lebenden bunten Papagei auf eiserner Stange oder seinem Ei auf Stahlplatte im stählernen Raum. Auf einer riesigen, über Eck gestellten Metallwand scheinen kleine Knospen aus Gips zu sprießen. Auf dem Fragment eines romanischen Holzkreuzes stehen goldverbrämte Kinderschühchen.

Ein Kreuz aus Eisenträgern ist mit einem Mantel bekleidet. Ein Kleiderständer steht vor einer mit Blattgold belegten Wand. Aus einem Objekt aus vier Stahlplatten quillt flockige weiße Wolle hervor. „Die Werke, in denen ich Wolle benutze, sind ein Echo des verlorenen Arkadiens außerhalb der Zeit“, schrieb Kounellis.

Parallel zu dieser Retrospektive in Amsterdam zeigt das Gemeentemuseum in Den Haag eine von Rudi Fuchs eingerichtete weitläufige Ausstellung mit Zeichnungen von Jannis Kounellis aus den Jahren 1970 – 1990 unter dem Titel „La stanza vede“ (Der Raum sieht). Als erste ihrer Art überhaupt erschließt sie ein bisher noch weitgehend unentdecktes Gebiet seines Schaffens.

Die Zeichnungen sind eine Offenbarung, denn in ihnen zeigt sich der unbändige Drang des Künstlers in die Freiheit des Raums. Variationen über Vögel und Flug etwa, in farbigen Fasern auslaufend in Kreide- oder Federzeichnung. Von einem dunklen Zentrum ausgehende blaue Strahlen ins Unendliche. Ein Raum mit schwarzer Tür und schwarzen Fenstern „sieht“, blickt uns an in Gesichtern auf den Wänden. In einem anderen, dunklen, fensterlosen qualmen Schlote. Ein melancholisches weibliches Gesicht mit einer Binde vor den Augen und wie im Flug verwehendem Hut schwebt im Freiraum. Rauch wandelt sich in schwarzes Haar eines weiblichen Aktes, der aus einem Schornstein herausgeschleudert wird. Farbfeuer glimmt in der Erde. Feuer, Rauch in Innenräumen, eine Industrielandschaft mit dampfender Lokomotive, eine archaische Architektur. Menschen tragen einander auf dem Rücken vor einer modernen Hausfassade.

In: Rheinische Post. Feuilleton, 2. Januar 1991

Hölzerne Ladies

Wie aus dem Schnittmusterbogen wirken sie, hart und eckig in den Kanten, die Modemädchen des Bildhauers Wolfgang Thiel. Gratig falten sich die Stoffbahnen gestylter Gewänder, die die gelängten Figuren hölzern umspielen. Knochig, faltig, präsentieren sie sich, die Ausgemagerten, Langbeinigen mit den spitzen Knien, spitzen Brüsten, spitzen Fingernägeln – fast Giacometti-Körper, doch verfremdet ins Groteske, zeitkritisch Frisierte, mondän Drapierte, in Holz erstarrte Mannequins zwischen Schlemmer, Picasso und Pop.

Gefroren auch die zur Schau gestellte erotische Stimulanz, die zur Maske geronnenen, ins Scheinwerferlicht getragenen Make-Up-Gesichter, aus denen jede Regung gewichen ist. Scheinbar lässig die einstudierten Haltungen: Marionetten, die sich selbst am Faden führen. Man kann sie jetzt in der Galerie am Stadtmuseum von Marlies Fischer-Zöller (Citadellstraße 25) kennenlernen, sich über sie amüsieren oder Anstoß nehmen an diesen tragikomischen Figuren der Jet-Set- und Schicki-Micki-Welt.

Das Material Holz ist wichtig. Hat es doch dieses Rauhe, Sperrige, das zur Groteske taugt und das die modische Eleganz parodiert. Die scharfen Grate und Einkerbungen, die oft naturbelassene Oberfläche in Verbindung mit den überzogenen Längenproportionen, dem Geltungsdruck der breiten Schultern, der überhohen Stöckelschuhe, des penetrant dargebotenen „Oben-Ohne“ schaffen nicht nur Spannung, sondern mischen dem Humor auch ein bißchen brutalen Horror bei, einen Schuß Aggressivität.

Hinzu kommt ein formaler Kunstgriff. Wolfgang Thiel arbeitet nämlich auf verschiedenen Ebenen. Seine Skulpturen entwickeln sich oft aus der Fläche zum Relief oder sogar bis zum Vollplastischen hin und zurück. Das intensiviert ihre Stoßkraft: eine Methode der versetzten und übermalten Flächen und Volumina, die schon Oskar Schlemmer angewandt hat. Thiel benutzt überdies außer dem skulptierten Holz ganz prosaische Kistenbretter, Paletten, Balken, die als flächig-lapidare Kleidung, als Sitzgelegenheit, Podest, Liege dienen: Kleidungs- und Möbelstücke, die auch ein wenig an Panzer oder Marterinstrumente erinnern. Manche Figuren verschmelzen mit Objekten, vor allem thronartigen Stühlen. Die Verbindung zwischen Körper, Gewand und Objekt stellt die farbfröhliche Bemalung her. Im Wandobjekt „La Piscine“ schwappen sogar munter gemalte Wellen des Swimmingpools über die auf einer Luftmatratze sich aalende Dame.

Ja, es ist eine amüsante Ausstellung von Wolfgang Thiel (geboren 1951 in Zweibrücken), der in Stuttgart studierte. Seit 1986 hat er einen Lehrauftrag an der dortigen Akademie. Daß er ursprünglich Bühnenbildnerei studierte, ist aufschlußreich. Dennoch hat er bis 1982 eher strenge, introvertierte, sogar sakrale Plastiken gemacht. Erst seit 1983 entstanden seine großen, nun bemalten Holzplastiken.

„Silvia“ (in Anlehnung an Otto Dix’ Porträt der Journalistin Silvia von Harden aus den zwanziger Jahren) im roten, himmelblau gepunkteten Kleid mit grünem Haar sitzt streitbar und leicht morbide auf ihrem hohen Holzlattensitz. „Madame Recamier“ ruht unbequem unter ornamentierter Bretterdecke. Das mit einem Möbelstück verwachsene Terzett mit streng einseitig ausgerichteter Kopfhaltung besingt die „Magie des Schönen“.

In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 18. Januar 1991

Von der Tombola zum Millionending

Werke von Schlemmer, Loos und anderen bei Bröhan

Die „Geteilte Halbfigur nach rechts“ in Gouache und Bleistift auf Papier von Oskar Schlemmer (Bauhaus 1923), ein Millionenobjekt, und eine Kommoden-Uhr in Messing und Glas mit intaktem Originalwerk von Adolf Loos (um 1898, 160 000 Mark) sind Spitzenwerke einer hochrangigen Ausstellung mit Neuerwerbungen des Jahres 1990 in der Galerie Torsten Bröhan, Gartenstraße 41. Gezeigt werden Kunsthandwerk und Industriedesign aus dem Zeitraum 1890 bis 1990, insgesamt 133 Arbeiten aus Glas, Keramik, Metall, dazu Möbel sowie Bilder und Graphiken von Künstlern des Bauhauses.

Es handelt sich dabei, dem Anspruch dieser Galerie entsprechend, um Dinge, die sich durch Originalität, Schönheit und Reinheit der Form auszeichnen. Nicht wenige dieser Einzelstücke, die im Lauf des vergangenen Jahres Preissteigerungen von 50 bis 100 Prozent erreichten, sind beispielhaft für die historische Entwicklung formkünstlerischer Gestaltung.

Vertreten sind nicht nur führende Entwerfer der Wiener Werkstätten wie Josef Hoffmann, Koloman Moser, Michael Powolny, Otto Prutscher, sondern auch Meister des Bauhauses, darunter Marcel Breuer und Kandinsky, der Dresdner Werkstätten (Richard Riemerschmid), des holländischen und belgischen Jugendstils (Jan Eisenloeffel, Henry van de Velde), bis hin zu jungen Designern von heute.

Die wunderschöne Gouache von Schlemmer, die eine gewisse Nähe zu Paul Klee verrät und jetzt einen kostbaren Renaissance-Rahmen aus der Sammlung Conzen bekam, trägt auf der Rückseite die Widmung „Für die Tombola des Metallischen Festes im Bauhaus Dessau gestiftet von Oskar Schlemmer“. Der flächige, in Farbsegmente geteilte Profilkopf erscheint in verschiedenen Ebenen versetzt wie Schlemmers gleichzeitige Reliefs und korrespondiert in seinem feingestuften Farbspiel mit dem konstruktiven, ebenfalls vor- und zurücktretenden Flächenmuster seines Hintergrunds. Der melodische Umriß des Profilkopfs antwortet einer Vasenform: Fugato und lyrische Kantilene.

Strenge Noblesse

Die trapezförmige Messinguhr des Wiener Architekten Adolf Loos mit ihrem freischwebenden Achttagewerk nimmt in der strengen Noblesse ihrer avantgardistischen Formgebung um die Jahrhundertwende schon den Bauhausstil vorweg. Kandinskys 1922 am Bauhaus gedruckte Farblithographie „Kleine Welten IV“ verbindet Malevitchs Drang ins Universum mit den „kleinen Welten“ des Diesseits – Wasser und Boot sind zu erkennen – zu einem zauberhaft leichten, poetischen Spiel. Eine kleine Rarität ist auch eine lithographierte Postkarte Kandinskys zur Bauhaus-Ausstellung 1923.

Zwei Stühle, die Geschichte machten: Henry van de Veldes „Bloemenwerf-Stuhl“ von 1894/95, den er für sein eigenes Haus in Uccle entwarf. Damals gab er die Malerei auf, wandte sich ganz dem Design zu. Und Marcel Breuers Lounge-Chair aus verchromtem Stahlrohr mit originalem Eisengarnbezug (um 1930), zusammen mit einem Tisch (verchromtes Stahlrohr, Glas, um 1928) und einem Regal (verchromtes Stahlrohr, schwarzgebeiztes Holz, um 1928). Sehr elegant in seinen schwingenden Stahlrohrelementen ist ein Stuhl mit Korbgeflecht, den Mies van der Rohe 1927 für die Stuttgarter Weißenhofsiedlung machte.

Begeisternd in der Kultur der Formgebung und Ausführung sind auch viele kleinere Gebrauchsobjekte. Den Wiener Werkstätten steht eine in ihrer Kelchform sehr schlichte Loetz-Vase mit stilisiertem Seerosendekor nahe (um 1900). Ein Unikat ist Jan Eisenloeffels kupfernes Tintenfaß (Holland, um 1900). Josef Hoffmanns sich üppig wie eine Frucht entfaltende Teekanne in Silber und Elfenbein (1918) wurde in den Wiener Werkstätten ausgeführt. Apart eine schlanke Tischlampe des Dänen Poul Henningsen (1925). Und wer möchte nicht gern mal einen Apfel zum Nachtisch mit Henry van de Veldes schnittigem Obstbesteck schälen?

Aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wären etwa eine schlanke Silbercasserole von Henning Koppel, dem Chefdesigner bei Georg Jensen (Dänemark) zu nennen oder zwei Ariel-Gläser, die Edvin Öhrström (Schweden) um 1950 für Orrefors machte, und eine charmante kleine „Taschentuchvase“ aus gekräuseltem dünnen Glas von Venini/Fulvio Bianconi, Murano um 1960.

In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 19. Januar 1991

Noten in Bildern, verständlich für Kinder

Der in Düsseldorf lebende Buch-Illustrator Johannes Grüger wird 85 Jahre / Herkunft aus Breslau

Kinderbuch-Illustratoren sind andere Menschen, oft stille, feinfühlige, versponnene. Wie könnte es auch anders sein, wenn man täglich mit Engeln und Heiligen, mit Königen und Helden, mit Blumen und Schmetterlingen, mit Tieren zu Wasser und zu Lande oder mit Sonne, Mond und Sternen verkehrt, sie nach ihrem Wesen, ihrer Gestalt fragt; wenn einem die Bilder zuwachsen aus vielen, vielen Geschichten?

Johannes Grüger, der gestern sein 85. Lebensjahr vollendete, hat unzählige Kinder in aller Welt erfreut, hat ihnen in früher Jugend eine Welt der Bilder, der Phantasie aufgeschlossen, die sie innen reich machte fürs Leben. Weit über 120 von ihm illustrierte Kinderbücher erreichten rund um den Globus eine Gesamtauflage von mehr als zehn Millionen Exemplaren.

Bunte Kreidevögelchen

Aus Musik sind sie erwachsen. Ganz am Anfang waren sie Ansporn zum Singen der Kleinsten in der Schule. Als die nämlich Notenköpfe auf der Wandtafel nicht begriffen, verwandelte sie ihr Musiklehrer Heribert Grüger, der ältere Bruder von Johannes Grüger, flugs in farbig gezeichnete Kreidevögelchen, die auf den Notenlinien munter zwitscherten und die Höhen und Tiefen der Töne, ihren Auf- und Abstieg markierten. Die Idee der „Liederfibel“ war geboren und wurde umgehend von seinem Bruder, dem Zeichner, verwirklicht.

1926 erschien die erste „Liederfibel“ in der Ostdeutschen Verlagsanstalt von Viktor Kubczak in Breslau, wo Johannes Grüger 1906 als Sohn des Kalligraphen Max Grüger geboren wurde. Der 21jährige besuchte damals die Theaterklasse von Professor Hans Wildermann an der Breslauer Kunstschule (1926-1929) und war anschließend zwei Jahre als Bühnenbildner tätig.

Die schon bald außerordentlich erfolgreiche „Bilderfibel“ von Johannes und Heribert Grüger, der zwei weitere unterschiedliche Ausgaben folgten und die auch im amerikanischen Verlag Lippicott & Co. in Philadelphia verlegt wurde, brachte Johannes Grüger auf den Weg des Buch-Illustrators. In den dreißiger Jahren war er außerdem Gemälderestaurator in den Städtischen Kunstsammlungen Breslau. Während des Kriegs gingen alle seine frühen Arbeiten dort zugrunde, auch die Druckstöcke und Lithos der „Bilderfibel“. 1945 kehrte Johannes Grüger mit einem einzigen geretteten Pinsel zu seiner in das Dorf Aiterhofen bei Straubing geflohenen Familie – er war mit der Schauspielerin Erika Fricke verheiratet – heim. Dort fand sich bald auch der Verleger Viktor Kubczak ein.

Nach einem erhalten gebliebenen Exemplar malte Grüger die Illustrationen zur „Liederfibel“ neu, und Kubczak gab sie 1949 – auch neu gestaltet – in dem von ihm gegründeten Brentano Verlag Stuttgart heraus: wieder mit durchschlagendem Erfolg. Die Auflage stieg in den nächsten Jahrzehnten in die Hunderttausende, später auf 1,5 Millionen.

Im Spiele lernen

Denn auch nach dem Tod Kubczaks, als der Düsseldorfer Schwann-Verlag die Rechte übernahm und die Werke mit neuen Bildern in acht verschiedenen Auflagen edierte, hatte die Zauberformel, Noten wie im Spiel durch Bilder zu lernen, nichts von ihrer Kraft verloren. Es erschien auch eine Sonderauflage mit acht Liedern und einer Schallplatte, auf der ein Kinderchor, begleitet von Orffscher Musik, singt.

Drei Generationen von Kindern sind nicht nur mit der „Liederfibel“ aufgewachsen, sondern auch mit den vielen anderen von Johannes Grüger illustrierten Kinderbüchern. Genannt seien besonders die in ihren Bildern – einer inspirierten Mischung aus mittelalterlicher Miniatur und unschuldsvoll-naiver Kunst – auf so wundersame Weise kindhaften religiösen, im Patmos-Verlag erschienenen Bücher, darunter die „Kleine Eckersche Schulbibel“: ein Welterfolg.

Sie wurde in 27 Sprachen übersetzt, zum Beispiel ins Russische, Ukrainische, ins Arabische, in die Sinti-Sprache, in verschiedene afrikanische Dialekte und in Indianersprachen. Die für noch kleinere Kinder gedachte „Bilderbibel“ erreichte in Deutschland und acht weiteren Ländern, von der Tschechoslowakei bis Borneo, eine Gesamtauflage von über 350 000 Exemplaren.

Neben seinen Illustrationen hat Johannes Grüger, der seit 1951 in Düsseldorf lebt, unter dem Eindruck der Schrecken und Ängste der Kriegs- und Nachkriegszeit expressiv-surreale, phantastische, Kubin, Brueghel, Bosch nahestehende Federzeichnungen geschaffen. In dieser Zeit malte er auch zwei kleine niederbayerische Kirchen aus.

In: Rheinische Post. Feuilleton, 13. Februar 1991

Phänomenaler Fallensteller

Obwohl jung gestorben, ist er quicklebendig geblieben: Herrmann Harry Schmitz, der Düsseldorfer Meister des Grotesken. Wir sind eingeladen zu seinem 111. Geburtstag

Die Elf ist eine närrische Zahl, die einhundertelf selbstverständlich auch. Aber die Tatsache, daß wir in diesem Jahr, genau gesagt am 12. Juli, des einhundertelften Geburtstags von Hermann Harry Schmitz gedenken, sollte uns nicht dazu verleiten, den Autor höheren und allerhöchsten Blödsinns für einen Narren zu halten. Schon gar nicht für einen Jecken oder Karnevalisten. Der Mann mit dem langen Schädel, den langen Händen, den traurigen Augen und der fragilen Gesundheit war alles andere als ein deftiger Büttenredner. Sein Ideal war Oscar Wilde, ihm eiferte er beim Schreiben nach, seinem Dany-Vorbild folgte der Düsseldorfer Hermann Harry Schmitz, wenn er im schwarzen, rot gefütterten Cape mit wehendem weißem Seidenschal durch die Altstadtstraßen schritt, gestützt auf ein Spazierstöckchen, dessen Griff die Nachbildung eines Negerkopfes war.

Hermann Harry Schmitz wurde nur 33 Jahre alt, starb von eigner Hand nach langem schmerzhaftem Leiden, für das er wohl keine Besserung sah. Der Schriftsteller war, ein besseres Wort fällt mir nicht ein, ein Phänomen. Die Düsseldorfer liebten ihn, ihren Landsmann aus gutbürgerlichem Hause, sie verschlangen regelrecht gierig die tollen Geschichten, die er schrieb, Geschichten voller Übertreibungen, grotesker Zwischenfälle und Verwicklungen, dabei auch voller Anspielungen auf Fakten und Moden der Zeit. Nichts war vor seinem durchdringenden, die unwahrscheinlichsten Verflechtungen voraussehenden Schriftstellerblick sicher, nicht der Hut der Dame, der Friseur des Herrn, nicht die scharwenzelnde Untertänigkeit des Spießers und die Dummheit so manchen Akademikers. Er schrieb groteske Theaterstücke von durchschlagender Kürze und Bösartigkeit, etwa „Die Philosophen“, Stelldichein von Zeitgenossen an einer verwesenden Leiche. Oder „Nr. 42. Ein Albdruck“ – groteske Darstellung eines Besuches von Kaiser Wilhelm Zwo in einer Irrenanstalt bei dem Philosophen Friedrich Nietzsche. Das alles ist so übersteigert, daß Zeitgenossen vor lauter ersticktem Lachen möglicherweise die Fallen nicht sahen, die der Autor ihnen stellte. Der Zensor jedenfalls sah sie nicht, H. H. S., wie wir ihn der Kürze halber nennen wollen, wurde nie verboten.

Vielleicht erschien er den seriösen Schrift-Wächtern zu albern. In Wirklichkeit war er ein Vorgänger der großen Absurden wie Dürrenmatt oder Ionesco, vor ihnen Alfred Jarry.

Die Geschichten erschienen im Düsseldorfer Generalanzeiger, wo Schmitz auch Theaterkritiken schrieb. Zu seinem Freundeskreis zählten Hanns Heinz Ewers, Herbert Eulenberg, Rudolf Herzog, Detlev von Liliencron, um nur die Schriftsteller aufzuzählen. Zu ihnen stießen im Weinhaus „Rosenkränzchen“ am Stiftsplatz noch Maler und Musiker. Schmitz, der seit seiner Jugend unter Schmerzanfällen litt, war es wohl nicht zum Lachen zumute.

Und unsereins? Unsereins grinst stillvergnügt bei der nun fast 100 Jahre alten Geschichte vom „überaus vornehmen Friseur“: „In jeder Stadt gibt es sogenannte ‚First-class-Geschäfte’, die ihren Ruf meist ohne eigenen Verdienst, durch die Suggestion der Tradition zu wahren wissen. Da haben wir das Herrenmodengeschäft, sprich ‚Lätest fäschen’, den Schneider, sprich: ‚Täler’, den Schuster, sprich: ‚Buuts’, bei welchem sich der Kavalier, der etwas auf sich hält, zu bedienen hat ... Liegt in einer großen Auslage aus poliertem Mahagoni lediglich ein zusammengeknülltes Seidentuch, ein Hosenträger, ein seidener Strumpf und eine Glasflasche mit englischen Drops, so befindest du dich vor dem einzigen Ort, wo du als Mann von Geschmack und Distinktion dir deine Krawatten, Unterwäsche und so zu kaufen hast“ ... – als wär’s ein Stück von heut’!

Hermann Harry Schmitz war so beliebt, daß sich seine Fangemeinde bis heute erhalten hat und sogar erneuert. So gibt es seit zwei Jahren, seit der denkwürdigen Welturaufführung von „Nr. 42“ beim Bücherbummel 1989, in Düsseldorf eine Hermann-Harry-Schmitz-Societät, die inzwischen über ein eigenes ansehnliches Archiv verfügt. Ein Jahr vorher bereits hatten die beiden Literaturwissenschaftler Bruno Kehrein und Michael Matzigkeit im Haffmans Verlag eine dreibändige, sehr sorgfältig gearbeitete Ausgabe der gesamten Werke herausgebracht. Da hat man den ganzen Schmitz und kommt nicht wieder von ihm los.

Am 12. Juli zum 111. Geburtstag gibt es eine literarische Nacht unter dem Titel „Verschmitzte lesen Hermann Harry Schmitz“, dabei wird auch der Handpressendruck der „Philosophen“ von Wolfgang E. Herbst vorgestellt, ein Ereignis für alle Freunde schöner Bücher.

Es klingt so grotesk wie die Schriften des Schriftstellers, der genau in seine Zeit, in die des Jugendstils, paßte, daß seine gutbürgerlichen Eltern der Düsseldorfer Öffentlichkeit die Tatsache des Selbstmordes ihres Sohnes vorenthielten. Lediglich vom „Tod“ wurde seinen Freunden Mitteilung gemacht.

Gerda Kaltwasser
In: Überblick, Juli 1991, S. 56-57

Ein Herzensanliegen

Seit 30 Jahren ist Yvonne Friedrichs in Düsseldorf als Kunstkritikerin unterwegs

Wenn Yvonne Friedrichs unterwegs ist, hat sie es meistens eilig. Doch sobald sie ihr Ziel erreicht hat, nimmt sie sich die Zeit, die ihr eigentlich fehlt. Ob sie Ausstellungen besucht, über die sie schreiben will, oder der Redaktion einen Besuch abstattet, für die sie eigentlich längst geschrieben haben sollte – stets dehnt sich ihr alles nahezu schicksalhaft in die Lange.

Das kommt nicht von ungefähr. denn Yvonne Friedrichs, seit 30 Jahren Verfasserin von Kunstkritiken für die „Rheinische Post“ in Düsseldorf und darüber hinaus, zählt nicht zu den kalten Routiniers, die sich beim Schreiben lediglich einer Pflicht entledigen. Kunst ist ihr ein Herzensanliegen, der Künstler eine Autorität. Für seine Arbeit um Verständnis zu werben, darin erblickt sie ihre vornehmste Aufgabe.

Künstler, Galeristen, Museumsleute und am meisten selbstverständlich ungezählte Leser wissen es zu schätzen. Wendet sich Yvonnen Friedrichs doch an ein Publikum, das in Kunst weniger einen Spiegel der Zeit als einen Hort höherer Werte erkennt. Nicht ohne Grund benutzt sie oft und gern Begriffe wie „mythisch“ und „Mystisch“ – eine Romantikerin in einer Epoche, in der das Wahre, Gute, Schöne immer mehr wie ein Relikt aus dem vorigen Jahrhundert erscheint.

Dabei zählt Yvonne Friedrichs keineswegs zu denen, die einer vermeintlich besseren, künstlerisch ertragreicheren Vergangenheit nachtrauern. Im Gegenteil, über 30 Jahre hinweg hat sie sich ihre Neugier auf die Kunst der unmittelbaren Gegenwart erhalten. Ihr besonderes Interesse gerade an meditativen, im Metaphysischen wurzelnden Werken erklärt sich aus den Erkenntnissen, die sie auf ihren Reisen in den Orient, den Fernen Osten und in Länder der Dritten Welt erworben hat. In Persien war sie ebenso unterwegs wie in Pakistan, in Indien wie in Peru und Bolivien.

Zuweilen hat Yvonne Friedrichs die Seite gewechselt, hat selbst Ding in Gang gesetzt, die sie sonst nur schreibend begleitete. So gab sie zusammen mit anderen den Anstoß zur Errichtung des (inzwischen geschlossenen) Skulpturenparks der Firma Horten am Seestern, arrangierte für fünf Stationen eine Kunstschau mit dem Titel „Blickpunkt Niederrhein“, brachte Kunst sogar in die Schaufenster der Königsallee. Nach wie vor allerdings bildet den Mittelpunkt ihres Lebens das Schreiben; nicht nur in der „Rheinischen Post“, sondern auch zum Beispiel in den Fachzeitschriften „das kunstwerk“ und „Weltkunst“.

Düsseldorfs dienstälteste Kunstkritikerin, die ihr Geburtsdatum zur Geheimsache erklärt hat, ist durch ihre sie immer wieder herausfordernde Arbeit jung geblieben. Kompliment!

Bertram Müller In: Rheinische Post. 26. November 1991

Stets voller Selbstvertrauen

Yvonne Friedrichs geehrt

Mehr als hundert Gratulanten – Künstler, Museumsleute, Galeristen – waren der Einladung ins Stadtmuseum gefolgt, um der seit 30 Jahren in Düsseldorf tätigen RP-Kunstkritiker Yvonne Friedrichs ihre Reverenzen zu erweisen. Hausherr Wieland König rühmte ihr nach, sie habe ihre Berichte „niemals mit der heißen Nadel gestrickt“ – und schon gar nicht gestochen“; vielmehr arbeite sie stets gründlich und dabei nie verletzend. Kulturdezernent Bernd Diekmann bestätigte dies mit seiner Beobachtung, daß Yvonne Friedrichs nach Ausstellungs-Pressekonferenzen immer zu den letzten zähle, die das Haus verließen.

RP-Feuilletonchef Reinhard Kill schließlich zeichnete in seiner launigen Laudatio eine Persönlichkeitsskizze von Yvonne Friedrichs, die von Detailkenntnis zeugte: das Leben einer von schier grenzenlosem Selbstvertrauen erfüllten Frau, über der auf ungezählten abenteuerlichen Erkundungen der Erde offenbar stets ein Schutzengel schwebte. Gerührt bedankte sich die solchermaßen Durchschaute mit improvisiert vorgetragenen An- und Einsichten über Kunst und die Welt für die Zuwendung, die ihr an diesem Abend von allen Seiten entgegenschlug. Applaus und ein Glas Alt aufs weitere Wohlergehen.

Rheinische Post, 27. November 1991.

Drei Generationen - unter einem Dach vereint

Ausstellung des Westdeutschen Künstlerbunds im Landesmuseum Volk und Wirtschaft

„1945 – da werden Erinnerungen wach an das Ende der apokalyptischen Bombennächte, an die Rückkehr der Überlebenden in Trümmerstädte, demoralisierte Heimkehrer mit nichts in den Händen. Es blieb wenig Zeit, um über Ursache und Schuld nachzudenken, weil die elementarsten Bedürfnisse, ein Dach über dem Kopf zu haben, das Stillen des hungrigen Magens, die letzten Kräfte des gelähmten Lebenswillens forderten . . . Und doch werden diese ersten, wirtschaftlich von Unmoral, Sorgen und Resignation gezeichneten Jahre für den, der sie mitgemacht hat, unvergeßlich bleiben als eine später nie wieder erlebte Zeit beherzter kultureller Aktionen, leidenschaftlicher Diskussionen und nicht lahmzulegender Aktivitäten – allerorten . . . Was war das damals für eine aufregende Sache, einen Quadratmeter Leinwand oder Karton ergattert zu haben . . .“ Dies schreibt Thomas Grochowiak in seinem Katalogtext „Im Blick zurück“ auf die Gründerjahre des Westdeutschen Künstlerbundes.

Vor solchem Hintergrund die 25. Hauptausstellung des 1946 in Hagen gegründeten Westdeutschen Künstlerbundes zu sehen, ist vielleicht gerade im Augenblick naheliegend. Sie wird erstmals außerhalb ihres Stammsitzes, des Hagener Karl Ernst Osthaus Museums, im Düsseldorfer Landesmuseum Volk und Wirtschaft am Ehrenhof gezeigt. Der neue Vorsitzende des Westdeutschen Künstlerbundes, Utz Brocksieper, will auch die nächsten, weiterhin im zweijährigen Turnus veranstalteten Hauptausstellungen in verschiedenen rheinisch-westfälischen Städten präsentieren. Die damit traditionell verbundene Verleihung des Karl Ernst Osthaus-Preises in Höhe von 10 000 Mark wird dann jeweils im Zusammenhang mit einer alternierenden Themenausstellung in Hagen vergeben.

Im Westdeutschen Künstlerbund haben sich im damals neugegründeten Nordrhein-Westfalen Künstler zusammengeschlossen, die in dieser Region geboren sind oder dort leben und arbeiten. Auch Vorstand und Juroren setzen sich aus gewählten Künstlermitgliedern zusammen. Geschäftsführer ist der Direktor des Karl Ernst Osthaus-Museums, Michael Fehr.

Knapp ein Drittel der 100 in dieser Jubiläumsschau vertretenen Künstlerinnen und Künstler, darunter 35 Gäste, wohnen im Rheinland, die anderen überwiegend in Westfalen. Die Schau wurde geschickt, locker gegliedert und in den nicht eben leicht „bespielbaren“ Räumen auf drei Etagen aufgebaut. Man kann sich auf jedes einzelne Werk ungestört einlassen. Ein gutes Niveau integriert Arbeiten von drei Generationen aus den letzten drei Jahren, und besonders die Jugend sorgt für manche Überraschung.

Gleich eingangs im Vestibül begegnet man einer großen Landschaft in Acryl und Pastell von Ludmilla von Arseniew, in der sich systematisierende Strenge und informelle Spontaneität zur prickelnden Farbstruktur verweben. Rolf Noldens „Glasbogen“-Objekt aus gespaltenen Glasscheiben fasziniert durch seine grünschimmernde Lichttransparenz. In Wulf Noltes große abstrakt-expressive Landschaft „Rückblick auf Texel“ taucht der Blick ein in großflächig strömendes und doch in sich ruhendes atmosphärisches Grau, Blau, Schwarz und Weiß nordischer Melancholie.

Gleich daneben suggeriert Margot Kerchners Wandinstallation „Orgelpfeifen“ aus Fließbandgummi, die sich gleichsam wie durch Luftgebläse ausdehnen, öffnen und schließen, visuelle Musik mit vollen und zurückgenommenen Tönen. „Inzucht“ nennt Victor Ronato seinen amüsanten Kreis aus igelartigen Stachelwesen, bestehend aus Roßhaarbürsten und einem Spiegel. Christina Hoppes kassettenartige Bodenplastik mit Deckel im Holz ist wie eine konstruktive Blume mit Holunderblüten gefüllt. In wilder, gestischer Vitalität stürmen die Farben durch Thomas Grochowiaks großartiges Tusche-Bild „Nach Mozart: Dies irae aus dem Requiem“. Oder sie fangen einen „Lichteinbruch“ auf in Sigrid Kopfermanns sprühendem Gemälde.

Wie in Luft aufgelöst, schaukelnd im Wind, ein Medium der Phantasie, ist Günter Zins’ ganz immaterieller „Fliegender Teppich“ der Phantasie aus zarten Edelstahlstangen. Graphisch-linear, raumdurchlässig sind auch Utz Brocksiepers „2 Keile in Aktion“ aus roten Vierkantrohren. Unverkennbar die sich ganz dem Raum anvertrauenden feinen Blätter in Aquarell und Feder von Gabriele Grosse und der „Molekularkörper“ in eloxiertem Aluminium und Acrylglas von Karl-Ludwig Schmaltz.

Mancherlei witzige illusionistische Täuschungen baute Silke Rehbert in ihr Mixed-Media-Objekt „Amphitrite trifft Flipper“ im Untergeschoß ein, wo auch Jens Christian Brand sein verspieltes, durch kleine Ventilatoren bewegtes „Triptychon für Carlos Gardel“ platziert.

In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 11. September 1992

Schauer und Schönheit

„Zauber des Rheins“, zu sehen in Bonn und Koblenz

Wenn Ernst Moritz Arndt einst in napoleonischer Zeit den Rhein als „Deutschlands Fluß, nicht Deutschlands Grenze“ proklamierte, so kann das im Europajahr 1992 eine ganz neue Dimension einschließen. Dieser ins Übernationale verweisende Aspekt findet seine zunächst überraschende Bestätigung in einer nicht absichtslos gerade jetzt in zwei Museen der Region, dem Mittelrhein-Museum Koblenz und dem Rheinischen Landesmuseum Bonn, arrangierten Ausstellung.

Ihr Titel „Vom Zauber des Rheins ergriffen ... Zur Entdeckung der Rheinlandschaft vom 17. bis 19. Jahrhundert“ entspricht ganz der Faszination, in die sie den Betrachter und auch den Leser der Katalogtexte verstrickt: sei es in Koblenz, wo niederländische Malerei, Zeichnungen, Graphik des 17./18. Jahrhunderts den Reigen des Rhein-Zaubers eröffnen, oder in Bonn, wo Klaus Honnef in sichtlicher Sammelfreude ein pittoreskes Ensemble von Gemälden, Aquarellen, Zeichnungen, Aquatinta-Arbeiten, Stichen, alten Photographien sowie Karikaturen vornehmlich britischer Künstler des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts zusammenstellte.

Aber auch Reisekoffer und –kamera, Reiseapotheke und –farbkasten, eine Lampe zur Beleuchtung der Kutsche, ein Modell der belgischen Postkutsche von 1830 oder des Dampfschiffs „Friede“ von 1886 fehlen als greifbare Zeitzeugen nicht. Gleich eingangs wird der Besucher mit der vergrößerten Zeichnung des „karierten“ reisenden Engländers „Mister Pief“ mit Fernglas von Wilhelm Busch (1882) konfrontiert und mit Richard Doyles ironisierender Rheinzeichnung „The Scenery becomes mysterious“ (Die Szenerie wird mysteriös). Romantik ist angezeigt.

Die Entdeckung der Rheinlandschaft für die Kunst ging keineswegs von den Deutschen, sondern von den Niederländern Ende des 16., Anfang des 17. Jahrhunderts aus. Auf den Bildungsreisen nach Italien wurde man auf die Schönheit und Phantastik des Rheins zwischen Köln und Bingen aufmerksam. Von Anfang an ging dieses Imaginäre, Märchenhafte und Sagenumwobene, das Stimmungsbetonte in Bilder mit Rheinmotiven ein, etwa von Roelant Savery, dem einstigen Hofmaler Rudolfs II. in Prag, der von 1617 an in Amsterdam und Utrecht wirkte, und dem von ihm beeinflußten Herman Saftleven.

Selbst der andere Zweig niederländischer Landschaftskunst, die durch den Aufstieg Hollands zur Welt- und Handelsmacht hoch favorisierte und in berühmten Sammelwerken verlegte realistische Vedute, blieb vom Zauber des Rheins nicht unberührt. In Koblenz kann man sich in die atmosphärischen, ins traumhaft Zeitferne entrückten Blauräume der dennoch glasklaren und präzise dokumentierenden aquarellierten Federzeichnungen von Wenzel Hollar entführen lassen: von Boppard etwa, Ehrenbreitstein, dem Mäuseturm bei Bingen.

Der Prager Künstler begleitete damals, 1636, den englischen Gesandten Arundel von Köln aus als Zeichner auf seiner Reise nach Wien. Selbst Böllerschüsse vom Festungsturm Engers zur Begrüßung des Schiffs-Konvois scheinen in verklärter Stille am menschenleeren Rheinufer zu verpuffen.

Noch sanfter schmiegen sich Berge und Burgen in den braun-, grau- und blautonig lavierten Federzeichnungen von Lambert Droomer (1662) mit ihren rhythmisierten Schattenpartien in den Lichtraum seiner schon nicht mehr topographisch genauen kleinen Ideallandschaften mit reglosen Staffagefigürchen.

Dem bürgerlichen Kunstgeschmack des 17. Jahrhunderts in den Niederlanden kamen dann besonders Herman Saftlevens phantastische, seit 1640/50 entstandene Ideal-Landschaften entgegen.

Wie außerordentlich beliebt und populär der auch von dem Barockdichter Joost van den Vondel besungene Rhein als Kunstmotiv schon damals war, beweisen in Koblenz zwei sehr kleine Rheinlandschaften von Saftleven. Sie hingen in der „Kunstkammer“ eines holländischen Puppenhauses (um 1674/79), das sich heute im Centraal Museum Utrecht befindet.

Daß selbst die Wirklichkeit phantastische Züge annehmen kann, verrät ein Kupferstich von Hendrik de Leth aus dem topographischen Werk „Gezichten längs den Rhijn ... von F.W. Grebe, Amsterdam, 1767“. Wie ein riesiger Lindwurm schlängelt sich auf dem Blatt ein Floß durch den Fluß. In einem Rheinreisebericht von 1789 wird es als „schwimmende Holz Insel“ von 1000 Fuß Länge, 90 Fuß Breite, mit zehn bis 13 geräumigen Hütten darauf beschrieben, die von 400 bis 500 Ruderknechten und Arbeitern bewohnt wurden.

Wie extrem ist aber der Gegensatz zwischen den sublimen Zeichnungen von Vincent Laurensz van der Vinne und seinem haarsträubenden Bericht über die Beschwerlichkeit und Gefährlichkeit der auch ständig von Raubrittern und plündernden Soldaten bedrohten Rheinreise in damaliger Zeit! Das wurde im 19. Jahrhundert anders durch die Entwicklung der Dampfschiffahrt, später der Eisenbahn. Als 1816 der erste Dampfer „Prinz von Oranien“ von London nach Köln fuhr, dauerte die Reise von Rotterdam nach Köln nur noch knapp vier Tage. Und als 1827 die Preußisch-Rheinische Dampfschiffahrts-Gesellschaft den ersten regelmäßigen Personenverkehr zwischen Köln und Mainz startete, wurden schon im ersten Jahr über 18 000 Passagiere befördert. Ihre Zahl hatte sich zwei Jahre später verdoppelt. Fast die Hälfte davon – 16 000 Touristen – kam aus England. Die Reiselust der Bürger drängte die einstige Grand Tour der Gebildeten in den Hintergrund. Der Massentourismus hatte begonnen.

Schauer, Schönheit, Erhabenheit von Natur, Historie, Sage, Traum, fast mystischer Übersteigerung. Ruinenromantik werden von den nach dem Ende der napoleonischen Kriege den Rhein bereisenden englischen Künstlern in wahren Bildwundern reflektiert: als Meister über allen William Turner.

In: Rheinische Post. Feuilleton, 19. September 1992

Über Europas Grenzen schwingende Bögen

Zu den Ausstellungen Henry van de Velde in Hagen und „1910 – Halbzeit der Moderne“ in Münster

Es gibt Ausstellungen, die Einsichten in Zeitläufe vermitteln, Vergangenheit aufwirbeln, Zusammenhänge aufdecken. Das ist besonders eindringlich der Fall in der Schau „Henry van de Velde – Ein europäischer Künstler in seiner Zeit“ im Karl-Ernst-Osthaus-Museum Hagen.

Mit der seit Jahren von Klaus-Jürgen Sembach und Birgit Schulte vorbereiteten Ausstellung wurde das Osthaus-Museum nach längerer Pause wiedereröffnet: nun mit seiner, soweit es möglich war, rekonstruierten, 1902 von Henry van de Velde geschaffenen Jugendstil-Innenausstattung. Vieles davon war zerstört worden, als nach Osthaus’ Tod (1921) dieses von ihm gestiftete private Hagener Museum Folkwang, das damals weltweit erste Museum für zeitgenössische Kunst, mit seiner berühmten Sammlung von den Erben 1922 nach Essen verkauft wurde. Das Hagener Gebäude war danach zu einem Bürohaus für das Kommunale Elektrizitätswerk umgebaut worden, bis man es von 1930 an wieder museal nutzte.

Im Anschluß an Hagen, wo auch der von van de Velde zwischen 1906 und 1908 gebaute und eingerichtete „Hohenhof“, das Wohnhaus Karl Ernst Osthaus’, besichtigt werden kann, wandert die bedeutende Ausstellung in weitere mit dem Wirken van de Veldes verbundene Städte: nach Weimar, Berlin, Gent, Zürich und Nürnberg. In Hagen wird das immense vielgleisige Lebenswerk des Malers, Zeichners, Typographen, Architekten und Gestalters ganzer Inneneinrichtungen, des Entwerfers von Möbeln, Tafelsilber, Schmuck, Keramik, Porzellan und Textilien gezeigt – den frei über die europäischen Grenzen schwingenden Bögen und Stationen seines bewegten Lebenslaufs folgend.

Parallel präsentiert das Westfälische Landesmuseum Münster die Schau „1910 – Halbzeit der Moderne. Van de Velde, Behrens, Hoffmann und die anderen“, mit vielen Architekturzeichnungen, -photos und –modellen, einer Flut von Plakaten, Werbegraphik, Design und kunstgewerblichen Objekten.

Die beiden Katalogbücher tragen dazu bei, die Faszination und die Einsicht in diese folgenreiche Übergangszeit zu vertiefen. Der Hagener Katalog erschien im Wienand-Verlag (466 Seiten, zahlreiche, meist farbige Abbildungen, Preis im Buchhandel gebunden 98 Mark), die Münsteraner Publikation (240 Seiten, über 300 teilweise farbige Abbildungen, 38 Mark) bei Hatje.

Frisiersalon und Textilmuster

Die etwa 1000 Werke aus allen Schaffensbereichen des 1863 in Antwerpen als zweitjüngstes von acht Kindern eines Apothekers und Chemikers geborenen, 1957 in Zürich gestorbenen belgischen Künstlers Henry van de Velde sind in Hagen, ganz im Sinn auch von Osthaus, locker zueinander geordnet. Das aufregendste ist die Vitalität, die leidenschaftliche Expressivität, ja Dämonie, die unglaubliche Schönheit und Reinheit der Linie, die in van de Veldes Schöpfungen immer wieder begeisteren, sei es in einem Eßzimmerstuhl aus Haus Bloemenwerf (1895/96), seinem ersten selbstentworfenen eigenen Wohnhaus in Uccle bei Brüssel, in dem fast magischen, von inneren Energien getriebenen Schwung eines silbernen Kandelabers von 1898/99 aus dem Bröhan-Museum Berlin oder in der Ornamentik seines berühmten „Tropon“-Plakats aus „Pan“ von 1891.

Schon in seinen frühen, in Antwerpen, Paris und Brüssel zwischen 1880 und 1893 entstandenen, von Seurat, Gauguin und van Gogh beeinflußten Bildern und Zeichnungen wird die Bedeutung der Linie offenbar. Van de Veldes Leidenschaft für die Linie wirkt fort, als er 1893, nach dem symbolistischen Bild „Engelwache“, die Malerei aufgibt und sich, tief beeindruckt durch die Schriften von John Ruskin und William Morris und ihre Arts- and Crafts-Bewegung, ganz der angewandten Kunst und der Architektur zuwendet, um stärker und direkter durch Kunst in die Gesellschaft zu wirken.

In Weimar gründete und errichtete van de Velde 1907 das Institut für Kunstgewerbe und Kunstindustrie als Vorläufer des Weimarer Bauhauses und baute das jüngst restaurierte Nietzsche-Archiv. Man sieht aus diesen Jahren zum Beispiel ein Kompartiment aus dem luxuriösen Frisiersalon Hardy in Berlin (1901), Textilmuster-Entwürfe für Krefeld, die Weimarer Wohnungseinrichtung Graf Kesslers (1902), Photographien seiner Weimarer Bauten, auch die in ihrer Sparsamkeit bezaubernden, nicht ausgeführten Entwürfe für den Umbau des Weimarer Museums. Dazu hinreißend profilierte Silberschalen, -tabletts, -terrinen, weich fließende Reformkleider.

In der Weimarer Zeit (1902 – 1917) entstanden auch seine ersten Theaterentwürfe (1903) für die Schauspielerin Louise Dumont, die, bevor sie nach Düsseldorf ging, in Weimar ein „Mustertheater“, ein Festspielhaus wie in Bayreuth, errichten wollte. Sie fielen, wie auch seine Pläne für das Pariser Théâtre des Champs Elysées (1911), Intrigen zum Opfer. Allein sein in der horizontalen Gliederung fein rhythmisierter Theaterbau der Werkbundausstellung von 1914 in Köln wurde realisiert.

In zweckmäßiger Strenge

Auch die Jahre nach van de Veldes kriegsbedingter Emigration in die Schweiz (1917) sind vor allem durch architektonische Projekte ausgefüllt. Zunächst seine Planungen für das Museum Kröller-Müller in Holland, das infolge der Inflation erst 1936 in sehr reduzierter Form gebaut werden konnte. In der Zeit seiner Berufung als Professor für Architektur nach Gent und Leiter der Hochschule für Angewandte Kunst in Brüssel (1925/26) fallen unter anderem der Bau der Universitätsbibliothek Gent sowie die belgischen Pavillons auf der Weltausstellung in Paris (1937) und New York (1939), die nun allerdings in zweckmäßiger Strenge der Zeit ihren Tribut zollen.

Sein letztes Lebensjahrzehnt hat van de Velde, längst weltberühmt und bis zuletzt an seinen Memoiren schreibend, „in einer weniger verpesteten Atmosphäre“ auf dem Land in der Schweiz verbracht.

In: Rheinische Post. Feuilleton, 24. September 1992

Die geometrischen Strukturen wachsen wie Organismen

Frantisek Kyncl stellt für das Kunstmuseum eine große plastisch-malerische Rauminstallation im Kunstpalast am Ehrenhof aus

Wie Kunst einen Raum verwandeln kann, wenn sie für ihn gemacht oder auf ihn bezogen ist, kann man jetzt in Halle 5 des Kunstpalasts am Ehrenhof wahrnehmen. Dort zeigt Frantisek Kyncl (geboren 1934 in Pardubice, Tschechoslowakei), der schon nach dem „Prager Frühling“ 1968 nach Düsseldorf kam, seine bisher schönste Ausstellung in dieser Stadt. Sie wird vom Kunstmuseum veranstaltet, betreut von Stephan von Wiese, und geht anschließend – in einer ersten Museumskooperation – ins Haus der Kunst der Stadt Brünn. Auch der von Winfried J. Jokisch gestaltete Katalog ist zweisprachig.

Die ganze Schau ist eine einzige, vielteilige und erstaunlicherweise erste große Rauminstallation Kyncls, der in Düsseldorf nach Ausstellungen auf der IKI (1972), in Galerien, in der Kunsthalle (1977) und im Kunstverein (1982) kein Unbekannter ist. Kyncl, zugleich Plastiker und Maler, behauptet allerdings, daß er keins von beiden sei. Technik, Material sind für ihn nicht ausschlaggebend. Wesentlich ist für ihn eine Struktur von Dreieck und Tetraeder, von der er geradezu besessen ist und die schon seit 1966 die alleinige Substanz seines Schaffens darstellt.

Sie wurde zur Keimzelle, aus der jedes seiner Werke wächst. Wohlgemerkt: nicht als rationale, serielle Konstruktion nach Plan, sondern – und das ist das Besondere an Kyncl – sie entsteht in geduldiger, geradezu liebevoller Handarbeit wie Organismen. Deshalb sind Kyncls Arbeiten, seien sie nun zwei- oder dreidimensional, niemals starr. Sie dehnen sich aus in der Fläche, wenn nötig weiter und weiter, sie wachsen in den Raum und lassen den Raum in sich hinein. „Ich weiß nicht, was herauskommt, ich fange einfach an“, sagt Kyncl. „Das wächst weiter wie in einem Kindertraum, ins Unendliche.“

Sind das wirklich Konzepte oder nicht eher Prozesse, die sich in diesen Arbeiten manifestieren? Geht man um die transparenten Objekte herum, so bewegt und verändert sich auch das Liniendickicht in ihrem Innern. „Das ist wie Gras“, meint Kyncl. Von effektvoller Kinetik hält er nichts.

In der Mitte des großen, nüchternen Raumes sind die aus filigranen Strukturen entwickelten plastischen Objekte teils an vom Boden zur Decke gespannten, sich fast unmerklich bewegenden Gummiseilen aufgehängt, teils stehen und liegen sie auf dem Boden: Kuben, rechteckige Elemente, Stelen, unregelmäßige Gebilde. Alle sind sie eigenhändig aus Bambusstäbchen gebaut. An den Treffpunkten der ineinandergreifenden Module wurden die Stäbchen mit Pattex oder Zwei-Komponentenkleber fixiert und diese Knotenpunkte dann leicht mit Ölfarbe übermalt. Das ergibt ein lyrisches punktuelles Farbspiel in den grazilen linearen Verzweigungen der entweder naturbelassenen oder schwarz, zuweilen weiß gestrichenen Stäbchen.

Manche dieser plastischen Elemente werden öfters wieder verändert, wie ein schwarzer Würfel, den Kyncl 1972 begann und bei dem er nun das Innere herausgerissen hat. Das Ganze wirkt schwebend leicht, verleiht dem kahlen Raum einen Anflug von Charme.

Die gleichen leichten Unregelmäßigkeiten handwerklicher Arbeit wie in den Objekten nehmen auch den malerischen Arbeiten die Trockenheit von Rastern. Es sind Prägedrucke, bei denen Stäbchen in das feuchte, dicke Papier gedrückt wurden. Über einem mit der Rolle eingefärbtem Grund sind die gereihten Linienstege der ineinandergreifenden Tetraeder wieder von anders getönten Pinselzügen begleitet. Das Wechselspiel der Farben mit den Linienstrukturen ist reizvoll, hat vielerlei Nuancen. Und die Kreuzungspunkte der Linien werden auch malerisch betont.

Wie gewachsen schaut das aus, und es macht Freude, mit den Augen darin spazieren zu gehen. Bestimmend sind aber auch Monochromien von Bildergruppen, die wechselweise den Ton angeben und somit Akzente im Raum setzen: ultramarinblaue oder rote, schwarze (mit rosa Grund), purpurne, grüne. Besonders vielseitig ist das Gespräch der Farbtöne untereinander und mit den Strukturen in den reinen Zeichnungen.

Rhythmus und Klang steuert als Hintergrund auch eine von Kyncl selbst zusammengestellte Musik bei. Er hat darin Radiomusik auf Band aufgenommen, die er in Intervallen immer wieder abschaltete und so ebenfalls strukturierte. Die schöne Ausstellung, die mit Fremdmitteln finanziert wurde (darunter vom Institut für Auslandsbeziehungen), ist die erste, die das Kunstmuseum in diesem Jahr im Kunstpalast veranstaltet, da dafür kein Etat zur Verfügung stand. Eine gelungene Sache.

In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 7. Oktober 1992

Worte, die im Raume schweben

Ausstellung der Arbeiten von Robert Barry in der Galerie Bugdahn und Kaimer

Der 1936 in New York geborene, in Teaneck/New Jersey lebende Amerikaner Robert Barry gehört zu den ersten Konzeptkünstlern und zur gleichen Generation wie Sol Lewitt oder Kossuth. Das Verzeichnis seiner internationalen Einzelausstellungen seit 1964 ist beachtlich. Die renommiertesten Galerien und Museen haben sich für ihn interessiert. Viermal war Robert Barry auf der Kasseler „documenta“ vertreten.

Jetzt hat er in der Düsseldorfer Galerie Bugdahn und Kaimer (Mühlenstraße 3) ein eigens auf diese Räume abgestimmtes neues „Wallpiece“ gemacht: ein Wandstück also. Doch diese Übersetzung kommt der Sache nur ungefähr nahe, denn was Barry dort in gelber Latexfarbe mittels Schablonen auf die Wand und die Decke gemalt hat, ist ebenso raum- wie flächenbezogen.

Es sind einzelne Worte, die da im Raum zu schweben scheinen. Nicht etwa brav in Zeilen oder Kolumnen, sondern horizontal, vertikal und schräg in allen Himmelsrichtungen locker über die Wände verteilt, die sie übergreifend zu verbinden scheinen. Ja selbst der obere und der untere Raum, die Treppe werden sozusagen zusammengeschlossen. Man hat den Eindruck von ins Räumliche ausgeweiteter „visueller Poesie“: jener Anordnung von Worten und Sätzen in Büchern, die das Zeilenschema durchbricht.

Robert Barry wehrt ab: „Ich bin Visualist, nicht Poet.“ Dennoch gibt er zu, daß die Bedeutung der Worte wichtig ist. Nicht im anekdotischen Sinn, sondern als „reine Worte, reine Konzepte“. Jedes Wort habe seine eigene Geschichte und solle nicht in Relation zu den anderen stehen. Und wirklich: jedes suggeriert ein Gefühl, eine innere Bewegung, einen Gedanken, einen Bewußtseins- oder Gemütszustand. Jedes läßt aber auch etwas offen, das der Betrachter vervollständigen muß.

Fixiert und freigesetzt

Nur einige seien genannt: Somehow / Remember / Could be / Try / Each one / Look / Listen / Changing / Almost / Please / Beyond / Given / Ourselves / Another / Wait / Together / Doubt / Chance / Alone / Coming / Later / Only one / Loved / Please / could be … (irgendwie, erinnere, es könnte sein, versuche, jeder, sieh, lausche, wechselnd, nahezu, bitte, jenseits, gegeben, wir selbst, ein anderer, warte, zusammen, Zweifel, Chance, allein, Kommend, später, nur einer, geliebt, bitte, kann sein ...

Mit den Worten scheinen alle diese Gefühle und Bedeutungen im Raum zu stehen. Sie werden durch das geschriebene Wort gleichzeitig angeregt, fixiert und freigesetzt in der Phantasie des Betrachters. Wie viele Gedanken und Empfindungen bewegen und durchdringen einander doch in einem Raum, in dem sich ein Mensch aufhält.

Robert Barry setzt in seinen „Wallpieces“, die er schon seit dem Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre macht, einen Kontrapunkt zur Architektur, zum rein Konstruktiven. Er öffnet darin einen spirituellen, immer anders gestimmten Raum, auch in der Farbe, und dabei läßt er sich immer von der gegebenen Situation anregen. Hier wollte er, auch in dem lichten Gelb, etwas Freudiges, Helles machen.

Freilich sind seine „Wallpieces“, sofern sie nicht von Museen oder privaten Sammlern angekauft werden, temporäre Erscheinungen, ähnlich wie Performances. Auch das Raumkonzept in der Galerie Bugdahn wird nach Ende der Ausstellung zerstört. „Für mich sind die Wände wie verschiedene Seiten eines Buches. Jede ist anders“, meint der Künstler.

Barry macht auch Projektionen von Worten, Lichtworten, im dunklen Raum, die kommen und gehen wie das Licht in der Zeit. Oder er projiziert Dias, etwa einen einzelnen blauen Kreis oder einen roten Punkt, auch einzelne Porträts. Für Rudi Fuchs in Eindhoven und für die „documenta“ 1982 erfand er „Soundpieces“ (Klangstücke). Begonnen hat er als Maler, gab aber Mitte der Sechziger die Malerei 20 Jahre lang auf. Robert Barry ist auch Photograph. Am liebsten porträtiert er seine Freunde und Galeristen.

In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 21. Oktober 1992

Schreiben und Reisen über die Abgründe

Autor Hanns Heinz Ewers

Düsseldorf ist dabei, seine Literaturtradition wiederzuentdecken. Das gilt seit gut zwei Jahrzehnten für Düsseldorfs unbestritten größten Sohn, Heinrich Heine: das gilt für eine fast exotische literarische Blüte - für den Groteskenautor Hermann-Harry Schmitz -, und das gilt für einen Mann, der zu den meistgedruckten deutschsprachigen Autoren unseres Jahrhunderts gehört. Mit seiner Biographie ist eine Liste aus dem „Who is who?“ von Thomas Mann bis Adolf Hitler verbunden; sein berühmtestes Werk, „Alraune“, ist in 25 Sprachen übersetzt und wird noch heute gedruckt: Hanns Heinz Ewers.

Ihm galt die Dissertation des jungen Wissenschaftlers Wilfried Kugel, die soeben, vollkommen überarbeitet und mit Forschungsergebnissen bis ins Jahr 1992 aktualisiert, im Düsseldorfer Grupello Verlag erschienen ist (560 Seiten, reicher Bildteil, 42 Mark). Die Stadt Düsseldorf und das Land Nordrhein-Westfalen leisteten Hilfe.

Hanns Heinz Ewers - das war doch der... Ganz richtig, das war der mit dem Buch über den Hitlerjungen Horst Wessel: der, dessen Buch „Reiter in deutscher Nacht“ über den Widerstand gegen die französische Besatzung nach dem Ersten Weltkrieg der Autor mit Widmung dem „Führer“ Adolf Hitler geschenkt hatte; der mit Franz von Papen bekannt war und schon vor 1933 Parteigenosse (PG) wurde; der sich als PG zu seinen jüdischen Freunden bekannte und für ein Heine-Denkmal in Düsseldorf einsetzte.

Ein Mann also in seinem Widerspruch, welcher über den Tod fortdauerte, als ihm im Grabstein auf dem Nordfriedhof ein falsches Todesjahr eingemeißelt wurde. Hanns Heinz Ewers, Freund übrigens von Hermann-Harry Schmitz, lebte von 1871 bis 1943.

Erforscher Wilfried Kugel, der gestern, unterstützt vom stellvertretenden Kulturamtsleiter Klaus Lehmann, die Arbeit „Der Unverantwortliche – das Leben des Hanns-Heinz Ewers“ im „Malkasten“ vorstellte, ist in Düsseldorf bekannt. Vor einigen Jahren besorgte er die Wiederherstellung des Ewers-Films „Der Student von Prag“ für das Düsseldorfer Filminstitut. Dabei wurde die Bedeutung des Schriftstellers für die Geschichte der Filmkunst deutlich. Er hatte das erste Buch eigens für den Film geschrieben, hatte Bühnenschauspieler - wie den „Studenten“ Paul Wegener - überzeugt, daß Filmschauspiel eine achtenswerte Kunst sei.

Ein Jahr arbeitete Kugel im Heinrich-Heine-Institut, wo Ewers’ Nachlaß aufbewahrt wird. In ihm finden sich unter anderem Satiren des Schriftstellers auf die Nazis, denen er schon bald zum Horror geworden war. Sie belegten ihn mit Schreib- und Veröffentlichungsverbot bis an sein Lebensende.

Mit dem Ergebnis, daß sein wechsel- und rätselvolles Leben lange unaufgeklärt blieb, sein Werk in Deutschland fast vergessen wurde, während es in Frankreich und den USA bekannt und beliebt ist. Hierzulande freilich steigen inzwischen die Preise für Ewers-Werke im antiquarischen Buchhandel.

Kugels Ewers-Interesse hatte im Berlin der siebziger Jahre auf dem Sperrmüll begonnen, mit einem zerlesenen Band der „Alraune“. Das war die „Alraune“, die in den fünfziger Jahren noch einmal verfilmt worden war mit Hildegard Knef, Erich von Stroheim und Karlheinz Böhm. Kugel las sich fest und las immer mehr, bis aus dem Lesehunger Forschungshunger wurde. Der führte in Archive bis nach Washington, wo des „Führers“ Bibliothek aufbewahrt wird. Und in Berlin kam es zu Kugels aufsehenerregenden Studien über den Reichstagsbrand. Auch der hatte kurioserweise etwas mit Ewers zu tun.

Der Forscher versuchte, die Psyche des Autors zu ergründen, der früh mit Drogen wie Haschisch, Meskalin, später mit Morphium experimentierte; der die Abgründe der menschlichen Seele beschrieb und dabei oft genug selbst über den Abgründen wandelte - von der Sucht bis hin zu phantastischer geheimdienstlicher Tätigkeit im Kaiserreich. Ewers schrieb, er reiste, und das sowohl in wörtlicher wie übertragener Bedeutung.

Düsseldorf kann sich in den kommenden Wochen auf vielfältige Art dem Autor Hanns Heinz Ewers nähern. Seine „Alraune“ wird in neuer Fassung vom „Off-Theater“ auf die Bühne gebracht; Kugel gestaltet eine Ausstellung mit Reprints aus dem Heine-Institut im Literatur-Café der Stadtwerke, die ab 2. November zu sehen sein wird. Dort zeigt auch der Düsseldorfer Graphiker und Holzschneider Wolfgang E. Herbst eine Holzschnitt-Serie, die er auf Anregung der Stadtwerke zur „Alraune“ geschaffen hat. Im kommenden Jahr wird bibliophil die „Alraune“ nachgedruckt, und das ZDF arbeitet an der Fernseh-Fassung eines Texts mit dem Titel „Die Spinne“.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 21. Oktober 1992

Orden und ein Meyer, der ein Schmitz ist

„Verzeihen Sie, ich bin eine Stricknadel“

„Meyer ist montags Schmitz“, heißt es auf einem Plakat in Köln. In Düsseldorf war Meyer am Wochenende Schmitz, und zwar im Stadtmuseum, dort, wo er laut Museumsdirektor Dr. Wieland Koenig auch hingehört. Nicht Meyer unbedingt, aber Schmitz, Hermann-Harry Schmitz nämlich, in dessen Gestalt und Werk der Kölner Theatermann Frank Meyer mit Kopf und Geist, Haut und Haar geschlüpft ist. „Verzeihen Sie, ich bin eine Stricknadel“ heißt das Programm, mit dem der Ein-Mann-Darsteller unter anderem in einer Acht-Personen-Groteske des Düsseldorfer Autors Hermann-Harry Schmitz (1880 bis 1913) Triumphe feiert.

„Verzeihen Sie, ich bin eine Stricknadel“ ist der Titel eines Stückes verschmitzter Kurzprosa mit der H. H. S., wie wir ihn der Einfachheit halber nennen wollen, seine Düsseldorfer vor 90 Jahren zum Lachen brachte. Und auch 90 Jahre später wieder.

Im Ibach-Saal des Stadtmuseums, wohin die Düsseldorfer H. H. S.-Sozietät eingeladen hatte - ohne Griff in leere Stadtkassen, versteht sich -, machte so mancher erste und wahrscheinlich nachhaltige Bekanntschaft mit dem Autor, dessen Leben so unglücklich verlief. Er schoß, unter unerträglichen Schmerzen leidend, frei nach Ringelnatz in sich „ein ewig tiefes Loch“. Die Zuschauer im Saal sahen nur die Pistole, konnten allenfalls ahnen, wie H. H. S. die Menschen unter Qualen lachen machte. Und Ringelnatz konnte er ja auch nicht kennen.

Folgerichtige Fortsetzung fand die Groteske mit der Verleihung des Grotesken-Ordens 1992 durch den Vorsitzenden der Sozietät, Klaus Lehmann, an den ehemaligen Ratsherren der Grünen, Günther Classen. Der hatte sich im August handgreiflich mit einem Mitarbeiter seiner Fraktion auseinandergesetzt, seine Entschuldigung war von den Mit-Grünen nicht akzeptiert worden, seit dem gibt es im Rat der Stadt eine siebte Partei. Grotesk?

Der Lustwart der Sozietät, Wolfhard Bode, lieferte an den neuen Ordensträger eine geschliffene Büttenrede ab, die es sorgsam vermied, den Schlagfertigen als Helden darzustellen, vielmehr auf die allgemeine kulturelle Misere in Düsseldorf abhob. Nur hier könne man „mit Lustgewinn in die Röhre sehen“. Und mit dem vorgeschlagenen „Kunsthallen-Kahlschlag“ hat sich der neue Kulturdezernent Hans-Heinrich Grosse-Borckhoff möglicherweise schon in der Riege der Grotesken-Orden-Anwärter für 1993 nach vorn geboxt. Günther Classen, dessen Orden aus Kleiderhaken mit Boxer-Shorts und Handtuch bestand, erwies sich als würdiger Ordensempfänger, machte gute Miene zum grotesken Spiel und betonte, daß seine neue Partei keine „schlagende Verbindung sei“.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 26. Oktober 1992

Sonnenblumen flattern

Maler Adolf de Haer, ausgestellt in Kaiserswerth

Heute vor 100 Jahren wurde der Düsseldorfer Maler Adolf de Haer (1892 –1944), einer der bedeutendsten Vertreter des rheinischen Kubo-Expressionismus, geboren. Mit einer verdienstvollen Ausstellung ehrt das 1991 eröffnete „Museum Kaiserswerth“ im Schulgebäude Fliednerstraße 32 den Künstler, der seit 1936 in Kaiserswerth wohnte und arbeitete.

Dort wird auch der Nachlaß von seiner Nichte, Melitta Ficher, betreut, den die Galerie Remmert und Barth erst vor knapp einem Jahrzehnt der Verborgenheit entriß. Ihre 1985 gezeigte Ausstellung mit frühen Arbeiten de Haers war eine kleine Sensation. Die jetzige Schau wird auf Initiative des Heimat- und Bürgervereins veranstaltet. Dessen Vorsitzender Wilhelm Mayer ist zugleich Leiter des privaten Museums Kaiserswerth, das er mit großem Engagement begründete. Er wurde unlängst dafür von der Hans-Maes-Stiftung ausgezeichnet.

Der gebürtige Düsseldorfer Adolf de Haer war schon in jungen Jahren fest entschlossen, Maler zu werden. Sein Rüstzeug erwarb er als Stipendiat an der hiesigen Kunstgewerbeschule (bis 1914), bevor er zum Kriegsdienst eingezogen wurde. Im Sommer 1917 konnte er einige Monate bei Adolf Hölzel in Stuttgart studieren, um sich bei ihm mit Grundgesetzen von Farbe und Form vertraut zu machen.

1919 gehörte de Haer in Düsseldorf zu den Gründungsmitgliedern des „Jungen Rheinland“ und zum Kreis der Johanna Ey. Er engagierte sich auch im „Aktivistenbund“. Schon 1919 stellte er im „Graphischen Kabinett“ von Dr. Hans Koch aus. Die Städtischen Sammlungen kauften im gleichen Jahr sein Bild „Menschen“ an, einige Jahre später unter anderem auch sein „Damenbildnis“ und ein Porträt seines Malerfreundes Werner Gilles. Gleichzeitig mit seiner Ausstellung im „Ey“ 1921 war er mit Abbildungen im ersten Heft der Zeitschrift „Das junge Rheinland“.

Obwohl de Haer schon Mitte der zwanziger Jahre die kubistisch-expressionistische Abstraktion aufgegeben hatte, gehörte er in der Nazizeit zu den Verfemten. Auch aus dem Düsseldorfer Kunstmuseum wurden Bilder von ihm entfernt. Seine große Zeit – und das wird besonders in dieser Kaiserswerther Ausstellung deutlich, in der auch Arbeiten der dreißiger und vierziger Jahre zu sehen sind – war eindeutig die zwischen 1919 und 1921.

Das Ensemble der drei großen Bilder „Maler und Mädchen“ (1919), „Mädchen mit Blume“ (1919) und „Zwei Sonnenblumen“ (1924) zeigt ihn auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Die straffe kubistische Komposition der beiden figürlichen Gemälde ist doch voller emotionaler Spannkraft. Fast dramatische innere Erregung deutet die grün-gelbe, von Licht durchflutete Hautfarbe des Manns und der beiden Mädchen an. Traumhafte Versunkenheit spricht aus den Farben – blauem Haar, gelbem Kleid, gelber Blüte – des „Mädchens mit der Blume“ vor abstraktem Farbengrund. Von kubistischen Zwängen befreit, flattern dagegen die drei Jahre später entstandenen Sonnenblumenblätter im Bild.

Eine Übergangssituation zwischen Expressionismus und Impressionismus markiert das große Porträt „Cellist Flieger“ (1925). Das „Stilleben mit Tisch und Stuhl“ von 1929 bewahrt die spontane Frische des impulsiven Pinselstrichs und der Farben, ebenso manche impressionistisch wirkenden Blumenstilleben von 1928/29. Charaktervoll, realistisch auch ein Bildnis wie „Frau Heinen (mit Vogelbauer)“ (1928). Schlicht und gesammelt selbst noch das „Selbstbildnis mit Buch“ von 1935 und das Porträt des Bildhauers Fritz Peretti. Doch was dann später kommt an Blumenstilleben und weiblichen Akten, macht verständlich, warum Adolf de Haer in der Versenkung verschwand. Der Schock der Verfemung von 1937 war offenbar zu stark.

Großartig sind aber auch die frühen kubistisch-expressiven Holzschnitte wie etwa das farbig aquarellierte „Mädchen“ von 1919 in seinem herben Lyrismus, das der „Brücke“-Kunst nahe steht, oder „Im Atelier“ von 1920 und „Erhebung“ (1921). Nicht zu vergessen Radierungen und Lithographien, wie „Porträt am Fenster“ (1923) und „Gasse“ (1920) aus dem „Buch Eins des Aktivistenbundes 1919“. Im ganzen sind 70 Arbeiten zu sehen.

Adolf de Haer ist 1944, nachdem er zum Volkssturm eingezogen worden war, in einem Lazarett in Osnabrück an Lungenentzündung gestorben.

In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 29. Okotber 1992

Als Anatol den Beuys heimfahren wollte

„Mit Haut und Haaren“ aus der Düsseldorfer Szene 1967 – 75 in der Kunsthalle

Ein Auftrieb, ein Menschengewimmel; fast wie einst war das. Viele waren gekommen und freuten sich ganz offensichtlich über ein Wiedersehen mit vielen bei der Eröffnung der Ausstellungen zum 25jährigen Jubiläum der Kunsthalle: der kleinen, aber inhaltsreichen, von Helga Meister engagiert als Rückblick auf die Szene der „Gründerjahre“ 1967 –1975 zusammengestellten Schau „Mit Haut und Haaren“ und der großen Präsentation „Avantgarde & Kampagne“, in der Arbeiten von 40 Künstlern mit Werbung konfrontiert werden.

Trotz der Fülle war aber doch unterschwellig ein wenig Resignation und Enttäuschung zu spüren. Alles ist in diesen beiden ja eigentlich städtischen Ausstellungen Sponsoren zu verdanken. Schon in der Pressekonferenz hatte Jürgen Harten – real und auch im übertragenen Sinn – von der Brüchigkeit und dem dringend notwendigen Umbau des „Kunstbunkers“ gesprochen. Die 25jährige Kontinuität der Vielfalt – sei jetzt einer Verunsicherung gewichen. „Der international stärker gewordenen Kunst sind wir mit dem kleinen Haus, den geringen Mitteln nicht mehr gewachsen.“

„Glücklich verheiratet“

Karl Ruhrberg, der erste Direktor der Kunsthalle, mit der er „sieben glückliche Jahre (einschließlich der Verlobungszeit) verheiratet“ war, hält sie noch immer „für einen unentbehrlichen Fixpunkt auch international“. Was waren das doch noch für Zeiten in den Endsechzigern, als es vielfach keine Kunst war, Kunst zu machen, weil man eigentlich die Anti-Kunst wollte, und als im Beuys’schen Sinne „jeder ein Künstler war“.

Ideen aber gab’s zuhauf. Die Kunstwerke selbst waren arm, bescheiden: arte povera. Sie verbargen dahinter doch oft ihre politische Brisanz im Wirtschaftswunderland. „Mit Haut und Haaren“ brachte man sich selbst ein. Alles wurde zum Happening. Vielleicht gibt gerade die dichte Enge des Ausstellungsraums den vielen Relikten jener Zeit wieder mehr Präsenz. Vieles haben damals ja immer nur wenige miterlebt. Selbst Insider werden nun so manches entdecken, das sie noch nie sahen.

Katharina Sieverdings 1969 mit dem Photomaton gemachte riesige frontale Selbstporträts reißen suggestiv Zonen zwischen Bewusstem und Unbewusstem auf. In den beiden bemalten Gipsbüsten im Kasten von ihr selbst und Imi Knoebel erscheinen Beziehungen: zugleich maskenhaft erstarrt zu sein und sich doch in der Suche nach Identität zu finden.

Sich selbst mit der Photographin Monika Baumgartl stellte auch Klaus Rinke in der Aktion „masculin-feminin“ auf der Tokio-Biennale 1970 aus als Personifikation eines Grundprinzips allen Lebens. Ausgeburten von Angstträumen gleichen oft Günter Weselers Atemobjekte aus Fell, wenn sie in Käfige eingesperrt sind, die ihren Lebens- und Atemraum beengen oder sie vielleicht auch schützen.

Sind es festgenagelte Ängste, die Günther Uecker zeigt, wenn er sich unter eine mit Nägeln gespickte Schreibmaschine stellt? Der einst aus der DDR übergewechselte Künstler stellt auch seine „Kleine Revolution 1948 – 1948“ vor: einen Käfig, in dem Hammer, Sichel und roter Stern maschinell angetrieben rotieren.

An einem mit Illustrierten bedeckten weißen Stuhl Ferdinand Kriwets „Walk-Talk“-Läufer und „Sehtexte“ verwirren als neuartige Seh-Schule, und Marcel Broodthaers, der in seinen fiktiven „Museen“ Kunst und Kultur in Frage stellt, schnitt aus einem Hundertmarkschein den Adler aus, um ihn als Symbol des Geistes über den Mammon triumphieren zu lassen.

Handfester, greifbarer sind Anatols „Arbeitszeiten“, in denen er beispielsweise den Einbaum machte, mit dem er 1972 seinen von der Akademie vertriebenen Lehrer Joseph Beuys über den Rhein wieder dorthin zurückbringen wollte.

Die rote Rose im Wasserglas war das Wahrzeichen von Beuys, als er 1972 auf der „documenta“ in Kassel über „direkte Demokratie“ debattierte und die „1 a gebratene Fischgräte“, das „Freitagsobjekt“, das der „Magier“ jener Zeit 1970 in der legendären Eat-Art-Galerie von Daniel Spoerri am Burgplatz ablieferte, mögen hier knapp den Radius seiner Arbeit vor und nach der Gründung seiner „Deutschen Studentenpartei“ abstecken.

Der „Lidl-Klotz“, mit dem sein Schüler Jörg Immendorff im Januar 1968 vor dem Bundestagsgebäude demonstrierte als Inbegriff für die Proteste und Feste vor und in der Kunstakademie; Klaus Staecks bissige aggressive Plakat-„Anschläge“, Hans Peter Alvermanns süffisante Polit-„Schweinchen“ gehören zu den Scharfmachern der Schau.

Scheren in den Wolken

Doch welch magrittescher Witz in Robin Pages „Skyssors“: einer Schere, die in Vogelfedern endet und die Wölkchen im blauen Himmel eher streichelt als zerschneidet. Welch kindlich-raffinierter, erotischer Charme in den Bildern von Dorothy Iannone, die in „siebenjähriger Umarmung“ mit dem Schokolade-Künstler Dieter Roth verbunden war.

Eine Rarität Fritz Schweglers „Ratat“-Koffer. Herrlich dieser „Pinselstrich“ aus Kuchenteig und Zuckerguß, ein Eat-Art-Objekt, in dem sich Roy Lichtenstein selbst über sein weltberühmtes Bild lustig macht. Und nicht zu vergessen Robert Filliou, der früh Gestorbene „Entertainer von Gedanken, der Fluxus-Künstler, Träumer und weiser Spieler und unerschöpfliche Poet“!

In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 22. September 1992

Als dänische Künstler in Düsseldorf studierten

„Malerei auf Bornholm“ im Stadtmuseum

Unter dem Patronat von Prinzessin Benedikte von Dänemark, einer Schwester der dänischen Königin, steht die Ausstellung im Stadtmuseum „Malerei auf Bornholm“. In ihr wird erstmals die vom besonderen Licht, von der reizvollen Landschaft und ihren Menschen angeregte moderne Malerei dieser Insel außerhalb von Dänemark gezeigt. Anlaß ist der 100. Geburtstag des Bornholmer Stadtmuseums, das aus diesem Grund einen Neubau bekommt und deshalb zur Zeit geschlossen ist. So konnten 40 Bilder aus der Zeit zwischen 1840 und 1950 nach Düsseldorf reisen.

Welche Überraschung! Es sind auch Werke von zwei dänischen Malern darunter - A.E. Kieldrup (1827-1869) und Viggo Feuerholdt (1832-1883) -, die im 19. Jahrhundert an der Düsseldorfer Kunstakademie studierten.

Museumsdirektor Wieland König nahm dies zum Anlaß, ein Forschungsprojekt über den Einfluß der Düsseldorfer Malerschule des 19. Jahrhunderts in Dänemark in Gang zu setzen. Ebenso will man versuchen, die Sammlung moderner und „entarteter“ Kunst des vor den Nazis nach Bornholm mit seinen Bildern emigrierten Hannoveraner Kunsthändlers Herbert von Carvens wieder in einer Ausstellung zusammenzubringen.

Es ist zu hoffen, daß im Gegenzug auch Düsseldorf in dem Bornholmer Museumsneubau eine Ausstellung mit in dieser Stadt entstandenen Bildern zeigen kann. Das Inselmuseum hat nicht nur eine beachtliche Sammlung unter anderem von prähistorisch-geologischen, naturhistorischen, keramischen, ethnographischen Objekten aufgebaut, sondern auch eine große Kollektion von Gemälden, Skulpturen, Graphiken, Kunsthandwerk, die alle auf Bornholm entstanden oder mit der Insel eng verbunden sind. Obwohl immer vom europäischen Kontinent, seinen Schulen und Stilen beeinflußt, bewahrten sie, besonders in der Moderne, viel Individuelles.

Die Bornholmer Inspiration

Schon im 19. Jahrhundert suchten immer wieder Künstler die abgeschiedene Insel Bornholm auf. Hat doch ihre Ostküste, ähnlich wie Skagen, das intensivste Licht in ganz Dänemark. Immer wieder bildeten sich Künstler-Kolonien. Die dänische Kunstgeschichte verzeichnet sogar seit 1911 eine „Bornholmer Schule“ oder „Bornholmer Inspiration“. Die frühen in der Ausstellung vertretenen Gemälde stehen freilich noch ganz unter dem Einfluß des europäischen Klassizismus und der deutschen Romantik. Amüsant ist das 1843 entstandene Gemälde „Die Malerschule in Göteborg“ des in Bornholm geborenen Lars Hansen. Ausschließlich junge Mädchen (!) zeichnen hier nach Gipsmodellen, darunter Thorvaldsens „Leier spielendem Amor“, auf den sich die ganze Aufmerksamkeit der jungen Kunststudentinnen konzentriert.

Der Bornholmer Landschaft wendet sich A.E. Kieldrup in seiner 1849 gemalten romantisch-idealistischen Ansicht von „Hammershus“, einer der größten mittelalterlichen Burgruinen Dänemarks auf Bornholm, zu. Vor dem Motiv hat er nur die Skizze gemacht und dann, getreu den Richtlinien der Düsseldorfer Malerschule im Atelier das Bild aus Einzelbeobachtungen in der Phantasie komponiert: Schon in erstaunlich lichten Plein-air-Farben. Auch Viggo Fauerholdt fängt das besondere Licht Bornholms in seiner Klippenlandschaft bei Gudjem an der Bornholmer Ostküste ein (1857).

Bahnbrecher der Moderne

Winzig ist die Rückenfigur des Hirten in Georg Emil Liebens grandiosen, dramatischen „Randkloven“ (Randklippen) einer gewaltigen Felsschlucht auf Bornholm. Der gebürtige Bornholmer Kristian Zahrtmann (1843-1917) wurde dann, zusammen mit anderen Kollegen in Kopenhagen, zum an Paris orientierten Bahnbrecher der Moderne und Überwinder des Akademismus. In seiner Nachfolge hielt auch auf Bornholm, wo 1911 bis weit in die 20er Jahre hinein auf Christansö eine Künstlergruppe bestand, die Moderne Einzug. Cézanne und der Kubismus formten nun auf eigenwillige Weise den Stil ihrer Landschafts- und Figurenbilder, ihrer Porträts. Sie sind die eigentliche Überraschung dieser Ausstellung.

Gestisch und formstreng zugleich ist das Porträt von Bertha Brandstrup (1914) des mit Dänemark eng verbundenen Schweden Karl Isakson, während er in einem Stilleben (1916-1918) oder einer „Ansicht von Gudhjen“ (1921) und dem „Friedhof von Christansö“ (1921) mit der zarten, schwebend leichten Lichttransparenz von Farbflächen mit kubistischem Einschlag spielt. Ein temperamentvoller, oft ekstatischer Pinselstrich zeichnet Edvard Weies „Selbstporträt“ (1910/15), seinen „Waldweg Christansö, Morgen“ aus oder seinen „Entwurf für eine romantische Phantasie“ (um 1921). Zahrtmannschüler wie Weie war auch Olaf Rude, der ständige Sommergast auf Bornholm. Streng in farbige kubistische Flächen geschichtet ist seine „Schwarze und weiße Frau“ von 1918. Farbflächen schaffen Farbräume in seinen späteren abstrahierten, doch stimmungsreichen Landschaften („Frühlingsmorgen, Allinge“. 1941).

Weitere in großen vereinfachenden Farbflächen und Schichten aufgebaute Gemälde sind auch Niels Lergaards herbe Porträts und Landschaften, die schlichten Bilder von Claus Johansen und die fast informellen, das Gegenständliche nur als Vorwand für Farb- und Lichtschimmer nehmenden Malereien von Oluf Möst.

In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 3. März 1993

Wie Wölkchen im Wind

Doppelausstellung Poncar/ Minnich im Kunstverein

Für seine erste Ausstellung als neuer Direktor des Kunstvereins für die Rheinlande und Westfalen hat Raimund Stecker das Oberlicht seiner Räume in der Kunsthalle mit weißer Gaze abgeschirmt. In solch gefilterter, wie schwebender Atmosphäre kann die gelungene Doppelschau mit Bildern von Bernd Minnich und Photographien von Jaroslav Poncar ihre Reize ganz entfalten.

Bei beiden Künstlern geht es gleichermaßen um Weite, um Raum, um das Abgehobene, um eine Dimension, in der das Reale, Faßbare zu entgleisen scheint, fast aufgesogen wird eben von diesem Raum, gegen den es sich gerade noch behauptet.

Die Einsamkeit des Menschen zwischen Erde und Himmel empfindet man besonders in den Panorama-Photographien des 1945 in Prag geborenen Jaroslav Poncar aus West- und Ost-Tibet, dem Karakorum, den Himalaya-Gebieten – Ladakh, Nepal – sowie Burma und Südjemen. Bernd Minnichs großformatige Gouachen auf Holz, Papier oder Schaumstoff (1990 – 1992) sind gegenüber solch erhabenem, schweidendem, fast reglos in sich ruhendem Ernst ein heiterer, bewegter Aufschwung, ein Sich-Lösen von irdischen Bindungen und materiellen Zwängen.

Es sind Bilder in lichten, zarten Farben – Rosa-, Gelb-, Orange-, Hellgrün-, Zartblau- und Grautönen, in die sich wie eine Ahnung Gold- und Silberabglanz mischt.

Minnichs wie in Sphärenräumen schwebende lyrische Klangfarben wirken als abstrakte, flüchtige Farb-Erscheinungen und -Bewegungen im weißen Raum, wie Ahnungen oder Erinnerungen. Frühlingshaft wirken sie wie Wölkchen oder Schleier im Wind, wie schöne Träume und Spuren von Glück.

Der gebürtige Hamburger Bernd Minnich (1941) ist nach seinem Studium der Kunstgeschichte, Archäologie und Geologie in Hamburg und dem Kunststudium an den Akademien in Braunschweig und Düsseldorf seit 1990 Professor für Freie Malerei an der Kunsthochschule Braunschweig. Er lebt in Düsseldorf.

Jaroslav Poncar ist seit 20 Jahren Professor für Photoingenieurwesen an der Kölner Fachhochschule. Bekannt wurde er nach zahlreichen Expeditionen durch seine Dokumentationen buddhistischer Wandmalereien im Tempel von Alchi (Ladakh), zusammen mit Professor Goeppner, dem ehemaligen Direktor des Museums für Ostasiatische Kunst in Köln. Auf Anregung von Josef Sudek hat er sich seit 1976 der Panorama-Photographie zugewandt und ist seitdem, allen Tücken seiner russischen Panorama-Kamera zum Trotz, immer tiefer in die Feinheiten dieses schwierigen Metiers eingedrungen. Mit seiner hinten mit einem Schlitz sowie mit einer Wasserwaage versehenen Panorama-Kamera kann man ohne Verzerrungen einen optischen Blickwinkel von 120° erfassen. Trotzdem müssen die von links bis rechts scharfen Aufnahmen noch im Labor den letzten Schliff bekommen.

Für die grandiosen, weiten Landschaften Tibets, des Himalaya oder etwa des Jemen ist die Panorama-Photographie das ideale Medium, Poncars Schwarzweiß- und Farbphotographien mit ihren einerseits subtilsten Binnenstrukturen, andererseits dem großartigen Pathos der Landschaft, ihrer matten, weichen Tonigkeit und gleichzeitig dramatischen Helldunkel-Kontrasten sind ein Erlebnis. So lassen die Aufnahmen des Lake Manasarovar, des dunklen, heiligen Sees in West-Tibet, erschauern, die Klarheit auch, die ungeheure Einsamkeit zwischen Himmel und Erde in der Bergwelt im Quellgebiet des Indus in West-Tibet oder der märchenhaft-illusionistische, zwischen Wasser und Land verspiegelt schwebende „Goldene Tempel von Amritsar“. Dann wieder das zwischen wandernden Wolken in dünner Luft über wogende Berggipfel huschende Licht einer Landschaft wie auf einem fernen Planeten einer Landschaft in Tibet oder die Majestät einer Lehmhochhäuserstadt im Südjemen.

In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 18. März 1993

Kraft aus heimischen Bräuchen

Lateinamerikanische Kunst im 20. Jahrhundert / Ausstellung in Köln

„Lateinamerikanische Kunst im 20. Jahrhundert“ – diese chronologisch nach Stileinflüssen, nicht nach Ländern gegliederte, klar die wesentlichen Aspekte herausstellende Schau ist zur Zeit in zwei Etagen der Kölner Kunsthalle zu sehen. Für Europäer ist das Obergeschoß der eigentliche Ort der Begegnung. Dort schreitet man von geradezu atemberaubend packenden Sektionen der Pioniere der Moderne – unter dem Einfluß von Kubismus, Futurismus, Expressionismus, Surrealismus – aus Mexiko, Uruguay, Argentinien und Brasilien zu einer eigenen, gewachsenen, selbst in den 20 lateinamerikanischen Staaten nicht homogenen Kunst. Über die bekannten sozial engagierten „Mexikanischen Muralisten“ Orozco, Rivera und Siqueiros führt der Weg zu konstruktivistischen, neo-konkreten und op-artistisch-kinetischen Tendenzen. Im Untergeschoß sind dann Neu-Figuratives, Pop-art und unmittelbar zeitgenössische Installationen untergebracht.

Gleich zu Anfang wird man konfrontiert mit der Vielfalt individueller künstlerischer Reaktionen junger, aus der akademischen Tradition lateinamerikanischer Länder ausbrechender, seit etwa 1910 nach Europa strömender Künstler. In den von Temperament und Farben sprühenden, naiv-spontanen Bildern des Argentiniers Alejandro Xul Solar, der in München Klee und Kandinsky kennenlernte, vermischen sich konstruktive und mythische altindianische Traditionen mit kubistischen und expressionistischen zu vielschichtigen Aussagen („Heiliger Tanz“, „Welt“, „Nana Watzin“, 1923 – 1925). Zeigt schon Diego Riveras kubistisches „Porträt Martin Luis Gazmán“ von 1915 einige folkloristisch-brasilianische Elemente, so ist sein „Tag der Blumen“ von 1925 geradezu eine Beschwörung heimischer Bräuche.

Allenthalben besinnt man sich in den zwanziger Jahren auf die eigene Herkunft. In Brasilien ruft der Dichter Oswald de Andrade in seinem „Anthropophagischen Manifest“ dazu auf, die europäischen avantgardistischen Strömungen dem eigenen afroindianischen Kulturgut „menschenfresserisch“ einzuverleiben. Einzigartig und im Ausdruck überwältigend gelingt das der Brasilianerin Taarsila do Amaral in ihren monumental deformierenden und vereinfachenden tropisch-vegetativen Bildern; darunter „Abaporu“, „Die Negerin“ und „Anthropophagia“.

Renaissance der Wandmalerei

Auch die engagierte, in der Mexikanischen Revolution von 1910 wurzelnde „Renaissance der Wandmalerei“ seit den zwanziger Jahren ist in diesen alten Kraftquellen begründet, die den Menschen durch die Kunst wieder bewußt werden sollen; besonders bei Diego Rivera in seinen schlichten Darstellungen des bäuerlichen Lebens, während David Alfaro Siqueiros in düsteren Menschenbildern Leiden und Unterdrückung der Armen von einst und jetzt ins Unheimliche steigert und José Clemente Orozco die Grausamkeit und den Terror schildert, denen sie ausgeliefert sind.

Die intimen Kabinette für Maria Izquierdo und Frida Kahlo, die in ihrer traumhaften Melancholie, ihrem zum Bild geronnenen Schmerz zum Bewegendsten der Ausstellung gehören, leiten über zu den eigenartigen Versionen eines lateinamerikanischen Surrealismus, wie er vor allem durch die von André Breton mit initiierte große Internationale Surrealistenausstellung in Mexiko-City 1940 Impulse erhielt. Die erotisierten, durch schweifende Linien in Schwingung versetzten Räume des Chilenen Matta und die von Picasso nicht unberührten, aus geheimnisvollen Vorstellungen und Ritualen afro-kubanischer Glaubensvorstellungen erwachsenen Visionen von Wifredo Lam, dem Sohn chinesischer und afro-kubanischer Eltern, sind in großartigen Bildbeispielen vertreten.

Unter den mancherlei Varianten eines teils spielerischen (Arte Madi), teils streng-konkreten Konstruktivismus bezaubern vor allem die Bilder und reizvollen Holzkonstruktionen des in Uruguay geborenen Pioniers des lateinamerikanischen Konstruktivismus Joaquin Torres-Garcias, in denen sich die geometrische Grundstruktur der präkolumbischen Kunst erzählerisch und nicht ohne Humor mit stilisierten Figuren, Zeichen und Zahlen verbindet.

Die vorgeführte Op-Art und Kinetik, darunter von Soto, Cruz-Diez und Le Parc, durch die sich Lateinamerika seit den sechziger Jahren international profilierte, ist uns geläufig; auch der Kolumbianer Fernando Botero mit seinen prallen, die aufgeblasene Gesellschaft ironisierenden Figurenbildern oder Marisol aus Venezuela mit ihren in bemalte Holzklötze gebannten Figuren. Für die lebhafte Gegenwartskunst, die sich freilich von der europäischen kaum unterscheidet, hätte man sich lieber eine eigene Ausstellung gewünscht.

In: Rheinische Post. Feuilletonn, 19. März 1993

Neben dem Licht wartet das Dunkel, und das Blühen ist auch Tod

K. H. Hödickes Ausstellung „Berliner Ring / Gemälde und Skulpturen 1975 – 1992“ des Kunstmuseums im Kunstpalast am Ehrenhof

Karl Horst Hödicke ist einer der wesentlichen Künstler unserer Zeit. Mit Herzblut getränkt sind Hödickes in der ganz banalen Umweltwirklichkeit aufgelesenen Bilderlebnisse und doch immer zugleich Symptom, Vision. Ein seherischer Blick hat sie gleichsam durchleuchtet, hat in ihnen das Zeichenhafte aufgespürt. Aufgescheuchte, geheime Bewegkräfte der Zeit scheinen in ihnen sichtbar zu werden. Und das grenzt sich keineswegs auf der Ebene des Sozialkritischen oder Politischen ein.

Auch der Titel seiner jetzigen, aus Berlin kommenden Ausstellung „Berliner Ring – Gemälde und Skulpturen 1975-1992“, die das Kunstmuseum im Kunstpalast am Ehrenhof zeigt, stellt dies wieder unter Beweis nach der vor sieben Jahren in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen ausgerichteten Hödicke-Retrospektive. Gegenüber Berlin hat sich zwar die Zahl der großformatigen Bilder auf 30, die der Skulpturen auf eine einzige reduziert. Doch die großräumig placierte Schau hebt die geniale, im Impuls ungemein sichere, sparsame, selbst in der Expressivität jedes Zuviel vermeidende Pinselführung um so eindringlicher hervor. K. H. Hödicke (geboren 1938 in Nürnberg), „Vater“ der aus der 1964 gegründeten Galerie Großgörschen 35 hervorgegangenen Berliner Malergruppe der „Neuen Expressiven“ (vertreten unter anderem durch Koberling, Middendorf, Salome bis hin zu Hella Santarossa und Elvira Bach), lebt seit seinem Studium bei Fred Thieler in Berlin, ist dort Professor an der Hochschule der Künste und Mitglied der Akademie der Künste.

Die geteilte Stadt, dieser Brennpunkt des Zeitgeschehens, wo Hödicke immer noch sein Atelier in der Dessauer Straße hat - ganz nahe der ehemaligen Zonengrenze in einer verödeten Niemandslandschaft -, erscheint wirklich wie ein „Ring“, der auch sein eigenes Denken ein- und umschließt. Das Aufregende und Bestürzende an seinen Bildern ist ja diese Gleichzeitigkeit des Gegensätzlichen, das sie vermitteln. Das Schöne, Leben, Lust, Begeisterung und Freiheit sind zugleich Schmerz, Trauer, Melancholie, Sterben. Neben dem Licht wartet das Dunkel, Blühen ist auch Tod. Offenheit und beklemmende Enge schließen einander fast aus.

Man vergißt sie nicht, diese traumatischen Stadtlandschaften von 1973/75 („Der Himmel über Schöneberg“), deren Häuserschluchten den („versilberten“) Himmel wie einen Gefängnishof einmauern. Welche Perversion: Dieses „Feuerwerk über dem Alexanderplatz“ (1982) hinter den gespenstisch vom Dunkel ausgehöhlten Silhouetten des Brandenburger Tors neben tristen Plattenbauten. Menschen sind nicht zu sehen. „Fluchtfuß“ (1985), riesig über dem Grünstreifen fliegend-fliehend in schwarzer Nacht, mit leuchtenden Blutspuren auf der Sohle. Oder die angstvoll-lustvolle „Vertreibung“ von 1981, der Sprung an das rettende andere Ufer.

Das Brandenburger Tor immer im Visier auch des inneren Auges über die „Wüste Gobi“: unpathetisch, fragil, Relikt der Erinnerung, ins Dunkel getaucht. Die verfremdend grellen Farben der „Quadriga“ und die vergänglichen, sich versprühenden Feuerwerksblumen erscheinen über dem „Flammenden Tor“ als Bühne der Leidenschaften, der Schmerzen, Trauer und Hoffnungen.

Das Bild der „Mütter“ dann im Golfkriegsjahr 1991, die den toten Sohn auf ihrem Schoß tragen, die Pietà aller Zeiten in einer unendlichen Reihe: Leiden, das sich in Linien ausdrückt, in fahlem Rosa, entschwindendem Blau. Durchscheinend ist das Bild wie der in den Körpern eingefangene leere weiße Raum. Aufgereiht auch die Frauen im „Polenmarkt“ (1990) wie Puppen, durch deren weiße, gleichförmige Maskengesichter schmerzhaft zurückgestaute menschliche Not bricht. Wie Lampions, vielleicht aber auch wie vertropfendes Blut sind sie aufgehängt vor schwarzem Grund, die rotleuchtenden Fuchsienblüten und –knospen, angeregt durch Fuchsienhecken in Irland. Kaum intensiver als vor diesem vierteiligen Bild könnte man erleben, wie schmerzhaft das Schöne, wie tödlich das Blühen sein kann. „Hecke (wo sind die Heckenschützen?) Rot wird so leicht glutrot so blutrot so feuerrot durch Schwarz“ hat es K. H. Hödicke genannt.

In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 6. April 1993

Ringen gegen Hemmnisse – ein Künstlerleben lang

Malerin Julie von Egloffstein im Goethe-Museum

Für die außergewöhnliche Schönheit und die große künstlerische Begabung ihrer Tochter Julie, die am 12. September 1792 in Erlangen geboren wurde, hatte die Mutter, Henriette Gräfin von Egloffstein, eine plausible Erklärung. Während sie dieses - ihr drittes - Kind unter dem Herzen getragen habe, sei sie durch Italien gereist und habe dort von der Natur und der Kunst überwältigende Eindrücke empfangen. Das Leben der Julie von Egloffstein (1792-1869), „Goethes Zeichnerin“, ist Thema einer bezaubernden Ausstellung im Goethe-Museum, die aus dem Hildesheimer Roemer-Museum kommt als Ehrung zu ihrem 200. Geburtstag.

Bewegliches Temperament

Die Zeit der Klassik, der Romantik und des Biedermeier gewinnt in dieser Schau mit Gemälden, Aquarellen, Zeichnungen, Lithographien, Handschriftlichem und in ihrem schönen Katalog greifbar menschliche, ja persönliche Konturen. Im Milieu, in den wechselnden Schauplätzen, in den Porträts, Landschaften, Genrebildern, in Person und Lebensweg der Künstlerin selbst reflektiert sie immer zugleich Weite, Größe, Zielstrebigkeit, Tatendrang, schwärmerische Entdeckungsfreude und ein bewegliches Temperament, die doch alle den Rahmen des Angepaßten nicht sprengen. Dieser bleibt durch Erziehung und Standesbewußtsein gewahrt und hemmte die künstlerische Entfaltung Julie von Egloffsteins lebenslang.

Und dies, obwohl sie von Jugend an eine professionelle Künstlerlaufbahn anstrebte, immer unvermählt blieb, um sich in damals ungewöhnlicher Hingabe für eine Dame von Rang dieser Aufgabe zu widmen und jede Gelegenheit ergriff, sich malerisch-zeichnerisch und auch in der neu aufkommenden Lithographie weiterzubilden. Weimarer Künstler wie Haller von Hallerstein und Heinrich Meyer, Georg Kersting in Dresden, Heinrich Christoph Kolbe, Karl Stieler oder Overbeck in Rom, Peter Cornelius, Dillis in München, an der Düsseldorfer Akademie (1837) Louis Ammy Blanc, Schadow, Hübner, Lessing gehörten zu ihren Lehrern und Vorbildern. Nicht zuletzt auch die alten Niederländer und Raffael, Guido Reni, Correggio, Rubens.

Goethe, ihr großer Förderer und Verehrer am Weimarer Musenhof, war es, der sie „seine glückliche Zeichnerin“ nannte. War sie es wirklich? Nach den Jahren in Weimar (1816-1828), wo sie unter dem Scherznamen „Julemuse“ zusammen mit Ottilie von Pogwisch („Tillemuse“), Adele Schopenhauer („Adelmuse“) und der Schwester Caroline („Museline“) zum Freundeskreis des „Musenvereins“ gehörte, brach sie fast fluchtartig zu einem zweijährigen Rom- und Italienaufenthalt auf, weil sie ihr Amt als Großherzogliche Hofdame zuletzt als „wahre Höllenpein“ empfand und Behinderung ihres Schaffens.

Die Bilder der Ausstellung spiegeln ihre zahlreichen Reisen, die Schauplätze ihres Wirkens, ihrer Erfolge und Anerkennungen auch in Ausstellungen: Reisen nicht nur in die deutschen und italienischen Kunstmetropolen, sondern auch nach England, in die Schweiz und die Niederlande, ebenso die Zeiten idyllischer Zurückgezogenheit im Forsthaus Misburg bei Hannover, im fränkischen Stammsitz Schloß Egloffstein und zuletzt im Klostergut Marienrode bei Hildesheim.

Besonders anmutig in der subtilen Schwerelosigkeit sind die lichtdurchwobenen, meist lavierten, teils auch aquarellierten Graphit- und Bleistiftzeichnungen ihrer Rheinromantik-Reise von Mainz bis Köln 1816. Voller Charme und Frische, auch souverän in der Zusammenschau und dem Detailreichtum die gezeichneten Ansichten von Schloß Egloffstein (1814) oder aus der Umgebung von Weimar, während die Architekturzeichnungen aus dem antiken Rom zum Teil etwas angestrengt, die eigenhändig lithographierten Genreszenen aus Italien indes grazil und technisch perfekt wirken. Meisterhaft in der zupackenden Erfassung von Wesen und Charakter sind Porträtzeichnungen wie die von August von Goethe (Kreide, Bleistift, aquarelliert, um 1830) oder von der gealterten Charlotte von Stein (um 1825, hier als Kreidelitho).

Unter den großen, repräsentativen Ölporträts gefällt besonders das romantisch-empfindsame Selbstbildnis von 1822 vor dem Hintergrund der fränkischen Landschaft mit Burg Egloffstein oder das prachtvolle, in seiner Ausstrahlung von hoheitsvollem Glanz und Faszination der Farben, kostbarer Stofflichkeit und weiblicher Schönheit unübertreffliche Bildnis der Therese, Königin von Bayern (1836). Gestellt und unlebendig wirkt dagegen die „Sitzende Dame auf der Terrasse“ (um 1833), und auch die Goethe-Porträts können nicht überzeugen. Daß sich aber die kinderlose Königin Adelheid von England so sehr in das reizende kleine Kinderbild der dreijährigen schlafenden Elise Rautert (hier in einem Schabkunstblatt vertreten) verliebte, es für 1000 Pfund Sterling kaufte und immer um sich haben wollte, kann man wohl verstehen.

In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 21. April 1993

Mythen und Monströses

Zyklus Frauen in Sagenwelt und Kunst bei Zimmer

Im Rückblick auf den jeweils mit einem Vortragsabend verbundenen Ausstellungszyklus der Galerie Zimmer (Oberbilker Allee 27) „Frauengestalten aus Mythologie und Kunst in der Malerei der Gegenwart“ darf eine positive Bilanz gezogen werden. Der gute Besuch, der Brückenschlag zwischen Historie und Gegenwart, die künstlerische Anregung durch zeitübergreifende Themen und die Vertiefung der Ansicht durch Einsicht in bemerkenswerten Vorträgen eröffneten fruchtbare Perspektiven. Künstler unserer Zeit haben mythische oder biblische Themen neu erlebt.

Nach den beiden ersten Ausstellungen, die der griechischen Leda und der fernöstlichen Göttin Ushas/ Ratri gewidmet waren, muß nun auch der Bogen zur derzeitigen Schau geschlagen werden: Sigrid Redhardts monumentale Malereicollagen von 1992/93 zum Thema „Die Töchter des Pelias“. Den Vortrag zu diesem Medea-Thema hielt der Direktor des Kunstmuseums, Hans Albert Peters. Es ist die Geschichte von der Zauberin Medea, die ihre Töchter gegen deren Willen anstiftet, ihren Vater Pelias zu ermorden und zu zerstückeln, angeblich, um ihm auf diese Weise unaufhörliche Jugend zu schenken, in Wahrheit aber, um ihn aus Rache zu töten. Die Töchter folgen aus Liebe zum Vater vertrauensvoll dem Rat der Mutter. Gerade dieser Aspekt reizte die Düsseldorfer Künstlerin zur Darstellung.

Zerrissenheit wirkt schon im Herstellungsprozeß des monumentalen Schlüsselbildes, das zunächst für die durch acht Fenster geteilte Wand des „Ballhauses“ konzipiert und entsprechend in acht Teile aufgespalten wurde. Gerissen und geschnitten, auch wieder zusammengeklebt die figurativen Teile der Malereicollage. Die Zerstückelung in Fragmente führt im Bild zu einem neuen Ganzen.

Gewaltig, wie in Stein gehauen, wirken Redhardts malerisch-rhythmisierte Figuren. Ohne Schatten sind sie, auf das Wesentliche reduziert und zeitlos. 15 Zeichnungen führen zu dem 260 x 320 cm großen Gemälde und anderen Bildern des Zyklus hin, in denen zärtlichere, traurig-empfindsame Aspekte der mörderischen Tragödie zum Vorschein kommen.

Vorangegangen waren die der Lilith gewidmete Ausstellung von Tina Juretzek mit einem Vortrag von Gisela Götte vom Clemens-Sels-Museum Neuss und Antonius Höckelmanns Trilogie „Judith und Holofernes“, eingeführt von Siegfried Gohr, ehemaligem Chef des Museums Ludwig.

Die böse Schlange Lilith

Die vor Eva erschaffene Dämonin Lilith, böse Schlange und schwarzgeflügeltes Gegenstück des Teufels – diese vielschichtige Gestalt hat Tina Juretzek in einer ganzen Folge expressiver, zum Teil collagierter Zeichnungen in Tusche und Graphit in flackerndem Helldunkel 1986 dargestellt in einer von Zweifeln gequälten Phase ihres Schaffens: spannungsvoll, zerrissen, abgründig. Flügelwesen sind das voll düsterer Unberechenbarkeit, bedrohlich, auch in tierhafter Körperlichkeit. Selbstquälerisches, Selbstzerstörerisches drückt sich darin aus.

Und die alttestamentarische Judith, die den Assyrerfürsten Holofernes erschlug, um ihr jüdisches Volk zu retten? Höckelmann hat in seinen großen Bleistift- und Tuschzeichnungen, farbigen Wachskreiden und bemalten Reliefs das wild lachende und zugleich todbringende Gesicht der Judith, in dem Schönheit und Monströses, Wildes und Grausames verschmelzen, mit flackerndem Helldunkel gleichsam aus einer Maske entwickelt: Abgründe des Menschen, wie sie sich zu allen Zeiten in ihm verbergen oder ausbrechen können.

In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 28. April 1993

Wachen Auges und voller Begeisterung

RP-Kunstkritikerin Yvonne Friedrichs 73jährig in Mettmann gestorben

In ihrem Wesen schien ewige Jugend zu walten. Yvonne Friedrichs, aus Thüringen stammende Kunstkritikerin der „Rheinischen Post“ seit 35 Jahren, konnte sich immer wieder begeistern: für die Werke junger, nachwachsender Künstlergenerationen, für Moderne und Klassik und ganz besonders für alles Fernöstliche. Völlig überraschend ist sie gestern während eines Telefongesprächs in ihrer Wohnung tot zusammengebrochen, im Alter von 73 Jahren.

Yvonne Friedrichs war – nach kunst- und musikwissenschaftlichen Studien – in Düsseldorf zu einer liebenswürdigen Institution geworden. Sie pflegte enge Kontakte zu Galerien und Museen, und wenn Ausstellungen sie überzeugten, war es ihr ein Herzensanliegen, ihre Begeisterung auf die Leser überspringen zu lassen. Besonders schätzte sie heftige, wilde, farbintensive Malerei; aber auch Kunstwerke, deren Sinnlichkeit weniger unmittelbar in Erscheinung tritt, sucht sie in zuweilen überschwänglichen Worten ihrem zeitungslesenden Publikum zu vermitteln. Ihr letzter, gestern in der Redaktion eingegangener Bericht über eine Keramikschau im Düsseldorfer Hetjens-Museum legt davon erneut Zeugnis ab. Wenn Yvonne Friedrichs Kunst deutete, warb sie immer auch um Verständnis.

Ihr besonderes Interesse an meditativen, im Metaphysischen wurzelnden Werken ergab sich aus den Erkenntnissen, die sie auf ihren abenteuerlichen Reisen in den Orient, den Fernen Osten und in Länder der sogenannten Dritten Welt erworben hatte. In Persien kann sie sich ebenso gut aus wie in Pakistan, in Indien, Peru und Bolivien. Und mehr als einmal stand sie dabei, wie sie uns erzählte, am Rande des Abgrunds.

Zuweilen hat Yvonne Friedrichs die Seite gewechselt, hat selber Dinge in Gang gesetzt, die sie sonst nur schreibend begleitete. So gab sie zusammen mit anderen den Anstoß zur Errichtung des (inzwischen geschlossenen) Skulpturenparks der Firma Horten am Düsseldorfer Seestern, arrangiert für fünf Stationen eine Kunstschau mit dem Titel „Blickpunkt Niederrhein“, brachte Kunst sogar in die Schaufenster der Kö.

Düsseldorfs dienstälteste Kunstkritikerin (die immer wieder auch Ausstellungen in anderen Städten besprach) hat ihr Lebenswerk abgeschlossen. Sie wird uns fehlen mit ihrer aller Routine entgegenwirkenden Neugier auf Kunst unserer Tage, ihrer Herzlichkeit, ihren wachen, lachenden Augen.

Bertram Müller In: Rheinische Post. 24. September 1996

Yvonne Friedrichs †

Mettmann. Die Kollegenschaft der rheinischen Kunstkritiker hat eines ihrer angesehensten Mitglieder verloren. Am 23. September starb Yvonne Friedrichs im Alter von 73 Jahren. Völlig überraschend hat sie der Tod während eines Telefongesprächs in ihrer Wohnung ereilt.

Geboren in Thüringen, war sie nach dem Krieg in den Westen Deutschlands gekommen, hatte hier Kunst- und Musikwissenschaft studiert und sich anschließend publizistischer Arbeit zugewandt, der Kunstkritik vor allem Düsseldorf wurde ihr Lebens- und Wirkungszentrum 35 Jahre lang, zuletzt als dienstälteste Kunstkritikerin vor Ort, war sie für die „Rheinische Post“ tätig und seit 1969 für die WELTKUNST. Dabei berichtete sie nicht nur über das Kunstgeschehen in Nordrhein-Westfalens Kunstmetropole, sondern auch über die Ereignisse im Umfeld der Stadt, vornehmlich aus dem Ruhrgebiet.

Ihre Kunstberichte erfuhren Wertschätzung, denn sie waren geprägt von Sachkenntnis, informativer Substanz und schnörkelloser Lesbarkeit. Yvonne Friedrichs wusste sich leidenschaftlich zu engagieren, ohne, wenn nötig, die kritische Distanz zu verlieren.

Was sie besonders auszeichnete, war ihre spontane Begeisterungsfähigkeit. Diese galt sowohl der klassischen Moderne als auch dem Schaffen der nachrückenden Generationen, nicht zuletzt außereuropäischen Kulturerzeugnissen. Ihre Neigung zur sogenannten Dritten Welt war auf Reisen gewachsen, von denen sie einige selbst als abenteuerlich empfand. Sie kannte sich aus in Persien, Pakistan und Indien, auch in Bolivien und Peru. Kreative Aufmerksamkeit für Meditatives und Metaphysisches erschlossen ihr Begegnungen mit Werken des Fernen Ostens, wie viele ihrer Ausstellungsbesprechungen bezeugen, darunter auch die letzte für die WELTKUNST über die tausendjährige Kunst des tibetischen Buddhismus.

Yvonne Friedrichs war nicht zuletzt ein kontaktfreudiger Mensch, offen und herzlich anderen gegenüber. Ihre „wachen, lachenden Augen“, an die der Nachruf ihrer Düsseldorfer Zeitung erinnerte, werden allen in Erinnerung bleiben.

Horst Richter
In: WELTKUNST. Die Zeitschrift für Kunst und Antiquitäten, Personalie, 1. November 1996

Dichter, Revolutionär & Frauenheld

13.12.1797 – 17.2.1856 Heinrich Heine

Heinrich Heine (geboren vor 200 Jahren) war ein ziemlich pingeliger Zeitgenosse, der sich gern piekfein kleidete und das „Rote Sefchen“ ebenso wie andere Damen seiner Zeit gern küßte. Doch der edle Herr aus Düsseldorf liebte auch den Freiheitskampf der Polen und Griechen und unterstützte den Aufstand der hungernden Weber mit einem Gedicht, das bis heute unter die Haut geht. Heine, der von seiner Heimatstadt lange verschmähte Jude, war ein Anhänger der Französischen Revolution und ihrer Ideale: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Also, genau genommen hatte er mit Euch Brüdern und Schwestern von der Platte ja nicht viel am Hut, dieser Heinrich Heine, dessen 200. Geburtstag die Welt am 13. Dezember 1997 feiert. Er war immer ein ziemlich pingeliger Mensch, wohnte gern nett und zog sich modisch an. Bis zum Schluß natürlich, da lag er nur noch schmerzgekrümmt mit schütterem Bart in Paris in seiner Matratzegruft. Übrigens, wenn ich Euch so liegen sehe auf den vergammelten Bettgestellen in der Kö-Passage, die zur Landskrone hinführt, dann fällt mir immer das Wort von der Matratzengruft ein, mit dem er sein Couchbett in der Pariser Wohnung kennzeichnete. Aber sonst, nee, also, Leute mit schmutzigen Fingernägeln und die nach Tabak stanken, die mochte er nicht. Überhaupt war er ein ziemlich verquerer Typ, dieser Schriftsteller Heinrich Heine, der eigentlich Harry hieß, nach dem Vornamen eines Englischen Geschäftsfreundes des Vaters, und der seine Kinderzeit in Düsseldorf an der Bolkerstraße verbrachte. Viel später, als er schon in Frankreich lebte und schrieb, weil man seine Gedichte und Artikel in Deutschland und Österreich verboten hatte, der Fürst Metternich, heimlich im Bett seine Sachen las. Und mit den Minderheiten, da hatte er auch so seine Probleme. Den schwulen Schriftstellerkollegen August Graf von Platen hat er öffentlich richtig fertiggemacht und auch mit seinem alten Freund Ludwig Börne, deutscher Jude wie er und Emigrant in Frankreich wie er, ging er noch nach dessen Tod ganz schön gemein um. Andererseits machte er sich bei vielen Politikern seiner Zeit unbeliebt, weil er sich für den Freiheitskampf der Polen und der Griechen einsetzte, nicht mit Lichterketten und so, sondern mit toll geschriebenen Aufsätzen. Und als die fast verhungerten Weber in Schlesien den Aufstand wagten, da schrieb er ein Gedicht, das einem bis heute die Gänsehaut auf den Rücken und die Haare zu Berge treibt. Für „Die schlesischen Weiber“ allein hat er ein ganzjähriges Fest zum 200. Geburtstag verdient. Vielleicht merkt Ihr jetzt, daß es sich lohnt, etwas mehr über diesen Kerl zu erfahren. Wie gesagt, in der Bolkerstraße wuchs er auf, war er auch zur Welt gekommen. Da gibt es jetzt das Heine-Haus. Unten ist eine Kneipe drin, die heißt „Schnabelewopski“, nach einem Typen, den er erfunden hat. Und weil Schnabelewopski so ein schweres Wort für die Düsseldorfer ist, nennen sie die Kneipe einfach „Schnabel“. Oder vielleicht auch, weil der Heine mit dem von ihm erfundenen Heimatort des Schnabelewopski eigentlich Düsseldorf gemeint hat. Das lohnt sich, zu lesen, viel hat sich nämlich nicht verändert. Wenn nun einer fragt, warum aus dem kleinen Harry von der Bolkerstraße schließlich der berühmte Dichter Heinrich Heine wurde, so ist das ganz einfach. Der deutsch-jüdische Jurastudent Harry Heine beschloß nämlich, ein wohlbestallter Beamter zu werden. Aber dazu durfte er nicht Jude sein. Aus dem jüdischen Harry wurde ein protestantischer Heinrich. Geholfen hat es ihm nicht. Einmal Jude, immer Jude; das ist wie einmal Berber, immer Berber. Der konvertierte Heinrich mußte statt als beamteter Jurist mit Pensionsanspruch sein Geld als freier Schriftsteller und Journalist verdienen. Mit alle dem Kampf um Honorare und Platz in den Gazetten, der seitdem dazugehört, von dem Ärger mit der Zensur gar nicht zu reden. Übrigens, wenn in diesem Jahr in der ganzen Welt des 200. Geburtstages unseres Düsseldorfers gedacht wird, dann ist das ein Kompromiß. Kein fauler Kompromiß; denn genau weiß wirklich niemand, im Dezember welchen Jahres er zur Welt gekommen ist. Zu der Zeit gab es noch keine amtliche Geburtsurkunde, nur die Taufregister in den Kirchengemeinden. Und ein kleiner Jude, der wurde ja nicht „getauft“. Er selbst führt uns auch in die Irre, hat sich einmal ein Kind des neuen Jahrhunderts genannt. Da könnte er, wenn man es genau nimmt, frühestens im Dezember 1799 zur Welt gekommen sein. Aber ob er dann so herzergreifend über den Abschied des alten Herrschers von seinem Düsseldorfer Volk hätte berichten können, als die Franzosen 1806 einmarschiert waren? „Der Kurfürst läßt sich bedanken“ lasen die älteren Leute neben dem kleinen Harry von einer Bekanntmachung am Rathaus ab. Hab’ ich gesagt, die Welt feiert seinen Geburtstag? Das ist nicht gelogen, nicht einmal übertrieben. Ob in Japan, China, Vietnam, ob in Moskau oder New York – wo immer Schüler oder Studenten die deutsche Sprache erlernen, da tun sie es mit Heinrich Heine. Richtig rührend ist das, wenn irgendwo im amerikanischen Mittelwesten so ein langbeiniger Jeanstyp auf einen zukommt, den Unterkiefer knödeln läßt und rausgurgelt: „Du bist uieh einä Blumä“. Oder wenn in einer Karaoke-Bar im Rotlichtviertel der alten japanischen Kaiserstadt Kyoto um Mitternacht ein japanischer Familienvater im korrekten Anzug, wenn auch mit etwas verrutschter Krawatte zu einem Videofilm vom Rheintal das Bierglas hebt und singt: „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten…“. Kein Quatsch, das gibt es. Und was noch toller ist: die wissen, daß das Gedicht von Heinrich Heine ist. Bei uns galt es ja in den finsteren 1000 Jahren, als man auch Heines Bücher verbrannt hatte, als „Volksmund“. Hohe Ehre für einen verfemten Dichter, oder? Der Knabe, der das Röslein brach, tat das ja auch nicht als Volksmund sondern als Goethe. Wir haben also allen Grund, unsere(n) Dichter zu ehren. Als Düsseldorfer haben wir das sowieso. Schließlich hat er uns den schönsten Werbespruch gratis geliefert. So hat es jedenfalls mal der frühere Oberstadtdirektor Gerd Högener gesagt. Jeder Werbefuzzi würde heute sonstwas dafür bezahlen: „Die Stadt Düsseldorf ist sehr schön, und wenn man in der Ferne an sie denkt, und zufällig dort geboren ist, wird einem wunderlich zu Muthe.“ Na schön, ihr, die ihr Platte macht und Trebe geht, werdet das ein bißchen anders sehen. Oder auch nicht. Wärt ihr sonst hier? Zeit habt ihr ja auch, Zeit, den Heinrich Heine in Düsseldorf zu entdecken. Muß ja nicht gerade auf dem Nordfriedhof sein, wo ganz versteckt zwischen anderen verwitterten Steinen auch der von Betty Heine, Harry’s geliebtem Mütterlein, zu finden ist. Der hat er ein Gedicht gewidmet, das später hochpolitische Bedeutung für alle die bekam, die an der Entwicklung in Deutschland irgendwas nicht richtig fanden: Nachtgedanken. Schau’n wir also mal. Vom Heine-Haus an der Bolkerstraße 53 war schon die Rede. Heine kam da übrigens in einem Hinterhaus zur Welt, das schon vor etwa 100 Jahren abgerissen wurde. Wer eine Spürnase hat, geht in die Mata-Hari-Passage rein und findet dann irgendwo hinten in einem Winkel einen Brunnen, da hat mal Heines Geburtshaus gestanden, zu dem, wie der Dichter mal ironisch (oder vielleicht nicht ironisch?) geschrieben hat, grünverschleierte Engländerinnen pilgern würden. Heine, wohin man guckt. Schräg gegenüber, wo heute Schumacher Alt in den Goldenen Kessel lockt, haben die Heines auch mal gewohnt. Da gibt es noch heute eine Gedenkecke mit Dichterbüste, das war einmal das erste und lange Zeit einzige öffentliche Heine-Denkmal in Düsseldorf. Vor dem Ersten Weltkrieg war es von dem Düsseldorfer Dichter Herbert Eulenberg enthüllt worden. Und auch damals drohte die Zensur, drohte der Polizeifinger, und der hatte mit Gelben Rüben gar nichts zu tun (Polizeifinger nannten die Düsseldorfer nämlich das ebenso billige wie gesunde Möhrengemüse). In der Mertensgasse gibt es ein Haus mit einer Tafel, darauf steht „Arche Noah“. Hier lebte der Onkel des kleinen Harry, der hieß Simon de Geldern und war ein richtiger Märchenonkel, mit dessen Büchern und Mitbringseln aus aller Welt Klein-Harry die tollsten Abenteuer erlebte. Ein anderes erlebte er mit dem Roten Sefchen, der rothaarigen Josepha, Tochter des Scharfrichters. Heine war da schon kein richtiges Kind mehr und Sefchen noch etwas älter. Es erzählte schaurige Hinrichtungsgeschichten und zeigte das scharfe Henkerschwert, aber Harry sagte trotzig: „Ich will nicht küssen das blanke Schwert, ich will das Rote Sefchen küssen.“ Später machte er daraus eine revolutionäre Aktion „aus Hohn gegen die alte Gesellschaft und alle dunklen Vorurteile“. Noch etwas Heine gefällig? Er kannte die alten Geschichten und Sagen der Stadt, etwa die von der armen Jacobe von Baden, die im Schloß umgebracht worden sein sollte (heute wissen wir, daß sie erdrosselt wurde) und seitdem dort spukte. Oder die Geschichte vom Jan-Wellem-Denkmal auf dem Marktplatz, als es dem berühmten Bildhauer Gabriel de Grupello beim Guß an Erz mangelte. Er schickte seinen Gießerjungen in die Bürgerhäuser, um dort silberne Löffel (nein, nicht zu klauen) zu sammeln, damit Roß und Reiter vollendet werden konnten. Im Hofgarten erlebte Harry dann den Einritt Napoleons im November 1811. Für ihn war der Franzosenkaiser ein Befreier, der für die Ideale der Revolution stand: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Heine mußte viele Erfahrungen machen, nicht nur die des übermütigen Rußlanderoberers und Europaverlierers Napoleon, ehe er melancholisch dichtete:

ENFANT PERDU Verlorner Posten in dem Freiheitskriege, Hielt ich seit dreißig Jahren treulich aus. Ich kämpfte ohne Hoffnung, daß ich siege, Ich wußte, nie komm ich gesund nach Haus.

Ich wachte Tag und Nacht – Ich konnt nicht schlafen, Wie in dem Lagerzelt der Freunde Schar – (Auch hielt das laute Schnarchen dieser Braven Mich wach, wenn ich ein bißchen schlummrig war).

In jenen Nächten hat Langweil ergriffen Mich oft, auch Furcht – (nur Narren fürchten nichts) – Sie zu verscheuchen, hab ich dann gepfiffen Die frechen Reime eines Spottgedichts.

Ja, wachsam stand ich, das Gewehr im Arme, Und nahte irgendein verdächtger Gauch, So schoß ich gut und jagt ihm eine warme, Brühwarme Kugel in den schnöden Bauch. Mitunter freilich mocht es sich ereignen, Daß solch ein schlechter Gauch gleichfalls sehr gut Zu schießen wußte – ach, ich kann’s nicht leugnen – Die Wunden klaffen – es verströmt mein Blut.

Ein Posten ist vakant! – Die Wunden klaffen – Der eine fällt, die andern rücken nach – Doch fall ich unbesiegt, und meine Waffen Sind nicht gebrochen – Nur mein Herze brach.

Kein Wunder, daß das einzig wahre Düsseldorfer Heinrich-Heine-Denkmal eine gespaltene Totenmaske ist, vom Bildhauer Bert Gerresheim übrigens als „begehbare Gesichtslandschaft“ gedacht. Auf dem Schwanenmarkt wird sie als solche gern zum Plattemachen im Sonnenschein benutzt. Harry hat sicher nichts dagegen, obwohl ihm, da machen wir uns nix vor, grünverschleierte Engländerinnen lieber wären.

Gerda Kaltwasser In: fiftyfifty. Das Straßenmagazin, 3. Jg. Februar 1997

Die Friedrichstraße

Kopfsteinpflaster, in der Mitte zwei Stränge Straßenbahnschienen, in jedem Haus im Parterre ein kleiner Laden – Metzgerei, Bäckerei, Obst und Gemüse, aber auch Bücher und sogar Schmuck – in den Obergeschossen Wohnungen ohne Bad, die Klos im Treppenhaus; auch mal ein Photoatelier, eine Uhrmacherwerkstatt, ein Herrenschneider, eine Näherin, die auf Wunsch zum Nähen und Flicken in die Wohnung kommt. In den Treppenhäusern riecht es nach Kohl, Pellkartoffeln, auch mal nach Reibekuchen, selten nach Braten oder Rouladen. Das ist meine Friedrichstraße in Düsseldorf zwischen 1930 und 1945, südlich vom Graf-Adolf-Platz, der damals Adolf-Hitler-Platz hieß, Bindeglied zwischen dem alten Bilk und dem jungen Stadtzentrum mit der Königsallee. Kleine Leute wohnten hier bis zum Pfingstangriff im Juni 1943, auch arme Leute. Zum Beispiel in dem großen Haus Nummer 23, das einen Innenhof hatte, der von drei Seiten mit Hinterhäusern umgeben war, mit grüngestrichenen hölzernen Falltüren im Hof, unter denen ausgetretene Steinstufen in Waschküchen und Abstellräume führten. Im Vorderhaus waren zwei Geschäfte, eines für Miederwaren, das andere für „Feinkost“, darüber die etwas teureren Wohnungen. Hinten wohnten die armen Schlucker, die kinderreichen Arbeiter, bei denen manchmal nachts Möbel und Porzellan aus dem Fenster flogen, wenn der Vater den Wochenlohn versoffen hatte. Kommunisten sollten da auch wohnen. Das war in dieser Straße schlimmer als fliegende Untertassen. Die flogen auch bei uns hin und wieder aus dem Fenster im Hinterhaus von Nummer 43, wo mein Vater, der Metzgermeister Michael Kaltwasser, seit 1927 eine völlig heruntergewirtschaftete Metzgerei wieder zu Ansehen und Kundschaft bringen wollte. Sein Meister hatte ihm ein Darlehn gegeben. Irgendwann 1946 habe ich dem die letzte Rate gebracht. Dort im Haus Nummer 43 ließ ein Barmusiker nach besonders großzügigen Gästen – Motto: „Geh’m se dem Mann am Klavier mal ein Bier“ – das Porzellan sausen. Ein Barpianist in dieser Gegend? Nicht nur einer. Klamotten-Schauspieler wie Hilde und Fritz Servos wurden als Freunde begrüßt, Operettenstars wie Trude Adam oder Rudolf Rudolphi, die im Kleinen Haus, dem städtischen Operettentheater gegenüber dem Apollo, auftraten, wurden angehimmelt, Artisten, Conferenciers, Humoristen wie Karl Napp, die im Apollo oder auf Adlers Bunter Bühne auftraten, gehörten zur besser zahlenden Steak- und Schinken-Kundschaft. Gegenüber an der Friedrichstraße war der Kristallpalast. Besuch des Kinderkarnevals vom fünften Lebensjahr an war Ehrensache; erst recht, als Besitzer Ederer Prinz Karneval geworden war. Zwischen Friedrichstraße und Hauptbahnhof war bis zum Kriegsende und noch etwas länger und trotz sich wie Meereswogen auftürmender Trümmerberge das Düsseldorfer Vergnügungsviertel, ein Paradies mit legendären Nachtlokalen wie dem Rauchfang im Apollo, dem Café Korso und der Grotte, mit Kinos wie Residenz und Asta Nielsen, mit Schwof und Rumtata im Oberbayern und dem sanften Übergang zum Rotlichtviertel an der Bandelstraße, das wir Nachtjackenviertel nannten. Das war östlich von der Friedrichstraße. Westlich war auch ein Paradies: das Ständehaus mit dem Vater-Rhein-Brunnen, mit Park, Kaiserteich und Schwanenspiegel, der Schwanenmarkt und der Spee’sche Graben oder, an der Bilker Allee, unter Aufsicht der Großeltern erreichbar, der Floragarten. Und überall Spielplätze mit Schaukeln, Sandkästen und Rutschen.

Feuerwerk am Samstag

Aber das war nur für die Kleinen. Wir Größeren spielten in den Büschen, fochten blutige Bandenkriege mit den Jungens von der Villa Jück aus, eine alte Zigarrenkiste von Vati war mit Pflaster und Flickenresten gefüllt, Ersatz für Mullbinden, denn Rot-Kreuz-Einsatz war immer nötig. Auch an jenem 10. November 1938, als die achtzigjährige Frau Cohn vom Haushaltswarengeschäft gegenüber aus einem Scherbenhaufen in unsere Metzgerei gewankt kam, Mutter ihr einen Stuhl und ein Glas Wasser brachte, der Blockwart die Ladentür aufriß und brüllte: „Das werden Sie noch zu spüren kriegen!“ Meine Mutter bekam es Jahre später zu spüren, als ihr, der schon schwer Behinderten, der Blockwart den Zutritt zum öffentlichen Luftschutzkeller in der Klebekiste, dem alten Bau der Landesversicherungsanstalt, verweigerte. „Korinthenkacker“, sagte ich, versuchte, den Mann beiseite zu drücken. Wäre das Kriegsende nicht schon nahe gewesen, wir hätten das alle zu spüren bekommen. So aber verkrochen wir uns in die Waschküche unter unserem Trümmerhaufen – mein Vater hatte am Tag, bevor deutsche Soldaten die Oberkasseler Brücke sprengten, noch von seinem linksrheinischen Einsatz als Volkssturmsoldat desertieren können – und warteten darauf, daß die Amis endlich kämen. Während sechs Wochen Artillerie- und Tieffliegerbeschuß lernten wir alle, mit dem Sterben und dem Tod umzugehen. Als die Amis schließlich auf ihren Panzern durch die Friedrichstraße rollten, war das eine Befreiung, aber ohne politisches Pathos. Der Kampf ums Überleben ging weiter, nun ohne Artilleriefeuer, ohne Tieffliegerangriffe und Bombergedröhn. In der warmen Maisonne trockneten die im Waschkeller angeschimmelten Matratzen. Der Gelenkrheumatismus kam später. Auch der Hunger. Aber da brachte uns die Tochter eines jüdischen Nachbarn, einzige KZ-Überlebende unserer ganzen jüdischen Nachbarschaft von vor 1938, Matzenbrot. Fritz und Hilde Servos hatten sich aus Berlin durchgeschlagen und standen in den Trümmern unserer Metzgerei. Von den Klos im Treppenhaus war nur das im Parterre übriggeblieben. Ein löchriger Teppich ersetzte die Tür. Es war das einzige funktionierende Klo für drei Trümmerhäuser. Durch die Schlagersängerin Evelyn Künneke erhielt es seinen Charme, durch den Komponisten Michael Jary, der dort Amizigaretten rauchte, seinen exklusiven Duft. Jary und die Künneke gastierten im behelfsmäßig bespielbar gemachten Apollo und wohnten in den Trümmern neben uns bei Freunden. Meine Friedrichstraße hatte überlebt. Ihr Sterben kam viel, viel später.

Gerda Kaltwasser In: Pfeffer, Alla (Hrsg.): Straßenbilder. Düsseldorfer Schriftstellerinnen und Schriftsteller über ihr Quartier., Düsseldorf 1998, S. 58-60

Wie Buys zu Beuys wurde

Probleme mit dem Gleichklang berühmter Namen

Nicht alles, was wie Beuys ausgesprochen wird, wird auch wie Beuys geschrieben. Die Anwohner der Buysstraße in Bilk, am Karolinger Platz, wissen das. Und es wundert sie seit den spektakulären Aktionen des Künstlers und Kunstprofessors Joseph Beuys im Düsseldorf der siebziger Jahre nicht mehr, dass ihre Straße ihm zugeschrieben wird, obwohl die doch Buysstraße heißt. Ein Schreibfehler des Straßenschildermalers?

Keineswegs, auch wenn neulich auf dieser Zeitungsseite die Buysstraße als Beuysstraße auftauchte. Warum brauchten die Düsseldorfer auch so lange, ihrem weltberühmten Künstler Joseph Beuys eine Straße mit seinem Namen zu widmen, nämlich am Rheinufer. Eine Beuysstraße also gibt es, aber nicht in Bilk, wohl aber die Buysstraße und die schon ziemlich lange. Benannt ist sie nach Albert Buys. Der setzte 1657 eine große Buchdruckertradition fort, die von dem Niederländer Jakob Bathen in Düsseldorf begründet worden war. Albert Buys und später sein Sohn Bernhard führten den Titel „Hofbuchdrucker“. Sie druckten meist Werke religiöser Art, so 1589 das erste Hauptwerk des Kaiserswerther Pfarrers und späteren Kölner Universitätsrektors Caspar Ulenberg, die „Psalmen Davids“ mit von Ulenberg komponierten „Teutschen Gesang-Reimen“. Der vor zwei Jahren gestorbene RP-Redakteur Dr. Karl-Jürgen Miesen hat Buys Vater und Sohn in seiner „Kleinen Geschichte des Düsseldorfer Buches“, erschienen 1990 bei Droste, gewürdigt.

Gerda Kaltwasser In: Rheinische Post. Stadtteilnachrichten, Düsseldorf-Mitte, 19. Januar 1999

Erbliche Ataxien

Wachen Geistes in den körperlichen Verfall

Krankheit, Leiden, Behinderung, Tod – Begriffe, die wir mit Schmerzen, schwerbehandelbaren Krankheiten, vor allem mit vielen Tumordiagnosen verbinden. Mit Krankheiten, die zum Tode führen. Wer denkt daran, daß es Leiden fast ohne Schmerzen gibt, die auch nicht zum Tode führen, die geistige Fähigkeiten nicht oder kaum einschränken, aber irgendwann eine völlige körperliche Hinfälligkeit zur Folge haben – die einen geistig gesunden Menschen zum schweren Pflegefall machen?

Aber diese Krankheiten gibt es. Zu ihnen gehört die vielfältige Gruppe der hereditären Ataxien. Hereditär bedeutet erblich; eine Ataxie isteine Störung des geordneten Zusammenwirkens der für eine Bewegung erforderlichen Muskeln. Die Fähigkeit dazu ist in den Zellen des Kleinhirns angelegt. Wenn sich dort Zellen zurückbilden, spricht der Mediziner von einer Atrophie, der Mensch ist nicht mehr in der Lage, seine Bewegungen zu koordinieren. Ein Beispiel von vielen: Wenn sich im Kleinhirn jene Zellen zurückbilden, in denen die Gleichgewichtsinformationen anderer Organe, so der Augen und Ohren, in Blitzesschnelle koordiniert werden, kann der Mensch das Gleichgewicht nicht mehr halten. Er fällt, obwohl die einzelnen Organe ungehindert richtige Informationen ans Kleinhirn senden. Meist treten erste Symptome ererbter Ataxien im dritten und vierten Lebensjahrzehnt auf, in Einzelfällen schon bei Kindern, häufig auch nach dem 60. Lebensjahr. Die Krankheit ist selbst bei Medizinern nicht allgemein bekannt, die Zahl der falschen Diagnosen deshalb nach wie vor hoch.

Der Neurologie ist es auf dem Gebiet der Kleinhirnforschung, in der sich auch der Düsseldorfer Mediziner Georg Auburger an der Heinrich-Heine-Universität spezialisiert hat, in den letzten Jahren gelungen, eine Anzahl von Genen zu orten, die für bestimmte Formen von Ataxien verantwortlich sind. So gibt es Formen, die nur in Japan auftreten, andere, in Europa häufige, sind in Japan unbekannt. Aber weder ist es gelungen, einen Grund für die Apoptose, das heißt für das von der Zelle selbst ausgelöste Absterben (Zell-Selbstmord) im Kleinhirn zu finden, noch dafür, daß in einigen wenigen Fällen und scheinbar grundlos die negative Entwicklung stoppt.

Zuverlässige Therapien gibt es kaum, immerhin kann Physiotherapie Symptome lindern, etwa die Greiffähigkeit der Hände oder die Gangsicherheit verbessern. Übungen mit Hanteln verlangsamen den Abbau der Muskulatur, Sprachtherapie kann Sprechstörungen erträglicher machen.

Das Gebiet der Pharmazie jedoch ist vor allem Experimentierfeld. „Jeder neue Fall einer Heredoataxie macht den Mediziner zum Pionier“, sagte ein auf Kleinhirnerkrankungen spezialisierter Neurologe, der bis vor wenigen Jahren an der Düsseldorfer Uniklinik arbeitete. Daran hat sich bis heute nichts wirklich geändert.

Geändert hat sich die Sprache der Wissenschaft. Bezeichnungen wie „Typ Holmes“ oder „Nonne-Marie“ gehen auf die Erstbeschreiber der Krankheitserscheinungen zurück, ebenso wie die Friedreichsche Ataxie oder Machado-Joseph. Im Zeitalter der molekularen Diagnosen und der Gentechnik einigte man sich auf Kürzel und Numerierung wie SCA1 bis SCA7, DRPLA, EA1 und EA2.

Die Betroffenen sind meist bereit zu Experimenten, etwa zum Ausprobieren von Medikamenten, die zur Behandlung von Parkinson oder Multipler Sklerose entwickelt wurden. Aber jede Behandlung ist ein Versuch mit ungewissem Ausgang. Darauf weisen Neurologen wie der Privatdozent Harald Hefter von der Neurologie der Heine-Uni ihre Patienten mit Nachdruck hin. Diese entwickeln die innere Haltung der skeptischen Hoffnung, daß bei ihnen das eine oder andere Medikament zu einer langsameren Verschlechterung beitragen könnte.

Daß aus der skeptischen Hoffnung nicht der tiefe Fall in die Hoffnungslosigkeit wird, dazu hilft die Deutsche Heredo-Ataxie-Gesellschaft – unter anderem mit einer vierteljährlich erscheindenden Mitgliederzeitschrift, in der Kranke und ihre Angehörigen medizinisch-fachliche Informationen und praktische Alltagshilfe finden.

Sie finden dort aber auch die Auseinandersetzung mit medizinsozialen und medizinethischen Problemen, die so entlegen nicht sind, wie die Begriffe vermuten lassen. Trotz aller sonstigen Unsicherheiten: Die Erblichkeit ist erschreckend sicher (von den erworbenen Ataxien ist hier nicht die Rede) und kann inzwischen eindeutig nachgewiesen werden. Also stellt sich bei Ehepartnern die Frage nach den Risiken einer Elternschaft mit allen Konsequenzen. Auch die Diskussion darüber, ob in Zukunft solcherart „erblich Belastete“ entweder mit höheren Krankenkassenbeiträgen belegt werden können oder eine Versicherung abgelehnt werden darf, hat bereits begonnen.

In der Deutschen Heredo-Ataxie-Gesellschaft (DHAG) sind etwa 800 Erkrankte und ihre Angehörigen organisiert (in der vergleichbaren Vereinigung der USA, der NAF, National Ataxia Foundation, sind es 8000). Die Zahl der Erkrankten ist aber hier wie dort erheblich höher. Die DHAG hat ihren Sitz in 70188 Stuttgart, Haußmannstraße 6.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post., 15. Mai 1999

Von Hoheiten und Stammtischen

Stadtmuseum: Fest zum 125jährigen Bestehen

Es herrschte Kaiserwetter zum Geburtstag des Stadtmuseums, das vor 125 Jahren entstand. Heute das älteste städtische Museum und zweitältestes historisches Museum im Rheinland, wurde es 1874, zu Beginn des wilhelminischen deutschen Kaiserreichs, in Düsseldorf gegründet. Damals begann der Kulturkampf zwischen evangelischen und katholischen Deutschländern. Keine Rede davon, als Dechant Werner Moonen nach dem lateinischen Hochamt in St. Maximilian im Namen von Museumschef Dr. Wieland Koenig zur Geburtstagsfeier ins Museum einlud. Es war so überfüllt, dass Koenig gleich den vierten Bauabschnitt anmahnte.

Streitlustiger Festvortrag

Oberbürgermeisterin Marlies Smeets hörte die Botschaft wohl, dachte aber an die leeren Kassen. Sie würdigte die Öffnung des einstigen Stadtgeschichtlichen Museums unter Dr. Koenig zur Gegenwart, zur streitbaren Auseinandersetzung. Die lieferte in seinem Festvortrag Professor Dr. Gerd Krumeich von der Heine-Universität. Er ironisierte die „nationale Kraftmeierei“ im Nach-Bismarck-Reich und machte ganz nebenbei deutlich, wie verknüpft mit Weltpolitik und Biertischpolitik schon das damalige Düsseldorf war. Da schlossen sich nämlich die Stammtische der Künstler und der Industriellen zu einem „Vereinigten Stammtisch“ beim Altbier zusammen.

Gar nicht stammtischmäßig, sondern stilgerecht mit „Hoheit“ begrüßte Dr. Werner Alberg, der die Festausstellung eingerichtet hatte, den Prinzen Georg Friedrich von Preußen, Chef des Hauses Hohenzollern. Schließlich geht das bürgerliche Stadtmuseum auf Anregungen und Stiftungen des Preußenprinzen Georg zurück, der 1826 im Schloß Jägerhof geboren wurde. Preußische Gegenwart wiederum verkörperte Professor Dr. Jochen Giersberg, Generaldirektor der Stiftung Preußischer Schlösser und Gärten. Ganz rheinisch hingegen Professor Helmut Hentrich, Ehrenbürger und Mäzen der Stadt. Oder auch ein anderer Ehrenbürger, er starb in dieser Woche, Dr. Konrad Henkel. Dessen Familie repräsentierte die Galeristin Hete Hünermann, Schwester von Gabriele Henkel.

Herren in dunklem Anzug, Damen mit mutigen Hütern begaben sich alsdann in den Garten, wo Schlössers Alt strömte, Teller mit Flönz lockten. Keiner ließ sich von den Kriegerdenkmälern stören, die Johannes Galert in Lothringen fotografiert hatte, Denkmäler aus einer Zeit, als die Wacht am Rhein brauste wie Donnerhall. Unter den Nazis wurde daraus im Stadtmuseum eine „Germanenschau“. Alles nur Geschichte? Aber man darf sie nicht vergessen.

Gerda Kaltwasser In: Rheinische Post. Düsseldorfer Stadtpost, 3. Mai 1999

Muß der Skulpturenpark wieder umziehen?

Kunst und Kultur am Albertus-See zwischen Schießstraße und Heerdter Lohweg

HEERDT Anfangs wunderten sich die linksrheinischen Düsseldorfer, dann nahmen sie das geschlossene Tor des Skulpturenparks am Albertus-See zwischen Schießstraße und Heerdter Lohweg als unabänderlich hin. Schließlich ist der Skulpturenpark eine private Anlage neben der öffentlichen, beides zusammen aber ergibt den Reiz dieser Kunstlandschaft – Kunst in doppeltem Sinne; einmal, weil der vom Seestern in Niederkassel hierher verlagerte Skulpturenpark die Besucher mit moderner Landschaft in der Natur bekannt macht, zum anderen, weil diese Natur hier erst in den letzen beiden Jahrzehnten von Menschen geschaffen wurde.

Der Geheimtip

Seitdem ist die Idylle hier ein Geheimtip vor allem der Heerdter, Löricker und Niederkasseler. Gern gehen sie hier zu jeder Jahreszeit spazieren, freuen sich auch über die Kunst, die ihnen hier so selbstverständlich vorkommt, sozusagen „wie gewachsen“.

Seit der Hortenkonzern im Kaufhofkonzern aufging und dieser wiederum von der Metro erworben wurde, ist es gespenstisch still in den fast neuen Verwaltungsgebäuden und der Skulpturenpark wurde geschlossen, nachdem der mit der Aufsicht Betraute den Ruhestand erreicht hatte.

Zur Erinnerung: Im Juni 1982 wurde in der Grünanlage, die das Horten-Veraltungsgebäude am Seestern umgab, das Projekt Skulpturenpark verwirklicht, eine zunächst fast unbeabsichtigte mäzenatische Tat, weil ein leitender Kopf in der Hauptverwaltung meinte, daß sich moderne Bildhauerwerke hier im Grünen gut machen würden. Es wurden, nach Beratung mit professionellen Kennern aus der Kunst- und Journalistenszene, Künstler zur Teilnahme aufgefordert. Das Ergebnis hatte ein gewaltiges Echo. Nach einigen Jahren aber wurden dem Mäzen die Folgekosten einer auf Wechsel angelegten Skulpturenschau zu hoch, die Werke der Ausstellung „Standpunkte – Blickpunkte“ blieben, mit dem Geld für einen Wechsel wurden Stipendien für junge Künstler finanziert.

Als Horten seinen Standort Seestern Anfang der neunziger Jahre aufgab und zum Albertus-See umzog, zog die Idee Skulpturenpark mit. Jetzt sieht es so aus, als ob sie im aufreibenden Wandel hin zum globalen Markt auch im konzentrierten Einzelhandel auf der Strecke bleiben könnte. Der Bezirksvorsteher für die linksrheinischen Stadtteile, Wolfgang Kamper, hat vor einiger Zeit das ständig verschlossene Tor des Skulpturenparks wie so viele andere Bürger mit Kopfschütteln registriert. Die Versuche, Auskunft über die Zukunftsplanung zu erhalten, brachten nicht viel, jedenfalls nicht viel Ermutigendes. „Es sieht so aus, als wolle man die ganze Anlage mit den Verwaltungsgebäuden verkaufen, möglicherweise muß der Skulpturenpark dann umziehen.“ Vielleicht zum Stammsitz der Metro in Grafenberg? An eine Öffnung ist jedenfalls nicht gedacht, der Park und die Kunstwerke müssten restauriert, eine ständige Aufsicht müsste eingerichtet werden.

In: Rheinische Post. Stadteilnachrichten. Linksrheinisch, 29. Juni 1999

Filmdosen voller Geschichte

Bekanntes aus Vorkriegs- und Kriegszeiten / Hunderte halfen

Die Düsseldorfer lassen sich doch nicht nur durch große Namen und Glitzerveranstaltungen - sogenannte Events - ins Museum locken. Zu hunderten strömten Düsseldorfer und „ausgewanderte“ Düsseldorfer ins Filmmuseum, als es darum ging, Bekanntes auf Streifen aus Vorkriegs- und Kriegszeiten wiederzuerkennen. Am 19. Oktober wird alles noch mal gezeigt, damit auch die zur Erforschung Düsseldorfer Geschichte beitragen können, die jetzt traurig gehen mußten, weil kein Platz mehr war.

Neu erleben

Ein Glücksfall ist dieser Fund von acht rostigen Filmdosen im Magazin des Museums. Selbst Josephine Honermann, Fachfrau für diese Dinge, und Thomas Bernhardt von der Düsseldorfer Geschichtswerkstatt haben noch nicht alles gesehen. Zum Ende dieses und zum Anfang des nächsten Jahrhunderts wird die Stadt ein Stück ihrer jüngeren Geschichte neu und bildhaft erleben können.

Jetzt wurde der Inhalt einer Filmdose gezeigt, ein Film aus den dreißiger Jahren, der andere aus dem Bombenkrieg. Die Zuschauer wurden aufgefordert, ihre Erkenntnisse und Vermutungen in den Raum zu rufen. War damit das Chaos programmiert, würden sich die Besserwisser in die Haare kriegen, würde manchem beim Anblick rauchender Trümmer, entstellter Leichen schlecht werden?

Nichts dergleichen, einige Besucher überzeugten bald durch genaue Sachkenntnis. Erstaunlich, wie viele Daten allein an den Straßenbahntypen der Rheinbahn festzumachen sind. Je länger alle zusahen, desto genauere Erinnerungen kehrten zurück. Sicher, es gab strittige Punkte, da wurde ein im Bombenhagel stehen gebliebener Kirchturm gleich drei verschiedenen Kirchen, schließlich aber der richtigen, zugeordnet. Als auf dem Film aus den dreißiger Jahren – vielmehr von 1940, da half die Rheinbahn weiter – die Zielangabe „Adolf-Hitler-Platz“ auftauchte, ging Gemurmel, aber kein freundliches, los. Das Personal auf den Bombenangriffsfilmen wurde so charakterisiert: „Die mit den Händen in den Taschen sind die Goldfasanen“, das waren Parteibonzen in Uniform. Bald war auch klar, daß der größte Teil des Filmmaterials von Amts wegen entstanden sein mußte: „Filmen durften nur Ritterkreuzträger und die Gaufilmstelle.“ Für den Normaldüsseldorfer galt „fotografieren und filmen verboten“.

Alle sind gespannt

Viel Wissen wurde gesammelt, neue Bekanntschaften wurden geschlossen, alte belebt und private Sammlungen von Düsseldorfer Bürgern zugänglich gemacht. Die Veranstalter, darunter die neue Direktorin des Filmmuseums, Dr. Sabine Lenk, und die Gäste waren begeistert, manch einer war aufgewühlt oder mußte den Kloß im Hals mit einem Becher Kaffee runterspülen. Und alle sind gespannt, was die anderen rostigen Filmdosen offenbaren werden.

Gerda Kaltwasser In: Rheinische Post. Düsseldorfer Stadtpost, 19. August 1999

Ein Künstler, Preuße und Exzentriker

„Arte“ ehrt Gustaf Gründgens am 16. November mit einem Themenabend

Er starb vor 36 Jahren, 63 Jahre alt, eine Legende für die, die ihn gekannt, erlebt haben, nur noch Legende für die meisten noch lebenden Deutschen: Gustaf Gründgens. Und weil es schwierig ist, Legenden zum Leben zu erwecken, wird ein Begriff gebraucht, den heute alle verstehen. Der Schauspieler, Regisseur und Theaterleiter Gustaf Gründgens war das, was wir heute einen Medienstar nennen.

„Der erste Medienstar“, sagt Regisseurin Petra Haffter, und wenn sie es sagt, ist das kein Klischee: so wenig wie der Film „Ich tret‘ aus meinem Traum heraus“, den sie für den deutsch-französischen Fernseh-Kulturkanal „Arte“ zum 100. Geburtstag von Gustaf Gründgens gedreht hat. Verantwortlicher Redakteur ist Wolfgang Bergmann. Haffter und Bergmann – junge Leute in der Fernsehproduktion: für beide war Gründgens eine Legende. Jetzt ist er eine Gestalt voller Leben, auch voller Rätsel geworden. Und das wird er für jeden, der Gelegenheit hat, den Film zu sehen.

Die Gelegenheit hatten geladene Gäste im Düsseldorfer Theatermuseum, das mit seiner bedeutenden Gründgens-Sammlung das „Arte“-Projekt unterstützt hat und wo gegenwärtig mit der Ausstellung „Gustaf Gründgens – Ansichten eines Schauspielers, Bilder einer Legende“ der gebürtige Düsseldorfer zum 100. Geburtstag geehrt wird.

Gründgens, das war der Mann, der in den zwanziger Jahren aus der jungen rheinischen Provinzgroßstadt Düsseldorf in die brodelnde Hauptstadt Berlin kam, mit kaum zu bändigendem Ehrgeiz. Aber den hatten andere auch, und sie hatten auch schon Erfolg.

Gründgens wollte mehr – und bekam es. Die politischen Umstände spielten dabei keine geringe Rolle. Der spätere Reichsmarschall Hermann Göring schützte und beförderte ihn bis zum Generalintendanten des Preußischen Staatstheaters. Eine gefährliche Protektion, denn dadurch wurde Gründgens zum möglichen Opfer des Reichs-Propagandaministers und Göring-Hassers Joseph Goebbels. Gründgens wußte, dass er auf einem Seil über dem Abgrund tanzte. Er wurde als Kulturbotschafter der Nazis missbraucht, bot mit Juden verheirateten Bühnenkünstlern Schutz und rettete einigen, so dem Sänger Ernst Busch, das Leben.

Er war auch, neben dem Tennisspieler Gottfried von Cramm, der prominenteste Schwule im deutschen Nazi-Reich. Andere Homosexuelle mußten den rosa Winkel tragen. Gründgens, der Exzentriker mit preußischem Pflichtbewußtsein, feierte sich und die Schauspielkunst in der Rolle des Oberzynikers Mephisto, in der des zerrissenen Königssohnes Hamlet. Er sang vom „großen Glück des kleinen Glücks“, tanzte als Leinwandstar auf dem Vulkan, machte sich im Krieg bei der Truppenbetreuung rar, wurde nach Kriegsende von den Sowjets ins Lager geschickt. Dann folgten neue künstlerische Triumphe; in der Heimatstadt Düsseldorf, in Hamburg. Verehrung, Liebe für den Künstler und Menschen bezeugen Lola Müthel, Hanne Hiob, Marianne Hoppe, Elisabeth Flickenschildt, Antje Weisgerber, Will Quadflieg, Heinz Reincke.

Nachdem Gründgens von der Last und dem „Übermut der Ämter“ befreit zu einer Weltreise aufgebrochen war, um „vielleicht noch etwas Neues zu entdecken“, starb er in Manila. Wer ihn kannte, glaubte nicht an Selbstmord.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. 12. November 1999

Neue Zeichnungen vom alten Schloss

Mit niederländischem Stammbaum Carl Theodors

700 Jahre gab es in Düsseldorf ein Residenzschloss, seit 100 Jahren gibt es davon nur noch den Schlossturm. Vor 125 Jahren wurde in Düsseldorf als erstes städtisches Museum das Stadtmuseum gegründet, 1874. Damals standen von dem im März 1872 ausgebrannten Schloss außer dem Turm noch die Mauern.

Manche Düsseldorfer hätten sie gern wieder mit höfischem Leben gefüllt gesehen, auch im fernen Berlin war man nicht abgeneigt. Aber die Stimmen, die eine neue Düsseldorfer Rheinfront forderten, waren lauter, ihnen standen die öden Mauern im Weg. 1898 war bis auf den Turm alles weggekarrt.

Aber der Schloss-Gedanke lebt wieder auf, nicht zuletzt dank des Museums-Jubiläums, das derzeit mit einem abwechslungsreichen, kostbaren Bilderbogen gefeiert wird, einer Ausstellung über Düsseldorf als Residenzstadt, in der das Schloss eine zentrale Rolle spielt.

Schon das zweite Buch

Gerade rechtzeitig vor Ablauf des Jubiläumsjahres ist das Buch „Burg und Schloß Düsseldorf“ erschienen, und zwar im Zusammenwirken mit dem Jülicher Geschichtsverein und dem Stadtgeschichtlichen Museum Jülich. Autoren sind der Düsseldorfer Architekt und Festungsforscher Dr. Edmund Spohr und der Kunsthistoriker Hatto Küffner.

Zur Erinnerung: Die Residenzstadt Düsseldorf ist hervorgegangen aus den vereinigten Herzogtümern Jülich, Kleve und Berg. Für Edmund Spohr ist das die Keimzelle des Landes Nordrhein-Westfalen, das 1946 entstand, Düsseldorf als frühere Residenzstadt ist also folgerichtig Landeshauptstadt.

Das neue Schloss-Buch ist das zweite im Jubiläumsjahr des Museums. Schon vor zwei Monaten ist eins im Droste-Verlag erschienen. Naturgemäß gleichen viele Bilder einander, kann man etliche Namen, keineswegs nur historische, parallel lesen. Und auch der Begriff einer Residenzstadt ist für einen Residenzstadt-Forscher wie Professor Wilhelm Janssen nicht eindeutig festgelegt, sondern Objekt weiterer Forschung.

Carl Theodor im Juni

Doch davon sollte sich der interessierte und ein wenig vorinformierte Laie nicht beirren lassen. Beide Bücher haben ihre Verdienste; über Fehler dürfen die Fachleute streiten; oft werden lateinische Begriffe über Generationen und Jahrhunderte hinweg falsch gedeutet. Und wenn in einem Bildtext das Ständehaus aus der Friedrichstadt mal eben an die Rheinfront versetzt wird, darf man das nicht für bare Münze nehmen.

Blättern wir also unvoreingenommen und wissbegierig in dem Buch mit seinen vielen exakten Karten, auf den neuesten Stand gebrachten Architekturzeichnungen wie die Rekonstruktion eines Umbauentwurfs von Domenico Martinelli von 1699; mit seinen Beweisen für eine reiche kulturelle Vergangenheit, die in Düsseldorf, anders als in Köln, immer wieder vergessen wird.

Anlass zum Erinnern gibt es ebenfalls immer wieder, so im Juni 2000, wenn aus Mannheim, der Residenz des Kurfürsten Carl Theodor, die große Ausstellung zu dessen 200. Todesjahr 1799 nach Düsseldorf kommt. Leckerbissen für Familienforscher: Das neue Schloss-Buch enthält die komplette niederländische Genealogie des Herrschers.

Edmund Spohr und Hatto Küffner: „Burg und Schloß Düsseldorf“, 208 Seiten, 300 Abbildungen, ISBN 3-933969-05-0, 54,80 Mark]

Gerda Kaltwasser In: Rheinische Post. Düsseldorfer Stadtpost, 8. Dezember 1999

Wagner am Rhein

Theatermuseum: Ausstellung mit Musik

"Bayreuth am Niederrhein“ – dieser griffige Titel wird die Wagnerfreunde, wird die Opernfreunde insgesamt wohl in Scharen ins Theatermuseum am Hofgarten locken. Sie sollten sich nicht dadurch abschrecken lassen, dass diese Verlockung der Stadt das Geld für einen reich bebilderten Katalog nicht wert war. Der knappe Ausstellungsetat gibt so etwas nicht her. Zum Glück springt die Rheinoper mit ihrem farbigen Heft in die Bresche; darin finden sich auch das Begleitprogramm und andere wichtige Informationen.

„Bayreuth am Niederrhein“ – der Titel ist Programm. Schon am 18. Januar 1853 erlebten die Düsseldorfer ihren ersten Wagner im Stadttheater. „Der Tannhäuser“ wurde gegeben, damals noch im Theater am Marktplatz neben dem Rathaus. Denn das Stadttheater, das viele ältere Düsseldorfer noch in Erinnerung haben und das an der Stelle der heutigen Rheinoper stand, wurde erst 20 Jahre später gebaut. Damals, 1853, konnte der Opernfreund ein Textbuch zum Preis von drei Silbergroschen erstehen.

Glanzvolle Erinnerungen

Vom ersten Düsseldorfer Wagner gibt es nur noch einen Ankündigungszettel, von späteren Aufführungen sind ergiebigere Dokumente erhalten, Porträts von Sängerinnen und Sängern, von Bühnenbildern und Kostümen, Besetzungslisten, Zeitungskritiken. Und aus der Nachkriegszeit viele Kostüme, die wie auch viele Namen Erinnerungen wecken: Helmuth Fehn, Martha Mödl, Hans Hopf, Ilse Hollweg, René Kollo, Astrid Varnay. Sie alle und noch viele andere haben Rollen in Wagneropern in Düsseldorf und Duisburg am Rhein sowie in Bayreuth gesungen.

„Wabert Ihre Lohe noch?“

Dr. Winrich Meiszies, Leiter des Theatermuseums, ist begeistert von der Zusammenarbeit mit der Deutschen Oper am Rhein. Versteht sich, dass die Ausstellung, die in Düsseldorf bis 21. Mai gezeigt wird, nach Duisburg weiterreist.Es lohnt sich, die Zeit für Vergleiche zu nehmen. Auffallend die Wandlungen der Ausstattung, des Bühnenbilds, selbst bei Inszenierungen, die bloß ein Jahrzehnt auseinander liegen.

Im Museum gibt es nicht nur etwas zu sehen, es gibt auch etwas zu hören: Ausschnitte aus Wagnerproduktionen der Rheinoper können im Vortragssaal in Ruhe genossen werden. Das Begleitprogramm macht unter anderem mit dem unbekannten Wagner bekannt und fragt kabarettistisch „Wabert Ihre Lohe noch?“ Heute um 19.30 Uhr ist Eröffnung.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 14. April 2000

Mann ohne Seilschaften

Francisco Tanzer: Sein Nachlass ist ein Vorlass

Seilschaften sind wichtig, nicht nur in der Politik und nicht nur, wenn es um Karriere geht. Auch für so Abseitiges wie Kunst und Kultur sind Seilschaften wichtig.

Einer, der es geschafft hat, auf Seilschaften verzichten zu können, ist der 79jährige Österreicher Francisco Tanzer, der seit Jahrzehnten in Düsseldorf lebt, als erfolgreicher Industrie-Geschäftsmann finanziell unabhängig wurde, Tennis spielt, den Sulky seines Trabers lenkt, Gedichte und Prosa schreibt. Seine Prosa ist in kleinen Verlagen erschienen, wird aber von Literaturkennern leidenschaftlich gerühmt. Seine Gedichte haben Komponisten in aller Welt angeregt; John Cage, Edison Denissow, Alfred Schnittke und Sofia Gubajdulina sind nur einige Namen. Gestern stand Francisco Tanzer im Mittelpunkt des Salons von Alexander Nitzberg im „Schnabelewopski“.

Es ist der Auftakt zu einem Abschied. Aus Wien kamen Dr. Volker Kaukoreit von der Nationalbibliothek und Dr. Josef Gmeiner von der Musiksammlung Gmeiner, um Tanzers Nachlass nach Wien heimzuholen. Da ein so beeindruckend lebendiger Mensch wie Tanzer aber noch nichts nachlassen kann, sprechen die Beteiligten von einem „Vorlass“. Die Wortprägung kennzeichnet den ironisch gefärbten Humor Tanzers, der 1938 mit den Eltern vor den Nazis aus Wien fliehen musste und als amerikanischer Offizier nach Europa zurückkehrte. Erst spät begann er zu schreiben. Das meiste in Düsseldorf.

Es fällt schwer, beim Blick in dieses herzliche Skeptikergesicht von Beruf oder gar Berufung zu sprechen. Da scheint einer zu schreiben, wie der Vogel singt. Heute wissen wir, dass kein Vogel singt um des Singens willen. Im Falle Tanzer: Wenn ein eigenes Werk seinem heutigen Qualitätsbegriff nicht mehr entspricht, wird es aus dem Verkehr gezogen, wird es neu geschrieben; oder es wird einem Alexander Nitzberg in die Hand gegeben, dass der ein Opernlibretto daraus filtert.

Im nächsten Jahr wird Tanzer 80, dann findet in Ulm die Uraufführung der Oper „Die Befreiung“ mit der Musik des Österreichers Herbert Lauermann statt. Dann wird auch im Grupello Verlag ein Band mit Tanzers Gedichten erscheinen. In Wien ist ein Konzertzyklus mit Tanzer-Liedern geplant.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 6. Juni 2000

Der Junge mit den blutigen Schuhen

Schriftsteller Dieter Forte wird 65 Jahre alt

Heute vollendet ein Schriftsteller das 65. Lebensjahr, der Dramen, Romane, Hörspiele, Fernsehspiele und Essays geschrieben hat, der von Kritikern im sogenannten deutschen Sprachraum, also auch in der Schweiz, wo er seit Jahrzehnten lebt, wegen einer ungewöhnlichen Sprachkultur gelobt wird, der aber als Person unspektakulär geblieben ist. Sein Name ist nicht etwa ein Geheimtipp, aber auch nicht in aller Munde: Dieter Forte. Im vorigen Jahr bekam er den Bremer Literaturpreis für sein Lebenswerk, vor allem für die Romantrilogie mit den Titeln „Das Muster“, „Der Junge mit den blutigen Schuhen“ und „In der Erinnerung“. Schon 1992 war er mit dem Basler Literaturpreis ausgezeichnet worden.

In seinem Werk findet sich immer wieder Kurzprosa, die sich den bekannten Kategorien zu entziehen scheint. Sie vermittelt die Bekanntschaft mit einem auf resigniert nachdenkliche Art angriffslustigen Dieter Forte; „Finita La Musica“ zum Beispiel oder „Notiz zu Büchner“ oder der Versuch über die österreichische Krimifigur Kottan.

In den siebziger Jahren war Forte als Autorenname immer wieder in Theaterrezensionen zu finden. Heftig diskutiert wurde über „Martin Luther & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung“, über „Kaspar Hausers Tod“ und „Der Artist im Moment seines Absturzes“. Keine rauschhafte Theaterkost war das und geradezu das Gegenteil vom damals aktuellen absurden Theater. Aber in den Bühnenwerken kündigte sich schon an, was im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts Fortes zentrales Thema wurde: den Menschen verstehen, indem wir begreifen, in welcher Welt der großen und der kleinen, alltäglichen Geschichte er so wurde, wie er ist. Das heißt aber auch, zu verstehen, warum immer wieder die Menschen verschiedene Wege gehen, auch wenn sie im selben Krieg, im selben Frieden, sogar an derselben Straße aufwachsen.

Diese Straße findet sich in Düsseldorf, in Fortes Geburtsstadt. Dieter Forte, dessen Lebens- und Schreibwelt das von humanistischer Tradition bestimmte Europa ist, Dieter Forte also ein lokaler, vielleicht sogar ein Heimat-Schriftsteller? Die Tatsache, dass er die bedeutendste Ehrung, welche die Stadt zu vergeben hat, den Heinrich-Heine-Preis, bisher nicht bekam, stützt nicht den Verdacht lokaler Enge, denn der Heine-Preis ist kein Literaturpreis, auch wenn ihn Schriftsteller wie Carl Zuckmayer und Hans Magnus Enzensberger bekommen haben.

Keinen materiellen, aber einen hohen ideellen Wert in der literarischen Welt hat die Heinrich-Heine-Ehrengabe, die die Düsseldorfer Heine-Gesellschaft vergibt. Sie würde einen Schriftsteller auszeichnen, der es nicht nötig hat, sich durch Modernismen bei den Jungen, durch Derbheiten bei den Stammtischen anzubiedern, der aber mit keiner Zeile ein biederer Schreiber ist, vielmehr einer, der von sich und seinen Lesern alles fordert, detailbesessen, ohne redselig zu sein, mit ironischer Distanz zu den aufsteigenden, mit ironischer Zuneigung zu den ausgleitenden Gestalten seiner Romane – eben ein wirklicher Erzähler.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Feuilleton, 14. Juni 2000

Das Kruzifix hängt nun in St. Andreas

Werk Professor Beckers war fast 30 Jahre verschwunden

„Ein Kruzifix von Professor Friedrich Becker in St. Andreas?“ So wunderte sich ein kunst- und kirchenerfahrener Düsseldorfer. „Sie erkennen das?“ So wunderte sich wiederum ein weißgekleideter Dominikanermönch, als er auf das Werk angesprochen wurde.

Von einem Wunder soll nicht die Rede sein, wohl von einem Glück, das allerdings der 1997 kurz vor dem 75. Geburtstag gestorbene Künstler nichts mehr erfahren hat. Becker hatte die Oberbürgermeisterkette geschaffen, die Garather Sonnenräder, den heiteren Radschläger, dessen Denkmal die Rheinische Post der Stadt schenkte und am Osteingang der Schadow Arkaden aufstellen ließ.

Bis zu seinem Lebensende hat er nach dem Kruzifix gesucht, das er 1960 für das Dominikanerkloster an der Herzogstraße entworfen und geschaffen hatte: Einen zwei Meter hohen Corpus aus Silberblech, befestigt auf einem Kreuz mit roter Emailleglasur von Professor Lily Schultz.

Wo war’s nur? Wo?

Sicher war nur, es musste irgendwo sein. Aber wo? Witwe Hildegard Becker setzte die Suche fort, auch in Walberberg, Stammsitz der Dominikaner. Und sie wurde schließlich fündig, in einer versteckten Ecke entdeckte sie das Kruzifix, schwarz angelaufen, rundum restaurierungsbedürftig.

Jetzt kehrte es zurück nach Düsseldorf, so still, wie es vor über 25 Jahren die Stadt verlassen hatte. Monika und Hans Petrovic, Goldschmiede beide und vor 40 Jahren Studenten Friedrich Beckers, nahmen im Atelier im Hof des Schumann-Wohnhauses an der Bilker Straße den Corpus vom Kreuz und zerlegten ihn in seine Einzelteile. Dann begann für jedes Teil ein wiederholtes Tauchbad in mit Wasser verdünnter Schwefelsäure. Hans Petrovic erinnerte sich an den alten Handwerkerspruch: „Erst das Wasser, dann die Säure, sonst passiert das Ungeheure.“ Die Badewannen für die kleineren Teile und das große Mittelstück bastelte er selbst, klopfte mit vorsichtigen Schlägen die Beulen heraus, restaurierte ebenso vorsichtig die rote Emaille, denn jedes bisschen Feuer zuviel macht aus Rot Schwarz.

Ein Symbol des Heils

Nicht ohne Rührung arbeiteten Monika und Hans Petrovic am Werk ihres Lehrers, das nun einen Ehrenplatz in der Stadtkirche der Dominikaner, in St. Andreas bekommen hat. Und das Symbol des Heils, das Friedrich Becker dieser christlichen Leichendarstellung mitgegeben hat, ist so zu unbeabsichtigter Bedeutung gelangt: Die Blutstropfen der Nagelung in den Handflächen und auf den Füßen sind nicht rot wie Blut, sondern grün wie die Hoffnung.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Stadtpost, 16. August 2000

Udo Lindenberg – frisch gestrichelt

Herma Körding zeichnete „Düsseldorfer Köpfe“
Das Buch wurde gestern im Rathaus vorgestellt

Wenn Herma Körding ins Theater geht oder irgendwo in Düsseldorf mit Mann und Freunden bei einem Glas Wein sitzt, zieht sie aus der Handtasche nicht, wie sonst bei Frauen üblich, diskret einen Taschenspiegel, sondern einen Skizzenblock und einen Zeichenstift Nr. 6. Gestern im Rathaus allerdings nicht, und das tat ihr auch gleich leid, denn die Journalisten hatten viele Fragen zu ihrem soeben dem Düsseldorfer Oberbürgermeister Joachim Erwin überreichten Buch „Düsseldorfer Köpfe“. Und sie, die Journalisten, redeten lebhaft und gestenreich. So etwas liebt die Malerin Herma Körding, die zehn Jahre lang unterwegs „Düsseldorfer Köpfe“ gezeichnet und zu Hause aquarelliert hat. „Ein Düsseldorfer Panoptikum“ nannte es Verleger Bruno Kehrein, in dessen GrupelloVerlag das Buch erschienen ist. Wer es durchblättert, wird ihm auch darin recht geben, dass „dieses Buch sehr düsseldorferisch“ ist. Es zeige das Talent der Düsseldorfer, sich in Szene zu setzen.

Düsseldorfer Köpfe also, natürlich mit dem Oberbürgermeister, natürlich mit Bruder Matthäus, natürlich mit Kunstakademiedirektor Markus Lüpertz, natürlich mit . . . Wieso eigentlich „natürlich“? Düsseldorfer Köpfe sind doch nicht nur die echten oder die Möchtegern-Promis. Und so findet sich der Kellner ebenso wie der Braumeister, findet sich ein anonymes Frauenterzett, finden sich Ballettratten, Vereinsbosse und der eigene Ehemann unter den Düsseldorfer Köpfen. Auch Udo Lindenberg; der ein Düsseldorfer? Herma Körding hat ihn in Hamburg im Hotel getroffen und artig gefragt, ob sie ihn zeichnen dürfe. Während der Stift übers Papier eilte, erkundigte sich Udo nach Markus Lüpertz, nach dem Schicksal des „Malkastens“.

Herma Körding war in ihrem Element, die Künstlerin, die gern vom „Zweikampf zwischen Maler und Modell“ spricht, war jahrelang einzige Frau im Malkasten-Vorstand gewesen. So wurde Udo Lindenberg ein Düsseldorfer Kopf.

Die Malerin, die in Karlsruhe, Paris und Düsseldorf studiert hat, und deren helle, forschende Augen für die Ernsthaftigkeit ihres Wortes bürgen, dass äußere Porträtähnlichkeit erst an zweiter Stelle ihrer künstlerischen Arbeit stehe, ist auch in handwerklicher Hinsicht ein Phänomen. Ihre sichere Hand beherrscht den Zeichenstift wie die leicht verlaufende Aquarellfarbe, aber sie rahmt ihre Köpfe auch eigenhändig.

150 von über 500 000 Düsseldorfer Köpfen: „Gefragt wurde keiner, aber eine Auswahl musste getroffen werden. Das war nicht einfach“, heißt es im Vorwort.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post., 31. Oktober 2000

Reif für die "Insel"

Ein Abend über den Schelm Albert Vigoleis Thelen

Auf einer Wolke schweben Hermann Harry Schmitz (HHS), Heinrich Böll und Albert Vigoleis Thelen (AVT). Sie packen sich an den Händen, tanzen im Kreis herum und singen wie die sieben Geißlein im Märchen: „Der Wolf ist tot, der Wolf ist tot.“ Auf der Wolke nebenan sitzt Heinrich Heine und weiß nicht, ob er mitlachen oder mitmachen soll. Jedenfalls ist er nicht der Wolf, über dessen Tod die drei toten rheinischen Dichter und dann auch der vierte, größte, Heinrich Heine, lachen. Der tote Wolf ist die Gruppe 47.

Die hatte damals, zu Anfang der fünfziger Jahre, mehrheitlich das altertümliche Deutsch des 50-jährigen Emigranten Albert Thelen mit dem seltsamen zweiten Vornamen Vigoleis abqualifiziert. Bestsellerautor ist er, der 1989 im Alter von 86 Jahren starb, nicht geworden, wohl aber Geheimtipp, Kultautor vieler Mallorca-Reisender.

Seine „Insel des zweiten Gesichts“ wurde von Thomas Mann, angeblich auch von Adenauer geschätzt. In den siebziger Jahren entdeckte den gebürtigen Süchtelner die RP-Literaturkritikerin Lore Schaumann wieder. Und jetzt erlebten seine „Insel“ rund fünf Dutzend Thelen-Freunde und solche, die es bestimmt werden, im Heinrich-Heine-Institut.

RP-Feuilletonredakteur Lothar Schröder, der einen großen Teil seines Studiums Thelen gewidmet hat, sorgte für Einblicke in und Anmerkungen zur 900 Seiten starken „Insel“. Die Rezitatorin Ursula Jung rezitierte und ließ dabei innige Verbundenheit mit dem Text erkennen.

Thelen, der von allen literarischen Moden unabhängig schreibende Zeitbeobachter, gehört nach Meinung Schröders – und wer wird die nicht nach dem auf anderthalb Stunden eingedampften AVT teilen – zu den begnadeten schreibenden Schelmen (wie Böll und HHS) – was nicht zu „schelmisch“ verkleinert werden sollte. Dazu hatte der Niederrheiner, den es Ende der Zwanziger nach Mallorca verschlug, auch keinen Grund.

Übrigens nächtigte er damals in Valldemosa auf einer Matratze, auf der zuvor die üppige Düsseldorfer Kunsthändlerin Johanna Ey geschlafen hatte; die Matratze der 100 Jahre früher dort geschlafen haben sollenden französischen Schriftstellerin, Chopin- und Heine-Freundin George Sand verschmähte er. Nach Nazideutschland wollte er nicht zurückkehren, vor Francos wie vor Hitlers Häschern musste er mit Ehefrau Beatrice durch halb Europa fliehen. Und als er schließlich in die Heimat zurückkam, wurde er von den jüngeren Schreibgenossen als hoffnungslos altmodisch, um nicht zu sagen als alters-schwatzhaft beiseitegeschoben.

Die Fülle eines fast neunzigjährigen Lebens in einem Jahrhundert, das nur aus Umbrüchen bestand, wurde von dem rheinisch ungehorsamen Katholiken Albert Vigoleis vor allem in seiner „Insel“, aber auch in wunderbaren Gedichten gedeutet. Lothar Schröder wiederum schaffte es, uns auf den Gipfel des Bergriesen Thelen heraufzuziehen, ohne dass wir außer Atem kamen; ein kundiger Führer und ein Schelm dazu. Denn er lässt uns mit dem Hinweis allein, dass Schelm Thelen auch mal lügt, wenn es seiner Meinung nach der Wahrheitsfindung dient.

Und es bleibt noch viel zu tun, die 15 000 in aller Welt verstreuten Thelen-Briefe zu sammeln und zu sichten, so wie es immer noch mit der „Insel“ in der Hand auf der Insel den Schelmen AVT wiederzuentdecken gilt.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 30. November 2000

Harfen vom Wunderland der Dichtung

Rose Ausländer mit einer Ausstellung im Gerhart-Hauptmann-Haus gewürdigt / Czernowitz bis Düsseldorf

Harfenistin Gertrude Schaffer wartete geduldig, bis auch die letzten Gäste der Ausstellungseröffnung im Gerhart-Hauptmann-Haus zum 100. Geburtstag der Dichterin Rose Ausländer mit einer Sitzgelegenheit versorgt waren.

Dann tropften im steten Fluss Melodien aus dem Wunderland deutschsprachiger Dichtung, aus der Bukowina, einst östliches Österreich, ins Ohr - Einstimmung in eineinhalb Stunden Verzauberung, begleitet von Wehmut über unvorstellbare Verfolgung und den Verlust von geistigem Kapital, verursacht durch Menschen, die ebenfalls Deutsch sprachen und ihren Stolz auf deutsche Dichtung zur todbringenden Arroganz trieben.

Rose Ausländer, geboren als Rosalie Scherzer am 11. Mai 1901 in Czernowitz in der Bukowina, gestorben im Nelly-Sachs-Altenheim der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf am 3. Januar 1988 und hier auf dem jüdischen Friedhof im Nordfriedhof beerdigt, hat trotz ihres durch Verfolgung und Vertreibung unsteten Lebens ein unfassbar großes dichterisches Werk hinterlassen.

Ebenso unfassbar groß ist die Sammlung an Briefen, Zeugnissen mit Noten zwischen „lobenswert“ und „vorzüglich“, außerdem Bücher, die sie jahrzehntelang begleiteten. Helmut Braun, unermüdlicher „Wanderprediger für Rose Ausländer“, Berater in ihren letzten dreizehn Lebensjahren, Herausgeber, Nachlassverwalter, soweit das Schriftstellerische nicht hier im Heine-Institut gepflegt wird -, Braun also hat alles in Rahmen und Vitrinen geordnet und mußte dabei mit dem „Luxusproblem der Auslese“ fertig werden, ein Problem, das in bescheidenerem Maße auch der Ausstellungsbesucher hat. Deshalb nur ein kleines anekdotisches Appetithäppchen: Zu sehen ist auch eine Hölderlin-Ausgabe mit Hitlerbild.

Das folgende Ergebnis der Forschung geht übers Anekdotische hinaus: Die tiefgehende Wandlung der Dichterin vom traditionellen Reim zum freien Versmaß geht nicht auf den Einfluss ihres Landsmanns Paul Celan zurück, sondern entwickelte sich in New York - zu Celans Überraschung

Aber was ist solche Theorie gegen das gesprochene Wort? Edith Silbermann - sie hat mit ihrem Mann Alphons Rose Ausländer geholfen, sich in Düsseldorf niederzulassen -, Edith Silbermann las Rose Ausländer, las das Gedicht vom „Mutterland Wort“ und jenes, das der Geburtstagsausstellung den Titel gab „Mit meinem Seidenkoffer reise ich in die Welt“. Reine Lyrik ist das, Melodie und konzentrierte Arbeit an der Sprache, zugleich Beweis dafür, daß vollendete Lyrik nicht nur persönlich, sondern auch zeitbezogen und im weitesten Sinn politisch sein kann.

Zu Rose Ausländers 100. Geburtstag wird die Ausstellung dann in Czernowitz eröffnet, dazu bietet die Rose-Ausländer-Gesellschaft eine Reise an. Zuvor aber wird in der Ausstellung, die auch ein Porträt der Dichterin und Zeichnungen zu deren Gedichten von der 90-jährigen Düsseldorfer Malerin Marianne Mangold-Nienhaus zeigt, Rolfrafael Schröer am 19. Januar um 19 Uhr Dichter um Rose Ausländer vorstellen: Paul Celan, Alfred Margul-Sperber und Alfred Kittner, der ebenfalls seine letzten Lebensjahre in Düsseldorf verbracht hat.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 13. Januar 2001

Jetzt singen wir alle den "Song of the Rhineland"

Kurt-Weill-Abend im Theatermuseum

Da es sich um Musik handelt, könnte man von einem Dreiklang singen, nämlich von dreimal Kurt Weill (1900–1950) in Düsseldorf: Im Großen Haus steht Weills Dreigroschenoper (Text Bert Brecht) auf dem Spielplan, über kleinere Bühnen kreuz und quer durch Düsseldorf tingeln Helga Mangold und Olaf Cless mit ihrem bejubelten Weill-Programm „Sprich leise, wenn du Liebe sagst“ und im Theatermuseum waren Torsten Enge (Vortrag in Wort und Lied) und Michael Collins (Klavier) mit dem Weill-Abend „Nur keine Noblesse…“ zu Gast. Davon soll hier die Rede sein.

Das Jahr 2000 war Weill-Jahr. Der Widerhall des 100. Geburtstags des deutschen Komponisten Kurt Weill war in den USA groß, dort gilt er seit der Emigration als „American composer“ (September Song); in Deutschland war er allenfalls mäßig. Vielleicht, weil wir die musikalisch so schlagkräftige Parole „Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm“ meinen, verwirklicht zu haben. Oder verzeihen wir dem jüdischen Emigranten nicht, dass er Amerikas Kriegseintritt unterstützte, dass er von einem Parisaufenthalt nicht zurückkehrte, weil ihn die Nazis enteignet hatten?

Kurt Weill und die Deutschen, das ist eine so schwierige Geschichte wie Kurt Weill und Bertolt Brecht, wie Kurt Weill und die zweimal angetraute Ehefrau Karoline Blamauer, bekannter als Seeräuberjenny oder als Lotte Lenya. Kurt Weill und die Politik aber ist ein noch weiteres Feld. Der Mann der Noten, der Schönberg- und Humperdinck-Schüler, der als Komponist Alban Berg ebenbürtig gewertet wurde, er drückte musikalisch mit zögerlichen Zwischentönen aus, was dem Schriftsteller Brecht so plakativ aus der Feder kam.

Torsten Enge hat seinen Weill studiert, nicht nur musikalisch als Sänger, sprechtechnisch als Rezitator, auch bei Erforschung des Lebens- und Schaffenslaufs. Die Beispiele waren klug gewählt, die Zwischentexte erinnerten sehr an die ermüdenden Erläuterungen zur E-Musik im WDR-3-Dampfradio. Highlights, im Zusammenhang mit dem deutschen american composer Kurt Weill darf man den Begriff mal gebrauchen, waren das Sabbatgebet, das Weill 1946 für seinen Vater, einen jüdischen Kantor komponiert hat, das Schickelgruberlied, das den Menschenschlächter Hitler so klein und gemein machte, wie er es verdient hat und der „Song of the Rhineland“, der unsere Nationalhymne werden müsste. Er wäre ein glanzvoller Schlusspunkt des Abends gewesen – auch rechtzeitig aufhören ist eine Kunst.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 30. November 2001

Im Aufzug an der Wand hoch

Ausstellung zum 95. Geburtstag Trude Dinnendahl-Bennings

Kaiserswerth. Am 9. Februar wurde sie 95, aber wer die zierliche Person mit den lebhaften Augen und den Lachfältchen sieht, sagt: „95 ist doch kein Alter.“ Sie heißt Trude Dinnendahl-Benning und stammt aus Rheinhausen. Seit 1957 wohnt sie in Kaiserswerth, und es gibt weit und breit keine neu ausgestattete Kirche oder ein Kloster, wo nicht Dinnendahl-Bennings in Glas, Textilien oder Mosaik zu bewundern sind. Wer einen Gesamteindruck gewinnen will, hat dazu im Museum des Kaiserswerther Bürgervereins Gelegenheit.

Reden wir nicht davon, dass die Künstlerin allein stand mit vier kleinen Kindern. Auch nicht davon, dass sie selbst beide Eltern früh verlor. Dass sie trotz ihrer Fertigkeit im Zeichnen und Malen nicht Kunst studieren durfte, sondern Lehrerin wurde – Gewerbelehrerin.

Ein bisschen Glückskind war sie also auch, schon früh traf sie den genialen Franz Marc, der ihr Talent erkannte. Und als sie in Köln endlich eine künstlerische Berufsausbildung bei dem berühmten Johan Thorn-Prikker (von ihm stammen die Mosaiken im Ehrenhof) beginnen wollte, musste die berufserfahrene Trude erst noch einmal eine Aufnahmeprüfung am Institut bestehen. Hinauf zum angestrebten Lehr-Meister schaffte sie es dann mit einem Sprung.

Zupacken – das bestimmte ihr Leben. Als sie Wandbehänge für das Kloster Marienthal entwerfen durfte, gab sie eine Stelle als Leiterin einer Paramentenwerkstatt auf. Als sie sechs Meter hohe Wandbehänge nach eigenen Entwürfen ausführen musste, fuhr sie ein einem „Aufzug“ immer an der Wand hoch, zog Goldfäden, stickte mit Seide und Perlen. Sie schuf ein drei Meter hohes, mit Mosaiken versehenes Turmkreuz in Gold, farbige Kirchenfenster, stellte aus in Wien, Rom, Amsterdam, Basel. Sie war eine der bekanntesten deutschen Künstlerinnen in den 60ern und 70ern, fand neue Formen für kirchliche Kunst und war doch auch eine der Unbekanntesten. Denn bis heute hat religiöse Kunst in Deutschland keinen hohen Stellenwert.

Dinnendahl-Benning ist trotzdem ihren Weg gegangen. Als vor Jahren ein Sturz, dann eine Operation ihr die Schaffensfreude zu nehmen drohten, überraschte sie ihr Sohn Johannes mit Pastellstiften und Acrylfarben – seitdem malt sie kleine Formate. Aber wie gesagt: 95 ist kein Alter.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Stadteilnachrichten Düsseldorf-Nord, 12. März 2002

Meditieren, blumige Harmonie genießen

Zur Euroga 2002: Ausstellung Japanische Blumenkunst im Hetjens-Museum

Es begann in den fünfziger Jahren als Aufbruch in eine fremde Kultur. Die Achse Berlin-Rom-Tokio zur Hitlerzeit hatte da nicht viel gebracht. Mitte der Fünfziger aber wurde im Kunstmuseum am Ehrenhof eine japanische Tee-Zeremonie zelebriert, gab es im Hetjens-Museum, damals noch Abteilung des Kunstmuseums, eine erste Begegnung mit Ikebana, der Kunst des Pflanzensteckens in kunst- oder sonst wie anspruchsvollen Gefäßen. Origami, die Kunst des Papierfaltens, bezauberte, papierene Koi-Karpfen hingen wie Mobiles in den Fenstern, und japanische Schriftzeichen auf Schachbrettmuster hingen als Grafik an den Wänden.

Dann kam der Niedergang. Origami wanderte in Kindergärten und Grundschulen ab, Ikebana in die Volkshochschulen, die Teezeremonie wurde als fischiger, grüner Teeaufguss missverstanden, Papierkarpfen waren fürs Kinderzimmer und die Schriftzeichen als Grafik-Ersatz wurden saurer Kitsch genannt.

Dann kam vor 30 Jahren die Engländerin Georgie Davidson nach Düsseldorf und eröffnete hier einen Zweig ihrer Internationalen Ikebana-Schule. Seitdem ist Ikebana im Rheinland mehr als häusliche Pflanzendekoration mit fernöstlichem Touch. Zum 30-jährigen Bestehen des Düsseldorfer Ikebana-Zweigs wurde gestern im Hetjens-Museum eine Jubiläumsausstellung eröffnet, in der sich Ikebana als wahrhafte Kunst präsentiert, Kunst nicht denkbar ohne Meditation, und zufällig auch ein Beitrag zur Euroga 2002.

Georgie Davidson, 83 Jahre alt, Großmutter, mit gepflegtem weißen Haar die typische Lady, dirigierte gestern Mittag noch eine Schar aufgeregt hin und her flatternder englischer und deutscher Schülerinnen; fotografierende Ehemänner und ein einziger männlicher Schüler wirkten ziemlich exotisch. Dabei war bis vor 100 Jahren Ikebana, damals schon mit 500-jähriger Tradition, in Japan reine Männersache. Um so mehr spricht es für die Ikebana-Meisterin Davidson, dass die Ausstellung von der Japan-Foundation unterstützt wird. Japaner/-innen findet man allerdings in der Schule nicht.

Das Hetjens-Museum, Deutsches Keramikmuseum, ist der Ikebana-Kunst seit Jahrzehnten verbunden und das, obwohl die Meisterwerke der Keramik für die Dienerinnen der Alt-Äste, Jung-Artischocken, Lilien, Rosen, Strelizien und Bananenblätter nicht mehr als Container sind. Im Lauf der Jahrhunderte haben sich Schulen und Stile herausgebildet. Da ist zum Beispiel Morimono. Hauptbestandteil sind Früchte, dazu wenige Blüten, noch lieber Blätter; diese Schaustücke können in Glas- oder Keramik-Arbeiten angeordnet werden, auf Lackschalen, sogar auf Papier.

Vieles wirkt auf uns, die wir in der abendländischen Kultur- und Begriffswelt aufgewachsen sind, symbolisch, manches auch nahe am Deco-Pop, Begriffe, die zum Verständnis so wenig taugen, wie wir jemals den Gehalt von „Meditation“ voll ermessen können. Da bleibt uns ein wunderbarer Ausweg: sich hineinfallen lassen in die Harmonie von Ikebana. Auge und Nase, Herz und Hirn werden glücklich.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 4. Mai 2002

Anna Klapheck zum 100

Wohl war sie eine respekt-, ja ehrfurchteinflößende Person. Aber sie machte nie ein Gewese um sich. Sie baute schlicht auf Qualität – auch die eigene – und wusste daher, daß sie Autorität besaß, ohne sie je herauskehren zu müssen.

Persönlich liebenswert, aber auch ganz salopp, kam sie einfach mal eben in der Redaktion vorbei, ich hab’ was da was für euch, wollt ihr’s? und behandelte vom Volontär bis zum Ressortleiter alle gleich. Anna Klapheck, heute vor 100 Jahren als Anna Strümpell in Erlangen geboren, war Kunsthistorikerin, Kunstschriftstellerin und Kunstjournalistin, und nie hat sie auch nur im mindesten einen Bruch oder gar Widerspruch in solcher Aufgabenteilung empfunden.

Sie schrieb ein schnörkelloses, ungeschwätziges, ganz lauteres, sozusagen klassisches Deutsch, und die einzigen Verbesserungen, die nötig waren, die brachte sie schon selber im Typoskript an mit ihrer steilen, sauberen Schrift. Kürzbar war da nichts. Es gelang ihr wie wenigen, komplizierte Sachverhalte in klare, so verständige wie verständliche, oft sehr witzige Sätze zu fassen; stets erklärend, nie bloß wertend (was man hätte erwarten können angesichts der scheinbar unkomplizierten Sprache). Sie würde staunen, wenn man das ihr gegenüber als Qualität herausstellte, so selbstverständlich war das. Wie sie. Wie ihre klaren Gesichtszüge hinter dicken Gläsern. Oft zeichnete sie selbst wichtige Artikel bloß mit einem lapidaren „K–k“.

Sie war ein Mensch, eine Denkerin, der Kunst und Kunstgeschichte nicht zerfiel. Vom Hieronymus im Gehäuse (Doktorarbeit, Marburg, 1925) über das Neue Rheinland – beispielsweise – oder Zero bis zu Beuys schlug sie ihren erkennenden Bogen, beweisend, daß Kunsthistoriker von wirklicher Schule und Klasse keine Epochenklüfte kennen, wenn denn jeweils Qualität für sich spricht.

Dürer, Goethe, Ey und Beuys

Klapheck („uns’ Anna“ sagten wir hinter ihrem Rücken) studierte in Leipzig, Berlin und Marburg. In Leipzig, wo sie auch für den C. G. Börner arbeitete, lernte sie den „Insel“-Verlagschef Kippenberg kennen; daraus und aus ihrer Vertrautheit mit dessen großer Goethe-sammlung (jetzt Schloß Jägerhof) erwuchs ihre auch journalistische Beschäftigung mit dem Dichter und dessen Reflexen in Ausstellungen und Vorträgen.

1927 kam Klapheck inzwischen mit dem Kunstgeschichts-Professor Richard Klapheck an der Kunstakademie verheiratet, in diese Stadt. Klapheck mußte 1934 gehen. Ab 1952 lehrte sie dann selbst Kunstgeschichte dort, schrieb über Jankel Adler, Johanna Ey, Ewald Mataré, Bruno Goller. Ihr Ey-Buch bei Droste erreichte vier Auflagen. 1979 veröffentlichte sie einen Band über Kunst im Rheinland nach 1945: „Vom Notbehelf zur Wohlstandskunst“ (DuMont). Für die Rheinische Post schrieb sie ab 1946 bis sechs Tage vor ihrem Tod 1986. Seit langem lehrt ihr Sohn Konrad Malerei an der Akademie.

Anna Klapheck, geboren und gestorben in den selben Jahren wie Beuys – eine weise und humorvoll Wissende. Haben wir von ihr gelernt? Hoffen wir’s. Wie elegant, fair und gedankenreich sie zu formulieren wußte, zeigt ein Satz zum Freund Beuys, dessen Graphik sie sehr schätzte. Sie überantworte es indes der Zukunft, „ob manche seiner Objekte nur Niederschlag schöpferischer Augenblicke sind, ob sie, eng an ihren Schöpfer gebunden, ein überdauerndes Eigenleben gewinnen“ werden.

Sebastian Feldmann In: Rheinische Post. Düsseldorfer Stadtpost, 12. Mai 1999.

Vor 25 Jahren starb Kunsthistorikerin Anna Klapheck (2011)

Sie versah einst den Part des Kunstgeschichts-Professors an der Düsseldorfer Akademie, jenes Dozenten, der den Kunststudenten klarmacht, dass sie nicht bei Null anfangen, dass Kunst vielmehr stets aus Kunst hervorgeht und dass es darum wichtig ist zu wissen, was frühere Generationen geschaffen haben. Dieses Amt, später von Werner Spies ausgefüllt, ließ schon früher Zeit, sich auch mit der Kunst der Gegenwart zu beschäftigen, auf dass der Brückenschlag zur Vergangenheit immer wieder gelingt.

Anna Klapheck, die 1899 geborene und vor 25 Jahren gestorbene Kunsthistorikerin, pflegte den Kontakt zur zeitgenössischen Kunst nicht nur aus beruflichen Gründen, sondern auch, weil er ihr spürbar Freude bereitete. Sie hatte zahlreiche Künstler, die uns heute als historische Größen erscheinen, noch persönlich gekannt und fasste ihre Erinnerungen später in Büchern zusammen, über Jankel Adler, Heinrich Campendonk, Bruno Goller, Ewald Mataré oder Johan Thorn Prikker. Besonders gut gelang ihr ein Büchlein über die Düsseldorfer Künstlerlegende Mutter Ey. Im Übrigen hatte mancher Text, der Eingang in die Bücher fand, zuvor in der Rheinischen Post gestanden.

Die Leser schätzten an Anna Klapheck nicht nur ihren hohen, nie zur Schau gestellten Sachverstand, sondern auch ihren schnörkellosen Stil. Der taugte zur Beschreibung von Bildern und Skulpturen und zur Charakterisierung des künstlerischen Milieus in Düsseldorf ebenso wie zur Wiedergabe von Vorträgen, die Literaturwissenschaftler im Goethe-Museum gehalten hatten. Einen Tag später kam Anna Klapheck jeweils voller im Zaum gehaltener Begeisterung in die RP-Redaktion, gab ihr blitzblankes, von keinerlei Eigenkorrekturen getrübtes Schreibmaschinen-Manuskript ab und freute sich, wenn sie und alle Goethe-Freunde es am nächsten Tag in der Zeitung lesen konnten.

Anna Klapheck war verheiratet mit Richard Klapheck (1883-1939), der an der Akademie jenen Posten bekleidete, auf den sie nachrückte. Aus der Ehe ging 1935 Konrad Klapheck hervor. Er setzte die Tradition der Eltern auf andere Weise fort, wurde Künstler und als solcher später ebenfalls Professor an der Akademie. So hat Anna Klapheck eine Künstlerlaufbahn auch aus familiärer Sicht verfolgen können.

Bertram Müller In: Rheinische Post. Düsseldorfer Kultur, 25. Februar 2011

Doris Burkhardt (1939 - 2013)

Laudatio des Düsseldorfer Frauenforums auf Doris Burkhardt zur Verleihung der Ehrenbrosche des Frauenforums

Verfasst und gehalten von Barbara Herz, Frauen-Bücher-Zimmer am 8. März 2001 im WBZ, Bertha von Suttner-Platz, Düsseldorf

Meine Damen und Herren, meine liebe Doris, ich freue mich, Sie und Euch begrüßen zu dürfen zur Ehrung für Doris Burkhardt, die heute mit der Ehrenbrosche des Frauenforums ausgezeichnet wird. Wir Frauen vom Frauenforum fanden, dass in unserer Heimatstadt - wie in vielen Städten - das Engagement und die ehrenamtliche Arbeit von Frauen nicht recht gewürdigt wird und starteten deshalb im letzten Jahr die Vergabe dieser Ehrenbrosche, die nun immer zum 8. März, dem Internationalen Frauentag, einer Frau aus dem Frauenforum für ihre hervorragende Arbeit verliehen wird. Zur Erklärung, falls einige von Ihnen nicht recht wissen, was sich hinter dem Begriff „Frauenforum“ verbirgt: Das Frauenforum ist ein Zusammenschluss von Düsseldorfer Fraueninstitutionen, Frauenvereinen und -verbänden sowie Düsseldorfer Bürgerinnen. Wir tagen immer am 2. Mittwoch im Monat im Rathaus und beschäftigen uns mit frauenpolitischen Themen; wir unterstützen einander so gut wir können und versuchen, der Stadt politischen Dampf zu machen, wenn es um die Sache der Frauen geht. In diesem „Frauenforum der Stadt Düsseldorf“ hat Doris Burkhardt - von einer kurzen Auszeit abgesehen - sehr engagiert mitgewirkt. Nun zunächst allgemein wenige Einblicke in das Leben von Doris Burkhardt. Sie wurde 1938 geboren und verlebte Kindheit und Jugend in Herdecke und Hagen. Nach einer Ausbildung zur Kaufmannsgehilfin arbeitete sie einige Jahre als Lohnbuchhalterin. Der Wunsch, im Sozialbereich tätig zu werden, ließ sie nicht los. So schloss Doris 1966 mit Erfolg hier in Düsseldorf im Evangelischen Krankenhaus die Kinderkrankenpflege-Ausbildung ab und war einige Jahre als Kinderkrankenschwester in Krankenhäusern und Kinderheimen tätig.

In Frankfurt am Main arbeitete sie in einem städtischen Kinderheim - für ein Jahr sogar nur halbtags -, um mit 37 Jahren noch bei einer Fachschule für Sozialpädagogik die so genannte Fremdenprüfung zur „Staatlich anerkannten Erzieherin“ gut zu bestehen.

Doris erzählte mit Stolz, dass sie in den 70-er Jahren in Frankfurt an der „Wiege der neuen Frauenbewegung“ gelebt und gewirkt habe und dass diese Zeit der Frauen-Foren sie sehr beeinflusst hätte. Sie wohnte nach ihrer Frankfurter Zeit in Nordbaden für ein Jahr in Mosbach als Untermieterin in dem dortigen Frauenzentrum. Von dort aus nahm sie im Mai 1981 an dem ersten bundesweiten Kongress der „Fraueninitiative 6. Oktober“ in Bonn teil. - Das Markenzeichen von Doris war wohl auch schon damals das einer aktiven Frauen-Kämpferin. Wir „alten Häsinnen“ wissen ja, dass sich gerade auch in kleinen Orten die Frauen auf den Weg machten, um Erstaunliches zu leisten. Der Kampf um die Streichung des § 218 zum Beispiel mobilisierte viele Frauen und animierte sie immer wieder, ihren Forderungen auch auf anderen Gebieten kreativ nachzugehen.

Seit Herbst 1981 lebt Doris wieder in Düsseldorf und arbeitete noch viele Jahre im psycho-sozialen Bereich der Altenpflege (Gruppenarbeit/ Gedächtnis-Training). Heute gibt sie als Rentnerin ehrenamtlich in einer Senioren-Begegnungsstätte einmal wöchentlich einen Kurs „Gedächtnistraining“.

Bei einem Besuch in ihrer kleinen Wohnung mit Balkon in zentraler Lage empfand ich diese wie ein Archiv: Zu jedem Frauen-Thema hat sie die passenden Zeitungsausschnitte, Aufsätze und Bücher gesammelt und geordnet, dazu auch sehr, sehr viele Bilder. Ein beeindruckendes Zuhause einer Frau, die sich ganz den frauenpolitischen Zielen verschrieben hat.

Doris brachte sich mit ihrer Erfahrung und Kreativität dann erfolgreich in die Düsseldorfer Frauenbewegung ein. Das Gedankengut ihrer Frankfurter Zeit und besonders das der „Fraueninitiative 6. Oktober“, Bonn, deren Auffassung vom Feminismus ihrem eigenen Denken entsprach, gab sie als Impulse weiter – und den Bonner Frauen für deren „Ifpa“ (Initiative Frauenpresse-Agentur mit bundesweitem Verteiler) manche Information aus Düsseldorf, z. B: über die Forderung des Frauenforums nach öffentlichen Geldern für obdachlose Mädchen in Düsseldorf oder über das „Aus“ der Frauenmesse in Düsseldorf oder über den bundesweit ersten „Frauen-Armutsbericht“ des Frauenbüros der Stadt Düsseldorf von 1999.

Für September 1982 - vor der ersten großen „Rentenreform 1983/84“ der Bundesregierung - organisierte Doris für die „Fraueninitiative 6. Oktober“ eine bundesweite Arbeitstagung in Düsseldorf - in Zusammenarbeit mit dem „Frauen-Bücher-Zimmer“, das auch seine Räume zur Verfügung stellte. Es wurde die Reform kritisch beleuchtet etwa nach dem Motto „Frauen leben länger - aber wovon?“ unter Frau Eva Rühmkorf, der bundesweit ersten Leiterin einer „Frauen-Gleichstellungsstelle“ in Hamburg. Ich erinnere mich gut, wie viele Abende wir uns ernsthaft, verärgert und enttäuscht mit diesem Thema beschäftigten.

Doris wurde bereits im Frühjahr 1982 für viele Jahre ehrenamtliche Mitarbeiterin bei der ersten Düsseldorfer Frauenzeitschrift „Kom'ma“ auf der Luisenstraße 7, und schrieb zunächst Terminankündigungen, später auch noch verschiedene Artikel.

Außerdem nahm Doris seit 1984 über vier Jahre an dem Volkshochschul-Kurs „Frauen in die Kommunalpolitik“, bei der Kom'ma angesiedelt, teil, den sie schließlich auch selbst leitete.

Bei ihrer Mitarbeit im „Frauenforum“ - bereits vor den monatlichen Sitzungen im Rathaus - brachte sie manche Ideen und Pläne ein. Mit Recht stolz ist sie auf ihr „Kind“ - die Forderung an die Stadt Düsseldorf nach einer „Ehrenamtsstudie über Frauen in Düsseldorf“. Diese Idee brachte Doris November 1987 im Frauenforum ein und sie wurde über viele Monate diskutiert - leider ohne das politische Ziel im Sinne des Frauenforums zu erreichen. Das Frauenforum war seiner Zeit oft voraus, denken wir doch, dass erst jetzt - 2001 - das „Jahr des Ehrenamtes“ ist!

Als 1997 die Stadt Düsseldorf ein Jahr lang für UNICEF für die Straßenkinder der Welt Spenden sammelte, initiierte und organisierte Doris im Frauenforum eine Diskussion und eine Resolution (November 1997) mit der Forderung an die Stadt Düsseldorf, öffentliche Gelder für die Mädchen-Obdachlosen-Arbeit regelmäßig einzusetzen - mit Erfolg, zum Beispiel für das „Trebecafé“ und den „Knackpunkt“ (für Mädchen).

Mit großem Engagement setzte Doris sich auch für die „Lokale Agenda“ ein, bei der sie im Arbeitskreis „Arbeit und Soziales“ mitwirkte (1998/1999) und darüber im Frauenforum berichtete. Die Vorstellung der Frauen für eine „Notwohnung für Opfer von Frauenhandel“ wurde im Rat der Stadt allerdings so stark verändert, dass sie später als Frauenprojekt nicht mehr erkennbar war.

In der Zeit der verstärkten Friedensbewegung (z. B. die Frauen-Friedenskette in Düsseldorf am 17.10.1983) wollten Düsseldorfer Frauen einen zentralen Platz nach einer Frau benennen. Wir stießen bei der Stadtverwaltung nicht auf großes Entgegenkommen, galt es doch - wie immer - unter einer großen Anzahl von Männern auszuwählen. Der Wunsch der Frauen, den Platz vor dem Carsch-Haus „Bertha-von-Suttner-Platz“ zu nennen, schlug fehl.

Aber Doris gab nicht auf und brachte im August 1984 den Punkt dieser Platzbenennung in Verbindung mit dem neuen Platz Hauptbahnhof-Ost als Vorschlag im Frauenforum ein - mit bereits vorbereiteten Briefen an die Stadt und organisierten Unterschriften-Listen. Dieser wurde von den anwesenden Frauen mehrheitlich akzeptiert und war somit auch Sache des Frauenforums. Damals tagte das Frauenforum u. a. in den Räumen der Kom’ma, Luisenstraße 7.

Zum Thema Platzbenennung Hauptbahnhof-Ost wandte sich Doris auch mehrmals mit Erfolg an die Presse - mit unterschiedlichen Informationen und Argumenten, zum Beispiel mit „Mehr Straßen und Plätze nach Frauen benennen“. Diese Hartnäckigkeit bewirkte, dass mit Hilfe von Frauen im Rat der Stadt das Ziel endlich erreicht und der neue Platz hinter dem Hauptbahnhof nach Bertha von Suttner benannt wurde. Ein lebendiger Platz, über den wir heute alle gegangen sind, um den „Internationalen Frauentag“ zu feiern.

Doris kam bei ihrer Arbeit fast immer ihre Fähigkeit zugute, Gedanken, die in der Luft lagen, auszusprechen. Immer wieder lieferte sie Artikel und Redebeiträge zu den anstehenden Themen, Und es ist sicher eine Kunst, im rechten Augenblick loslassen zu können, um auch fachkompetente Frauen zu finden, die ihre Gedanken in die Tat umsetzen.

Es ist nicht ihre Sache, in vorderster Reihe zu stehen. So ist es bezeichnend, dass sie seit Oktober 1996 als „Stellvertretende des Frauenforums“ im Frauen-Ausschluss der Stadt mitarbeitete, wobei sie häufig für die eine oder andere „Vertreterin des FF“ einsprang. Schließlich wurde sie dann seit 1998 selbst „Vertreterin für das FF“. - Aber nach einem Jahr legte sie 1999 frustriert die ehrenamtliche Arbeit im Frauen-Ausschluss nieder und ist dort jetzt als kritische Besucherin anzutreffen.

Doris hat die Eigenschaft, ausdauernd und mit langem Atem ein Thema zu bearbeiten.

Und so danken wird Dir, Doris, dass durch Deine Hartnäckigkeit mancher Brief geschrieben wurde, manches nicht im Sande verlief, weil Du wieder mit einem Artikel kamst, über den Du verärgert warst oder den Du zur Nachahmung in Düsseldorf empfehlen wolltest. Den Dank aller Frauen des Frauenforums darf ich Dir jetzt materialisiert in dieser Brosche, die auch als Anhänger getragen werden kann, überreichen. Ich gratuliere Dir von ganzem Herzen. [Es gilt das gesprochen Wort.]  

Dankesrede von Doris Burkhardt nach der Ehrung durch das Düsseldorfer Frauenforum am 8. März 2001 im WBZ

Liebe Barbara Herz, vielen Dank für deine Worte und insgesamt den Frauen des Frauenforums Dank für die Anerkennung meiner Mitarbeit! Ich bin stolz, diese Ehrenbrosche zu erhalten - und das als Rentnerin, im Jahr des Ehrenamtes, im ersten Jahr des neuen Jahrhunderts und im 20. Jahr als Bürgerin dieser Stadt. Düsseldorf ist mir in den vergangenen Jahren zur Heimat geworden - besonders durch meine nebenberufliche, mir sehr wichtige frauenpolitische Arbeit im außerparlamentarischen Bereich, unabhängig von politischen Partei-Programmen. Im Alleingang wäre manches kaum möglich gewesen. Die enge Zusammenarbeit mit den autonomen Fraueninitiativen und mit dem Frauenforum und mit dem Frauenforum verliehen den Vorhaben mehr Nachdruck und zeigten: "Frauen gemeinsam sind stark!". Für solidarisches Miteinander und gegenseitige Ergänzungen danke ich ausdrücklich den früheren und heutigen Mitstreiterinnen des Frauenforums. Dieser Dank gilt auch dem Team des Düsseldorfer Frauenbüros und allen frauenfreundlich gesonnenen Personen im Düsseldorfer Rathaus und in der Volkshochschule! Ich möchte sie alle hier ermuntern, Räume für Frauen und Mädchen zu fordern, zu schaffen und auszubauen - auf allen Ebenen im privaten und öffentlichen Bereich! In diesem Sinne sei mir erlaubt, drei Beispiele zu nennen:
  1. Schaffung eines sofortigen eigenen Aufenthaltsrechtes für verheiratete Migrantinnen
  2. Bereitstellung ausreichender und angemessener konstanter Schutzräume mit Therapieangebot für Opfer von Frauenhandel - gegebenenfalls wie beim VRR als Verbundsystem von Städten in der Region!
  3. Schaffung eines Rechtsraumes mit gleichem Strafmaß bei gleicher Straftat bei sexueller Nötigung oder bei Vergewaltigung von Frauen mit und ohne Behinderungen. - Dazu werden auf dieser Veranstaltung Unterschriften gesammelt!
Erinnern muss ich Sie an das Jahr 1999 - und an die seit dem 8. März im Rathaus vorliegenden "Wahlprüfsteine" mit Forderungen des Frauenforums und außerdem an die Handlungs-Empfehlungen im Frauenarmutsbericht des Düsseldorfer Frauenbüros! Abschließend erinnere ich Sie gern an Schlagworte, die auch mich begleitet habe: "Das Politische ist privat – das Private ist politisch" "50% aller Plätze für Frauen!" "Einmischen – Mitmischen! Frauen ins Düsseldorfer Rathaus!" "Männern ihre Rechte und nicht mehr – Frauen ihre Rechte und nicht weniger!" Erlauben Sie mir, noch etwas anzumerken zum Thema "Ehrenamt": Es ist bekannt, dass die Frauen des Frauenforums ehrenamtlich, außerdem ohne Fahrgeld-Erstattung und ohne Erhalt von Sitzungsgeldern in Eigen-Regie abends tagen, um Müttern und Erwerbstätigen die Teilnahme zu ermöglichen. Zwei delegierte Frauen des Frauenforums stellen sich außerdem zur aktiven Teilnahme an den Frauen-Ausschuss-Sitzungen zur Verfügung!  Für diese delegierten Frauen sollte im "Jahr des Ehrenamtes" endlich eine "Frauenförderung im politischen Ehrenamt" verwirklicht werden, das heißt: Dienstbefreiung am Arbeitsplatz und Erhalt von Sitzungsgeldern für Verdienstausfall und Erstattung von Fahrgeld-Auslagen! — Danke!

Was bedeutet mir hier und heute Lebensqualität?

(Januar 2002, Text von Doris Burkhardt)
  1. Ein bezahlbares warmes Dach über dem Kopf in einer relativ notwendigen Größe („Ein Zimmer für mich allein“) mit relativem Komfort wie Bad, Küche, Zentralheizung, TV-Technik (mit Kabel), Telefon, Balkon, Aufzug – ohne Treppenhaus-Putzerei-Verpflichtung, pflegeleichte Wohnung, übliche Haushaltsgeräte.
  2. Verkehrsgünstige Lage, gut erreichbare und bezahlbare Geschäfts- und Kultur-Angebote.
  3. Saubere Luft, sauberes Wasser, saubere Nahrungsmittel, saubere Textilien, Nah-Erholungsmöglichkeit.
  4. Soziale Gerechtigkeit, Sicherheit im engeren und weiteren Umfeld ohne „Überwachungs- und Polizeistaat“, bezahlbare gute medizinische Versorgung.
  5. Verschiedene, bezahlbare oder freie Möglichkeiten der persönlichen Kommunikation im Wohnumfeld.
  6. Selbstbestimmtes Leben, ohne besondere Einengungen, mit Hilfsangeboten, die bezahlbar sind.
  7. Nach der Erwerbstätigkeit noch zu bewältigende Aufgaben über den Privatbereich hinaus haben/ausüben.
  8. Eigene Fähigkeiten erhalten oder entwickeln zu: Hobbys praktizieren, Wünsche haben und realisieren, teilen und abgeben, kritisch sein – aber nicht misstrauisch und verbittert werden, sich „nach der Decke strecken“ in gesundheitlicher, sozialer und finanzieller Hinsicht, neugierig bleiben, das Licht sehen, Schatten gegebenenfalls annehmen.
(Handschriftliches Notat aus dem Nachlass von Doris Burkhardt, zunächst aufbewahrt im Frauen-Kultur-Archiv, jetzt im Stadtarchiv Düsseldorf)  

Rede zum Internationalen Frauentag am 8. März 1988 auf dem Schadowplatz in Düsseldorf

als Beitrag der autonomen Frauenbewegung zu einer Frauen-DGB-Veranstaltung Ich bin Doris Burkhardt, ich arbeite in der autonomen Frauenbewegung, unter anderem bei KOM’MA, der Düsseldorfer Frauenzeitung mit Veranstaltungskalender, in dem VHS-Kurs ‚Frauen in der Kommunalpolitik‘. Solidarisch mit der Arbeit der DGB-Frauen spreche ich heute für Frauen der autonomen Frauenbewegung in Düsseldorf. HERAUS ZUM FRIEDEN  – GEGEN DIE UNSOZIALEN SPARMASSNAHMEN!   - - Unter einer ähnlichen Losung fanden die ersten Demonstrationen zum Internationalen Frauentag vor dem 1. Weltkrieg in Deutschland statt. HERAUS ZUM FRIEDEN  – GEGEN DIE UNSOZIALEN SPARMASSNAHMEN!  - – Unter diesem Motto erschien im März 1982 in einer Düsseldorfer Tageszeitung eine Anzeige. Frauen aus unterschiedlichen Bereichen, Gruppen und Initiativen der Düsseldorfer Frauenbewegung riefen darin zur Demonstration auf.

Anneliese Ksiensik (1919 – 2010)

Anneliese Ksiensik - eine Brückenbauerin

Welchen Respekt sich Anneliese Ksiensik in der vielgestaltigen Düsseldorfer Frauenszene, repräsentiert im Düsseldorfer Frauenforum, erworben hatte, zeigte sich am 8. März 2000, als dieses Frauenforum im Düsseldorfer Rathaus zum 1. Mal in seiner Geschichte das Engagement von Bürgerinnen ehrte. Die 79jährige war die Erstgeehrte, die die Schmuckehrengabe in Empfang nehmen konnte.   Im Düsseldorfer Frauenforum vertrat sie den Katholischen Deutschen Frauenbund viele Jahre lang in einer Weise, der ihr Anerkennung und Sympathie über alle ideologischen Grenzen hinweg eintrug. Sie vertrat dezidiert und fundiert ihre Positionen, ohne andere zu verletzen. Sie bemühte sich um Ausgleich zwischen kontroversen Standpunkten und war dabei geistig so unabhängig, dass sie einen Standpunkt begründet vertrat, wohl wissend, dass dieser nicht immer mit dem des KDFB im Einklang stand. Sie pflegte dann in den Sitzungen im Rathaus zu sagen: „ich sehe das jetzt so, aber mein Verein wird dies nicht so sehen“. (A. Ksiensik im Düsseldorfer Rathaus, 8. März 2000)   Zu ihren bleibenden Verdiensten gehört es, das Problem der geringen Renten von älteren Frauen in den öffentlichen Diskurs der Stadt eingebracht und an der Brücke zwischen den katholischen und evangelischen Frauenverbänden gebaut zu haben, was in gemeinsame 8.-März-Aktionen der christlichen Frauenverbände einmündete. Sie war – für ihre Generation sehr progressiv – eine Netzwerkerin, die durch ihre offene, klare und humorvolle Art auch junge Frauen für sich und ihre Überzeugungen gewinnen konnte. Auf diese Weise baute sie nicht nur Brücken zwischen den christlichen Frauenverbänden sondern auch zwischen den Repräsentantinnen der traditionsorientierten Frauenbewegung und der neuen Frauenbewegung.   Dass sie im 3. Reich als junge Christin die aus ihrem Glauben erwachsende Verantwortung offensiv vertrat, das hat sie als Selbstverständlichkeit angesehen und nicht als besondere Leistung. Umso mehr freuten wir uns, dass sie zum Stadtjubiläum 1989 von ihrem Wirken in der NS-Zeit berichtet hatte und wir diese Darstellung hier mitteilen konnten und hier erneut präsentieren können. Ariane Neuhaus-Koch, Frauen-Kultur-Archiv

Anneliese Ksiensik zum Gedenken

Im Alter von 91 Jahren ist am 12. August des Jahres Frau Annelise Ksiensik, Jg. 1919, nach längerer Zeit in einem Pflegeheim in Düsseldorf verstorben. Sie war gläubig und wartete auf den Tod, der sie nun erlöst hat. Frau Ksiensik hat sich um die katholische Kirche und besonders auch um unseren Verband wirklich verdient gemacht. Schon mit 8 Jahren trat sie der franziskanischen Jugend bei; mit 10 Jahren wurde sie Mitglied der katholischen Jugend ihrer Pfarre und mit 13 Jahren Mitglied in der Jugendbewegung „Christi Reich“. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse allgemein musste sie dann mit 16 Jahren die katholische Marienschule verlassen. Von 1935 – 1944 war sie im Einzelhandel und in der Industrie tätig. Nach der Heirat 1944 arbeitete sie bis Kriegsende als Verwaltungsangestellte in Koblenz und 1946 bei der Militärregierung in Düsseldorf.   Mit 16 Jahren trat sie dem Jugendbund des Katholischen Deutschen Frauenbundes bei, dem sie bis 1944 angehörte. Während des Krieges wurde sie von der Gestapo verhört, weil sie Soldaten an der Front mit religiöser Literatur und kirchlichen Nachrichten versorgt hatte, zusammen mit ihrer Schwester. Nach der Geburt ihrer beiden Kinder in den Jahren 1946 und 1949 trat sie schon 1946 dem Zweigverein Düsseldorf bei und widmete sich ab 1962, bis zu ihrem 80. Lebensjahr, dem Pfarrbesuchsdienst. 1972 wurde sie geschieden. Schon ab 1949 war sie berufstätig geworden, zunächst im Einzelhandel, später in der Verwaltung der LVA und der Kreishandwerkerschaft.   Frau Ksiensik zeichnete sich durch ein kluges, ehrliches und ausgewogenes Urteil aus, das überall geschätzt wurde. So vertrat sie vor allem unseren Zweigverein im Frauenforum, einem Zusammenschluss der unterschiedlichsten Frauenverbände, Initiativen und Richtungen. Dort setzte sie sich für die Probleme der älteren Frauen mit kleinen Renten ein und konnte die Lage der alleinerziehenden Mütter verdeutlichen. Am Internationalen Frauentag 2000 zeichnete das Frauenforum sie mit einem erstmals verliehenen Schmuckorden für ihre mutigen Stellungsnahmen aus. 2004, anlässlich ihres 85. Geburtstages, verlieh ihr der Hl. Vater auf Antrag des Zweigvereins den kirchlichen Orden „Pro ecclesia et pontifice“. Darüber hatte sie sich sehr freut und in ihrem Dankesbrief geschrieben: „Die Arbeit im KDFB war mir immer sehr wichtig, und ich bin stolz, was dieser Verband in den 100 Jahren alles geleistet hat. Unsere Nachfolgegeneration genießt alle Erfolge, die wir erkämpft haben“. Heute folgt ihre Tochter als Frauenbeauftragte ihren Spuren. Gott schenke Frau Ksiensik die ewige Ruhe! Für den Zweigverein Düsseldorf: Dr. Marina R. Küppers In: Mitteilungsblatt des KDFB, Zweigverein Düsseldorf e.V., 8/9 2010

Anna Elisabeth Ksiensik: Meine Aktivitäten im 3. Reich

Nach der Schulzeit wurde ich Mitglied im Jugendbund des Katholischen Frauenbundes. Inzwischen waren die meisten katholischen Jugendorganisationen durch die Nazis verboten worden. Wir durften uns nur rein religiös betätigen, das heißt es gab keine Reisen und Wanderungen, sondern nur Wallfahrten und Besinnungstage oder Exerzitien (...). Unter der Obhut des Katholischen Frauenbundes, besonderes durch Vermittlung von Frau Horion, konnten wir im Frauenbundhaus in Bendorf unsere Begegnungen abhalten. Wir feierten dort die Hochfeste; Ferienfreizeiten sowie Führerinnenschulungen wurden uns in diesem Haus ermöglicht. Wir wunderten uns oft, dass die Partei und die Gestapo uns in Ruhe ließen, waren aber auch bemüht, nicht aufzufallen.   Während meiner Berufstätigkeit bei der Firma Franzen hatte ich keinen Kontakt zu Parteigenossen und Nazis (...). Da ich in dieser Firma keine Aufstiegschancen hatte, wechselte ich meine Stelle und arbeitete in einem mittleren Industrieunternehmen in Neuss. Hier lernte ich erst den Einfluss der Nazis kennen, da es sich um einen sogenannten kriegswichtigen Betrieb handelte. Inzwischen waren unsere Brüder, Vettern und Freunde eingezogen worden und kämpften an allen Fronten. Es entstand eine lebhafte Korrespondenz mit ihnen, unter anderem über das Thema „Junger Tod“.   Es hatte nach dem Ersten Weltkrieg im Verlag Albert Langen/ Georg Müller ein Buch gegeben: „Kriegsbriefe gefallener Studenten“. Es interessierte uns sehr, und wir diskutierten und korrespondierten darüber, weil es zeigte, in welch elenden Tod die Kriegsbegeisterung führte. Zu unserer Korrespondenz gehörte auch die Euthanasie-Predigt des Bischofs von Galen in Münster. Das war am 3. August 1941. Ich hatte diese Predigt im Büro in Neuss im Zehnerblock (ein Original und neun Durchschläge) geschrieben.   Jemand muss mich bei der Gestapo angezeigt haben, denn eines Tages erschienen im Büro mit dem Betriebsobmann zwei Gestapobeamte und verhörten mich im Beisein meines Chefs, der kreidebleich war und heftig zitterte. Die Beamten waren bestens informiert und beanstandeten, dass ich nie im BDM und nicht in der Partei war. (...) Dann musste ich noch den Lieferanten der Predigt angeben, es war meine Schwester Maria. Sie wurde eine Woche später ins Polizeipräsidium Düsseldorf geholt und hatte es dort wesentlich schwerer, sich aus der Sache herauszureden. Da sie die Unterlagen von einer Lehrerin hatte, hatten wir schnell überlegen müssen, wen wir als Lieferanten angeben konnten, der nicht in einer Staatsstellung war.   Nach den Verhören durch die Gestapo überlegten wir, wie wir uns nun verhalten sollten, entschlossen uns aber, weiter die Soldaten im Feld mit unseren Briefen zu betreuen und sie zu informieren. Mein Bruder hatte inzwischen auch als Offizier Verbindung zum Widerstand aufgenommen. Er starb in Russland am 11. September 1942. Auch viele unserer Vettern und Freunde waren bereits gefallen. Wir hatten inzwischen eine Schreibmaschine organisiert und arbeiteten noch einige Zeit im Luftschutzkeller weiter. Meine Schwester studierte dann in Bonn und später in Tübingen. Nach meiner Heirat am 15. Mai 1944 zog ich aufs Land in die Nähe von Koblenz und war so der Polizei in Düsseldorf ausgewichen.   Nachdem die Geschwister Scholl im Februar 1943 ihren Widerstand mit dem Leben bezahlen mussten, kam uns die Gefährlichkeit unseres Einsatzes erst recht zum Bewußtsein. Wenn ich heute darüber nachdenke, stelle ich fest, dass wir viel riskiert, aber wenig bewegt und erreicht haben.“   Diese Darstellung ist wiedergegeben im Aufsatz von Monika Bunte: „Emma Horion und der Katholische Deutsche Frauenbund“. In: Der eigene Blick. Frauen-Geschichte und -Kultur in Düsseldorf. Hrsg. von Ariane Neuhaus-Koch. Neuss 1989, S. 116-117.

Elisabeth Büning-Laube zum 10. Todestag, Teil 1

Zum  4. Janaur 2015: Freundinnen, Freunde, Weggefährten erinnern sich

 

Georg Aehling: Erinnerungen an Elisabeth Büning-Laube

Das ‚Literaturschiff‘, gechartert von Michael Serrer, dem Leiter des Literaturbüros, hatte am späten Vormittag soeben vom Altstadtufer Düsseldorf abgelegt. Es war ein Samstag im Juni 2000, der Bücherbummel strebte seinem Höhepunkt entgegen: Literarische Vorträge und Lesungen an Bord des MS Goethe. Die Sonne schien grell, ich trug einen Sommerhut und setzte mich im Salon an einen Tisch am Fenster, wir fuhren los in Richtung Zons.

Eine keck behütete Dame im hellen Sommerkleid, begleitet von ihrem Dackel, den sie Monky nannte, näherte sich meinem Tisch und fragte, ob sie dort Platz nehmen könne, was ich gern bestätigte. Die kleine, rothaarige Frau und auch ihre schnarrende Stimme waren mir bekannt, denn ich hatte zuvor bereits einmal ihren Salon KunstLive besucht. Ich bestellte eine Flasche Rheinwein, wir tranken auf unser gemeinsames Wohl und kamen ins Gespräch. Sie berichtete von ihrem Salon und erwähnte, dass ihr zur Abrundung ihrer Bemühungen um die Förderung von Künstlerinnen und Künstlern bislang noch ein Element fehlte: ein Verlag, der die im Salon auftretenden Literaten publiziert. Sie berichtete mir von ihren Plänen, eventuell einen eigenen Verlag gründen zu wollen und bat mich um Hilfestellung, da ich im Jahr zuvor meinen eigenen Verlag gegründet hatte. Ich wusste daher aus eigener Erfahrung von den nicht unerheblichen Aufwendungen und den zahlreichen zu erwerbenden Kenntnissen und Qualifikationen für die Gründung eines Verlags und riet ihr ab, diese Mühen auf sich zu nehmen. Ich bot ihr dann umgehend an, die verlegerische Tätigkeit selbst zu übernehmen und entwarf auf der ausliegenden Getränkekarte kurzerhand ein Konzept. Wir gaben uns daraufhin eine Stunde Bedenkzeit. Ihre literarisch versierte Hündin Monky wedelte derweilen freudig mit dem Schwanz und gab uns damit das Zeichen, sich noch auf dem Wasser zu einigen.

Bei einer Flasche Goethe-Wein wurde dann die Zusammenarbeit besiegelt: Eine neue, als lose Abfolge von bebilderten Monografien konzipierte Publikationsreihe namens KunstLive, die meine Edition Virgines in Kooperation mit dem gleichnamigen Verein besorgt und die von Elisabeth Büning-Laube sowie z. T. von Holger Ehlert herausgegeben wird, soll dazu beitragen, bekannte und weniger bekannte Literaten, Künstlerinnen und Künstler einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Jeder Band sollte zunächst in einer kleinen Auflage von 50 bis 100 Exemplaren erscheinen. Ich entwarf in den darauf folgenden Tagen ein Logo (als das Parkett, auf dem man auftritt) und schlug ihr vor, jeden Band auf einer anderen Papierfarbe zu drucken, eine bunte Reihe, so bunt wie der Salon.

Wir arbeiteten intensiv zusammen, die Mails flogen täglich mehrfach vom Rechts- zum Linksrheinischen und vice versa hin und her, daneben tägliche Telefonate. Sie war extrem genau in ihren Vorstellungen, Vorgaben und Planungen, auch sehr fordernd, meinte es aber stets gut mit allen Beteiligten. Der Salon war immer aufs Genaueste vorbereitet, das Programm lief jeweils über mehr als 3 Stunden, mit geselligem Intermezzo bei Wein und Snacks. Den 5. Jahrestag des Salons feierten wir im Theatermuseum mit vierstündigem Programm: Literatur, Musik, Darbietungen, einer Kunstausstellung. In lediglich vier Jahren entstanden 16 Bände, für einige Autoren wie Titus Müller erwiesen sie sich als ein Sprungbrett. Im Spätherbst 2004 besuchte ich sie zum letzten Mal, sie war inzwischen bettlägerig geworden, Aufenthalte in Krankenhäusern und in einem Hospiz waren unvermeidlich geworden. Als ich am 4. Januar 2005 von einer Weihnachtsurlaubsreise zurückkam, zählte sie nicht mehr zu den Lebenden. Ich habe erst in den Tagen danach von ihrem Tod Nachricht erhalten. Der Salon starb mit ihr. 5. März 2015  

 Ina-Maria von Ettingshausen

Gewidmet meiner lieben Freundin Elisabeth in Erinnerung an wunderschöne Spaziergänge und tiefe Gespräche über Menschen, Poesie und Natur, über Frauenbilder und unser Selbstverständnis als Dichterinnen.
Lebensmotiv
Im Traum schon die kleinen Stoffbeutel gepackt weiß ich nicht was darin eingesackt vielleicht die ängstlichen Abschiedsgefühle beim Hinter-mir-Lassen der vielen schon abgesessenen Lebensstühle Ein seltsames Unbewusstsein bewegt sich in mir spielt Wege höhlende Töne hinauf und hinab wie auf einem klangoffenen Seelenklavier von dem Himmel so hoch bis ganz tief hinein ins Grab Kann ich noch nichts sagen trag innen treibende Fragen zu Körper empfindendem Gegenwartsnu mich warten lassen die Handlungsschuh Tausende prasselnde Regentropfen lassen mein schlafgründig Lebensmotiv Neubewusstsein frei schreibende Wörter klopfen.  

Klaus Grabenhorst: Die kleine Frau mit großem Hut

Ich war neu in dieser Stadt, von der man sagt, sie hätte die längste Theke der Welt. Mit einem Koffer voll französischer Chansons, die ich zusammen mit französischen Freunden in mein Deutsch gebracht hatte, wollte ich mich in die hiesige Kunstszene stürzen. Ich las den Veranstaltungskalender in den Kulturseiten. Sofort sprang mir ins Auge: „Kunst-Live am Freitag, 19:30 Uhr (nur mit telefonischer Anmeldung).“ Ich griff zum Hörer. „Ein letzter Platz wäre noch zu vergeben“, erklärte mir eine resolute Stimme am anderen Ende, „Sie müssten sich nur gleich entscheiden.“ Ich ließ mich auf die Besucherliste setzen. Knapp fünfzig Personen saßen in diesem Wohnzimmer, das dicht gefüllt war. An der einen Wand hingen Aquarelle, an der anderen sah ich Plakate aus der Literaturszene. Und ich roch den Duft von frischen Blumen. In der Küche standen Käsebrote und Getränke bereit. Eine kleine Frau mit einem großen Hut betrat den Raum. Sie begrüßte die Gäste, setzte sich in ihren Sessel und las eine Geschichte von einer Frau, die ihre Kräfte verlor, nachdem er ins Jenseits gegangen war. „Sie irrte durch einen Wald. Auf einmal bemerkte sie, wie ihr ein rot-gelbes Laubblatt in ihre ausgestreckten Hände fiel. Sie brachte es nach Hause und beim Betrachten des Blattes entdeckte sie die verschiedenen Farbtöne und Nuancen und begann zu erahnen, dass“ – und jetzt sprach die kleine Frau so leise, dass man die Worte kaum hören konnte – „auch der Herbst des Lebens manche Farbenpracht zu bieten hat“. Dann stand sie auf und kündigte die Künstler des Abends an. In der Pause erzählte ich meinen beiden Nachbarn, dass ich zum ersten Mal hier sei und mich darüber freue, noch den letzten Platz bekommen zu haben. Sie erzählten, dass sie hier zu den Stammgästen gehören, und dass auch sie, wie jedesmal, „den letzten Platz“ bekommen hätten. Beim Verabschieden sprach ich der kleinen Frau eine Einladung für mein nächstes Konzert aus. Es war eine heitere Atmosphäre in dem Kellertheater in dem Stadtteil auf der anderen Seite des Flusses. Die kleine Frau, die mit dem großen Hut aussah, als sei sie einem impressionistischen Gemälde entstiegen, saß in der ersten Reihe, kicherte, gluckste und strahlte mich an. „Bezahlen kann ich nichts“, sagte sie nach der Vorstellung zu mir, „aber ich möchte gerne, dass Sie einen Abend in meinem Salon singen. Fragen kostet ja nichts! Als Gegengeschäft haben Sie einen Wunsch bei mir frei!“ Ich erwähnte, dass ich gerne einmal im Geburtshaus von Heinrich Heine singen würde. „Sie meinen im Künstlercafé Schnabelewopski! Das machen wir! Ich kenne den Wirt! Und nicht nur das, junger Mann! Ich werde Sie überall einführen! Allerdings bitte ich Sie, dass jedes Mal vor Ihnen ein bis zwei Lyriker ihre Gedichte vorlesen können, und – das ist ein persönliches Anliegen von mir – bitte vergessen Sie nicht, das Lied von der Margerite zu singen!“ Seither fragte sie mich jedesmal, wenn ich ein Konzert gab, bei dem sie dabei war, nach dem Chanson von der Margerite. Es erzählt von einem Pastor, dem einmal bei seiner Predigt eine Margerite aus seinem Gebetsbuch gefallen ist. Wie wankte da der heilige Ort vor Erregung! Ein Skandal! Die Gemüter kamen in Wallung: „Woher kommt das Gänseblümchen? Kam es zu ihm? Kam er zu ihr? Doch“, so heißt es im Lied, „oben im Himmel unser Herr, kümmert sich wenig um das Getuschel im Parterre“. Und nachdem sich die Gemeinde allmählich wieder beruhigt hatte, heißt es zum Schluss: „Und dass niemand, das sei meine kleine Bitte, zeige auf den Pastor und die Margerite!“ Einmal, als ich die kleine Frau mit dem großen Hut an einem warmen Sommertag zufällig auf der Straße traf, erzählte sie, dass ihr Arzt ihr geraten habe, ab und zu mal ein Bier zu trinken, sie habe zu wenig Eisen im Blut. Ich lud sie für den Abend in einen Biergarten ein und flachste, sie könne mir ja dann nebenbei ihre Lebensgeschichte erzählen. „Das werde ich!“, stieß sie begeistert aus und tippelte von dannen. „Mein Vater war Pianist, meine Mutter Sängerin“, begann sie ihre Geschichte. „Sie waren beide im Widerstand gegen Hitler. Sie kämpften unter Einsatz ihres Lebens. Ich war nicht gewollt, denn ich wurde nur gezeugt, weil die Nazis sonst meine Eltern ins KZ gesteckt hätten. Wir waren fünf Kinder. Wären meine Eltern ins KZ gekommen, hätten wir Kinder in ein Heim gemusst. Das war den Nazis zu teuer. Wir haben damals nicht einmal Lebensmittelmarken bekommen. So musste ich schon als kleines Kind lernen, wie man sich etwas für ‚zwischen-die-Zähne‘ organisiert. Ich bin durch die Nachbarschaft gezogen und habe gesungen. Wenn ich Glück hatte, erbarmte sich jemand und gab mir ein Butterbrot. Noch heute habe ich den Geschmack von einem Butterbrot in meiner Nase. Nach dem Krieg, im Adenauer-Staat, waren meine Eltern wieder auf der Verliererseite und mussten mit ansehen, wie die braune Pest Karriere machte. Ich habe es zuhause nicht mehr ausgehalten. Eines Nachts bin ich aus dem Fenster gehüpft und dann immer den Bahngleisen entlang gegangen. Als es hell wurde, kam ich zu einer Fabrik mit vielen Schornsteinen. Ein Pförtner in einem Häuschen packte gerade sein Butterbrot aus. Ich setzte mich zu ihm und sagte: ‚Hm, so etwas hätte ich auch gerne!‘ Er brach mir die Hälfte ab. Ich sagte: ‚Bei dir möchte ich bleiben.‘ Der Pförtner nahm mich mit nach Hause und zusammen mit seiner Frau schaffte er es, dass ich bei ihm bleiben konnte.“ Die kleine Frau mit den roten Haaren hatte inzwischen ihr Glas ausgetrunken. Ich bestellte ihr ein zweites und fragte, warum sie so gerne das Lied von der Margerite höre. „Also, junger Mann“, fuhr sie fort, „das war, als ich zu den Nonnen kam. Wegen meiner Herkunft hieß es, ich sei des Teufels. ‚Du hast böse Gedanken, ich sehe genau, was du denkst‘, zischte die Obernonne. Ich konnte mir das nicht vorstellen. Ich stellte mich heimlich vor einen Spiegel und schaute mich an. Dann dachte ich an etwas ganz Böses und schaute wieder in den Spiegel. Ich konnte keinen Unterschied feststellen. Doch ich habe in all den qualvollen Jahren auch viel gelernt: Kochen, Kleider nähen, Hauswirtschaft, und: nicht zu lügen! Als die Obernonne mich auf die Prüfung vorbereitete, nahm sie mich zur Seite und sagte mit ernster Miene, dass man mich fragen werde, ob mir der Herr erschienen sei, und dann hätte ich mit ‚ja‘ zu antworten. Vor dem Einschlafen dachte ich lange darüber nach. In der Bibel steht doch: du sollst nicht lügen! Und da mir der Herr wirklich nie erschienen war, sagte ich in der Prüfung die Wahrheit. Sie können sich vorstellen, junger Mann: meine Tage bei den Nonnen waren gezählt!“ Eine Geschichte nach der anderen sprudelte aus ihr heraus und da ich mein zweites Bier auch ausgetrunken hatte, fiel es mir immer schwerer, mir die vielen Details zu merken. Später sei sie Krankenschwester geworden. An der Uni-Klinik. Und einmal habe sie zu dem berühmten Professor Doktor Hüsgen gesagt, er dürfe seine Mitarbeiter nicht so anschnauzen: „Das macht man nicht! Das haben die Menschen, die hier arbeiten, nicht verdient!“ Der perplexe Professor habe sie daraufhin mit nach Hause genommen und seiner Frau vorgestellt. So sei sie bei ihm Haushälterin geworden. „Mein späterer Mann, der übrigens dreißig Jahre älter war als ich, wollte mich kurz nachdem wir uns im Schnabelewopski kennengelernt hatten, zu meinem sech­zigsten Geburtstag zum Essen einladen und anschließend mit mir eine Lesung besuchen. Aber es gab in der ganzen Stadt keine einzige Literaturveranstaltung. ‚Dann laden wir eben selber ein paar Dichter ein‘, schlug er vor. Der Abend wurde ein voller Erfolg. Und alle waren der Meinung, wir sollten doch öfters solche Abende veranstalten. Und so entstand der Salon. Als mein Mann zwei Jahre später starb, sagte er auf dem Sterbebett zu mir: ‚Schätzgen, jetzt machst du den Salon alleine weiter!‘ Wir hatten doch gerade erst geheiratet! Wir waren glücklich. Und er freute sich immer, wenn die Gäste eintrafen. Er stand da, wie ein Leuchtturm, so stolz war er. Vorher hatten wir geputzt, die Künstler ausgesucht, die Presse informiert, Einladungen verschickt, frische Blumen geholt, Butterbrote und Getränke bereitgestellt. Und immer, wenn alles fertig war, sagte er: ‚Schätzgen, und jetzt setzt du deinen Hut auf!‘ Kurz vor unserer Hochzeit, junger Mann, war noch etwas passiert! Wir waren alle in einem Hotel auf dem Land. Da erzählte mir am späten Abend eine Verwandte von ihm, dass er bei der Waffen-SS war. Das muss man sich mal vorstellen! Ich wollte gerade schlafen gehen, und dann das! Ich, die Tochter aus einem Elternhaus aus dem Widerstand, heirate einen Nazi, der bei der Waffen-SS war! Um Mitternacht stellte ich ihn zur Rede: ‚Warum hast du mir das nicht gesagt?‘ ‚Liebchen‘, antwortete er, ‚weil du mich dann nicht genommen hättest!‘ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Am nächsten Morgen sollte die Hochzeit sein. Um sechs Uhr in der Früh, nach einer langen Nacht, in der er mir alles erzählt hatte, sagte ich völlig erschöpft: ‚Ich kann darüber n i c h t richten!‘ Und dann habe ich ihn geheiratet.“ Manch schönes Konzert stellte die kleine Frau seitdem mit mir auf die Beine. Und als ihr Salon vom Kulturamt offiziell anerkannt war und die ersten Fördergelder flossen, frohlockte sie „jetzt kannst du bei mir singen“ und fügte voller Stolz hinzu „für Mucken!“ Einmal lud sie mich zu ihrem Geburtstag ein. Mein bester Freund war in diesen Tagen gestorben. Ich fühlte mich nicht in der Lage, auf eine Geburtstagsfeier zu gehen. Sie verstand, rief mich aber zwei Tage vorher noch einmal an und bat mich inständig, zu kommen. Ihr Salon platzte an diesem trüben Novembernachmittag aus allen Nähten. So viele Menschen hatte ich dort noch nie gesehen! Mit ihrem großen Hut saß sie in ihrem Sessel. Die Füße hatte sie auf ein Bänkchen gelegt. Sie las von einem kleinen Mädchen vor, das auf Befehl christliche Worte zu verinnerlichen hatte: „Wollte sie an ihnen nicht ersticken, musste sie gehorchen. Wer weiß, ob dieser Gott, von dem sie keiner befreien konnte, nicht noch viel grausamer war als der Führer, der sich umgebracht hatte, als der sinnlose, lange Krieg verloren ging. Ihr Schicksal war für sie ein vorprogrammiertes Verlorensein, ein Leben, das von Gott aus unweigerlich darin bestehen sollte, für die Ewigkeit zu leiden. Die Höllenschilderungen der Ordensfrauen quälten sie mehr als die Nazis es je gekonnt hatten.“ Sie trank mit zitternder Hand einen Schluck aus ihrem Glas. „Immer jedoch spürte das Mädchen in sich ein Sehnen. Wonach es sich allerdings sehnte, wurde ihm erst klar, als es Jahrzehnte später den Schlüssel zu seiner Innerlichkeitskammer fand, in der sich alte und neue Worte versteckt hielten und sich ihr nun, da sie die seelische Kraft der Erinnerung besaß, offenbarten.“ Sie beendete ihre Lesung mit einem Gedicht. Danach stand sie aus ihrem Sessel auf und kündigte die nächsten Vortragenden an. Nach drei Stunden bedankte sie sich und erklärte, dass dies die letzte Salon-Veranstaltung gewesen sei. Inzwischen war es dunkel geworden. Ein paar Kerzen brannten auf den Tischen. Sie bewegte sich langsam durch den Raum und schaute jedem einzelnen lange in die Augen, berührte ihn, ging zum Nächsten, vor dem sie wieder lange verweilte. Es fiel kein Wort. Spät in der Nacht war ich einer der letzten, die das Haus verließen. Sie hatte von ihrer Krankheit erzählt und dass sie den Arzt gefragt habe, ob er sie, wenn sie seine Frau wäre, in Anbetracht der Befunde operieren würde. Der Arzt hatte verneint. Nach ein paar Monaten bekam ich einen Anruf von einem Hospiz. Sie hätte gebeten, dass ich komme. Abgemagert und zerbrechlich wie ein zerrupftes Vögelchen im Schnee lag sie in ihrem Bett. Ihr kleiner Kopf mit den roten Haaren guckte aus der weißen Bettdecke und ruhte auf dem großen weißen Kopfkissen. Der Tisch war voll prächtiger Blumengeschenke. Daneben lag ihr Hut. Ich setzte mich auf die Bettkante. Sie konnte kaum sprechen und wir lächelten uns an. Sie sah, dass ich meine Gitarre mitgebracht hatte. „Die Margerite?“ Sie strahlte. „Man darf andere kritisieren, aber man darf ihnen nie ihre Würde nehmen!“, seufzte sie. Sie wurde immer müder. Sie setzte ihre Brille mit den dicken Gläsern ab und legte die beiden Hörmuscheln mit der Verkabelung auf ihr Nachtschränkchen. Ich hörte sie leise sagen: „Mit der Kunst ist es möglich, uns auf die Zehenspitzen zu stellen, um mit unserem dummen Kopf ein Stück vom Himmel zu berühren.“ Ich streichelte ihr Gesicht und küsste ihre Wangen. Dann schlief sie ein. Ich hielt noch lange ihr kleines Händchen. Von da an rechnete ich jeden Tag damit, einen Anruf mit der Nachricht ihres Todes zu bekommen. Nach drei Wochen aber war sie selbst am Telefon: „Ich bin wieder zuhause! Willst du kommen?“ Sie schimpfte: „Halsabschneider! Alle wollten nur mein Geld!“ Über mehrere Monate hatte sie viel Besuch. Es war ein Kommen und Gehen. Allerdings konnte sie kaum noch hören und magerte noch weiter ab. Als ich sie das nächste Mal besuchen wollte, war die Wohnung ausgeräumt. Sie wurde gerade renoviert und ich konnte einen letzten Blick in die Räume des Salons werfen. Später hörte ich, dass sie mit einem jungen Künstler in die Schweiz gefahren sei und eine Kapsel genommen habe. „Eine Beerdigung wollte sie nicht“, hieß es, sie wollte „in den Wolken begraben sein.“ Aus: Klaus Grabenhorst: „Ein Stück vom Himmel“, Geistkirch-Verlag, Saarbrücken 2011, S. 7-15. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Geistkirch-Verlags.  

Clemens Hüsgen: Das Besondere

Von vielen Freunden von damals wird bedauert, dass keine Nachfolge des von Elisabeth initiierten Salongedankens erfolgte. Die atmosphärische Dichte wird weder in der „Blauen Stunde“ in der Destille noch im Literaturkreis von Prof. Gepa Klingmüller (bei anderer Zielsetzung) erreicht. Das aber war das Besondere: Konzentrative Stille bei größter körperlicher Nähe der dichtgedrängt sitzenden Zuhörer zum Vortragenden, aber auch locker-freundschaftlicher Umgang in der großen Pause bei Gebäck und Wein. Von der Gitarre bis zur Percussionsgruppe, vom Gesang bis zum Schauspieler waren Künstler und Künstlerinnen vertreten. Lesetexte mussten, vorher genehmigt, den Ansprüchen nach Form und Aussage genügen. Elisabeths leise, sensible Art bewirkte ein kultiviertes Miteinander ohne je förmlich-steif zu sein. Ich erinnere mich noch lebhaft an meine erste Lesung bei ihr, mit Lampenfieber trotz Erfahrungen vor großem Publikum (Waldhotel Wesel, Schloss Beck, Schloss Ringenberg  u. a.) – das hier war eine andere Welt: Kurz vor sich spürt man jeden Blick, ist wie ausgeliefert bei jeder Bewegung, die geringste Nervosität wird wahrgenommen. Doch Elisabeth führte mich ans Micro, stellte mich vor, sprach beruhigend zu mir, alles Befremdliche war verflogen. So mag es manchem ergangen sein, der die Intimität dieses Salons kennenlernte und sich dann später draußen weiterentwickelte. Hilfreich war sicher die Aufnahme in eine Buchreihe, aber entscheidender war wohl die Bewährung vor einem sachkundigen Publikum, die freundschaftlichen Verbindungen untereinander, die Anregungen durch vielfältige Darbietungen. Elisabeth Büning-Laube hat sich mit der Förderung junger Talente verdient gemacht, doch ihr eigentliches Anliegen, die Wiederbelebung des historischen Vorbilds eines „Salons“ mit einem kultivierten Fluidum jenseits vom lautstarken, oft literarisch wenig Anspruchsvollen – diese Idee ist nach meiner Kenntnis in Düsseldorf nicht weitergeführt worden. Eine große Wohnung, Engagement und künstlerisch vielfältige Verbindungen als Voraussetzung für dieses Vorhaben sind heute wohl nicht mehr zu bewerkstelligen. Schade, - umso größer ist ihr Verdienst, umso lebhafter und dankbarer unsere Erinnerungen an viele schöne Stunden. Ihr weithin sichtbarer, großer Hut schmückte unsere Nordstraße, unser Viertel ist kulturell ärmer geworden.  

Heidede Morgenbrod (1933-2001)

Nachruf auf Heidede Morgenbrod: Ein großer Verlust

Heidede Morgenbrod ist von uns gegangen. Sie starb im Alter von 68 Jahren. Ihre Erkrankung war so kurz und heftig, dass man wohl sagen kann: Mitten aus dem Leben gerissen. Auf der Rückfahrt von der Gesamtvorstandssitzung in Altleiningen im März diesen Jahres äußerte sie die Absicht, den Landesvorsitz in NRW, den sie seit 1990 innehatte, in jüngere Hände zu geben. Ich war verblüfft, weil wir nie zuvor davon gesprochen hatten. Mit großer Zielstrebigkeit (und Vorahnung?) führte sie Telefongespräche, und so konnten wir im Mai in Düsseldorf einen neuen Landesvorstand wählen. Am 9. Juni musste sie ins Krankenhaus, das sie nicht mehr verlassen sollte. Wie kann ich ihr Leben und ihre Leistung würdigen? Am besten gebe ich etwas von dem weiter, was sie mir erzählt hat. Nie hat sie die Flucht aus Ostpreußen vergessen können, vor allem nicht die nächtlichen Schreie von vergewaltigten Frauen im Sommer in dem Notquartier in Mecklenburg. Dieses Trauma war die eine Wurzel ihres frauenpolitischen Engagements. Eine andere Wurzel liegt in ihrer Erfahrung, dass eine Frau ihre finanzielle Eigenständigkeit durch ein Kind verliert und dass Kinderbetreuung durch Freunde nicht so leicht zu haben ist und auch nicht unbedingt gewünscht wird. Als ihre erste Ehe Mitte der 60er Jahre scheiterte und sie in ihrem erlernten Beruf als Buchhalterin mit halber Stelle arbeiten wollte, erwies sich die Betreuung des jüngeren Sohnes als unüberwindliches Hindernis. Die Kindergärtnerin des älteren Sohnes räumte ihr - außerhalb der Legalität - die Möglichkeit ein, den Kleineren ohne Anmeldung im Kindergarten „mitlaufen“ zu lassen. Dass sie als Preußin/Ostpreußin gezwungen war, etwas „Gesetzwidriges“ zu tun und dass sie eine andere Frau, die Kindergärtnerin, veranlassen musste, ebenfalls etwas "Gesetzwidriges" zu tun, hat sie zutiefst verstört und aufgebracht und nach anderen Lösungen suchen lassen. Sie dachte an etwas, das wir heute „Gehalt für Familienarbeit“ nennen. Später heiratete sie wieder. Ihr Mann hatte zwei Kinder, und sie hatte zwei, und sie machte die ganze Familienarbeit für den großen Haushalt. Im Jahr 1979 kam eine Halbtagsstelle als Buchhalterin dazu. Anfang der 70er Jahre gehörte sie zu den Frauen, die im Düsseldorfer actionsring frau und welt den „Gesellschaftspolitischen Arbeitskreis“ gründeten. Nach dem Wahlsieg der SPD bei der Bundestagswahl am 5. Oktober 1972 (mit der darauf folgenden Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler) gehörte sie zu den Gründungsmitgliedern der Initiative 6. Oktober, die die Regierungspartei „am Tag nach der Wahl“ mit den Forderungen der Frauenbewegung konfrontierte. Von 1979 bis 1989 war sie Mitbegründerin und aktive Mitarbeiterin im autonomen Frauenprojekt „Frauen-Bücher-Zimmer“ in Düsseldorf (Frauenbuchladen, Kulturbetrieb und „ständige Informationsbörse“ verbunden mit gesellschaftspolitischer Arbeit). Für diesen eingetragenen Verein machte sie die Buchhaltung und sorgte dafür, dass er gemeinnützig war. Im Rahmen ihrer gesellschaftspolitischen Arbeit hatte sie schon vor 1979 brieflichen Kontakt zu Dr. Gerhild Heuer, die später die dhg gründete. Für Heidede Morgenbrod war offensichtlich, dass bei der Frauenbewegung der 70er Jahre die „Familienarbeiterin“ überhaupt nicht im Blickfeld lag. Daher galt ihre besondere Liebe seit 1979 der dhg. Dass es in Düsseldorf bald eine aktive Ortsgruppe gab, ist ihrem Impuls und ihrer Anregung zu verdanken. Auf jeder Messe, auf jeder Ausstellung, fast auf jedem Kirchentag übernahm sie „Schichten“.

Im Jahr 1991 verunglückte sie schwer bei der Einrichtung des dhg-Standes bei der Messe „Aktiv leben“. Sie stürzte und hatte wegen eines komplizierten Bruches einen langen Klinikaufenthalt. Im Jahr 1995 übernahm sie zu allen übrigen Verpflichtungen die Buchhaltung mit großer Umsicht und Gewissenhaftigkeit. Sie schaffte es mit ihren Vorschlägen zur Satzungsänderung, dass die dhg gemeinnützig wurde. Der Namensänderung von der geliebten dhg-Hausfrauengewerkschaft zu dhg-Verband der Familienfrauen und -männer stand sie reserviert gegenüber. Aber Heidede war zutiefst demokratisch, und sie trug die Mehrheitsentscheidung mit.

Was mich an ihr fasziniert hat: ihre Fähigkeit, „Atmosphäre“ zu fühlen und atmosphärische Veränderungen zu registrieren und darauf zu reagieren. Irgendwann erfuhr ich, dass sie als junges Mädchen gern und viel Schach gespielt hat. Da wurde mir klar, dass ihre Art zu denken die einer Schachspielerin war; sie spielte strategisch einschließlich der Rösselsprünge, und ihre Intuition hatte sie wohl mit einer 360-Grad-Antenne begabt.

Der evangelische Pastor in Korbach, der sie nie gekannt hat und der sich auf die Angaben der Familie und der Freundinnen stützte, zitierte aus Heidedes Selbstdarstellung (dhg-Rundschau 2/94): „(...) ich lebte im Dauerzorn über die bisher geschaffenen Strukturen und immer wieder dreisten Veränderungen zu Lasten von Frauen.“ Er hatte als Vers für die Trauerrede bei der Beerdigung den Spruch gewählt:

 

Lebt als Kinder des Lichts. Die Frucht des Lichts ist Gerechtigkeit, Güte und Wahrheit.

 

Alle Flaggen standen am 13. August auf Halbmast. Es war zur Erinnerung an „40 Jahre Mauerbau“, aber es passte auch zur Beerdigung der (frauen-)politisch denkenden und handelnden Heidede Morgenbrod. Für sie war die Gerechtigkeit für Mütter Herzenssache. Wir wollen unsere dhg-Arbeit in ihrem Sinne fortsetzen. Monika Bunte, Düsseldorf

 

Texte von Heidede Morgenbrod

  Selbstdarstellung von Heidede Morgenbrod in der dhg-Rundschau 2/94 1933 bei Insterburg in Ostpreußen geboren, habe ich innerhalb von zwei Ehen vier Kinder betreut und erzogen, zeitweilig auch als Alleinerziehende. Seit 1979 bin ich bis auf den heutigen Tag halbtags erwerbstätig. Als gelernte Steuerfachgehilfin lebe ich im Dauerzorn über die bisher geschaffenen Strukturen und immer wieder dreisten Veränderungen zu Lasten von Frauen. Mein gesellschaftliches Engagement gilt seit 20 Jahren der Frauenpolitik mit dem Schwerpunkt: „Eigenständige soziale und finanzielle Sicherung der Frau“. Ich bin felsenfest davon überzeugt, daß der Lohn für häusliche und soziale Pflegearbeit die einzige brauchbare und gerechte Lösung darstellt, finanzierbar durch Ungestaltung des Sozial- und Steuerrechts. Glücklich bin ich, daß die dhg diese Zielsetzung mittlerweile in ihr Grundsatzprogramm aufgenommen hat. Glücklich bin ich auch, daß sich viele junge Frauen aktiv für diese Forderung einsetzen und damit Druck auf die Parteipolitik ausüben. Von 1979 bis 1989 war ich Mitbegründerin und aktive Mitarbeiterin im autonomen Frauenprojekt "Frauen-Bücher-Zimmer" in Düsseldorf (Frauenbuchladen, Kulturbetrieb und "ständige Informationsbörse" verbunden mit gesellschaftspolitischer Arbeit). Seit 1979, also seit Gründung der dhg, bin ich Mitglied und seit drei Jahren im Vorstand und im Arbeitskreis Grundsatzfragen tätig.   Frauen–Bücher–Zimmer (1980) Am Anfang stand die Idee einer „ständigen Informationsbörse“. „Informationsbörse“, ein Begriff geprägt durch Antje Huber, ist eine Selbstdarstellung der etablierten Frauenverbände ihrer Zielsetzung und Programmgestaltung. Räume hierfür wurden in der Bundesrepublik in den verschiedenen Städten von den Stadt-Sparkassen zur Verfügung gestellt. Diese Informationsbörsen in den verschiedenen Städten fanden bisher nur einmal statt und dazu begrenzt auf maximal 14 Tage zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Zu der Idee „ständige Informationsbörse“ kam die Frage nach der praktischen Durchführung und der Wunsch zur Einbeziehung aller Frauengruppierungen außerhalb der unter dem Dach des Deutschen Frauenrates zusammengefassten Verbände. Hier wurde an die Frauenbewegung, sowie an die Bürgerinitiativen von Frauen, wie Spielplatzforderungsgruppen oder ähnlich gedacht. Das heißt, die „ständige Informationsbörse“ soll ein Dach sein für etablierte wie für autonome Frauengruppierungen. Zur praktischen Durchführung der Idee „ständige Informationsbörse“ wurde ein Verein gegründet als Rechtsform, der dieser Idee wegen auch die vorläufige Gemeinnützigkeit seitens des Finanzamtes erhielt und zwar begrenzt bis zum 31.12.1980. Der Verein wird vom Finanzamt dann überprüft auf die Einhaltung seines Zweckes, um die Gemeinnützigkeit für die Zukunft zu bekommen. Zur praktischen Durchführung der Idee „ständige Informationsbörse“, wurden Räume in zentraler Lage Düsseldorfs gemietet, wo die Informationsbörse Herberge finden konnte. Wie die Informationsbörse arbeiten soll, ist in § 2 „Zweck“ der Satzung des Vereins Frauen-Bücher-Zimmer sehr ausführlich dargelegt, sogar noch mit Nachtrag zur Verdeutlichung besonders für das Finanzamt. Der Frauenbuchladen erscheint unter § 2 „Zweck“, Punkt 4: Informationsbüro mit dem Angebot entsprechender Literatur. Unter Punkt 1 kommt die Vermittlungstätigkeit der Informationsbörse zum Ausdruck mit dem Satz: „Informationen aus allen Lebensbereichen zu sammeln und an interessierte Frauen weiterzugeben (z. B. Termine für Vorträge, Bekanntmachungen über Frauengruppen, -verbände, Seminare)“. Unter Punkt 3 kommt die Eigeninitiative des Vereins Frauen-Bücher-Zimmer zum Ausdruck mit dem Satz: „Kommunikative Veranstaltungen, z. B. Referate, Diskussionen, Austausch von Meinungen und Erfahrungen“. Diese Konzeption zeigt eindeutig auf, dass das Frauen-Bücher-Zimmer keinen 26. Frauenverband Düsseldorfs darstellt oder eine autonome Frauengruppe mit einer eindeutigen Meinung. Bei den langen Vorverhandlungen mit der Leitung der Arbeitsgemeinschaft Düsseldorfer Frauenverbände sowie anderer Organisationen, die nicht einsahen, wieso nun noch wieder eine neue Frauengruppierung entstehen soll, wo es doch schon so viele Frauengruppierungen gibt, wurde von uns immer argumentiert, dass wir uns nicht als 26. Frauenverband oder eine neue autonome Frauengruppe ansehen, sondern ein Dach (Überbau) darstellen wollen, um allen bestehenden Frauengruppierungen eine ständige Selbstdarstellung und ein ständiges Programmangebot zu ermöglichen. Dieser Zielsetzung, die in der Satzung des Vereins Frauen-Bücher-Zimmer festgelegt und mit dieser Zielsetzung auch im Vereinsregister des Amtsgerichts Düsseldorf angemeldet ist, steht nun vom Grundsatz her absolut entgegen, dass der Verein Frauen-Bücher-Zimmer sich einem Frauenverband oder einer autonomen Frauengruppe in der Öffentlichkeit stützend zur Seite stellt. Dieses heißt aktuell konkret, dass gar nicht zur Debatte stehen kann, dass wir Aufrufe zu Demonstrationen mitunterschreiben und Slogans, Parolen aufnehmen und unterstützen (z. B. „Stoppt Strauß“, „Wir pfeifen auf linke Vögel“, oder „Stoppt Kernenergie“, „Wozu brauchen wir Kernenergie, bei uns kommt der Strom aus der Steckdose“), da unsere Beschlussfassung im § 9 der Satzung nach demokratischem Verständnis festgelegt wurde und unter Ziffer 2 „Mehrheitsverhältnisse“ steht: „Sofern das Gesetz oder die Satzung nicht entgegenstehen, werden alle Beschlüsse mit einfacher Mehrheit der erschienenen stimmberechtigten Mitglieder wirksam.“ Um eine groteske Zukunftsvision zu verdeutlichen, hierzu zwei Beispiele:
  1. Das jetzt aktuelle Beispiel: Die demokratische Fraueninitiative, über die sich jede Frau von uns ein Bild aus dem Courage-Artikel vom April 1979 machen kann, ruft zur Demonstration auf und demonstriert u. a. für die Streichung des § 218 aus dem Strafgesetzbuch. Die von uns erschienenen Mitglieder stimmen mit einfacher Mehrheit zu, wir unterschreiben den Aufruf, erscheinen hiermit in allen Zeitungen Düsseldorfs und marschieren mit dem Transparent „Frauen-Bücher-Zimmer“ auf der Straße mit.
  2. Eine mögliche Situation in naher Zukunft, da der Wahlkampf vor der Tür steht und diese und ähnliche Anliegen besonders häufig jetzt auf uns zukommen werden.

Eine katholische Frauengemeinschaft ruft zur Demonstration auf, den § 218 im Strafgesetzbuch beizubehalten und die Konstellation unserer Mitglieder ist an dem Abstimmungstag so, dass mit einfacher Mehrheit der erschienenen Mitglieder dem zugestimmt wird, wir erscheinen wiederum als Mit-Aufrufer zur Demonstration in allen Zeitungen Düsseldorfs und marschieren auf der Straße mit dem Transparent „Frauen-Bücher-Zimmer.“ Wir verstoßen gegen die Satzung und gegen den Zweck des Vereins, wenn wir Parolen, Slogans, Aufrufe, Resolutionen jeglicher Art im Namen des Frauen-Bücher-Zimmers unterstützen. Persönliches Engagement und Beitritt zu entsprechenden Vereinen und Gruppierungen bleibt jeder Frau unbenommen.

Heidede Morgenbrod, Düsseldorf den 28.01.1980

  Wir stellen zur Diskussion: „Düsseldorfer Tarifpapier“ (1988) Jede Arbeit, die im Haushalt mit Kindern anfällt, muß bezahlt werden, wenn sie an zuständige Dienstleistungsbetriebe in Auftrag gegeben wird. Übernimmt dieselbe Arbeit die Hausfrau oder der Hausmann, dann wird sie zu einer unbezahlten Arbeit. Private Gegebenheiten, wie der Gang zum Standesamt mit vollzogener Hochzeitsnacht, sind Leistungen im Sinne des Steuerrechts und führen zum Ehegattensplitting. Private Gegebenheiten, wie die Anzahl der Kinder, sind Leistungen im Sinne des Steuerrechts und führen unter anderem zu Kinderfreibeträgen, die wiederum über die Höhe des Erwerbseinkommens in ihrer Höhe unterschiedlich ausfallen. So gibt es eine Reihe von steuerlichen Leistungen des Staates, die lediglich aufgrund privater Gegebenheiten erbracht werden, aber nichts mit der Erwerbsarbeit zu tun haben. Der Nettolohn der Erwerbstätigen wird hiermit erhöht: zum Beispiel: Mit diesem Tarif-Modell ist auch die eigenständige soziale Sicherung von männlichen und weiblichen Personen gesichert, die sich für Kindererziehung und Kinderbetreuung entscheiden. Gewährleistet sind dann: eigenständige Versicherung für das Altersruhegeld sowie für die Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente, eigenständige Krankenversicherung. Gewährleistet ist dann die gesetzliche Unfallversicherung (möglicherweise der Gemeindeunfallversicherung einzugliedern). Häusliche Pflege- und Erziehungsarbeit begründet dann auch Ansprüche auf vermögenswirksame Leistungen, Urlaubsgeld, Weihnachtsgratifikation sowie Förderung, Fortbildung und Umschulung durch das Arbeitsamt. Tarifpartner ist der Bund. Heidede Morgenbrod für die Düsseldorfer Arbeitsgruppe „Lohn für häusliche Pflege- und Erziehungsarbeit“ der dhg. In: dhg-Rundschau der Deutsche Hausfrauengewerkschaft e. V., H. 1, 1988, S. 5.    

Else Loelgen (1900-1997)

Nachruf für Else Loelgen

Else Loelgen hat uns kurz vor ihrem 97. Geburtstag für immer verlassen. Ein langes Leben ging zu Ende – doch in der Erinnerung der um sie Trauernden wird sie fortleben. Wir dürfen Else Loelgen zu den bedeutenden Frauen unseres Verbandes zählen, die immer auch in die Zukunft hineingewirkt haben.   Bereits 1955 bei einer Begegnung mit Eleonore Späing, der damaligen Vorsitzenden der Gruppe Düsseldorf, wurde ihr Interesse für die kulturellen Bestrebungen des Verbandes geweckt. Sie wurde Mitglied und übernahm sehr bald das Amt der Sachgebietsleiterin für Schrifttum in der Gruppe Düsseldorf.   Schon 1960, auf der damaligen Jahrestagung des Verbandes in Kiel, wurde sie zur Verbands-Sachgebietsleiterin gewählt. 1982 fand die Jahrestagung wieder in Kiel statt, diesmal verabschiedete sich Else Loelgen von ihrem Amt, sie sagte: „Meine Zeit als Sachgebietsleiterin rundet sich am Ende wieder in den Anfang. Ich kann kein besseres Zeichen finden, in sich geschlossen, harmonisch rund, erfüllter kann ein langer Abschnitt des Lebens nicht sein.“   Das Rund war angefüllt mit vielerlei Begegnungen und Gesprächen, sachlicher Unterrichtung, zuverlässiger Gemeinsamkeit und herzlicher Zuneigung. Wenn wenig Widerhall aus den Gruppen kam, fragte sie sich nach dem Sinn ihrer Arbeit und erkannte immer wieder, daß mit der Arbeit auch ein Reifeprozeß ihres Lebens vor sich ging. Die größte Freude an ihrem Sachgebiet brachten ihr die Reisen in die Gruppen mit literarischen Referaten und Lesungen.   In den Jahren von 1968 - 1975 war Else Loelgen gleichzeitig 2. Verbandsvorsitzende und konnte in dieser Zeit manche vermittelnde und aufklärende Rolle übernehmen. Vor allem die Änderung des Verbandsnamens von „Deutsche Frauenkultur“ in „Deutscher Verband Frau und Kultur“ brauchte Schlichterinnen wie Gerritje Meldau und Else Loelgen, um eine Übereinstimmung bei der erforderlichen Abstimmung herbeizuführen. Von beiden sind viele neue Ideen auf den Weg gebracht worden, für die wir den schöpferischen Frauen danken.  

Bis zuletzt war Else Loelgen an der Entwicklung der Düsseldorfer Gruppe interessiert, wenn sie auch nicht mehr zu den Veranstaltungen kommen konnte. Wer ihr begegnet ist, wird sie in der Erinnerung behalten:

„Wenn durch einen Menschen ein wenig mehr Liebe und Güte ein wenig mehr Licht und Wahrheit in der Welt war hat sein Leben einen Sinn gehabt.“

(Kathrin Pingel in: frau und kultur. Zeitschrift des Deutschen Verbandes Frau und Kultur e.V. 1/97, S. 25)

Vita

Else Loelgen, geb. Bagel (21. März 1900 - 4. Januar 1997) Eltern: Fritz Bagel, Verleger, Papierhersteller, Druckereibesitzer in Düsseldorf, und Helene Bagel, geb. Doerth aus Schwerte. Nach der Geburt von Else im Jahr 1900 folgten noch 3 Brüder. 1915 Tod der Mutter bis 1917 Besuch des Schuback-Schmidt-Lyzeums 1917-18 Besuch der Haushaltsschule Schloß Wasserburg am Bodensee 1918-24 Buchbindeausbildung in der Firma Bagel 1920-27 Sprechunterricht bei Frau E. Dalands am Schauspielhaus Düsseldorf 1922-24 Else Bagel verbringt die Wintersemester in München auf der Kunstgewerbeschule (ehemals Depschitz-Schule). Sie hat u. a. Unterricht bei der Schriftkünstlerin Anna Simons und besuchte Vorlesungen in Kunstgeschichte bei Heinrich Wölfflin, in Theatergeschichte bei Arthur Kutscher. Sprechunterricht erhielt sie bei Arnold Marlé. 1925-26 Als Buchbinderin in Düsseldorf tätig u. a. für die Galerie Flechtheim, Ausstellung ihrer Arbeiten im Kunstverein und tätig für die „GeSoLei“ im Jahr 1926. Nebenbei war sie als Rezitatorin auf verschiedenen Veranstaltungen tätig. Gerne wäre sie Schauspielerin geworden, was aber der Vater nicht billigte. So versuchte sie aus der sie nicht befriedigenden Tätigkeit der Buchbinderei zur Innenarchitektur zu wechseln. 1927 Volontariat im Architekturbüro von Emil Fahrenkamp 1927-28 Besuch der Klasse für Innenarchitektur in der Kunstgewerbeschule in Berlin. 1929 Heirat mit Carl August Loelgen, Sohn von August und Käthe Loelgen, Inhaber des renommierten Modehauses „Loelgen-Kriegel“ in Düsseldorf. Kinder: Sohn Thomas im Dezember 1929 und Tochter Dorothea im Dezember 1933 1933 Zunahme der schweren Erkrankung ihres Mannes, der er 1937 erlag. 1938 Umzug nach Bayern, wo sie mit ihren Kinder den Krieg überlebt. 1947-48 Sprechlehrerin am „Theater der Jugend“ in München unter Martin Hellberg. Es schloss seine Pforten 1948, als Hellberg in die DDR ans Theater in Dresden wechselte. 1947-1956 Sprecherin (mit Unterbrechungen) der ersten Blinden-Hörbibliothek Deutschlands in Kiefersfelden. Die Gründerin und Leiterin der Blinden-Hörbibliothek war Frau Peters. 1951 Rückkehr nach Düsseldorf unter Beibehaltung des Hauses in Bayern. In den folgenden Jahren leistete sie Regiearbeit bei Schülertheatern an verschiedenen Schulen und wirkte weiter als Sprecherin der Hörbibliothek. 1955 Beginn der Tätigkeit im Verband „Frau und Kultur“, vor allem in der Sparte Literatur. Sie wurde auch Verbandsvorsitzende. Viele Lesungen führten sie als Rezitatorin mit eigenen Programmen durch Deutschland. 1982 Beendet sie 82jährig ihre aktive Tätigkeit bei „Frau und Kultur“, blieb jedoch dem Verband bis 1993 eng verbunden. 4. Januar 1997 Hoch betagt stirbt sie 60 Jahre nach ihrem Mann. Das Grab befindet sich auf dem Düsseldorfer Nordfriedhof. (Text von Dorothea Kubanek, Tochter von Else Loelgen)

Texte von Else Loelgen

Abschiedsrede von Else Loelgen als Sachgebietsleiterin für Literatur auf der Jahrestagung des Verbands Frau und Kultur 1982 Liebe Mitglieder, ein sonderbarer Zufall oder sollte es keiner sein? Ich stellte nämlich beim Lesen alter Akten fest: 1960 habe ich das Sachgebiet Schrifttum übernommen und zwar auf der damaligen Tagung in Kiel. Ich erinnere mich sehr genau an die Tagung. Sie fand in dem heute abgerissenen Hotel „Bellevue“ auf der Höhe statt, und als erstes war ich fasziniert von dem Blick über die Förde. Was die Literatur anlangt, so las der Lesekreis Düsseldorf – ich hatte damals schon seine Leitung – Texte von Barlach, Frau Kramer aus der gastgebenden Gruppe Kiel las aus seinen Briefen. Und nun nochmals Zufall oder keiner, ich werde in der kommenden Woche in Düsseldorf zum zweiten Mal das Barlachprogramm lesen. Meine Zeit als Sachgebietsleiterin rundet sich also am Ende wieder in den Anfang. Soll ich dieses merkwürdige Zusammentreffen als ein Zeichen für meine Tätigkeit nehmen? Ich glaube, ich kann kein besseres finden. In sich geschlossen, harmonisch rund. Erfüllter kann ein langer Abschnitt des Lebens nicht sein. So ist es mir eine Freude, vor Ihnen stehen zu können und allen lieben Menschen, mit denen ich in gemeinsamer Arbeit gestanden habe, ein Dankeschön zu sagen. Ein Dankeschön für die freundliche Hilfe, mit der Sie zur Rundung eines fast ¼ Jahrhunderts meines Lebens beigetragen haben. Denn was wäre das Rund, wenn es nicht angefüllt wäre mit vielerlei Begegnung, sachlicher Unterrichtung, ehrlicher Widerrede, zuverlässiger Gemeinsamkeit und herzlicher Zuneigung. Ganz besonders gedenke ich in diesem Augenblick derer, die auf dem Wege zur Rundung meiner Jahrzehnte nur noch in meiner Erinnerung lebendig sein können. Ich nenne als Vertretung für alle nur zwei Namen: Elisabeth Meyer-Spreckels, Leiterin des Sachgebietes Lebensgestaltung, heute staatsbürgerliche Verantwortung, und Dorothea Husserow, langjährige Vorsitzende der Düsseldorfer Gruppe. Vielen von Ihnen sind diese Namen völlig fremd, doch sollten Sie in den Annalen unserer Geschichte immer wieder genannt werden. Beide waren Persönlichkeiten von außerordentlicher Aktivität und Einsatzbereitschaft. Und was brauchen wir heute dringender in unserer Gemeinschaft, um uns den Problemen, die Zeit und Umwelt mit sich bringen, nur in etwa stellen zu können? Doch ich will dem Gespräch über die Zukunft des Verbandes nicht vorgreifen. Wie oft habe ich mich während meiner Amtszeit gefragt, wenn wenig Wiederhall aus den Gruppen kam: warum machst du das Ganze eigentlich? Und immer wieder erkannte ich, daß mit der Arbeit auch ein Reifeprozeß meines Lebens vor sich ging. Die Verbindung mit den verschiedensten Menschen förderte meine Einsicht in ihre Verhaltensweisen. Ich wurde gezwungen, mich in meinem Verhalten auf sie einzustellen, ihnen entgegenzukommen, soweit es Wahrheit und Gerechtigkeit für mich zuließen. Einblicke in das Schicksal anderer Menschen ließen mich nachdenken über das Eigene, die Zusammenhänge Leben und Umwelt wurden vertieft, Unterscheidungen zwischen Wert und Unwert klärten sich für mich. So lernte ich, um mit Peter Handke zu sprechen, über die „Außenwelt, die Innenwelt“ kennen. Nach diesen und ähnlichen Überlegungen wußte ich dann stets, warum ich das Ganze machte: Staunen und Neugier waren die Triebfedern meiner Arbeit. Freudig wandte ich mich nach dieser Erkenntnis wieder meiner Tätigkeit zu: Der intensiven Beschäftigung mit der – wie so schön gesagt wird – gehobenen Literatur. Sie führte mich in konkrete und abstrakte Welten ein, in differenzierte seelische Probleme, in heiter, bedachtsame Nischen des Lebens, vor allem aber offenbarte sie mir immer wieder die Notwendigkeit des Bewußtwerdens über die Schönheiten und vielfältigen Möglichkeiten einer gestalteten Sprache. Ich bin in die Düsseldorfer Gruppe 1955 eingetreten, schon mit der Bestätigung im Amt der Sachgebietsleiterin für Schrifttum. 1960 begann wie gesagt die erweiterte Arbeit für den Verband.

In dem kleinen Düsseldorfer Kreis gab es Rede und Gegenrede, aber nun ging meine Rede ins Weite, zu über 30 verschiedenen Gruppen, und die Gegenrede ließ auf sich warten. Die Lesekreise waren sehr locker organisiert, hatten kaum Konnex miteinander, und die Berichte, die einliefen, waren nicht nur spärlich, sondern auch komisch.

Zum Beweis dafür lese ich Ihnen aus zwei Berichten vor: Im ersten geht es um die Erzählung der Kaschnitz „Popp und Mingel“. --- „Mit der Erzählung, Thema Schlüsselkind, war es auch nicht ganz so aufregend, aber auch nicht befriedigend.“

Im zweiten Bericht wird über einen Theatervortrag gesprochen: --- „Ein letzter Hinweis des Redners galt dem Passionsspiel und dem religiösen Erlebnis, das dabei mit dem Bühnenerlebnis einhergeht und einem wirklichen Bedürfnis entspricht.“

Als ich nun aber noch folgenden Satz in einem Bericht lesen mußte, da konnte ich mich nicht mehr zurückhalten; es geht um einen Vortrag über die Sprache --- „Falsch ist auch die Möglichkeitsform zu meiden, es heißt: wenn ich das täte und nicht wenn ich das tun würde.“

Mit etwas erhobenem Zeigefinger ging ich daran, die sprachliche Form der Berichte anzugreifen und machte in meinem Appell den etwas pathetischen Schluß: So sei jedem Mitglied ein Studium nicht nur der großen Magier des Wortes empfohlen, sondern zugleich Kleinarbeit an der eigenen Ausdrucksweise im Umgang mit der Muttersprache.

Und dieses Schreiben, muß ich sagen, hatte eine hervorragende Wirkung. Es herrschte Schweigen, keine Gruppe war dafür, keine dagegen. Doch das Schweigen hat Frucht getragen für viele Jahre. Sie wissen alle, aus welcher Fülle gewandt geschriebener Berichte ich heute den Jahresbericht zusammenstellen kann.

Die Lektüre in den einzelnen Gruppen erschien mir ziemlich wahllos ohne Zusammenhang. Nach meinem grammatikalischen Angriff auf das Selbstbewußtsein der Lesekreise setzte ich mich nun für einen „roten Faden“ für die Wahl eines bestimmten Themas ein und machte einen Vorschlag, und hier fand ich bald Wiederhall. Mehrere Gruppen fühlten sich beeinträchtigt in ihrer „Pressefreiheit“ und wollten von solch einer Uniformierung der Arbeit nichts wissen. Doch ich wußte die Einwände zu zerstreuen mit der Bemerkung „roter Faden – kein Zwang“. Wer andere Themen besser findet für seinen Kreis, selbstverständlich, nur muß es ein bestimmtes Thema sein, dem nachgegangen wird.

So ist es geblieben bis heute. Der rote Faden hat manche Interessentin gefunden.

Meine Arbeit war angelaufen und lief nun in bestimmte Richtungen. Der jährlich herausgegebene rote Faden und der Jahresbericht machten den Lesekreisen Mitteilung über das, was gelesen werden konnte und über das, was gelesen worden war. Das später eingeführte Gruppengespräch über einen bestimmten, in der Zeitschrift veröffentlichten Artikel gab den Mitgliedern der Lesegemeinschaften Gelegenheit, sich im Gespräch zu üben.

Ein freundliches Echo brachten die Jahresberichte; das machte mir deshalb Spaß, weil es oft gar keine Mitglieder eines Lesekreises waren, die mir schrieben, sondern irgendwelche Leserinnen der Zeitschrift, die dem Bericht Anregungen entnommen hatten. So war der Jahresbericht nicht nur eine Bestätigung für mich, sondern vor allem für die Berichterstatterinnen der Gruppen.

Die größte Freude an meiner Arbeit brachten mir meine Reisen in die Gruppen mit den verschiedensten literarischen Lesungen. Nur durch sie habe ich eine direkte Verbindung vor allem zu den Vorständen der Gruppen bekommen und manche anregende Gespräche führen können.

Das letztere war mir besonders wichtig, als ich noch zweite Vorsitzende im Hauptvorstand war; ich konnte da manche vermittelnde und aufklärende Rolle übernehmen.

Meine Abschiedsrede will ich schließen mit nochmaligem Dank für alles Liebe und Gute, was ich erfahren durfte durch zahlreiche Mitglieder. Ich danke Ihnen für Ihre Herausforderung und Ihren Widerspruch; das gehört für mich zum geistigen Leben.

Meiner Nachfolgerin wünsche ich, daß ihr das Sachgebiet ebenso viel Befriedigung und Freude bringen wird, wie es mir gebracht hat. Dem Verband wünsche ich, er möge noch manche Berg- und Talfahrt überstehen, wie er dies nun über 80 Jahre getan hat. (Typoskript im Teilnachlass von Else Loelgen, deponiert im Frauen-Kultur-Archiv)  

Selma Lagerlöf  (1974)

Das 19. Jahrhundert hat die skandinavische Literatur weit über die Grenzen einer nationalen Kunst hinauswachsen lassen. Die beiden großen Anreger und Former des modernen Theaters, Ibsen und Strindberg eroberten die Bühnen Europas. Björnson und Hamsun, die Norweger, beschritten neue Wege der Erzählkunst. Jens Peter Jakobsen und Hermann Bang, die Dänen, gehören heute zu den Klassikern der psychologischen Romans.

  Eine Sonderstellung unter den nordischen Dichtern nimmt der Däne Hans Christian Andersen ein, der mit seinen Märchen die Welt eroberte und die Schwedin Selma Lagerlöf. Selma Lagerlöfs Erzählkunst wurzelt ganz im Heimatlichen. Ihre Werke lassen die Sagen, Märchen und Legendenwelt ihrer engeren Heimat Värmland immer wieder aufleuchten. Immer wieder tauchen dieselben Helden, dieselbe Landschaft, dieselben Höfe und Häuser auf, oftmals unter anderem Namen oder in anderen Bindungen. Aber diese Abenteuer, in die ihre Helden verstrickt werden, sind nicht bloß Nacherzählung mündlicher Überlieferung, sondern werden erst durch Selma Lagerlöfs Erzählkunst in die Sphäre des Dichterischen erhoben und nur so ist zu erklären, wie sie mit diesen heimatlich gebundenen Inhalten ihres Werkes weit über Schweden hinaus Berühmtheit erlangte.   Selma Lagerlöf ist am 20. Nov. 1858 auf dem Hofe Mårbacka in Värmland geboren. Mit 3 ½ Jahren wurde sie von einer Beinlähmung befallen, die aber nach einem Jahr so weit behoben war, dass die kleine Selma wieder laufen konnte, wenn sie auch für ihr ganzes Leben ein Beinleiden zurück behielt. So war sie von manchem Spiel anderer Kinder ausgeschlossen und ihre Anlage zu besinnlicher Beschäftigung in der Welt der Phantasie wurde früh gepflegt. Die stärkste und wichtigste Persönlichkeit der frühesten Kindheit war die Großmutter, die ihr jeden Tag Geschichten erzählte. Mit 23 Jahren, 1881 verließ Selma Lagerlöf ihr geliebtes Vatershaus zum ersten Mal für längere Zeit. Sie besuchte ein Lehrerinnenseminar und wurde 1885 Lehrerin an einer höheren Mädchenschule. Schon früh hatte Selma angefangen zu schreiben, aber nie Widerhall gefunden mit ihren kleinen Erzählungen und Gedichten. Ab 1885 begann sie an dem Roman Gösta Berling zu schreiben aus der Erkenntnis, in den mündlichen Überlieferungen der Heimat, den Geschichten der Värmland-Kavaliere einen ganz besonderen Stoff für eine Gestaltung gefunden zu haben.   1890 beteiligte sie sich mit einigen Kapiteln des Buches an einem Preisausschreiben für Novellen und errang den 1. Preis. Nun war der Bann gebrochen; man wurde auf sie aufmerksam und ihr Weg ging steil bergauf. Sie legte ihr Lehramt nieder. Sie machte große Reisen, die sich in ihren Büchern „Wunder des Antichrist“, „Jerusalem“ und den Christuslegenden widerspiegeln. Sie bereiste ganz Schweden, als sie im Auftrage der Regierung ein Lesebuch für die schwedischen Kinder schrieb, „Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden“, in dem sie nicht nur geographische Kenntnisse erschloss, sondern wiederum das Sagengut der Heimat verarbeitete.   1907 ging ein Traum ihres Lebens in Erfüllung: die Rückerwerbung ihres väterlichen Hofes Mårbacka, der drei Jahre nach dem Tode des Vaters 1888 hatte verkauft werden müssen und an den sie sich mit allen Fasern ihres Wesens gebunden fühlte. Der ihr 1909 zugesprochene Nobelpreis ermöglichte er ihr, auch die den zum Hof gehörenden Ländereien zurückzukaufen und von da an war sie bis an ihr Lebensende Gutsherrin auf dem Grund und Boden, mit dem sie auch in ihrer Kunst zutiefst verwurzelt war.   Als größte Ehrung wurde ihr 1914 die Mitgliedschaft in der schwedischen Akademie zuteil, der noch nie eine Frau angehört hatte. Am öffentlichen kulturellen Leben nahm Selma Lagerlöf lebhaften Anteil. In vielen Ausschüssen und Verbänden setzte sie sich für die verschiedensten Dinge ein, die ihr am Herzen lagen. Ohne Politikerin zu sein vertrat sie die Ansicht, dass der Frau das Stimmrecht gebühre, aus dem rein menschlichen Argument heraus, dass männliche und weibliche Denkungsart und Arbeit sich auch im staatlichen Leben ergänzen müssten.   1940, im Alter von 82 Jahren starb Selma Lagerlöf auf Mårbacka, als die Welt zum 2. Mal von einem Krieg erschüttert wurde und unter dem Dröhnen des Tumultes vergaß, dass es Inseln der Stille gibt, auf denen der Wind des Geistes weht, der immer und überall den Ausschlag geben wird. (Typoskript im Teilnachlass von Else Loelgen, deponiert im Frauen-Kultur-Archiv)    

Die Unterhaltungslektüre unserer Eltern und Großeltern (Referat für ein Podiumsgespräch der Ortsgruppe Düsseldorf des Verbands Deutsche Frauenkultur e.V. vom 27. Februar 1973 im Frauenbundhaus, Stresemannstr.21)

  Liebe Mitglieder, ich begrüße Sie sehr herzlich zu unserem Podiumsgespräch. Unsere Runde wird Ihnen – das hoffe ich sehr – mit der Auswahl der Zitate aus alten beliebten Unterhaltungsromanen oder mit deren Erläuterung, eine rechte Herausforderung sein, sich lebhaft an der anschließenden allgemeinen Diskussion zu beteiligen.   Als Motto über unsere heutige Veranstaltung setze ich das Wort von Heinrich von Treitschke, welches auch Gabriele Strecker für ihr Buch „Frauenträume – Frauentränen“ (1969) gewählt hat: „Alle Zeiten lassen sich die Wandlungen des sozialen Lebens aus den Werken jener kleinen Schriftsteller, welche nur die Meinung aller Welt wiedergeben, am sichersten erraten.“ (aus: „Deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts“)   So wollen wir Einblick nehmen in die Welt des Jedermanns, in „die Welt der Gartenlaube“, ein in den letzten Jahren zum Slogan gewordener Begriff, seit die Soziologie diese Zeitschrift als besonderen Blickpunkt ihrer Arbeit ansieht.   Nicht umsonst – das nur nebenbei – hat unsere Geschäftsstelle in Gütersloh ständig zunehmende Anfragen von Studenten und Institutionen, die Einsicht nehmen wollen, auch in unsere Zeitschrift. Sie besteht seit 1897, ist lückenlos im Archiv einzusehen und ist ebenfalls eine Fundgrube für die gesellschaftlichen Strömungen des jeweiligen Zeitabschnitts.   Doch zum Thema: Obwohl wir uns nur mit der Unterhaltungsliteratur der vergangenen Eltern- und Großeltern – ja schon Urgroßelternzeit beschäftigen wollen, so können wir nicht an der „Gartenlaube“ vorbeigehen; denn die damals bekannten Schriftsteller und vor allem die Schriftstellerinnen haben großenteils im Auftrag der „Gartenlaube“ geschrieben oder sie haben hier einen guten Platz für ihre der Zeitschrift angebotenen Werke gefunden.   Als zeitgemäße Besonderheit sei gesagt: Die Schriftstellerinnen hielten sich gerne mit der Angabe ihrer Weiblichkeit zurück, um nicht mit der damals üblichen Abwertung schöpferisch tätiger und geistig arbeitender Frauen beurteilt zu werden, sondern ihrer wirklichen Leistung gemäß. Gaben sich z. B. Mary Anne Evans (1819-1880) = George Eliot, Charlotte Brontë  (1816-1855) = Currer Bell und Aurore Dudevant (1804-1876) = George Sand nicht nur fremde Nachnamen, sondern auch männliche Vornamen, so machten es sich die Schriftstellerinnen, von denen wir heute hören, einfacher; der Vorname blieb offen. Man zeichnete mit E. Marlitt – Eugen oder Eugenie? W. Heimburg – Wilhelm oder Wilhelmine? E. Werner, F. Lehen.   So ereignete es sich, daß Ernst Keil, der Herausgeben der Gartenlaube, einen Brief an den Herrn E. Marlitt richtete, welcher ihm 1865 zwei Novellen eingereicht hatte. Es heißt da: „Wenn man genötigt ist, so viele verfehlte, triviale schülerhafte novellistische Arbeiten zu lesen, wie dies die Redaktion einer Zeitschrift wie meine Gartenlaube ist, nichts anders mit sich bringt, so tut es doppelt wohl, stößt man unter der Menge der Einsendungen einmal auf eine Schöpfung, die nach Stoff und Form unwiderleglich den Stempel des Talents an sich trägt […] ich wäre mit Vergnügen bereit, auch ferner novellistische Beiträge von Ihnen zu akzeptieren und sie zu den ständigen Mitarbeitern meiner Gartenlaube zu zählen, und würde Ihnen, sobald sich auch Ihre andern Erzählungen etc. zum Abdruck in meinem Blatt eigneten, liberale Honorare in Aussicht stellen.“ Ernst Keil wünschte nun selbstverständlich die persönliche Bekanntschaft mit dem Autor und kündete seinen Besuch an. Das Geheimnis mußte gelüftet werden und Ernst Keil schrieb: „Verehrtes Fräulein […] ich gestehe, daß mich diese Enthüllung des Geheimnisses zwar einigermaßen, aber doch nicht so völlig überrascht hat, da ich in der Schilderung der weiblichen Charaktere in der Tat eine weiblich warme und weiblich feine Feder zu erkennen glaubte.“   Doch nun zu Entstehung und Wirkung der Gartenlaube selber. Um das rechte Bild zu geben, will ich versuchen, trotz der Kürze des Berichtes einige Lichter auf den zeitgeschichtlichen Hintergrund zu werfen, denn der Herausgeber der Gartenlaube war eine politisch engagierte Persönlichkeit; und aus diesem Engagement heraus ist die Zeitschrift entstanden.   Die Gartenlaube war nicht das erste, aber wohl das später erfolgreichste „Familienblatt“. Diese Familienblätter waren inhaltlich weit gefächert. Sie kamen dem Informationsbedürfnis des Kleinbürgertums und der mittleren Bildungsschicht entgegen. Diese Bevölkerungsschicht verlangte nach einer einfachen verständlich geschriebenen Berichterstattung; anders konnte sie sich nicht mehr auf dem Laufenden halten über die Entwicklung der immer mehr das tägliche Leben beeinflussenden, technisch naturwissenschaftlichen Forschungen und Praktiken.   Der Gründer der Gartenlaube war, wie schon eben gesagt, der Journalist Ernst Keil (1816-1878). Er hatte sich schon vor 1853, dem Gründungsjahr der Gartenlaube, mit der Herausgabe verschiedener Zeitschriften befasst. 1845 war „Berlin Leuchtturm“ erschienen; Keil vertrat darin eine politisch liberale Gesinnung. Drei Jahre konnte das Blatt trotz der damals so eingeschränkten Pressefreiheit bestehen. Aber als sich die Redaktion 1848 – als es um die Erkämpfung um Bürgerrechte ging – für die liberal revolutionären Ideen einsetzte, da griff die Zensur zu: Die Zeitschrift wurde verboten und Ernst Keil kam ins Gefängnis.   Doch von seinen Vorstellungen einer liberalen Gestaltung der bürgerlichen Gesellschaft ging er nicht ab. Er gehörte zu jener gehobenen Bildungsschicht, die sich für eine demokratische Verfassung einsetzte, für eine Volksvertretung im Parlament und vor allem für die nationale Einheit. Keil grübelte im Gefängnis darüber nach, wie er mit seinen Gedankengängen Einfluss auf eine breite Bürgerschicht bekommen könne.   Der politischen Aktivität des Bürgertums war nach den Aufständen von 1848 und der gescheiterten Nationalversammlung eine tiefe Lethargie auf diesem Gebiet gefolgt. Hier nun mußte angesetzt werden. Ein Familienblatt sollte die liberalen und nationalen Ideen wieder zu neuem Leben wecken. So mußte man zunächst mit einer solchen Zeitschrift der Stimme des enttäuschten Publikums gerecht werden, um langsam wieder aufzubauen. Dieses Publikum war, nach allen gemachten enttäuschenden Erfahrungen, eher geneigt, sich unverbindlich unterhalten zu lassen. Deshalb mußte das Familiäre, der traulich umbaute Raum des privaten Lebens herausgestellt werden, um dem Wusch nach Geborgenheit vor der rauen politischen Wirklichkeit zu entsprechen.   Am 1. Jan. 1853 erschien das erste Heft mit einer Begrüßung Ernst Keils an seine Leser: „Grüß Euch Gott. Liebe Leute im deutschen Lande. Wenn Ihr im Kreis Eurer Lieben die langen Winterabende am traulichen Ofen sitzt oder im Frühling, wenn vom Apfelbaume die weißen und roten Blüten fallen, mit einigen Freunden in der schattigen Laube – dann lest unsere Schrift. Ein Blatt soll’s werden für’s Haus und die Familie, ein Buch für groß und klein, für jeden, dem ein warmes Herz an den Rippen pocht, der noch Lust hat, am Guten und Edlen! Fern von aller räsonierenden Politik und allem Meinungsstreit in Religions und anderen Sachen wollen wir Euch in wahrhaft gute Erzählungen einführen, in die Geschichte des Menschenherzens und der Völker, in die Kämpfe menschlicher Leidenschaften und vergangener Zeiten. So wollen wir unterhalten und unterhaltend belehren. Über das Ganze aber soll der Hauch der Poesie schweben wie der Duft auf der blühenden Blume und es soll Euch anheimeln in unserer Gartenlaube, in der Ihr gutdeutsche Gemütlichkeit findet, die zu Herzen spricht.“   Es war ein großes Programm, was da angedeutet wurde. Keil hat es erfüllt und außerdem seine politische Zielsetzung nicht vergessen. Wie stark dieses politische und soziale Engagement des Herausgebers war, das ist deutlich zu ersehen aus der Inhaltsführung der Romane und Novellen, die in der Gartenlaube erschienen sind. Die Auflageziffern stiegen mit der Beliebtheit der Romanschriftsteller. Die Zeitschrift erreichte 1874 – als das berühmte Buch „Die zweite Frau“ von der Marlitt erschien – einen Kreis von 325 000 Abonnenten.   1878 starb Ernst Keil; unter seinen Nachfolgern wurde die national-liberale Richtung langsam nationalistisch-konservativ, ja sogar militaristisch. Und so hat die Gartenlaube gewiß ideell manches zu den Konflikten beigetragen, die zum Ausbruch des ersten Weltkrieges 1914-18 geführt haben. 1924 erschien der letzte Jahrgang. Die Leser hatten sich gewandelt. Sie verlangten nach einer anderen Kost als es ein Familienblatt zu bieten hatte.   Nach diesem gedrängten Überblick wollen wir uns nun den Fragenkomplexen zuwenden, die Sie im Programm dieses Monats gelesen haben. Wir hier in der Reihe haben die verschiedensten unterhaltungsliterarischen Bücher gelesen, um Ihnen mit Zitaten aus diesen Romanen des kleinen Mannes oder der großen Masse das Wort Treitschkes zu beweisen, daß sie eine soziologische Fundgrube sind. Sie werden hinter blumenreichen und sentimentalen Wendungen viel damals aktuelle Probleme der Familie und der Gesellschaft kennen lernen. Sie werden überrascht sein, wie sehr sie uns zum Teil auch noch heute angehen. Die Umstrukturierung zur modernen Gesellschaft hat schon in der Gartenlaube einen Ausdruck gefunden. (Typoskript im Teilnachlass von Else Loelgen, deponiert im Frauen-Kultur-Archiv)    

Gerda Kaltwasser (1930-2002)

Gedenken, Würdigungen

   „Uns Gerda“ ist nicht mehr bei uns. Die frühere RP-Lokalredakteurin Gerda Kaltwasser starb gestern im Altern von 71 Jahren   Das erste Treffen bleibt unvergesslich: Ein Verlag stellte damals, es muss 1981 gewesen sein, einige Bücher über das Rheinland vor. Die Tür ging auf, eine kleine Dame - vom Hut über die Pelerine bis zum Kostüm komplett und keck in rotem Pepita gekleidet - kam herein, warf einen sehr skeptischen Blick auf die Machwerke, stellte zwei Fragen, fällte ein kurzes, aber vernichtendes Urteil. Und ging wieder. Erschienen ist über diese Bücher in der RP keine Zeile. Das war Gerda Kaltwasser, damals stellvertretende Lokal-Chefin der RP in Düsseldorf.   „Uns Gerda“, wie wir sie in der Redaktion genannt haben, war wandelndes Düsseldorf-, Heine-, Harry-Schmitz und Hetjens-Museum-Lexikon. Sie kannte alle und alles, denn sie hatte diese Stadt ja seit ihrer Geburt buchstäblich er-lebt. Aufgewachsen als Tochter eines Metzgers in Bilk, kam sie nach dem Abitur auf dem Luisen-Gymnasium früh zum Schreiben, seit 1962 tat sie es bei der Rheinischen Post, noch vor wenigen Wochen stand ihr Name über einem Text in der RP.   Immer hat sie in, aber nicht ausschließlich für Düsseldorf gelebt. Sie liebte die Stadt, aber auch aus der Ferne - damit dem von ihr verehrten Heine durchaus ähnlich. Kaum ein Land der Welt, das „uns Gerda“ nicht besucht hat. Sie war schon auf Tonga, als hier zu Lande keiner wusste, dass es dieses Inselreich überhaupt gibt. Gerdas „Schreibe“ war von einer Qualität, die Nachwuchsjournalisten anspornt - einmal so fein, so packend, mit so wenigen Mitteln sprachlich ins Schwarze treffen. Sie konnte es meisterlich, bis zuletzt. Und wenn der Begriff „spitze Feder“ jemals passte, dann bei ihr. Viele, vor allem die ihr suspekten Selbstdarsteller, haben das häufig erleiden müssen. Benachteiligte, egal aus welcher Ecke, konnten dagegen auf ihre Hilfe zählen. Ein Engagement, das die Stadt 2000 mit dem Jan-Wellem-Ring belohnte. Jahrelang war sie der Lambertus der RP - für diese Samstag-Glosse ging er (also sie) langsam durch die Stadt, und erzählte, was er (also sie) sah.   Als ihr Körper wegen einer tückischen neurologischen Krankheit (von der sie seit langem wusste!) den Dienst versagte, bremste dies ihre Energie und die Freude an der Arbeit nicht. Sie rollte im Elektrowagen zu Terminen - und schrieb am Computer so fit und flott wie eh und je.   Nun ist sie nicht mehr bei uns. Gestern Morgen starb Gerda Kaltwasser. Sie wurde 71 Jahre alt. (ho-) in: Rheinische Post, 25. Juli 2002.     Stadtgewissen mit lächelnden Augen Flüchtige Anmerkungen zu Gerda Kaltwassers 70. Geburtstag   Ach, Gerda, was sollten wir denn tun ohne dich? Ohne das leichte, unermüdete Stadt-Gedächtnis, das auf einer Karosse mit vier Gummirädern schnurrt, elektrisch angetrieben, deren Merkwürdigkeiten einem Satiriker wie Hermann Harry Schmitz gewiss ein paar hübsche Sottisen aus der Feder gespritzt hätten.   Eine Journalistin ist dies, die das Klischee scheut wie der Teufel den Weihrauch. Immer wieder wunderbar und vorbildlich, wie sie in flüssiger Schreibweise zwischen den Gemeinplätzen durchsegelt ohne Angst vor Skylla noch Charybdis.   Biografische Fakten? Zu skizzieren ist der Lebenslauf der Metzgerstochter aus der Friedrichstadt übers Schlittschuhlaufen am Schwanenspiegel zum Amerika-Stipendium nach dem Krieg zur Ochsentour über verschiedene Tageszeitungen bis hin zur Rheinischen Post (1962). Dort machte sie sich vor allem als Anwältin für prekäre, große und kleine Themen und Regionen von Heine über Minderheiten bis Israel einen Namen. Oft hat sie sich vertippt. Doch nie verschrieben.   Die Summe ihrer Verdienste (streichen wir mal den Singular „Verdienst“) addiert sich auf zahlreiche Ehrenringe. Nach wie vor segelt sie zwischen den vielen „H's“ herum, Heine, H. H. Schmitz (dem jetzt wenigstens eine Schule gewidmet wurde - also keine Sackgasse, wie auch schon geplant), Hetjens-Museum. Und zahlreichen Büchern, Vorworten, Film-Kommentaren.   Der Bildhauer Bert Gerresheim formulierte bei einer Lobrede 1998 Gerda Kaltwassers Erkenntnis, dass man Wort und Leben, Ästhetik und Moral niemals voneinander trennen könne.   Gerda, das mobile, überfliegende, flatternde, nie flatterhafte Journal-Gedächtnis ihrer Stadt (die deren Herzblut oft genug noch nicht einmal verdiente) - sie ist so eine, über die Jean Paul einmal schrieb: „Die alten Menschen. Wohl sind sie lange Schatten. Aber sie weisen alle gen Morgen.“   Sebastian Feldmann in: Rheinische Post, 15. November 2000.

Autobiografisches

  Gerda Kaltwasser: Fast eine Bilkerin (2001)   „Du bist nicht aus Bilk, du bist aus der Friedrichstadt“, sagte freundlich rügend der ältere Kollege, natürlich altverwurzelter Bilker, in den fünfziger Jahren zu mir. Er war so eine Art wandelndes Kataster der Stadt, nicht nur, was die Grenzziehung im ehemals zufriedenen Süden Düsseldorfs, also in und um Bilk, anging. Ich konnte damit nichts anfangen, für mich war die Friedrichstadt ein Stadtteil von Bilk, so wie Pempelfort ein Stadtteil von Derendorf war; pardon, denn Vater und Mutter waren Zugereiste, kurz vor und nach dem ersten Weltkrieg, typische Düsseldorfer eben.   Später lernte ich dann, dass Bilk ganz alt war, während die Friedrichstadt der Esel im Galopp verloren hatte, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwischen den Bahnhöfen der Bergisch-Märkischen und der Köln-Mindener Eisenbahn. Die Friedrichstadt war das Bindeglied zwischen dem soliden alten Bilk und dem jungen, ein bisschen angeberischen Stadtzentrum, zwischen der legendären Villa Billico, über die der Gründer der Bilker Heimatfreunde, Hermann Smeets, ein Buch geschrieben hat, und der Königsallee, die gerade Namenstag feiert, weil sie seit 150 Jahren so heißt, wie sie heißt.   Kindheitserinnerungen an den alten Floragarten, in dem ich in meiner Fantasie Ritterspiele spielte, und an die Ständehausanlagen, wo wir mit der Bande „Villa Jück“ ganz reale Kämpfe ausfochten, werden geschwärzt von den Rauchschwaden über den Trümmern nach den Bombenangriffen des Zweiten Weltkrieges. Sie werden überlagert von der Erinnerung an Straßenzüge, deren Fixpunkte Blindgänger waren, einer zum Beispiel hinter unserem Haus, ein anderer vor dem Dominikanerkloster an der Herzogstraße. Dann der Einzug amerikanischer Panzer von Bilk her. Dass nicht geschossen wurde, war Hermann Smeets mit zu verdanken, aber das wussten wir damals nicht. Wir schwenkten aus öden Fensterhöhlen ein etwas angeschimmeltes Bettuch als Friedenszeichen. Sechs Wochen hatten wir unter den Trümmern im feuchten Waschkeller gelebt, sechs Wochen Artilleriebeschuss und Tieffliegerangriffe. Vom Hauptbahnhof bis zur Lausward schien es nur Trümmerhalden zu geben.   Das Entdecken verschonter Häuser blieb lange ein tägliches Wunder. In den fünfziger Jahren gab es schon wieder Originale in Bilk zu bestaunen, die anderes taten als am Wirtschaftswunder zu basteln. Ein langer, dünner Herr mit flatterndem Regenmantel strebte allmorgendlich von seiner Wohnung, ich glaube an der Konkordiastraße, am Ständehaus vorbei in Richtung Kunstakademie, auch zum Opernhaus und zum neuen Schumann-Saal am Ehrenhof, um dort an seinen Fresken zu arbeiten. Es war der Maler Robert Pudlich. Ebenfalls vormittags, wenn die Ständehausanlagen menschenleer waren - die älteren Kinder saßen brav in der Schule, die Mütter mussten kochen, ehe sie mit den Kleinen und mit Strickzeug zum Spielplatz gingen - vormittags also lief ein jüngerer Mann, wild um sich blickend, eine Partitur in der Hand, durch die Anlagen und schmetterte „Nie sollst du mich befragen...!“ Der spätere Wagnersänger Imdahl lernte seine Rolle im „Lohengrin“.   Wer damals glaubte, aus den Trümmern würde eine heile Bilker Welt wieder erstehen, täuschte sich. Auch diese Welt änderte sich tiefgreifender als durch die Kriegsverwüstungen. Man denke nur den „Bilker Stadtteil“ Friedrichstadt. Und die Veränderungen gehen weiter, im traditionellen Bilk und an seinen ebenso traditionsreichen Rändern. Dazu gehört Stoffeln. Zeitgleich mit Bilk wurde der Flecken mit dem Namen „auff den Stoffen“ (auf den Stümpfen eines Sumpfwaldes) 1384 nach Düsseldorf eingemeindet. Drei Kilometer lang ist der 1573 entstandene Stoffeler Damm, der Stoffeler Friedhof einer der bekanntesten in Düsseldorf. Aber in amtlichen Schriftstücken taucht Stoffeln nicht mehr auf, sang- und klanglos scheint Stoffeln zwischen Bilk, Flehe und Wersten zu verschwinden. Aber da ist ja noch das den 14 Nothelfern gewidmete Stoffeler Kapellchen, das 1734 unter Kurfürst Karl Philipp geweiht wurde. Dahin pilgern auch die Bilker gern.   Gerda Kaltwasser in: Jubiläumsbuch zum 50-jährigen Bestehen des Heimatvereins Bilker Heimatfreunde e.V., 2001, S. 99.      

Yvonne Friedrichs Würdigungen und Nachrufe

 Ein Herzensanliegen (1991) Seit 30 Jahren ist Yvonne Friedrichs in Düsseldorf als Kunstkritikerin unterwegs

  Wenn Yvonne Friedrichs unterwegs ist, hat sie es meistens eilig. Doch sobald sie ihr Ziel erreicht hat, nimmt sie sich die Zeit, die ihr eigentlich fehlt. Ob sie Ausstellungen besucht, über die sie schreiben will, oder der Redaktion einen Besuch abstattet, für die sie eigentlich längst geschrieben haben sollte – stets dehnt sich ihr alles nahezu schicksalhaft in die Lange. Das kommt nicht von ungefähr. denn Yvonne Friedrichs, seit 30 Jahren Verfasserin von Kunstkritiken für die „Rheinische Post“ in Düsseldorf und darüber hinaus, zählt nicht zu den kalten Routiniers, die sich beim Schreiben lediglich einer Pflicht entledigen. Kunst ist ihr ein Herzensanliegen, der Künstler eine Autorität. Für seine Arbeit um Verständnis zu werben, darin erblickt sie ihre vornehmste Aufgabe. Künstler, Galeristen, Museumsleute und am meisten selbstverständlich ungezählte Leser wissen es zu schätzen. Wendet sich Yvonnen Friedrichs doch an ein Publikum, das in Kunst weniger einen Spiegel der Zeit als einen Hort höherer Werte erkennt. Nicht ohne Grund benutzt sie oft und gern Begriffe wie „mythisch“ und „Mystisch“ – eine Romantikerin in einer Epoche, in der das Wahre, Gute, Schöne immer mehr wie ein Relikt aus dem vorigen Jahrhundert erscheint. Dabei zählt Yvonne Friedrichs keineswegs zu denen, die einer vermeintlich besseren, künstlerisch ertragreicheren Vergangenheit nachtrauern. Im Gegenteil, über 30 Jahre hinweg hat sie sich ihre Neugier auf die Kunst der unmittelbaren Gegenwart erhalten. Ihr besonderes Interesse gerade an meditativen, im Metaphysischen wurzelnden Werken erklärt sich aus den Erkenntnissen, die sie auf ihren Reisen in den Orient, den Fernen Osten und in Länder der Dritten Welt erworben hat. In Persien war sie ebenso unterwegs wie in Pakistan, in Indien wie in Peru und Bolivien. Zuweilen hat Yvonne Friedrichs die Seite gewechselt, hat selbst Ding in Gang gesetzt, die sie sonst nur schreibend begleitete. So gab sie zusammen mit anderen den Anstoß zur Errichtung des (inzwischen geschlossenen) Skulpturenparks der Firma Horten am Seestern, arrangierte für fünf Stationen eine Kunstschau mit dem Titel „Blickpunkt Niederrhein“, brachte Kunst sogar in die Schaufenster der Königsallee. Nach wie vor allerdings bildet den Mittelpunkt ihres Lebens das Schreiben; nicht nur in der „Rheinischen Post“, sondern auch zum Beispiel in den Fachzeitschriften „das kunstwerk“ und „Weltkunst“. Düsseldorfs dienstälteste Kunstkritikerin, die ihr Geburtsdatum zur Geheimsache erklärt hat, ist durch ihre sie immer wieder herausfordernde Arbeit jung geblieben. Kompliment! Bertram Müller in: Rheinische Post, 26. November 1991.    

Stets voller Selbstvertrauen (1991) Yvonne Friedrichs geehrt

  Mehr als hundert Gratulanten – Künstler, Museumsleute, Galeristen – waren der Einladung ins Stadtmuseum gefolgt, um der seit 30 Jahren in Düsseldorf tätigen RP-Kunstkritiker Yvonne Friedrichs ihre Reverenzen zu erweisen. Hausherr Wieland König rühmte ihr nach, sie habe ihre Berichte „niemals mit der heißen Nadel gestrickt“ – und schon gar nicht gestochen“; vielmehr arbeite sie stets gründlich und dabei nie verletzend. Kulturdezernent Bernd Diekmann bestätigte dies mit seiner Beobachtung, daß Yvonne Friedrichs nach Ausstellungs-Pressekonferenzen immer zu den letzten zähle, die das Haus verließen.   RP-Feuilletonchef Reinhard Kill schließlich zeichnete in seiner launigen Laudatio eine Persönlichkeitsskizze von Yvonne Friedrichs, die von Detailkenntnis zeugte: das Leben einer von schier grenzenlosem Selbstvertrauen erfüllten Frau, über der auf ungezählten abenteuerlichen Erkundungen der Erde offenbar stets ein Schutzengel schwebte. Gerührt bedankte sich die solchermaßen Durchschaute mit improvisiert vorgetragenen An- und Einsichten über Kunst und die Welt für die Zuwendung, die ihr an diesem Abend von allen Seiten entgegenschlug. Applaus und ein Glas Alt aufs weitere Wohlergehen. Rheinische Post, 27. November 1991.

Nachrufe : 1996

 

Wachen Auges und voller Begeisterung RP-Kunstkritikerin Yvonne Friedrichs 73jährig in Mettmann gestorben

  In ihrem Wesen schien ewige Jugend zu walten. Yvonne Friedrichs, aus Thüringen stammende Kunstkritikerin der „Rheinischen Post“ seit 35 Jahren, konnte sich immer wieder begeistern: für die Werke junger, nachwachsender Künstlergenerationen, für Moderne und Klassik und ganz besonders für alles Fernöstliche. Völlig überraschend ist sie gestern während eines Telefongesprächs in ihrer Wohnung tot zusammengebrochen, im Alter von 73 Jahren. Yvonne Friedrichs war – nach kunst- und musikwissenschaftlichen Studien – in Düsseldorf zu einer liebenswürdigen Institution geworden. Sie pflegte enge Kontakte zu Galerien und Museen, und wenn Ausstellungen sie überzeugten, war es ihr ein Herzensanliegen, ihre Begeisterung auf die Leser überspringen zu lassen. Besonders schätzte sie heftige, wilde, farbintensive Malerei; aber auch Kunstwerke, deren Sinnlichkeit weniger unmittelbar in Erscheinung tritt, sucht sie in zuweilen überschwänglichen Worten ihrem zeitungslesenden Publikum zu vermitteln. Ihr letzter, gestern in der Redaktion eingegangener Bericht über eine Keramikschau im Düsseldorfer Hetjens-Museum legt davon erneut Zeugnis ab. Wenn Yvonne Friedrichs Kunst deutete, warb sie immer auch um Verständnis. Ihr besonderes Interesse an meditativen, im Metaphysischen wurzelnden Werken ergab sich aus den Erkenntnissen, die sie auf ihren abenteuerlichen Reisen in den Orient, den Fernen Osten und in Länder der sogenannten Dritten Welt erworben hatte. In Persien kann sie sich ebenso gut aus wie in Pakistan, in Indien, Peru und Bolivien. Und mehr als einmal stand sie dabei, wie sie uns erzählte, am Rande des Abgrunds. Zuweilen hat Yvonne Friedrichs die Seite gewechselt, hat selber Dinge in Gang gesetzt, die sie sonst nur schreibend begleitete. So gab sie zusammen mit anderen den Anstoß zur Errichtung des (inzwischen geschlossenen) Skulpturenparks der Firma Horten am Düsseldorfer Seestern, arrangiert für fünf Stationen eine Kunstschau mit dem Titel „Blickpunkt Niederrhein“, brachte Kunst sogar in die Schaufenster der Kö. Düsseldorfs dienstälteste Kunstkritikerin (die immer wieder auch Ausstellungen in anderen Städten besprach) hat ihr Lebenswerk abgeschlossen. Sie wird uns fehlen mit ihrer aller Routine entgegenwirkenden Neugier auf Kunst unserer Tage, ihrer Herzlichkeit, ihren wachen, lachenden Augen. Bertram Müller in: Rheinische Post. 24. September 1996.  

Yvonne Friedrichs †

  Mettmann. Die Kollegenschaft der rheinischen Kunstkritiker hat eines ihrer angesehensten Mitglieder verloren. Am 23. September starb Yvonne Friedrichs im Alter von 73 Jahren. Völlig überraschend hat sie der Tod während eines Telefongesprächs in ihrer Wohnung ereilt.   Geboren in Thüringen, war sie nach dem Krieg in den Westen Deutschlands gekommen, hatte hier Kunst- und Musikwissenschaft studiert und sich anschließend publizistischer Arbeit zugewandt, der Kunstkritik vor allem Düsseldorf wurde ihr Lebens- und Wirkungszentrum 35 Jahre lang, zuletzt als dienstälteste Kunstkritikerin vor Ort, war sie für die „Rheinische Post“ tätig und seit 1969 für die WELTKUNST. Dabei berichtete sie nicht nur über das Kunstgeschehen in Nordrhein-Westfalens Kunstmetropole, sondern auch über die Ereignisse im Umfeld der Stadt, vornehmlich aus dem Ruhrgebiet.   Ihre Kunstberichte erfuhren Wertschätzung, denn sie waren geprägt von Sachkenntnis, informativer Substanz und schnörkelloser Lesbarkeit. Yvonne Friedrichs wusste sich leidenschaftlich zu engagieren, ohne, wenn nötig, die kritische Distanz zu verlieren.   Was sie besonders auszeichnete, war ihre spontane Begeisterungsfähigkeit. Diese galt sowohl der klassischen Moderne als auch dem Schaffen der nachrückenden Generationen, nicht zuletzt außereuropäischen Kulturerzeugnissen. Ihre Neigung zur sogenannten Dritten Welt war auf Reisen gewachsen, von denen sie einige selbst als abenteuerlich empfand. Sie kannte sich aus in Persien, Pakistan und Indien, auch in Bolivien und Peru. Kreative Aufmerksamkeit für Meditatives und Metaphysisches erschlossen ihr Begegnungen mit Werken des Fernen Ostens, wie viele ihrer Ausstellungsbesprechungen bezeugen, darunter auch die letzte für die WELTKUNST über die tausendjährige Kunst des tibetischen Buddhismus.   Yvonne Friedrichs war nicht zuletzt ein kontaktfreudiger Mensch, offen und herzlich anderen gegenüber. Ihre „wachen, lachenden Augen“, an die der Nachruf ihrer Düsseldorfer Zeitung erinnerte, werden allen in Erinnerung bleiben. Horst Richter in: WELTKUNST. Die Zeitschrift für Kunst und Antiquitäten, Personalie, 1. November 1996.    

Yvonne Friedrichs Selbstverständnis

(Zu Yvonne Friedrichs, 1923-1996)

 Verstehen statt Aburteilen (1966) Yvonne Friedrichs sprach über „Kunstkritik heute“

Zum 50. Teenachmittag der Gesellschaft für christliche Kultur konnte der Erste Vorsitzende J. H. Sommer zahlreiche Gäste im Zweibrücker Hof begrüßen. Das besondere Interesse der Versammelten galt nicht so sehr der Feier der goldenen Fünfzig, als dem Vortrag der Journalistin und Kunstkritikerin Yvonne Friedrichs über das Thema „Kunstkritik heute“. Die Anteilnahme, die diesem Thema entgegengebracht wurde, läßt darauf schließen, daß viele Menschen, die der Kunst der Gegenwart sehr aufgeschlossen sind, doch vor der Schwierigkeit stehen, sie zu beurteilen, abzuwägen und Qualitätsunterschiede festzustellen.   Yvonne Friedrichs ging aus von der Überlegung, daß das echte Kunstwerk sich jeder rationalen Erklärung entzieht, daß folglich die Kritik sich auf Theorien weder stützen kann noch darf. Kunsttheorien wirken nach ihrer Meinung hemmend auf die Kunstkritik, legen ihr ein Korsett an und hindern ihre Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit. Damit wollte sie jedoch nicht sagen, daß der Kritiker nicht unbedingt über die ganze Kunstgeschichte unterrichtet sein müsse. Die umfassende Kenntnis der Kunst der Vergangenheit ist zwar die notwendige Basis für den Kritiker, aber entscheidender ist das Einfühlungsvermögen in das Werk des jeweiligen Künstlers, der Instinkt für das Originale, die Bereitschaft auf alles Neue zu reagieren, sich existentiell, mit der ganzen Person dem Kunstwerk hinzugeben. Yvonne Friedrichs verglich die erforderliche Vielseitigkeit des Kunstkritikers mit der des Schauspielers. Sie bestätigte auch, daß Kunstkritik immer subjektive Züge trug und trägt, lehnte aber jeden hemmungslosen Subjektivismus ab: „Dafür ist kein Platz mehr!“   Da die Kunstkritik von Anfang an soziale Funktionen gehabt hat, untersuchte die Referentin auch deren Aufgabe gegenüber dem heutigen Publikum. Sie kam zu dem Schluß, daß die Kunstkritik das Geistige in der Kunst aufzuspüren und zu vermitteln habe. Sie müsse die den meisten Menschen unverständlich gewordene Sprache der Kunst in eine dem Kunstwerk adäquate, aber dem Publikum wiederum verständliche Sprache übersetzen. Das sei nicht immer einfach, die bloße Information und Beschreibung, verbunden mit einer Schwarz-Weiß-Wertung, sei hier völlig verkehrt. „Die wortreiche Beschreibung trifft nicht das Wesen der Sache.“ Um die Erlebnisfähigkeit des Publikums zu erweitern und zu bereichern, bedürfe es der Interpretation, der individuellen Reaktion und der Reflexion des Kunstwerkes. Nur das nachschaffende Erleben könne dem Publikum das Kunstwerk näherbringen und – bei der Bewältigung dieser Aufgabe könne der Kritiker selbst zum Künstler werden. Das unterscheidet ihn auch vom gefürchteten Kritiker der Vergangenheit. „Aber“, sagte sie, „verstehen ist auch schwerer als aburteilen“, deshalb müsse der Kritiker heute mit unschuldigen Augen dem Kunstwerk begegnen, es in seiner Eigengesetzlichkeit erfahren und aufnehmen.   D. H. in: Rheinische Post, 15. März 1966.

Yvonne Friedrichs Kunstkritik: 1972-1974

Strukturen im weißen Papier  (1972) Ausstellung Oskar Holweck

Der Saarländer Oskar Holweck (48) gehörte zu den Künstlern, die seit 1958 in Kontakt mit der Düsseldorfer Zéro-Gruppe standen, mit ihr ausstellten und auch in der Zeitschrift „Zéro“ hervortraten. Zugleich war er damals Mitglied der Neuen Gruppe Saar in Saarbrücken und der Nouvelle Ecole Européenne in Lausanne. 1960 trat er dem Deutschen Werkbund bei. Holweck, der an der Staatlichen Schule für Kunst und Handwerk in Saarbrücken und an der Ecole des Arts Appliqués à l’industrie und der Académie de la Grande Chaumière in Paris studierte, ist seit 1956 Leiter der Klasse Grundlehre an der Werkkunstschule Saarbrücken. Er war in den letzten 25 Jahren auf vielen internationalen Ausstellungen vertreten, von Amsterdam bis Formosa, Paris, Ljubljana, Venedig, Mailand, Moskau, Washington. Jetzt zeigt die Galerie Wendtorf-Swetec eine Ausstellung seiner Reliefbilder, Zeichnungen und Objekte aus den letzten 15 Jahren. Holweck gehört nicht zu denen, die sich auf den lauten Märkten in den Vordergrund spielen. Seine mit schlichtesten Medien und einem Minimum an äußerem Aufwand geschaffenen Arbeiten wenden sich an die Sensibilität des Betrachters. Fontana, Manzoni, auch Bernhard Schultze gehören zweifellos zu seinen Anregern. Sein ästhetisches Konzept, das er mit unkonventionellen Methoden und Materialien realisiert, verbindet ihn mit der Gruppe Zéro. Der Künstler reißt seine sparsamen, fein ausgewogenen Strukturen in weißes Papier – wie zarte, geknitterte und gefältelte Stalaktitenzungen, wellig gebogene Streifen springen sie reliefartig aus der Fläche vor. Diese die Fläche verletzenden und in vibrierende Spannung versetzenden Spuren werden oft mittels Nägeln gezogen, über die Holweck das Blatt spannt und zieht. Sie zeichnen Rhythmen von Licht und Schatten in das reine Weiß wie die in das Papier geknitterten blumigen und strahligen Strukturen oder die positiven und negativen Karo-Faltenreihen. Daneben gibt es Objekte aus im Zentrum zusammengeklebten weißen Papieren, die sich wie große bauschige Blüten aufblättern. In all dem, auch in den Reihungen sich verwischender und auflösender Linien der Zeichnungen, halten sich formale Freiheit und Disziplin in der Balance. Die zarten optischen Impulse, die hier ausgespielt werden, weisen in den Bereich des Unausgesprochenen, der Stille. In: Rheinische Post. Feuilleton, 3. Mai 1972.    

Riesige Hände tasten  (1972) Plastiken von Michael Schwarze in der Galerie Niepel

Plastiken von vollendeter klassischer Schönheit, die in bruchloser, folgerichtiger Konsequenz in die Phantastik des Surrealen umschlägt, beeindrucken in einer Ausstellung der Galerie Niepel in der Grabenstraße. Der jetzt 33jährige, aus Krefeld stammende Michael Schwarze erweist sich den Plastiken als einer der bedeutenden jungen Bildhauer der Gegenwart, der in den zehn Jahren seines stetigen Aufstiegs unbeirrt einen eigenen Weg verfolgte. Sein Werdegang ist imponierend und zeugt von der Intensität, mit der hier in einer langen Lehr- und Studienzeit auch formal ein hohes Können erworben wurde. Er begann 1953 mit einer vierjährigen Tischlerlehre, gefolgt von einem zweijährigen Architekturstudium an der Werkkunstschule Krefeld. Anschließend besuchte Michael Schwarze fünf Jahre lang die Berliner Hochschule für Bildende Künste und war Meisterschüler von Professor Karl Hartung. Seit 1964 lebte er als freier Bildhauer in Berlin und wurde 1967 mit dem Villa Romana-Preis, 1969 mit dem Kritikerpreis des Verbandes der deutschen Kritiker Berlin und dem Kunstpreis der Stadt Krefeld ausgezeichnet. Eine große, ausdrucksvoll bewegte Hand ersetzt oft den Kopf von Schwarzes menschlichen Akten in Bronze oder weißem und bräunlich übermaltem Gips, deren Körper manchmal nur aus einem Bein besteht. Eine Hand, die sich schwermütig zum Boden neigt („Gebückter“) oder wie eine organische Schale die Äpfel des Paradieses umschließt („Eva“), die aus einer aufplatzenden Kugel bricht oder zur Stütze einer Kugel wird. In flexibler Gestik und phantastischem Bewegungsspiel öffnet sich die Hand dem Raum, ist Trauma, Symbol, Ausdrucksmedium von Emotionen. Auch in einer Reihe von Zeichnungen und Radierungen, in denen riesige Hände und Handfiguren durch Räume tasten, kriechen und Berührung suchen. Zu den schönsten plastischen Darstellungen gehören daneben ein unkonventioneller „Ikarus“ – eine am Boden liegende Figuration aus Kopf, Bein und Flügel – sowie ein sich aus einer aufbrechenden Säule lösendes Mädchen. Verhaltene Tragik und Melancholie sprechen aus diesen verschlüsselten Bildwerken – menschlichen Situationen im Spannungsraum zwischen Verstricktsein, Beklemmung, Angst und Aufbruch in die Freiheit. In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 3. Mai 1972.    

Wirklichkeit hinter der Oberfläche  (1974) Die zweite Generation der Wiener Phantastischen Realisten

Die zweite Generation der Wiener Phantastischen Realisten wird in der in Düsseldorf bisher umfangreichsten Ausstellung bei Norbert Blaeser, Königsallee 92a (Stadtsparkassen-Passage), vorgestellt: über 100 Bilder, Gouachen, Aquarelle, Zeichnungen und Radierungen von Helmut Heuberger, Peter Klitsch, Reny Lohner, Peter Proksch, Kurt Regschek und Werner W. Schulz. Die Preise liegen zwischen 1200 und 30 000 Mark – außer bei der Graphik. Die vielschichtige, altmeisterliche Technik, das präzise bis ins minuziöse malerische Detail erfaßte, ins gegenständlich-figürliche gebannte Phantastische und Wunderbare, das sich als Gedanke, Emotion, Imagination hinter der Oberfläche des „Wirklichen“ verbirgt, haben diese in den zwanziger und dreißiger Jahren geborenen Künstler von ihren Vorgängern übernommen. Dabei hat man den Eindruck, daß manches unverkrampfter und in der Thematik weniger klischeehaft geworden ist, dafür intelligenter und dem Mystischen zuneigend. Spitzenwerke kommen von Peter Proksch: das geheimnisvolle, das Dualitätsprinzip allen Lebens symbolisierende Gemälde „Die magischen Zwei“, in dem Mann und Frau, Land und Meer, Himmel und Erde, Sonne und Mond spannungsvoll aufeinander bezogen sind. Eine beeindruckende Leistung sind die in dreijähriger Arbeit entstandenen meisterhaften zwölf Radierungen zu dem satirisch-phantastischen Roman „El Criticon“ des spanischen Jesuitenpaters Baltasar Gracian (1584-1659), in denen Lebensweisheit und -einsicht geistvoll reflektiert und anschaulich werden. Reny Lohners feinfiedrig und faserig in fast tänzerische Rhythmen aufgelösten Märchenlandschaften, über denen große Traumvögel schweben, sind am preziösesten im kleinen Format, wie etwa die in feinsten Farbnuancen irisierende Silberstiftzeichnung einer „Sphinx“ oder das Öl-Tempera-Bild „Vor einem Zelt“. Kurt Regscheks von einem Tuch überschattete, von durchsichtigen Schleiern und flutendem Ornamentgrund umspielte „Eurydike“ erinnert an Klinger und den Jugendstil. Helmut Heuberger, Doktor der Philosophie und malender Autodidakt, der sich zum „Protest der Stille“ bekennt, baut seine poetischen Traumlandschaften wie Kartenhäuser oder Theaterkulissen auf: Schloßruinen, Muschelhäuser oder blaue Türme auf Klippen. Mit einem ostasiatischen, von rauschhaften exotischen Farben umlohten Mädchen ist Peter Klitsch vertreten. In märchenfarbige Wellenstrukturen zerlegt Werner Schulz seine verwunschenen Landschaften, die offensichtlich an Hundertwasser orientiert sind. In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 23. Mai 1974

Yvonne Friedrichs Kunstkritik: 1975-1978

Hrdlicka und das Dämonische  (1975)

„Ich habe keine Visionen, ich lese Zeitung“, soll Alfred Hrdlicka einmal gesagt haben. Er bezieht Stellung zu dem, was um ihn herum passiert. Im Gegensatz zu manchen Zeitungslesern, die nach der Lektüre auch katastrophaler Nachrichten zur Tagesordnung übergehen, fühlt sich Hrdlicka im Innersten aufgewühlt. In geradezu selbstquälerischer Leidenschaft nehmen die dunkelsten Triebe des Menschen in seinen Arbeiten Gestalt an, verdichten sich in spannungsgeladenen Menschengruppen, in erregten Schraffuren, flackerndem Helldunkel der Radierungen, in übersteigertem, brutalem Realismus der Plastiken Angst, Bedrohung, Grausamkeit, psychische Abnormität, sexueller Exzeß. Der Mensch wird einseitig als Ungeheuer gesehen, als Vollzugsorgan oder Opfer verbrecherischer Mächte und chaotischer Leidenschaften. Nachdem 1971 der Graphiksalon Söhn eine große Auswahl der bis dahin erschienenen Graphiken Hrdlickas gezeigt hatte, sind jetzt in der Junior Galerie (Orangeriestr. 6) einige der neuesten Radierfolgen und Zeichnungen neben mehreren Bronzen ausgestellt. Im Mittelpunkt steht der komplette Zyklus „The rake’s progress“ (Das Leben eines Wüstlings), der an das berühmte sittengeschichtliche Werk von Hogarth aus dem 18. Jh. anknüpft, und die 1973/74 entstandenen 52 Radierungen „Wie ein Totentanz“, ein Kommentar zum 20. Juli 1944. Hrdlicka (geb. 1928 in Wien), der Schüler von Gütersloh, Dobrowsky und des Bildhauers Wotruba, der als Radierer an die Technik Rembrandts anknüpft, erweist sich hier aufs neue als ein Nachfahre Goyas in der schonungslosen Entlarvung des Diabolischen. Um das so konzentriert zu offenbaren - meisterlich im Technisch-Formalen -, bedarf es wohl einer so temperament- und wesensbedingten Einseitigkeit der Weltsicht. In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 11. März 1975.    

Vom optischen Chaos zum Organismus (1975) Photoskulpturen und Zeichnungen von Klaus Kammerichs im Kunstverein

Wenn sich im 19. Jahrhundert renommierte Maler – wie Lenbach etwa, oder Zille – der Photographie als Vorlage und Hilfsmittel für ihre Bilder und Zeichnungen bedienten, so taten sie dies verschämt und hinter verschlossener Tür. Im Mittelalter, ja noch bis in die Barockzeit hinein, war es durchaus nicht ehrenrührig, sondern gang und gäbe, daß auch die berühmtesten Künstler Motive aus den in allen Werkstätten aufliegenden Kupferstichen, Modellzeichnungen oder Musterbüchern kopierten. Der Brauch, mit Mustern, Modellen und technischen Hilfskonstruktionen zu arbeiten, geht bis ins früheste Altertum zurück. Die Photographie, die zunächst als gefährliche Konkurrenz der Malerei gefürchtet wurde und später die abstrahierenden und das äußere Bild der Wirklichkeit verfremdenden Kunstrichtungen mit auslöste, ist inzwischen durch Collage und Assemblage, durch Pop-, Land-Art und Photorealismus sogar nominell in das Kunstwerk integriert. Der Düsseldorfer Künstler Klaus Kammerichs kann für sich in Anspruch nehmen, eine ganz spezielle Verwertung und Manipulation des Photos erfunden zu haben. Als seine ersten „Photoskulpturen“ 1971 in einer Ausstellung der Galerie Niepel auftauchten, war das eine kleine Sensation. Man bestaunte ihre eigenwillige Technik – eine wahre Sisyphos-Arbeit. Wichtig sind die Arbeiten Kammerichs’ aber auch historisch als vermittelndes Bindeglied zwischen informeller Struktur und realistischer Figuration, denn beide Elemente sind in reinster Form gleichzeitig in jeder seiner Skulpturen enthalten. Dies beruht auf einem seltsamen, verblüffenden Effekt, den der Betrachter selbst steuern kann: geht er dicht an die Reliefs und Plastiken heran, zerfallen sie in zerklüftete Strukturlandschaften mit spitzigen Klippen und dunklen Schluchten, in denen das Auge umherirrt und vergeblich Sinn und Halt sucht. Bei zunehmender Entfernung verdichtet sich das optische Chaos zum geschlossenen Organismus und schließlich zum problemlosen Abbild profaner Wirklichkeit. Die Distanz schafft Klarheit. Punktuellen Strukturen eines numinosen plastischen Rasters fügen sich in einer „Briefmarkenserie“ zusammen zum Porträt von John Kennedy oder Friedrich dem Großen, Heinemann oder Hitler, Ulbricht, Franco, Elisabeth II. von England, auch zum Selbstbildnis oder zu einem Tigerkopf. Banale Gegenstände des täglichen Lebens – Wasserhahn, Telefon, Taschenlampen – werden zum „Aha-Erlebnis“. Am erstaunlichsten sind ganze Reliefwände in Abmessungen von 2x5 Metern mit kompletten Rugby- und Eishockey-Mannschaften oder einer Radrennfahrergruppe der „Tour de France“. In ihnen wird die ganze Dynamik, die sich in Kammerichs’ Technik verbirgt, herausgeholt. Ihr Geheimnis liegt in einer räumlich-plastischen Abstufung der Grau- und Helldunkelwerte einer zugrundeliegenden Photographie, wobei die hellsten Töne als plastischste Erhöhungen in den Vordergrund rücken, die dunkleren sich in die Tiefe stufen. Kammerichs setzt also nicht die Photographie unmittelbar in Skulpturen um, sondern die Reliefschichtung ergibt sich aus den Tonwerten. Alle Arbeiten sind mit Draht in mühsamster Präzisions- und Geduldarbeit aus Hartschaumplatten ausgesägt und in Graunuancen, seltener farbig, bemalt. In den jüngsten Arbeiten ist der optische Verwandlungsprozeß noch komplizierter geworden. Kammerichs nimmt Abstand vom banalen Wirklichkeitsabklatsch als Endresultat einer kinetischen Sehschule. Die Silhouette von Realitätsausschnitten, die er von zwei Standpunkten aufgenommen hat, überschneidet und durchdringt sich in der Plastik. So entstehen würfelartige komplexe Skulpturen: ein „Silberwald“, eine „Hobelbank“, ein „Frühstück im Freien“, in denen sich für diese verblüffende Technik neue Perspektiven eröffnen. Klaus Kammerichs, 1933 in Iserlohn geboren, ist gelernter Photograph, war als Bildjournalist tätig, bevor er an der Düsseldorfer Werkkunstschule und Kunstakademie studierte. Der spätere Werbeleiter erhielt 1962 einen Lehrauftrag für Photographie an der heutigen Düsseldorfer Fachhochschule, an der er seit 1973 Professor im Fachbereich Design ist. In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 12. März 1975.    

Ein Zwiegespräch auf zwei Ebenen  (1978) Rolf-Gunter Dienst stellt in Schloß Morsbroich aus

In der Stille des von Schneegestöber-Vorhängen umwehten Schloß Morsbroich scheinen die Bilder und Zeichnungen von Rolf-Gunter Dienst gut aufgehoben. Der in Baden-Baden lebende Maler, Zeichner, Kunstkritiker, Schriftsteller, Redakteur zeigt dort im Städtischen Museum Leverkusen eine Ausstellung mit über 90 Bildern und Zeichnungen aus den letzten vier Jahren. Die tanzenden Flocken draußen im Park, hinter denen sich Gezweig und Farben alter Bäume und der Rasenflächen verwischten, hatten so manchen Bezug zu Diensts Arbeiten: Ihrer Verführung zur Meditation kann man nicht widerstehen. Auch in den Bildern werden Gewebe gewirkt, die den vollen Blick auf das Dahinterliegende nicht zulassen – eine zarte Barriere, die Behutsamkeit empfiehlt und alles Deutliche verwischt. Doch durch die leicht verzogenen, „handgestrickten“ Maschen erhascht man einen Blick von Welt, der gefiltert ist und der sich bricht in der Irritation beweglicher Strukturen. Ein Zwiegespräch auf zwei Ebenen setzt ein. Rolf-Gunter Diensts skripturale Pinselstrukturen gehorchen dem Zufall der Eingebung und neigen doch zugleich dem Gesetz der Serie zu. Sie sind als Elemente individuell verschieden, aber zugleich anonym. Sie ordnen sich zu Zeilen gleich handgeschriebenen Buchstaben, doch man kann sie nicht entziffern oder lesen. Sie ergeben keinen literarischen Sinn. Es sei denn, daß die Titel der Bilder oder Zeichnungen Gedachtes anzeigen, etwa in den Serien „Epitaph für Ad Reinhardt“ mit 72 Acrylbildern, oder „Wenn Claude Monet statt Alice Hoschedé Gertrude Stein geheiratet hätte, oder eine Seerose ist eine Seerose ist eine Seerose“, die zwölf Bilder umfaßt. Diese aufgereihten Phantasiebuchstaben-Elemente lehnen sich offenbar ein wenig an chinesische Schriftzeichen an. Und schon das weist in die Richtung, wie sie wohl „gelesen“ werden sollen. Der Schreiber Rolf-Gunter Dienst vollzieht in ihnen die Synthese mit dem Maler. Seine geschriebenen Bilder sind nur sehend, tastend, empfindend zu begreifen. Oder sind sie überhaupt nur Medien, die Zonen verfeinerten Sinnenerlebnisses vor uns öffnen, die in der Selbsterkundung zarteste Erlebnisschwingungen ins ästhetisch Wahrnehmbare transponieren, gemischt aus Graphismen und höchst empfindlichen lyrischen Farbvibrationen? Die „Schrift“ als solche scheint nur wichtig in bezug auf die Farben. In ihnen erhascht der Maler seltene, verwunschene Stimmungen, geheimnisvoll Schönes; er visualisiert Reize sehr subtiler Art. Bezauberndes gelingt ihm auf der Skala der Gelbtöne in der oben genannten Reihe „Wenn Claude Monet ...“ Blaßgelbes, grünlich Gelbes bis Orange der skripturalen Maschen läßt Tupfen variablen Violetts, von Lavendelblau, Karminrot oder verlöschendem Pinkrosa durchschimmern - seerosenhaft, oder wie immer man es deuten will. Die dunklen kleinformatigen „Epitaphe für Ad Reinhardt“ versinken in Schwarz-Blau, Braun, zwischen denen manchmal auch Hellrot durchblitzt oder ein fremd und wunderbar aufscheinendes Yves-Klein-Blau. Das erinnert an gewirkte Teppiche, hat manchmal einen seidigen Glanz, scheint sich zu verändern, wenn man daran vorbeigeht. Gliedernde lineare Elemente zwischen den malend geschriebenen Zeilen erinnern zuweilen an eine Treppe, an ein Kreuz. Der autobiographische Zug in diesen Bildern - als Auffangen und Reflektieren von Stimmungen gemeint - wird auch in den Bleistift- und Federzeichnungen deutlich. Auch sie entstanden zyklisch unter dem Motto „Aus einem Tagebuch - immer an einem anderen Ort“. Was in den Bildern in Zeilen geordnet ist, bewegt sich hier frei in Verdichtungen und Lockerungen über die ganze Fläche - zellenhaft, oder auch wie verwehte kleine Blätter, die ständig sich Veränderndes suggerieren. Mark Tobey gehört hier wohl sicher zu den Anregern. Rolf-Gunter Dienst, der gebürtige Kieler (1942), lebte mehrere Jahre in den Vereinigten Staaten, wo er auch verschiedene Gastdozenturen hatte, ebenso wie in Australien und Kanada und an den Kunsthochschulen in Braunschweig und Frankfurt/Main. Der Autor mehrerer Künstlermonographien und Kunstbücher hat in seinen Bildern das niedergeschrieben, was man in Texten nur zwischen den Zeilen lesen kann. In: Rheinische Post. Feuilleton, 16. Februar 1978.    

Wenn nicht Wort, dann Form  (1978) Barlach-Ausstellung bei Ludorff

Im 40. Todesjahr von Ernst Barlach (1870 bis 1938) zeigt die Galerie Ludorff (Königsallee 22) eine umfangreiche Ausstellung mit 120 Arbeiten des Künstlers – Plastiken, Zeichnungen und Druckgraphik. Daß hier allein zehn seiner berühmtesten Bronzen neben einer Porzellanplastik (Russische Bettlerin mit Schale, 1906) versammelt sind, ist eine Seltenheit. Sie kommen alle aus einer norddeutschen, jetzt aufgelösten Privatsammlung. Im Zentrum der „Singende Mann“ von 1928, der dem ganzen Raum seine Gelöstheit und Freiheit mitteilt. Schon 1912 machte Barlach die erste Entwurfszeichnung für die Plastik. Hier besonders wird deutlich, was der Künstler in einem Brief äußerte: „Es ist mein Glaube, daß dasjenige, was nicht durch das Wort auszudrücken ist, durch die Form in den Besitz eines anderen übergehen kann.“ Barlach hat Bronzen in größerer Zahl erst nach dem mit dem Galeristen Flechtheim geschlossenen Vertrag seit 1930 gießen lassen. Bei Ludorff finden wir unter anderem die expressive kleine „Kußgruppe III“ von 1921: die in ihrer schlichten Hingabe an den Augenblick der Begegnung so ergreifende Gruppe „Christus und Thomas“ (1926); den strengen, stelenhaften „Singenden Klosterschüler“ (1931) oder den vom Hauch des Geistigen angerührten „Buchleser“ (Lesender Mann im Wind) von 1936. Die Ausdruckskraft der Linie, ihr rhythmisches Umgreifen figürlicher Volumen erlebt man besonders in einigen signierten frühen Kohlezeichnungen von 1912, den „Vier Knienden“, der „Strickenden Bäuerin“ und dem „Schlafenden Paar mit Hund“, expressiv noch gesteigert in dem „Liegenden Hirten unter einem Tuch“ von 1918. Einer der Schwerpunkte des umfangreichen Graphikangebotes sind unter den 70 signierten Blättern die vollständige Serie der sieben Holzschnitte „Die Wandlungen Gottes“, die in einer Auflage von 100 auf der Berliner Pan-Presse gedruckten Exemplaren 1922 bei Cassirer erschienen. Die Zeichnungen dazu entstanden zwischen 1913 und 1920. Komplett wird auch die Folge von 35 Lithographien Barlachs zu ausgewählten Gedichten Goethes angeboten. Der Lithographienzyklus, an dem neben Barlach (der 31 Steinzeichnungen lieferte) auch Liebermann, Hans Meid und Karl Walser mitarbeiteten, erschien 1924 in 100 numerierten Exemplaren ebenfalls bei Cassirer. Die Beiträge von Slevogt und Kokoschka wurden nicht mehr veröffentlicht, Cassirer war inzwischen gestorben. Unter den signierten Einzelblättern, beginnend mit der herben „Stehenden Frau auf halber Kellertreppe“ von 1912, sind es vor allem auch einige Lithographien zum „Armen Vetter“ (1919), die durch ihre beschwörende Unmittelbarkeit und spannungsvolle Verdichtung von Empfindungen faszinieren. In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 22. Februar 1978.  

Yvonne Friedrichs Kunstkritik: 1981-1983

Naive Reize (1981) Dubuffet-Ausstellung in der Kölner Kunsthalle

Aus dem Jahre 1935 stammen jene in Öl gemalten „Stadt- und Landmarionetten“ und die Folge der „Métro“-Gouachen, mit denen die große jetzt in der Kölner Kunsthalle gezeigte Retrospektive-Ausstellung Jean Dubuffets einsetzt, des nunmehr achtzigjährigen Erfinders der „Art brut“: der rohen, ursprünglichen Kunst, die sich an den unreflektierten künstlerischen Äußerungen von Kindern und Geisteskranken, von Naiven und Primitiven eher orientiert als an den gewohnten Wertvorstellungen. Die von der Berliner Akademie der Künste zusammengestellte Ausstellung mit 360 Werken Dubuffets, aus über 70 öffentlichen und privaten Sammlungen, in ununterbrochener Folge von 1943 bis 1980, ist nach einer Retrospektive dieses Künstlers vor zwanzig Jahren in Hannover die erste dieser Größenordnung im deutschsprachigen Raum. Damals wurden nur 90 Arbeiten gezeigt. Geht man vorbei an den chronologisch sich folgenden Werkgruppen, hat man von Anfang bis Ende den Eindruck, daß hier einer das Theater oder vielleicht noch eher den Zirkus dieser Welt in seinen komischen, beängstigenden und poetischen Aspekten zugleich ironisch-karikierend und mit liebevollem Einverständnis registrierte und dabei zeit seines Lebens das große Staunen nicht verlernte. Immer ist bei ihm das Eigenartige zugleich Ausdruck von etwas untergründig Gemeinsamen. Dubuffet war 43 Jahre alt, als er in fröhlichen Farben perspektivelos seine Métro-Gouachen malte: Menschen, eng zusammengedrängt, frontal, irgendwie verbunden durch eine allen gemeinsame Abwesenheit und Anonymität. Er ritzt, kratzt nach Art der Sgraffiti in Pasten aus Asphalt, Teer und Bleiweiß, Zement, Gips, Lack, Leim, Kalk, Sand, Kohlenstaub, Kieselsteinen etc. die Menschen von Paris mit ausgesprochenem Blick für die Komik und Tragikkomik deformierter Silhouetten. Man spürt: er mag sie alle, diese schlichten Zeitgenossen. Mit dem Röntgenblick eines verstehend Liebenden bringt er gleich einem Magier in den hintergründigen Porträts seiner Freunde – Jean Paulhan, Michel Tapié „als Sonne“, Antonin Artaud, seines Galeristen René Drouin – hinter dem Individuellen jenen inneren Kontakt zu einer surrealen Welt ins Bild. Und dann, nach den Sahara-Aufenthalten Dubuffets, diese wie legendäre Erscheinungen aus den Bildgründen auftauchenden „Clowns der Wüste“. Sie haben alle teil an mysteriösen archaischen Seinsräumen, die den meisten von uns längst verschlossen sind. Oder die in ihrer Poesie unwiderstehlichen „Grotesken Landschaften“, deren eigentlich ganz in die Erde eingebetteten Strichmännchen stillvergnügt, ja selig die Freuden des Landlebens wie ein ungewohntes und ganz vergessenes Wunder erleben. Zu erdigen Landschaften scheinen auch breit und unförmig hingelagerte Frauenkörper zu werden. Gezeichnete Porträtköpfe wirken wie geologische Exkursionen der Zeichenfeder. In verzückten Strukturen, inspiriert von der Landschaft um St. Paul de Vence, wo er sich ein Atelier baut, verherrlicht der Künstler Himmel und Erde, collagiert Männchen aus Schmetterlingsflügeln, huldigt dem „Wald“, dem „Gartenboden“, der „blühenden Erde“ mit berückenden Collagen aus gesammelten Pflanzenteilen. Eine irreale Ausstrahlung haben auch die in einer Serie zusammengefaßten „Kühe auf der Weide“. Nach den Assemblagen entstehen die freistehenden „Statuen“, die doch so fragil und unbeständig sind wie jener so tief betroffen machende „Blinde“ aus Silberpapier. „Ich vertraue den wilden und ungekünstelten Reizen gegenüber jeder Schminke und allen Friseuren“, sagte Dubuffet. Neben den Strukturen der Natur hat er immer wieder diejenigen der menschlichen Psyche und der Gesellschaft in dynamischen Rhythmen von Linien als phantastisches abstraktes Phänomen aus dem Gegenständlichen herausgelöst – in „Paris Circus“ etwa oder den seit 1962 entstehenden Bildern, Skulpturen, Zeichnungen, Räume des „L’Hourloupe“-Zyklus. Nach dem langen Gebrauch von erdigen Farben kehrt Dubuffet hier wieder zur Buntheit, wenn auch auf wenige Grundtöne beschränkt, zurück. In ein Puzzlespiel unendlicher Linien eingebettet, das auch die Plastiken verwirrend überzieht und sicher von den Comic strips beeinflußt ist, erscheint hier das menschliche Tun und Treiben in seiner Unbeständigkeit fragwürdig und illusionistisch. Als Groteske stellt der Künstler es auf eine imaginäre Bühne in seinem berühmten „Coucou-Bazar“ – aus bemalten Plastikelementen zusammengesetzten menschlichen Figuren, Tieren, Wagen, Mischwesen teils auf Rädern, teils von Menschen getragen, die sich als phantastisches Ensemble zu einer von Dubuffet selbst komponierten Musik bewegten – erstmals 1973 im Guggenheim-Museum New York. Auch diese „Praticables“, die in der von Dubuffet gestifteten Fondation in Périgny-sur-Verres aufbewahrt werden, sind in Köln, wenn auch unbewegt, zu sehen. Dazu Großphotos seiner skulpturalen Architekturen, wie der einzigartigen „Closerie und Villa Falbala“ in Périgny: einem reich gegliederten, strukturell bemalten, eher einem Felsgebirge oder einer Eishöhle gleichenden, nach außen völlig geschlossenen Refugium als Gegenentwurf zur rationalen Wohnmaschine unserer Zeit: ein Ort zum Träumen und zur Besinnung. In: Rheinische Post. Feuilleton, 19. März 1981.  

Maler-Dialog mit dem Kreuze  (1982) Arnulf Rainers „Kruzifikationen“ im Suermondt-Ludwig-Museum Aachen

In der Karnevalszeit schwarze Gegenzeichen: Arnulf Rainers „Kruzifikationen“ im Suermondt-Ludwig-Museum Aachen. Die 55 Arbeiten, entstanden zwischen 1951 und 1980, stehen hier in der Nachbarschaft – wenn auch wohlweislich nicht in unmittelbarer Konfrontation – mit den dort bewahrten mittelalterlichen Kruzifixen und Kreuzigungsdarstellungen, als Ausdruck dafür, daß da auch ein Zeitgenosse von heute über die Jahrzehnte hinweg um die Auseinandersetzung mit dem Kreuz nicht herumkam. „All diese Bildwerke erheben nicht den Anspruch, eine spezifische Bildnerei für sakrale Räume zu sein. Sie stammen aus sehr persönlichen Wurzeln. Anlaß war eine subjektive Betroffenheit“, schreibt Rainer im Katalogvorwort. „Kreuz und Nacht“ hat er es betitelt. So heißt auch seine 1961 erschienene Publikation, nachdem er sich in den fünfziger Jahren mit der Mystik, der Theologie und Kunstgeschichte des Kreuzes beschäftigt hatte. „Ich war mir über vieles im Unklaren, stehe selbst in Nacht, Finsternis und Nebel“, bekennt Rainer. Er ist ein Abkömmling jener Tachisten und abstrakten Expressionisten der fünfziger Jahre, die in ihre „automatischen“, vom Verstand unkontrollierten Pinselgesten ihr Unbewußtes projizierten, immer in bohrender Suche nach dem eigenen Ich, die doch keinen Grund im einmal aufgerissenen Bodenlosen findet. Bei Rainer führt dies oft zu wahren Exzessen der Monomanie. Alle Varianten seiner „Übermalungen“, seiner „Bodyworks“ und „Face Farces“, seiner „Fuß- und Fingermalereien“ oder „Untergrundarchitekturen“ beschreiben solche dialogischen Prozesse zwischen Selbstverlust und Selbstfindung. Sie sind Versuche, den permanenten Zerfall aufzuhalten, sind verwegene Drahtseilakte über dem Abgrund. Neben geradezu mönchischer Verinnerlichung ist dabei aber auch das Moment gestikulierender Zurschaustellung im Spiel. Zwischen diesen beiden Polen sind auch die „Kruzifikationen“ angesiedelt, diese Identifikationen Rainers mit dem Kreuz wie auch mit dem Gekreuzigten. Sofort am beeindruckendsten, weil jeder Theatralik fern, sind die in den fünfziger und sechziger Jahren entstandenen schlichten, stillen, auf alles Figürliche verzichtenden Holzkreuze. Rainer hat sie in unterschidlichen Formen und Proportionen aus einfachen Brettern verschiedener Breite und Länge in horizontalen oder vertikalen Rhythmen stufenartig zusammengesetzt, hat sie mit schwarzer oder nachtblauer Farbe befleckt, diese wie einen Strom finsterer Trauer darüber rinnen lassen oder sie ganz wie unter düsteren Schleiern des Unsagbaren versinken lassen. Nur ein wenig rohes Holz, ein wenig blutrote Lebensfarbe oder lichtes Himmelblau bleiben zuweilen sichtbar, eine Ahnung auch manchmal von körperlicher Schattenhaftigkeit, wie bei einem „Zugedeckten Christus“ von 1968. Manche sind ganz urig primitiv und dörflich-volkstümlich, etwa ein „Kreuz aus Transportkistenholz“ (1967/68), manche von getragenem, ernstem Pathos, wie das „Große Vertikalkreuz“ von 1968. Mit Stoff- und Ölfarbe auf Baumwolle und Leinwand ist ein großes „Weinkruzifix“ (1957/78) gemalt, in dem eine angedeutete schwarze Figur vor rot vertropfenden Rinnsalen und Gittern mit dem Kreuz verschmilzt. Solche Konzentration auf das Wesentliche, solches Ergriffensein des Malers strahlen auch einige kleinformatige Zeichnungen in schwarzer Tusche oder Mischtechnik und Radierungen aus, etwa die „Kreuzübermalung“ von 1955, ein „Verdecktes Kreuztabernakel“ (Mischtechnik / Radierung) von 1961 oder ein „Verhüllter Christus (1972), bei dem Strichgeflechte gleich einem angedeuteten Dornenkranz ein von Schwarz ganz ausgelöschtes Gesicht umrahmen. Auf mehreren Zeichnungen der siebziger Jahre erscheinen hinter dem Kreuzzeichen – das sich einmal, umgekehrt, in ein Schwert verwandelt oder auch zum zuckenden, schmerzhaften Blitz wird – der photographierte Kopf oder die Figur Reiners selbst. Am Anfang seiner später sehr dramatisch und wild ausfahrenden, auch großformatigen und farbig expressiven „Kruzifikationen“ stehen einige schwarze Ölkreidezeichnungen über wenig Farbe von 1951, in denen das Kreuzerlebnis seinen abstrakten Ausdruck findet in schmerzhaft von einem zentralen Punkt in den Raum ausstrahlenden Strichgesten. Nur wenige der späteren, oft eher zur Groteske ausartenden und auf Effekt zielenden Übermalungen von photographierten und reproduzierten Christusköpfen oder Kreuzigungen von 1979 (zum Teil auf Aluplatten) erreichen die Glaubwürdigkeit und Betroffenheit der frühen Arbeiten. Sie gleichen oft mehr Dali-Haften Spiegelfechtereien. Im Katalog (20 Mark) sind alle Exponate abgebildet. In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 25. Januar 1982.  

Dämon im Reisfeld  (1982) Japanische Photographie in der CCD-Galerie

„Japanische Photographie“ von sechs zeitgenössischen Künstlern – diese Ausstellung wird gewiß auch manchen nicht professionell Interessierten in die CCD-Galerie (Hüttenstraße 47) locken. Daß Japan, der rasante Aufsteiger im Weltmarkt der Photoindustrie, auch künstlerisch manch Eigenes zu bieten hat, wird selbst in einer so begrenzten Ausstellung deutlich. Gegenüber den auch hier erkennbaren Übernahmen aus dem Westen ist es gerade das Bodenständige, der alten Tradition Entwachsene, was besonders beeindruckt. Am reinsten bewahrt wird es – bei gleichzeitiger Angleichung an moderne, konstruktiv-abstrakte Strukturen und puristische Vereinfachung – von Takeji Iwaniya (geb. 1920), einem der Klassiker der japanischen Photographie, von dem es auch zahlreiche Buchveröffentlichungen gibt. Im Ausschnitt eines Tempel-Innenhofs mit Holzsäule und auf den Boden geworfene Gitterschatten, in der Strenge, strukturellen Feinheit und Präzision eines geschnitzten Dachrandes, eines verfugten Wanddetails ist typisch Japanisches bildhaft erfaßt. Dinge werden zum abstrakten Zeichen, zum Symbol einer von Disziplin und Sensibilität bestimmten Geisteshaltung in Aufnahmen von Mattengefechten, einem Reisstrohbesen, von Kimono, Fächer und Eßstäbchen. Auch in den Beauty-Photos-Farbaufnahmen japanischer Cover Girls des auch bei uns bekannten, durch viele Preise ausgezeichneten Mode- und Werbephotographen Hideki Fujii ist bei allem „Styling“ doch ganz konzentriert japanisches Wesen eingefangen. Die zarten Mädchen, oft im Kimono, mit den weißgepuderten, wie unter Masken des Geheimnisses verborgenen, fernöstlichen Mona-Lisa-Gesichtern, strahlen jene kultivierte Beseeltheit, gemischt mit einem Hauch von Melancholie, aus, die man in der kalten Sachlichkeit europäischer Mode- und Werbephotos vergeblich sucht. In gefährliche Nähe des Süßlichen gerät allerdings Fernöstliches zuweilen in Shinya Fujiwaras farbig und stimmungsmäßig mit dem Morbiden spielenden „Traumkleidern, Traumakrobaten“: Aufnahmen zu seinem 1978 bei Parco erschienenen Buch „Yumet suzure“ zeigen photographische Poesien über selbstentworfene Kimonos, die sich zuweilen über halb entblößten Mädchenkörpern in Fäden auflösen und zerfasern. Eikoh Hosoe, der sich seit über 20 Jahren mit der künstlerischen Photographie beschäftigt, interpretiert in seiner 1970 als Buch erschienenen Photo-Serie „Kamaitachi – eine extravagante Tragikomödie“ eine alte japanische Geschichte und verbindet sie mit Erinnerungen an seine eigene Kindheit, „als er die Geheimnisse des Lebens auf dem Lande entdeckte“. Auch heute spuken dort noch abergläubische Vorstellungen. Hier ist es der Dämon Kamaitachi, der einen vereinsamten Menschen zum Wahnsinn treibt. Manches von diesem Hintersinn, den der westliche Betrachter nur ahnen kann, wird da zwischen Realität – Reisfeldern, Bauern, Händlern, Tempel – und verborgenen Spannungen eingefangen. Um die psychische Problematik von Homosexuellen geht es in der 1971 erschienenen Folge „Ordeal by Roses“, in der Hosue europäische Bildsymbole aus der Renaissance, etwa Botticellis „Geburt der Venus“, und des Barock effektvoll aufnimmt und im Labor übereinander kopiert. Die Photos sind dem Dichter Yukio Meshima gewidmet, der 1970 Selbstmord beging. Die schon Anfang der sechziger Jahre entstandene, doch erst 1970 als Buch edierte Photoserie „Embrace“, raffinierte, einem perfekten ästhetischen Formalismus huldigende Kompositionen von Körperdetails, sind Beiträge zum Thema Sex, die in Japan einen Sturm der Entrüstung auslösten. Ganz anders Shoji Ueda (geb. 1913), der älteste hier vertretene Photokünstler. Er ist zugleich Maler. Vor allem in seiner schon zwischen 1930 und 1940 geschaffenen Schwarz-Weiß-Serie „Sanddünen“ vermeint man jene Bezüge zwischen Figur und Raum wiederzuerkennen, wie sie für die Malerei des Magischen Realismus der zwanziger Jahre in Europa charakteristisch sind. Vereinzelt hat Ueda die Personen in diesen stillen Bildern inmitten von Sanddünen arrangiert – den Maler, Geiger, Spaziergänger, das spielende Kind, das kleine Mädchen neben der Blume: eine besinnliche Szenerie. In den erst unlängst entstandenen Farbphotos „Brillant Scenes“, die mit Weichzeichnner nach ähnlichen Prinzipien komponiert sind, ist dieser überzeugende Eindruck eher verwässert. In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 18. März 1982.  

Deutsche Symbole (1982) Jörg Immendorff in der Düsseldorfer Kunsthalle

Noch nie ist die Düsseldorfer Kunsthalle so total zum Bild-Raum-Panorama geworden wie jetzt in Jörg Immendorffs bisher größter deutscher Ausstellung, die ausschließlich seiner letzten, seit 1977 erarbeiteten Werkfolge „Café Deutschland/Adlerhälfte“ gewidmet ist. 19 großformatige Bilder im Format 282 x 400 cm, von denen die letzten fünf 1982 geschaffen wurden. Begleitet wird die Serie von Zeichnungen und Ölstudien sowie bemalten Plastiken in Lindenholz, darunter einige, in denen der in Düsseldorf lebende Künstler seine große Skulptur für die Kasseler „documenta“ – eine bronzene Version des Brandenburger Tors – vorbereitete. Sie ist letztlich der Kulminationspunkt von „Café Deutschland“, einem erregenden Zeitkommentar in Bildern über das deutsch-deutsche Verhältnis. Diese Ausstellung ist ein Paukenschlag. Die lebhafte Resonanz, die sie im vollen Haus bei einem sichtlich überraschten, teils begeisterten, teils kritisch betroffenen Publikum fand, zeigte, daß da etwas angerührt wurde, auf das man wohl lange gewartet hatte. Nun, da sie da sind, fragt man sich angesichts der Bilder: Wie war es möglich, daß dieses gravierende, uns alle betreffende Zeitthema erst jetzt in der deutschen Kunst aufgegriffen wurde? Natürlich ist es in Einzelarbeiten immer wieder einmal behandelt worden. Doch erst jetzt scheint die Zeit wirklich dafür gekommen zu sein. Was an den Bildern schon auf den ersten Blick fasziniert, ist die emotionale Kraft, die sie trägt und erfüllt, die auf den Beobachter überspringt und ihn fesselt, noch bevor er begreift, was hier im einzelnen dargestellt wird. Es ist diese Intensität der Hingabe, die mühelos riesige Bildformate und komplizierte, verschlüsselte Kompositionen mit dem Schwung der Empfindung und des spontanen Pinselstrichs zu Organismen und Räumen zusammenschmilzt. Alles bleibt da überschaubar in den Details, ist greifbar real, zugleich malerisch und plastisch. Und doch ist es reine Vision, in der tatsächlich Erlebtes – persönlich und zeitgeschichtlich-politisch Relevantes – sich mischt mit Fiktiven oder sich wandelt in Bildsymbole und Gleichnisse. Das aber macht diese Bilder – und auch die Plastiken – so spannend, daß man sich von ihnen einfange lässt, begierig ist, sie zu lesen und zu entschlüsseln, um ihnen auf den Grund zu kommen. Keine platte politische Agitation also, wie man sie von früheren Arbeiten Immendorffs (etwa in der Münsteraner Ausstellung von 1973) kannte, und von der man sich überfahren fühlte. Hier ist es gelungen, sehr komplexen, auch politisch wesentlich offenerer gewordenen Aussagen eine künstlerische Dimension zu geben. Und man sollte auch nicht von „schlechter Malerei“ sprechen (auch wenn einige kleinformatige Ölstudien zum Teil unterschiedlich in der Qualität sind): Ähnliches hat man schon den Expressionisten vorgeworfen. Der Anstoß zu dieser Folge und zugleich zu einem Wandel in der Konzeption seines Werks gab der italienische Maler Renato Guttuso, der 1976 auf der Bienale in Venedig Immendorffs Ausstellungsnachbar war, insbesondere Guttusos kurz danach kennengelerntes „Café Greco“. Darin wird dieser legendäre römische Künstlertreffpunkt zum Schauplatz imaginärer Situationen, die Künstler und Kunst betreffen. Entscheidend für die Konzeption des „Café Deutschland“ war dann ein Treffen mit dem Maler A. R. Penck in Ost-Berlin. Die Freundschaft mit dem DDR-Künstler, der später in die Bundesrepublik übersiedelte, wurde ihm zum Symbol für die Probleme des deutsch-deutschen Verhältnisses, für die Teilung Deutschlands und ihre ersehnte Überwindung. Immendorff, 1945 in Bleckede an der Elbe geboren, war mit dieser Spaltung von frühester Kindheit konfrontiert. An der Düsseldorfer Kunstakademie, wo er zuerst in der Bühnenbildklasse von Teo Otto, dann bei Beuys studierte, wuchs er in die Studenten-Protestbewegung der sechziger Jahre hinein. „Café Deutschland“ brachte dem bisherigen Hauptschullehrer, dem im Kunstmuseum Basel (1979), in der Kunsthalle Bern (1980) und zuletzt im Steldelijk Van Abbemuseum Eindhoven (1981) Einzelausstellungen gewidmet wurden, nun den entscheidenden Durchbruch. „Café Deutschland“ ist der symbolische Aktionsraum, der zum Spannungsfeld der konfrontierten „Systeme“ diesseits und jenseits der Mauer und der in ihnen lebenden Menschen wird. Es ist eine fortlaufende Geschichte in Bildern, in die auch einzelne, politische Tagesereignisse chronologisch verflochten sind, die aber wiederum nur das Typische lebendig machen. Andererseits aber entrückt eine sehr persönliche Symbolsprache das Geschehen dem trivialen Wirklichkeitsabklatsch. Der Charakter dieser Bilder ist nicht illustrativ, sondern vehement erlebnishaft, schließt immer auch Wunsch und Hoffnung der Überwindung des Gespaltenen ein, vor allem durch die häufige Anwesenheit des durch Mauer und System getrennten Freundespaares Immendorff und Penck im Bild. Das beginnt schon in der 1977 entstandenen ersten Szene „Grenze“, in der die beiden Freunde neben der Passkontrolle an einem durch die Mauer halbierten Ping-Pong-Tisch stehen (er existierte wirklich). Im Hintergrund vor der Fahne Leibesvisitation durch einen Vopo. Überdimensional neben dem als Hoffnungsvision winzigen Brandenburger Tor ein Mensch, der die Spitzhacke gegen die Mauer schwingt. In einer andere Komposition steckt Immendorff Penck, der visionär vor dem Tor erscheint, die Hand durch die Mauer entgegen. Zwei Totempfähle – mit eingeschnürten Menschen über der symbolischen „Systemzwinge“ (einem Schlagzeugbecken) auf der einen, einem Wachturm auf der anderen Seite – markieren die Grenzen der beiden deutschen Staaten. Während uns in einem Bild von 1978 George Brecht von seinem Geburtstagstisch im „Café“ die brennende Kerze zur „Erleuchtung“ der Menschen in beiden Teilen Deutschlands zuwirft, tritt in den späteren Café-Szenen eine zunehmende Vereisung des Klimas, der Bilder ein. Der weiße Schneestern, auf den Blutstropfen fallen, auf dem die Säule der „Quadriga“ mit stürzenden schwarz-rot-goldenen Pferden wankt neben im Schnee steckenden Schlagstöcken und der kanonenbestückten „Systemzwinge“, wandelt sich in den „Schwarzen Stern“, auf dem alles zusammenstürzt. Übrig bleibt die von einem „Sammler“-Fuchs  weggetragene Eisscholle, auf der nur noch Reflexe der „Café-Deutschland“-Vision erscheinen, bewacht von einem Grenzpfahl-Adler. Tabula rasa. „Was stellen wir rein?“, fragt Immendorff in der Skizze zu diesem End-Bild. In: Rheinische Post. Feuilleton/ Wissenschaft und Bildung, 1. April 1982.  

Dramen des Innern  (1983) Ölbilder von Cesar Klein in der Galerie Bläser

Wieder einmal stellt die Galerie Norbert Blaeser (Bilker Straße 5) einen Künstler vor, dessen überwiegend in der Zeit zwischen den Weltkriegen entstandenes Werk in der Abgeschiedenheit seines Ateliers nahezu dem Vergessen anheimgefallen ist: den 1876 in Hamburg geborenen, 1954 in Pansdorf bei Lübeck gestorbenen Maler Cesar Klein. Anregung zu dieser Retrospektive mit 20 Ölgemälden gab das im expressionistischen Stil gemalte Bild „Ruhe auf der Flucht“ (1918), das der Galerie-Inhaber im schleswig-holsteinischen Landesmuseum Schloß Gottorf entdeckte und das als Leihgabe auch in der jetzigen Verkaufsausstellung zu sehen ist. Es entstand unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg in Berlin, als Cesar Klein dort zu den Mitbegründern der November-Gruppe gehörte. Der Künstler, der im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts an der Hamburger Kunstgewerbeschule, dann an den Kunstakademien in Düsseldorf und Berlin studiert hatte, war als freischaffender Maler 1903 aus Leipzig nach Berlin zurückgekehrt. Dort stellte er in der Sezession aus, war auch 1912 an der Kölner Sonderbund-Ausstellung beteiligt und gehörte 1914 zum Vorstand der Kölner Werkbund-Ausstellung. 1919 wurde Cesar Klein als Lehrer an die Berliner Akademie berufen und hatte in den folgenden Jahren unter anderem Einzelausstellungen in der Kestnergesellschaft Hannover und bei Gurlitt in Berlin. 1933 gehörte Klein zu den ersten, die die NSDAP vom Lehramt beurlaubte. Später zog er sich nach Pansdorf bei Lübeck zurück. Trotz seiner Nachkriegsausstellungen in den Kunsthallen von Hamburg, Kiel und anderen Großstädten sind Name und Werk von Cesar Klein noch wenig im Bewußtsein der Kunstfreunde präsent – unterlagen deshalb aber auch nicht kaum dem Verschleiß im Kunstbetrieb. Die großformatige „Ruhe auf der Flucht“ in einer romantischen Gebirgs- und Flußlandschaft, deren Farben im letzten Tagesschein der Sonne rot und orange aufleuchten, während die Mondsichel über einem schon bläulich verschatteten Bergmassiv, über dem Zelt, dem davor sitzenden Josef, dem grasenden Esel, der im Zentrum des Bildes auf einem Hügel sitzenden zarten Madonna mit Kind aufgeht, ist bei aller Farbexpressivität eher still und verinnerlicht. Solche introvertierte Empfindungsintensität, dabei nun eher subtil und klangvoll nuancierte, Seelisches reflektierende Farben, kennzeichnen auch die Bilder der zwanziger Jahre, mit ihren klar gegliederten und gegeneinander abgegrenzten, oft collagenhaft geschichteten Farbflächen mit kubistischem Einschlag. Die typisierend wiedergegebenen Figuren orientieren sich – im Stil der zwanziger Jahre – am klassischen Schönheitsideal. Wir werden in diesen Gemälden Zeugen von Szenen, die mit innerer Dramatik aufgeladen sind. Sie scheinen aus dem Leben gegriffen und wirken doch inszeniert, als handele es sich um Theatergeschehen mit tragischem Hintergrund. Darauf deuten auch der in der Hand gehaltene Fächer, der unheimliche schwarze Schatten hinter einer „Frau mit Hündchen“ (1929) oder die volkstümlich-bäuerliche, wohl balkanesische Tracht der „Zwei Frauen mit Brief“ (1928): Weich fließende Linien, der Ausdruck von verhaltenem Schmerz und stillem Mitgefühl scheinen sie zu verbinden. In den dreißiger Jahren hat sich der in Ungnade gefallene Künstler auf mythisch-symbolische Figurendarstellungen und Szenen zurückgezogen, die oft wie große beschwörende Zeichen reglos im Raum stehen, nicht selten vor kulissenartigen Prospekten oder Rahmen. Wieder wird man an Bühnenauftritte erinnert, die nun in eine fast kosmische Weite projiziert sind, auch an silhouettenhafte oder in Holz geschnitzte, farbig ornamentierte und strukturierte Figurinen. Bezüge zum Kubismus, zur Pittura Metafisica, zu Henry Moore, auch zu den Zeichnungen von Archipenko und zu Picasso sind erkennbar in Bildern wie „Versuchung“ (1933), „Maternità“ (1945), „Botschaft der Taube“ (1947), „Eros“ (1947), „Lemuren“ (1949) oder „Sibylle“ (1953). Üppig barocke tänzerische Theatralik, Gestalten der Commedia dell’arte begegnen uns in dem schwungvollen „Tanz“ von 1951. Man kann in diesen Gemälden die vielfältige künstlerische Tätigkeit Cesar Kleins auch auf den Gebieten von Bühnenbild, Wandmalerei, Glasfenster, Mosaik, Intarsien ahnen. Er schmückte viele öffentliche und private, profane und sakrale Gebäude und Räume aus. In diesen mit einer Ausnahme figürlichen Bildern verdichtet sich sehr stark der Geist des ersten Nachkriegs-Jahrzehnts mit seinem Erkunden unbekannter Seelengründe, seinem Hang zum Mythischen. Aber auch die Rückbindung an die frühen zwanziger Jahre wird in eigenwilliger Weise deutlich. In: Rheinische Post. Stadtpost / Düsseldorfer Feuilleton, 19. März 1983.  

Räume und Farben  (1983) Graubner-Schau im Düsseldorfer Kunstpalast

Man erlebt die Verwandlung einer nüchternen Halle in einen beseelten Raum. Gotthard Graubner setzte sich mit diesem Raum, seinen kalkweißen Wänden, seiner erdrückenden und zugleich alles verflüchtigenden Höhe und Weite auseinander, rang mit ihm „wie mit einer starken Persönlichkeit“, denn er sollte sich durch die Bilder „artikulieren“. Graubner hat seinen Widerstand bezwungen, seine Weite herabgestimmt, geradezu zusammengezogen um die Bilder. Sehr tief gehängt, im rhythmischen Wechsel von Gruppierungen, Formatgrößen, Zwischenräumen, Farbkontrasten vermitteln sie den Eindruck von Farbverwandlungen, Nähe zum Menschen, vom Glück der Begegnung. Es gelang, die Bilder in den Raum, den Raum in die Bilder zu integrieren. Umraum verliert sich im Farbraum, wird Wesensraum. Wird beredte Stille, wortloser Dialog mit dem, der gekommen ist, sich auf Gotthard Graubners Meditationen in Farben einzustimmen, die der großen Halle, dem Kunstpalast im Düsseldorfer Ehrenhof, eine neue Seele einhauchen. Sie atmet in Farben die zugleich Raum, Stoff und Geist sind – oder Spur, die von einem zum anderen den Weg weist. „Nicht der Gongschlag ist das Entscheidende, sondern der Nachhall.“ Immer ist es das Dazwischen, das in diesen Farbflüssen, Farbräumen, imaginären Farbkörpern und –schichtungen, den sich tief ins schrundig Stoffliche eingrabenden, abstrakten Farblandschaften, artikuliert wird: die Spannung, das Vibrato, die Schwingungen, die den Ton, den Klang, die Bewegung und Modulation, die Intensität und Dichte, die Helligkeit und Dunkelheit, das leichte und Schwere, Warme und Kalte des Farbwesens bestimmen. Es ist schon erregend – visuell und imaginär den organischen Verschmelzungsprozeß der lasierenden Farben in den Bildern nachzuvollziehen, die sich an den Fließrändern oft schichtweise einzeln ausweisen, um dann zu einem Farbraumorganismus von wunderbarer Transparenz in immer neuen überraschenden Mischungen zueinander zu fließen, sich zu verdichten und wieder voneinander zu lösen. Abgehoben von abbildhafter Bedeutung oder literarischen Inhalten, sind Graubners Farborganismen Gleichnisse von Schöpfungsvorgängen: ein Spiel sich harmonisierender Energien. Sie sind so auch Spiegel der Kräfte und ausstrahlenden Impulse der Natur und deren Entsprechung im menschlichen Wesen – nicht als rationale Analyse, sondern wie ein Atmen mit der Natur. Schon in frühen Zeichnungen aus den fünfziger Jahren hat Graubner an dem Motiv von Bäumen vor allem interessiert: Was bringt den Baum zum Wachsen? Nicht als Stadt-, sondern als Landkind bezeichnet sich der 1930 in Erlbach (Vogtland) geborene Künstler, den Erlebnisse mit der Landschaft, mit Wolkenhimmel und Kornfeld früh geprägt haben. Später, an den Kunstakademien von Dresden und Düsseldorf, suchte und fand er seine „Ahnen“ in Turner, C. D. Friedrich, Rembrandt, Tizian, Velazquez, Goya, Rothko, Newman. „Bei Tizian ergab sich eine Zusammengehörigkeit aller Farben, von denen jede einzelne nuancenreich belebt wird“, erwähnt Graubner. Durch die geschichteten Lasurfarben dringe „die Anschauung von Welt ... bis in den Kern des Wesens der Malerei“. Dabei zeige die Farbe, „was sie – nuancenreich und formbewegt dargestellt – über die Körperlichkeitsbezeichnung hinaus als Energie und geistige Macht“ vermöge. Farbe sei ihm Thema genug, sagt Graubner. Nach seiner ersten Düsseldorfer Einzelausstellung in der Galerie Schmela 1960, den Ausstellungen im Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen (1969) und in der Kunsthalle (1977) bringt jetzt die Schau im Kunstpalast „Arbeiten auf Papier“ von Graubner. Mit 73 Exponaten umfaßt sie den Zeitraum von 1952 bis 1982, doch mit Schwerpunkt der Arbeiten aus dem letzten Jahrzehnt, darunter die seit 1972 entstandenen großformatigen „Fließblätter“. Einige davon sind in Verbindung mit seinen Ausstellungen in Venedig und New Delhi entstanden und erinnern in ihrer Arbatmosphäre an diese Orte: Tintoretto oder die Farbklänge Indiens, gemischt aus leuchtendem Rot, Orange, fahlem Violett und sandig-soinnigem fruchtigem Gelb, Ocker. In den Fließblättern wird besonders deutlich, daß es in Graubners Werk keine Rangunterschiede zwischen Bildern und „Arbeiten auf Papier“ gibt, in denen der Künstler neben Bleistift, Aquarell, Gouache auch häufig Öl- und in jüngster Zeit auch Acrylfarbe verwendet. Nicht selten sind sie auf Keilrahmen aufgezogen. Auch im Format erreichen sie große Diemensionen. In dem von Coco Ronkholz in Verbindung mit Graubner gestalteten Katalog werden diese Arbeiten auf Papier überdies lückenlos vorgestellt; von den frühen Baum- und Aktzeichnungen, den aquarellierten „Zeichen“, den „Schwammgouachen“ über die Farbkörper, Kissenbilder, „Trampoline“ bis zu den Frottagen und Fließblättern. Auch die differenzierte Materialauswahl, seine Tonigkeit und Struktur scheinen immer von der Farbe inspiriert zu sein. Welche ein Weg von den frühen kleinen, im lichten Farbraum schwebenden Aquarell-Zeichen, einem flaumig-duftigen, rosigen „Nabel“-Bild bis zu den späten Diptychen und Triptychen mit ihren von Bild zu Bild überspringenden Farbmodulationen, -bewegungen, -metamorphosen, -kontrasten. „Fließblätter“ sind dramatische, von tiefen Furchen verletzte Seelenlandschaften, Furchen des Materials, die ins Fleisch gehen bis aufs Mark, schwer von ausblutenden, von Schwarz verletzten, leuchtenden Farbflüssen. Es ist Graubners heftige, sich in Farbenergie verdichtende Reaktion auf die Gegenwart. „ich mußte ein Leben lang auskommen mit diesen Kräften“, sagte Graubner. In: Rheinische Post. Feuilleton / Wissenschaft und Bildung, 22. März 1983.  

Bedrückende Phantastik  (1983) Kunst von Geisteskranken in der Galerie Heike Curtze

In seinem 1938 erschienenen Buch „Kunst und Rasse“ verglich der Maler, Architekt, Schriftsteller und Direktor der Weimarer Kunsthochschule Paul Schultze-Naumburg Bilder von Nolde, Modigliani, Picasso, Kirchner mit Photographien kranker, mißgestalteter Menschen und argumentierte, daß diese Künstler ihre Vorbilder „in Idiotengestalten, psychiatrischen Kliniken, Krüppelheimen“ gefunden hätten. Sie gehörten zu denen, deren als „entartete Kunst“ verfemte Werke im gleichen Jahr zu Tausenden aus den deutschen Museen entfernt oder zerstört wurden. Der ehemalige Anstreicher Adolf Hitler hatte den Künstlern „grauenhafte Sehstörungen“ bescheinigt oder ihnen bewußten Betrug unterstellt, der mit Bestrafung oder Sterilisation geahndet werden müsse. Dies bekräftigte 1939 der Ordinarius an der Heidelberger Psychiatrischen Universitätsklinik Carl Schneider, indem er feststellte, daß die „entartete Kunst“ der Irrenkunst außerordentlich nahe stehe. Diese Einstellung markiert den total gegensätzlichen Standpunkt zu dem in die Zukunft weisenden, 1922 erschienenen Buch von Hans Prinzhorn „Bildnerei der Geisteskranken“, in dem der Verfasser – damals Assistent am gleichen Heidelberger Institut – seine dort angelegte Sammlung künstlerischer Arbeiten von Geisteskranken therapeutisch auswertete. Fast gleichzeitig hatte der Schweizer Arzt Walter Morgenthaler das künstlerische und schriftstellerische Werk des schizophrenen Bauernknechtes Adolf Wölfli in der Anstalt Waldau bei Bern bekannt gemacht („Ein Geisteskranker als Künstler“, 1921). An diese positive, therapeutisch hilfreiche Beurteilung der Kunst von Geisteskranken, deren künstlerisch-schöpferische Qualitäten vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg immer differenzierter erforscht, gefördert und herausgestellt wurden, knüpft auch Leo Navratil an. In der von ihm geleiteten psychiatrischen Abteilung des Niederösterreichischen Landeskrankenhauses für Psychiatrie und Neurologie Klosterneuburg hat er geduldig die Kranken zu der für sie so lebenswichtigen schöpferischen Arbeit ermuntert, die ihnen hilft, ihr Ich freizulegen. Zahlreiche Publikationen reflektieren sein Wirken, darunter „Schizophrenie und Kunst“ (schon 1965). Seit 1970 veranstaltet er vielbeachtete Ausstellungen künstlerischer Arbeiten der Patienten aus der Klinik in Galerien, Museen, auch im Krankenhaus selbst, übrigens mit großem Verkaufserfolg. Zeichnungen von zwölf dieser psychiatrischen Patienten aus Gugging sind jetzt in einer Ausstellung „Zustandsgebundene Kunst“ in der Düsseldorfer Galerie Heike Curtze zu sehen. „Zustandsgebunden“ sind sie eben, weil man sie trotz ihrer immer wieder frappierenden künstlerischen Expressivität und erstaunlichen individuellen Eigenart nicht mit Arbeiten gesunder, unter „normalen“ Verhältnissen lebender Künstler vergleichen kann. Am bekanntesten ist inzwischen Johann Hauser (geb. 1926 im slowakischen Bratislava), der seit 1949 in der Anstalt lebt und um 1960 zu zeichnen begann. Die meisten seiner in Erinnerung an Wirklichkeitseindrücke sehr sicher und eigenwillig vereinfachend umgeformten Zeichnungen entstehen in den manischen Phasen seiner Krankheit. Dann sind sie bunt, raumausgreifend, impulsiv, wie etwa ein Porträtkopf, der sich spiralig-wirbelig über den Rand ausdehnt. In den depressiven Phasen zeichnet er dann so einprägsame, sparsame, ernste, streng komponierte Blätter wie einen langen schwarzen abstrahierten Fisch, der vertikal über der Signatur mit pilzartiger Umrandung schwebt. Hauser erreicht nicht selten eine geradezu monumentale Surrealität, so auch in einem traurigen gelben Engel mit blauem Stern auf dem Kopf. So verschlossen, introvertiert und kontaktlos zur Außenwelt wie der seit 1955 hospitalisierte Bauernsohn Frank Kernbeis sind auch seine sensiblen Blei- und Buntstiftzeichnungen: ein geflügeltes Tier ohne Augen und Gesicht oder eine kaktusartige Pflanze und sehr lyrisch-zarte, rhythmisch empfundene, abstrahierte Blumen. Eigenartige fragile Gitterarchitekturen, eine abstrahierte Katze, einen Menschenkopf in Rot und Violett, der zu einem als rote Gitterkonstruktion gebildeten Körper gehört, zeichnete Fritz Koller (geb. 1929), Sohn eines Landwirts, der seit seinem 22. Lebensjahr in der Klinik lebt: Menschliches, verstrickt in zwanghafte Geometrie. Bei Oswald Tschirtner, der das Abitur mit Auszeichnung bestand und gern Priester geworden wäre, brach die Krankheit offenbar während des Kriegsdienstes und der Gefangenschaft aus. Er fühlt sich als Todgeweihter, der um Christi willen Leid tragen muß. Langgezogen, zart, fast zärtlich sind seine Tuschfederzeichnungen von Menschen, die in streifige Räume eingespannt sind. Ohne Körper stehen zwei schmale, lange Kamelhälse oder eine menschliche Kopfgestalt auf ihren Beinen. Eine Frauenhalbfigur hält ein Lämmchen oder eine Katze liebevoll im Arm, eine „Flucht nach Äypten“ entstand in abstrahierender, sensibler Deformierung nach einer Vorlage. Die neueste Entdeckung ist J. F. (Johann Fischer), dessen höchst merkwürdige silhouettenhafte Tiere – Hühner und Hahn, ein Elefant ohne Kopf – sich dem Gedächtnis einprägen. Ganz präzise, fein gezeichnete Hausfassaden im Blumengarten mit einem jungen Liebespaar auf der Bank davor und einem Vogelschwarm zeichnete Otto Prinz, der in den letzten Jahren nur von drei Päckchen Zigaretten und einer Flasche Cola am Tag lebte und kürzlich starb. Auch er war als Soldat während des Ersten Weltkriegs erkrankt. Johann Korbec verbindet seine illustrativen Aquarellzeichnungen dekorativ mit integrierten handgeschriebenen Texten. Anton Dobay reflektiert sein Ich in einer dunklen, schwarz-grün-violett gestrichelten abstrakten Raumvibration. Auch Johann Garber füllt die ganze Bildfläche mit seinen gezeichneten Erzählungen: phantastischen Tieren, Drachen, Hasenköpfen, fliegenden Erzengeln, Zwiebelturm-Kirchen, Frauen am Fenster. In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 7. April 1983.

Yvonne Friedrichs Kunstkritik: 1989-1991*

Ein flammender Tanz  (1989) Barbara Heinisch in der Galerie Zimmer

Barbara Heinisch, 1944 in Rathenow/Mark Brandenburg geboren, gehört zu den Künstlerinnen, die durch die Intensität und Ernsthaftigkeit des Erlebens die Neue expressive Malerei zu immer verdichteterer Bild- und Aussagekraft steigerten. Die ehemalige Schülerin von Beuys und Hödicke, die Auszeichnungen wie den Deutschen Kritikerpreis, Berlin, das PS-1-New-York-Stipendium, Berlin, und das Kunstfonds-Stipendium, Bonn, vorweisen kann, zog 1986 von Berlin nach Düsseldorf, wo sie von der Galerie Elke und Werner Zimmer (Oberbilker Allee 27) vertreten wird. Ihre jetzt dort gezeigte Ausstellung mit Bildern aus zehn Jahren (1979-1989) läßt erkennen, welche Reife und Souveränität sie inzwischen erreicht hat. Auch ihr selbst erfundener und entwickelter aktionistischer, dialogischer Malprozeß ist in ein neues Stadium eingetreten. Barbara Heinisch malte früher ihre großen Tempera-Bilder (auf Nessel) in direkter gestischer Berührung mit ihrem Modell, das hinter der Leinwand agierte, tanzte, sein Wesen, seine Emotionen, seine Gegenwart und ihre Ausstrahlung in Bewegungen einbrachte und darstellte: Sie drückten sich ab und wurden von der Künstlerin malend aufgefangen. Doch keineswegs nur als reine motorische, dynamische Geste, sondern als energetisches Phänomen, als direkte Übertragung spiritueller und sinnlicher Energien an der Nahtstelle zwischen dem lebenden Körper und dem gemalten Bild. Farbspuren im leeren Raum Aus dieser Zeit solcher direkter Induktion stammt noch „Sprungkraft“ von 1979, ein Schlüsselbild jener Periode der blitzschnell nach Körperabdrücken gemalten Bewegungsabläufe. Sie stehen als Farbspuren im leeren Raum mit viel freigelassenem Nesselgrund und beziehen noch nicht das Umfeld als total visualisierten malerischen Organismus ein wie in den späteren Bildern. Kam hier die Inspiration durch ein männliches Modell, so ist das ebenfalls frühe dreiteilige „Totem und Tabu“ mit seinem roten, sich verströmenden Zentrum eine Beschwörung des Weiblichen. Es weist auf Ursprünge, Geburtsvorgänge hin. Die seit 1987 entstandenen Bilder sind zwar weiterhin Dialogmalerei im Zusammenspiel mit Modellen, doch nicht mehr direkt auf den Körper gemalt. Der oft ekstatische Impuls teilt sich dem ganzen Bild mit, das sich in der Bewegtheit von Gestik und expressiven Farben verselbständigt. In einer Kirche gemalt In dem großen Tempera-Bild „Genesis“ von 1988 scheinen sich die farbdurchglühten violetten, goldgelben, erdfarbenen Figuren in einem rituellen, sakralen Tanz flammend und zugleich meditativ in einem gemeinsamen Imaginationsraum zu begegnen. Als durchsichtiger Farbraum schimmert er auch durch ihre Körper. Figuren, Bewegung und Bildgrund verschmelzen, Licht umfängt alles. Barbara Heinisch hat dieses Bild nach Musik von Ligeti in einer Kirche gemalt mit Robert Solomon vom Tanztheater Düsseldorf als Modell, während der ekstatische „Tanz“ (1987) nach Saxophonmusik, gespielt von Sibylle Pomorin, und mit der Kölner Tänzerin Mane Lu Leisch entstand. In „Lichtsturz“ (1987) mit seinem von sakralem Licht getroffenen, unter der Kraft dieses Strahls zusammenstürzenden oder nach ihm greifenden Figuren verarbeitete die Künstlerin einen eigenen Traum. Immer wieder fordern sie Engel, Geistwesen und Lichtfiguren zur malerischen Auseinandersetzung heraus. Sie ist so intensiv, daß man in den Bildern geradezu eine Identifikation mit den Modellen zu verspüren meint. Der „Sonnentanz“ von 1987 entstand als kraftvoll-vitales, farb- und lichtdurchglühtes Gegenbild - mit demselben Modell - zu „Tanz der Dämonen“: einer Ballung von Schrecken, Grauen und Leiden in morbiden, ausgelaugten Farben als Darstellung eines psychodramatischen Prozesses mit maskierten Figuren und als Reflex eines von ihrem Modell erlebten Motorrad-Unfalls. Gemalt wurde das Bild am Rosenmontag angesichts des närrischen Treibens auf den Düsseldorfer Straßen. In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 27. September 1989.    

Von Manet zu Johns und den Jungen  (1989) Jubiläumsausstellung zum 15jährigen Bestehen in der Galerie Wittrock

Mit einer kostbaren Ausstellung von 15 Gemälden und Zeichnungen sowie 15 Graphiken feiert die Galerie Wolfgang Wittrock (Sternstraße 42) ihr fünfzehnjähriges Bestehen. Sie schlägt die Brücke vom französischen Impressionismus, Symbolismus und Fin-de-Siècle über die deutschen Expressionisten, über Beckmann, Picasso, Dali, Klee zu junger und jüngster Kunst der Gegenwart. Zur Ausstellung, die auch einige Leihgaben aus Privatbesitz enthält, vor allem frühe Gemälde der Expressionisten, erschien ein Katalogbuch mit 30 Farbabbildungen aller ausgestellten Werke. Wittrock hat selbst darin den Werdegang seiner Galerie beschrieben. 1974 machte er sich in Düsseldorf selbständig und begann mit einer Photoausstellung von Brassai. Eine Reihe erfolgreicher, von Wittrock organisierter Ausstellungen für Museen in Stuttgart, Bern und München wurde 1985 gekrönt durch die Toulouse-Lautrec-Ausstellung für das Museum of Modern Art, New York. Entscheidend bereichert wurde das bis dahin vor allem graphisch orientierte Galerieprogramm 1983 durch den Eintritt von Margret Heuser, der langjährigen Mitarbeiterin des verstorbenen Kunsthändlers Wilhelm Grosshennig. Ihren Erfahrungen sind die wichtigen Ausstellungen mit Bildern der Expressionisten des Blauen Reiter und der „Brücke“ zu verdanken. Nicht wenige der jetzigen Exponate in der Galerie erinnern an Ausstellungen der Galerie in ihrem ehemaligen Domizil in der Sternstraße 16. Zum Beispiel eine Kreide-Lithographie „Les Courses“ von Manet, ein Probedruck der Auflage von 1884 im ersten Zustand: in samtig-schwarzem Strich werden hier das Pferderennen und seine Zuschauer zu einer lebhaft bewegten Struktur zusammengefaßt. Redons ätherische Lithographie „Beatrice“ (1897) entstand nach einem Pastell und wurde von A. Clot in Paris in ganz wenigen Exemplaren gedruckt. Munchs berühmtes Motiv „Das kranke Kind“, das er bis 1927 immer wieder in Ölbildern und Graphiken variierte, erlebt man hier in der ungemein sprechenden, sinnlich-subtilen gestischen Strichführung der Zeichnung in farbigen Kreiden und Pastell auf Karton von 1896. Berechnende Verruchtheit, umschmeichelt von duftigem Charme verhüllender Gewänder, hat Toulouse-Lautrec in seiner signierten Vier-Farben-Lithographie auf Chinapapier von 1897 „Elsa, dite la Viennoise“ erfaßt. Zu diesem Graphikangebot höchsten Ranges gehören auch Noldes extrem seltene Lithographie „Junge Dänin“ (1913): ein Frauenporträt, zerschmelzend fast im sinnlichen Reiz der Verführung, Dämonie und Melancholie, oder berühmteste Blätter von Picasso („Le Repas frugal“, 1904, „La Minotauromachie“, 1935), Kirchner („Akt mit schwarzem Hut“, 1912), Heckel („Männerbildnis/Selbstporträt“, 1919), Beckmann („Der Nachhauseweg“, 1919) bis hin zu Jasper Johns’ („Decoy I“, 1971), Felix Droeses in ihrem Symbolgehalt ergreifenden „Vogelpredigt (Hesekiel): Sammelt Euch“ von 1983 und Matthias Mansens „Situation, Straße, Hinterhaus“ (Paris, 1988), Otto Muellers „Halbakt Zigeunermädchen“ (um 1925) in seinem unwiderstehlichen, in weichen farbigen Kreiden eingefangenen Charme mag überleiten zu so großartigen Bildern wie Jawlenskys „Dunkelblauem Turban“ (1910), Heckels flammenden frühen, noch von van Gogh und den Fauves beeindruckenden „Blühenden Apfelbäumen“ von 1907, Schmidt-Rottluffs „Weißem Haus in Dangast“, 1910, Franz Marcs „Fabeltier II (Pferd)“, 1913, August Mackes heiter-bestechender kleiner „Kolonnade mit Segelboot I“ (1913), Paul Klees spätem, den schwarzen Zeichen des Schicksals verfallenem Bild „Dieser Stern lehrt beugen“ von 1940 oder Emil Noldes farbglühendem, doch schon dem Vergehen anheimgegebenen „Herbstblumen“ (1931). Gegenüber solcher künstlerischer Herausforderung enttäuschen aber auch die ausgewählten Bilder von Baselitz („Flügel“, 1972/73), Klapheck („Ballade“, 1984) und eine große Gouache von Helfried Hagenberg („ohne Titel“, 1989) keineswegs. Sie behaupten sich. In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 28. September 1989.    

Wie eine seelische Folterkammer  (1991) Jannis-Kounellis-Ausstellungen in Amsterdam und Den Haag

„Via del Mare“, der Weg des Meeres – man stelle sich den einmal vor: Schon wird man getragen von unendlicher Bewegung. Jannis Kounellis, der 1936 in Piräus geborene, seit 1956 in Rom lebende Grieche, hat seine jetzige große Ausstellung in acht Räumen des Amsterdamer Stedelijk Museums „Via del Mare“ genannt. Man geht durch das Szenarium der Schau wie durch eine seelische Folterkammer. Die Sprache der Dinge und Objekte selbst, der Materialien in ihrem Verweis-Charakter, ihren Reihungen und Schichtungen, ihrem Zwiegespräch mit dem Raum ist überwältigend. Eingerollt in Stahl: gezeichnete Menschenköpfe, Totenköpfe; 16 an einer langen Wand aufgereihte große Stahlplatten, darauf gepreßt, zwischen vertikale Eisenschienen und Steine, mit Eisen gefüllte Jutesäcke (1988). Um einen Pfeiler kreist auf einer Eisenspirale eine Eisenbahn. Das Fenster dahinter ist zum Teil mit Stahlplatten verschlossen. Einritzungen in der Wand sind mit Teer gefüllt. „Hommage an Piranesi“ nennt Kounellis diese Rauminstallation, die er 1977 für das Studio Tucci Russo in Turin machte. Natürlich fehlt auch die berühmte „Carboniera“ nicht, der mit Steinkohlen gefüllte Stahlträger für die Galleria L’Attico in Rom (1971). Für das Museum Zeitgenössischer Kunst in Bordeaux entstanden 1990 mächtige mit Kohle gefüllte Stahl-Container. Arte povera, Kunst mit „armen“ Materialien, die doch hier mit Weltgeschichte, historischen, kulturellen, sozialen und autobiographischen Erinnerungen und der Ausdruckskraft ihrer Materialität aufgeladen sind – Kounellis ist einer ihrer hervorragendsten Repräsentanten. Burri, Fontana, Manzoni, die ihm nahestanden, hat er längst überflügelt. Über einer Bodeninstallation von 1988 mit rund 12 000 aufgereihten Likörgläsern liegen organische Bleiformen, die Wachsen, Werden, Vergehen, Transformation signalisieren; mit den Gläsern spielt das Licht. Für das Museum von Capodimonte in Neapel fertigte Kounellis 1990 die großartige Installation mit über 50 alten Terrakotta-Krügen, großen und kleineren, einst Vorratsgefäße für Wein oder Öl. Mit Seewasser und Blut gefüllt, als lebensvolle, erdgebundene Formen stehen sie auf dem Boden, kontrastierend zu an den Wänden darüber an Eisenplatten hängenden, mit Kohle gefüllten Jutesäcken. Wie Kounellis einst in seiner berühmten römischen Installation von 1969 lebendige Pferde in den Ausstellungsraum brachte, so begegnet man jetzt seinem lebenden bunten Papagei auf eiserner Stange oder seinem Ei auf Stahlplatte im stählernen Raum. Auf einer riesigen, über Eck gestellten Metallwand scheinen kleine Knospen aus Gips zu sprießen. Auf dem Fragment eines romanischen Holzkreuzes stehen goldverbrämte Kinderschühchen. Ein Kreuz aus Eisenträgern ist mit einem Mantel bekleidet. Ein Kleiderständer steht vor einer mit Blattgold belegten Wand. Aus einem Objekt aus vier Stahlplatten quillt flockige weiße Wolle hervor. „Die Werke, in denen ich Wolle benutze, sind ein Echo des verlorenen Arkadiens außerhalb der Zeit“, schrieb Kounellis. Parallel zu dieser Retrospektive in Amsterdam zeigt das Gemeentemuseum in Den Haag eine von Rudi Fuchs eingerichtete weitläufige Ausstellung mit Zeichnungen von Jannis Kounellis aus den Jahren 1970 – 1990 unter dem Titel „La stanza vede“ (Der Raum sieht). Als erste ihrer Art überhaupt erschließt sie ein bisher noch weitgehend unentdecktes Gebiet seines Schaffens. Die Zeichnungen sind eine Offenbarung, denn in ihnen zeigt sich der unbändige Drang des Künstlers in die Freiheit des Raums. Variationen über Vögel und Flug etwa, in farbigen Fasern auslaufend in Kreide- oder Federzeichnung. Von einem dunklen Zentrum ausgehende blaue Strahlen ins Unendliche. Ein Raum mit schwarzer Tür und schwarzen Fenstern „sieht“, blickt uns an in Gesichtern auf den Wänden. In einem anderen, dunklen, fensterlosen qualmen Schlote. Ein melancholisches weibliches Gesicht mit einer Binde vor den Augen und wie im Flug verwehendem Hut schwebt im Freiraum. Rauch wandelt sich in schwarzes Haar eines weiblichen Aktes, der aus einem Schornstein herausgeschleudert wird. Farbfeuer glimmt in der Erde. Feuer, Rauch in Innenräumen, eine Industrielandschaft mit dampfender Lokomotive, eine archaische Architektur. Menschen tragen einander auf dem Rücken vor einer modernen Hausfassade. In: Rheinische Post. Feuilleton, 2. Januar 1991.    

Lichterwald und Superland  (1991) Zur Peter-Brüning-Ausstellung in der Galerie Niepel

In den sechziger Jahren konnte man sie in der alten Galerie Niepel taufrisch sehen: die neuen, von der Kartographie, später auch von Verkehrszeichen inspirierten Bilder, Zeichnungen, farbigen Lithographien und Siebdrucke, die Objektbilder und schließlich Objekte von Peter Brüning. Sie waren nach seinen früheren informellen Bildern eine solche Überraschung, etwas so absolut Neues und Einzigartiges, daß man sich vom Anschauen gar nicht trennen konnte. Peter Brüning, dieser hochbegabte, damals von der „Szene“ zunächst noch mehr oder weniger ignorierte, 1929 geborene Düsseldorfer Künstler, ist vor 20 Jahren – Weihnachten 1970 – 41jährig gestorben. Seine im Herbst desselben Jahres vom Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen arrangierte erste Retrospektive wurde unvorhergesehen zu einer Gedächtnisausstellung. Sie blieb die bisher letzte in einem Düsseldorfer Kunstinstitut. Als großartiger eigenständiger Maler des Informel, der spätgeborene jüngste seiner bedeutenden Vertreter, ist er inzwischen auch in der hiesigen Galerieszene wiederentdeckt und inzwischen weltbekannt geworden. An das spätere, hier lange nicht mehr ausgestellte, nicht minder die Zeit überdauernde Werk des Künstlers, dem nur 16 Jahre blieben, sich zu entfalten, erinnert jetzt eine spontane „Hommage à Peter Brüning“ in der Galerie Niepel (Orangeriestraße 6). Sie kam auf Anregung und mit Unterstützung von Marie-Luise Otten zustande, die über Brüning promovierte und deren umfassende und eingehende, aus direkten Quellen schöpfende Buchpublikation mit Werkverzeichnis über den Künstler 1988 im Wienand Verlag Köln erschien. An Düsseldorf zunächst vorbei Die daraufhin im selben Jahr veranstaltete große Ausstellung seiner Bilder und Objekte in Saarbrücken, Dortmund und Marl ging an Düsseldorf vorbei. Peter Brüning, einst Schüler von Willi Baumeister, wurde 1969, ein Jahr vor seinem frühen Tod, zum Professor für Malerei an die Düsseldorfer Kunstakademie berufen. Seine jetzige Ausstellung mit 17 teilweise unverkäuflichen Arbeiten aus der Zeit zwischen 1964, als er sich der Kartographie zuwandte, bis 1970 setzt Zeichen – vielleicht auch für eine umfassende Retrospektive in Düsseldorf? In ihrem Zentrum, umgeben von Malerei, Zeichnungen und Graphik, dominiert die große Installation „Lichterwald“ mit „Superland“ von 1967. Der „Lichterwald“, bestehend aus drei stark vergrößerten kartographischen Zeichen für Nadelwald, die sich plastisch verselbständigt haben und mit phosphorgrün oszillierenden Neonröhren überzogen sind, wurden erstmals in einer von dem französischen Kunstkritiker Pierre Restany im schwedischen Lund veranstalteten Schau ausgestellt. Darauf spielt doppelsinnig der Titel des dahinterstehenden Diptychons „Superlund“ an, auf das sie, auch durch Lichtreflexionen, bezogen sind. Es ist ein von Brüning gefundenes Plakat der von oben gesehenen Landschaft mit der Ruhrtalbrücke bei Essen. Er überzeichnete es mit kartographischen Zeichen, unter anderem für Straßen verschiedener Ordnung, Laubbäume und jenen sich nach unten verjüngenden Punktsäulen, die auf topographischen Karten ansteigendes Gelände markieren. Sie versetzen, hier in der Konfrontation von Realität und Zeichen in einen optischen und gedanklichen Schwebezustand zwischen abstrakter überhöhender Imagination und photographierter Gegebenheit. Zugleich weitet sich das Bild durch die plastischen stilisierten Raumobjekte in einen Raum der Realität und Fiktion gleichermaßen aus. Angesprochen wird auch die verfremdende Überlagerung von Zivilisation und Natur. In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 5. Januar 1991.    

Hölzerne Ladies  (1991) Wolfgang Thiel in der Galerie am Stadtmuseum

Wie aus dem Schnittmusterbogen wirken sie, hart und eckig in den Kanten, die Modemädchen des Bildhauers Wolfgang Thiel. Gratig falten sich die Stoffbahnen gestylter Gewänder, die die gelängten Figuren hölzern umspielen. Knochig, faltig, präsentieren sie sich, die Ausgemagerten, Langbeinigen mit den spitzen Knien, spitzen Brüsten, spitzen Fingernägeln – fast Giacometti-Körper, doch verfremdet ins Groteske, zeitkritisch Frisierte, mondän Drapierte, in Holz erstarrte Mannequins zwischen Schlemmer, Picasso und Pop. Gefroren auch die zur Schau gestellte erotische Stimulanz, die zur Maske geronnenen, ins Scheinwerferlicht getragenen Make-Up-Gesichter, aus denen jede Regung gewichen ist. Scheinbar lässig die einstudierten Haltungen: Marionetten, die sich selbst am Faden führen. Man kann sie jetzt in der Galerie am Stadtmuseum von Marlies Fischer-Zöller (Citadellstraße 25) kennenlernen, sich über sie amüsieren oder Anstoß nehmen an diesen tragikomischen Figuren der Jet-Set- und Schicki-Micki-Welt. Das Material Holz ist wichtig. Hat es doch dieses Rauhe, Sperrige, das zur Groteske taugt und das die modische Eleganz parodiert. Die scharfen Grate und Einkerbungen, die oft naturbelassene Oberfläche in Verbindung mit den überzogenen Längenproportionen, dem Geltungsdruck der breiten Schultern, der überhohen Stöckelschuhe, des penetrant dargebotenen „Oben-Ohne“ schaffen nicht nur Spannung, sondern mischen dem Humor auch ein bißchen brutalen Horror bei, einen Schuß Aggressivität. Hinzu kommt ein formaler Kunstgriff. Wolfgang Thiel arbeitet nämlich auf verschiedenen Ebenen. Seine Skulpturen entwickeln sich oft aus der Fläche zum Relief oder sogar bis zum Vollplastischen hin und zurück. Das intensiviert ihre Stoßkraft: eine Methode der versetzten und übermalten Flächen und Volumina, die schon Oskar Schlemmer angewandt hat. Thiel benutzt überdies außer dem skulptierten Holz ganz prosaische Kistenbretter, Paletten, Balken, die als flächig-lapidare Kleidung, als Sitzgelegenheit, Podest, Liege dienen: Kleidungs- und Möbelstücke, die auch ein wenig an Panzer oder Marterinstrumente erinnern. Manche Figuren verschmelzen mit Objekten, vor allem thronartigen Stühlen. Die Verbindung zwischen Körper, Gewand und Objekt stellt die farbfröhliche Bemalung her. Im Wandobjekt „La Piscine“ schwappen sogar munter gemalte Wellen des Swimmingpools über die auf einer Luftmatratze sich aalende Dame. Ja, es ist eine amüsante Ausstellung von Wolfgang Thiel (geboren 1951 in Zweibrücken), der in Stuttgart studierte. Seit 1986 hat er einen Lehrauftrag an der dortigen Akademie. Daß er ursprünglich Bühnenbildnerei studierte, ist aufschlußreich. Dennoch hat er bis 1982 eher strenge, introvertierte, sogar sakrale Plastiken gemacht. Erst seit 1983 entstanden seine großen, nun bemalten Holzplastiken. „Silvia“ (in Anlehnung an Otto Dix’ Porträt der Journalistin Silvia von Harden aus den zwanziger Jahren) im roten, himmelblau gepunkteten Kleid mit grünem Haar sitzt streitbar und leicht morbide auf ihrem hohen Holzlattensitz. „Madame Recamier“ ruht unbequem unter ornamentierter Bretterdecke. Das mit einem Möbelstück verwachsene Terzett mit streng einseitig ausgerichteter Kopfhaltung besingt die „Magie des Schönen“. In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 18. Januar 1991.    

Von der Tombola zum Millionending  (1991) Werke von Schlemmer, Loos und anderen bei Bröhan

Die „Geteilte Halbfigur nach rechts“ in Gouache und Bleistift auf Papier von Oskar Schlemmer (Bauhaus 1923), ein Millionenobjekt, und eine Kommoden-Uhr in Messing und Glas mit intaktem Originalwerk von Adolf Loos (um 1898, 160 000 Mark) sind Spitzenwerke einer hochrangigen Ausstellung mit Neuerwerbungen des Jahres 1990 in der Galerie Torsten Bröhan, Gartenstraße 41. Gezeigt werden Kunsthandwerk und Industriedesign aus dem Zeitraum 1890 bis 1990, insgesamt 133 Arbeiten aus Glas, Keramik, Metall, dazu Möbel sowie Bilder und Graphiken von Künstlern des Bauhauses. Es handelt sich dabei, dem Anspruch dieser Galerie entsprechend, um Dinge, die sich durch Originalität, Schönheit und Reinheit der Form auszeichnen. Nicht wenige dieser Einzelstücke, die im Lauf des vergangenen Jahres Preissteigerungen von 50 bis 100 Prozent erreichten, sind beispielhaft für die historische Entwicklung formkünstlerischer Gestaltung. Vertreten sind nicht nur führende Entwerfer der Wiener Werkstätten wie Josef Hoffmann, Koloman Moser, Michael Powolny, Otto Prutscher, sondern auch Meister des Bauhauses, darunter Marcel Breuer und Kandinsky, der Dresdner Werkstätten (Richard Riemerschmid), des holländischen und belgischen Jugendstils (Jan Eisenloeffel, Henry van de Velde), bis hin zu jungen Designern von heute. Die wunderschöne Gouache von Schlemmer, die eine gewisse Nähe zu Paul Klee verrät und jetzt einen kostbaren Renaissance-Rahmen aus der Sammlung Conzen bekam, trägt auf der Rückseite die Widmung „Für die Tombola des Metallischen Festes im Bauhaus Dessau gestiftet von Oskar Schlemmer“. Der flächige, in Farbsegmente geteilte Profilkopf erscheint in verschiedenen Ebenen versetzt wie Schlemmers gleichzeitige Reliefs und korrespondiert in seinem feingestuften Farbspiel mit dem konstruktiven, ebenfalls vor- und zurücktretenden Flächenmuster seines Hintergrunds. Der melodische Umriß des Profilkopfs antwortet einer Vasenform: Fugato und lyrische Kantilene. Strenge Noblesse Die trapezförmige Messinguhr des Wiener Architekten Adolf Loos mit ihrem freischwebenden Achttagewerk nimmt in der strengen Noblesse ihrer avantgardistischen Formgebung um die Jahrhundertwende schon den Bauhausstil vorweg. Kandinskys 1922 am Bauhaus gedruckte Farblithographie „Kleine Welten IV“ verbindet Malevitchs Drang ins Universum mit den „kleinen Welten“ des Diesseits – Wasser und Boot sind zu erkennen – zu einem zauberhaft leichten, poetischen Spiel. Eine kleine Rarität ist auch eine lithographierte Postkarte Kandinskys zur Bauhaus-Ausstellung 1923. Zwei Stühle, die Geschichte machten: Henry van de Veldes „Bloemenwerf-Stuhl“ von 1894/95, den er für sein eigenes Haus in Uccle entwarf. Damals gab er die Malerei auf, wandte sich ganz dem Design zu. Und Marcel Breuers Lounge-Chair aus verchromtem Stahlrohr mit originalem Eisengarnbezug (um 1930), zusammen mit einem Tisch (verchromtes Stahlrohr, Glas, um 1928) und einem Regal (verchromtes Stahlrohr, schwarzgebeiztes Holz, um 1928). Sehr elegant in seinen schwingenden Stahlrohrelementen ist ein Stuhl mit Korbgeflecht, den Mies van der Rohe 1927 für die Stuttgarter Weißenhofsiedlung machte. Begeisternd in der Kultur der Formgebung und Ausführung sind auch viele kleinere Gebrauchsobjekte. Den Wiener Werkstätten steht eine in ihrer Kelchform sehr schlichte Loetz-Vase mit stilisiertem Seerosendekor nahe (um 1900). Ein Unikat ist Jan Eisenloeffels kupfernes Tintenfaß (Holland, um 1900). Josef Hoffmanns sich üppig wie eine Frucht entfaltende Teekanne in Silber und Elfenbein (1918) wurde in den Wiener Werkstätten ausgeführt. Apart eine schlanke Tischlampe des Dänen Poul Henningsen (1925). Und wer möchte nicht gern mal einen Apfel zum Nachtisch mit Henry van de Veldes schnittigem Obstbesteck schälen? Aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wären etwa eine schlanke Silbercasserole von Henning Koppel, dem Chefdesigner bei Georg Jensen (Dänemark) zu nennen oder zwei Ariel-Gläser, die Edvin Öhrström (Schweden) um 1950 für Orrefors machte, und eine charmante kleine „Taschentuchvase“ aus gekräuseltem dünnen Glas von Venini/Fulvio Bianconi, Murano um 1960. In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 19. Januar 1991.    

Noten in Bildern, verständlich für Kinder  (1991) Der in Düsseldorf lebende Buch-Illustrator Johannes Grüger wird 85 Jahre -  Herkunft aus Breslau

Kinderbuch-Illustratoren sind andere Menschen, oft stille, feinfühlige, versponnene. Wie könnte es auch anders sein, wenn man täglich mit Engeln und Heiligen, mit Königen und Helden, mit Blumen und Schmetterlingen, mit Tieren zu Wasser und zu Lande oder mit Sonne, Mond und Sternen verkehrt, sie nach ihrem Wesen, ihrer Gestalt fragt; wenn einem die Bilder zuwachsen aus vielen, vielen Geschichten? Johannes Grüger, der gestern sein 85. Lebensjahr vollendete, hat unzählige Kinder in aller Welt erfreut, hat ihnen in früher Jugend eine Welt der Bilder, der Phantasie aufgeschlossen, die sie innen reich machte fürs Leben. Weit über 120 von ihm illustrierte Kinderbücher erreichten rund um den Globus eine Gesamtauflage von mehr als zehn Millionen Exemplaren. Bunte Kreidevögelchen Aus Musik sind sie erwachsen. Ganz am Anfang waren sie Ansporn zum Singen der Kleinsten in der Schule. Als die nämlich Notenköpfe auf der Wandtafel nicht begriffen, verwandelte sie ihr Musiklehrer Heribert Grüger, der ältere Bruder von Johannes Grüger, flugs in farbig gezeichnete Kreidevögelchen, die auf den Notenlinien munter zwitscherten und die Höhen und Tiefen der Töne, ihren Auf- und Abstieg markierten. Die Idee der „Liederfibel“ war geboren und wurde umgehend von seinem Bruder, dem Zeichner, verwirklicht. 1926 erschien die erste „Liederfibel“ in der Ostdeutschen Verlagsanstalt von Viktor Kubczak in Breslau, wo Johannes Grüger 1906 als Sohn des Kalligraphen Max Grüger geboren wurde. Der 21jährige besuchte damals die Theaterklasse von Professor Hans Wildermann an der Breslauer Kunstschule (1926-1929) und war anschließend zwei Jahre als Bühnenbildner tätig. Die schon bald außerordentlich erfolgreiche „Bilderfibel“ von Johannes und Heribert Grüger, der zwei weitere unterschiedliche Ausgaben folgten und die auch im amerikanischen Verlag Lippicott & Co. in Philadelphia verlegt wurde, brachte Johannes Grüger auf den Weg des Buch-Illustrators. In den dreißiger Jahren war er außerdem Gemälderestaurator in den Städtischen Kunstsammlungen Breslau. Während des Kriegs gingen alle seine frühen Arbeiten dort zugrunde, auch die Druckstöcke und Lithos der „Bilderfibel“. 1945 kehrte Johannes Grüger mit einem einzigen geretteten Pinsel zu seiner in das Dorf Aiterhofen bei Straubing geflohenen Familie – er war mit der Schauspielerin Erika Fricke verheiratet – heim. Dort fand sich bald auch der Verleger Viktor Kubczak ein. Nach einem erhalten gebliebenen Exemplar malte Grüger die Illustrationen zur „Liederfibel“ neu, und Kubczak gab sie 1949 – auch neu gestaltet – in dem von ihm gegründeten Brentano Verlag Stuttgart heraus: wieder mit durchschlagendem Erfolg. Die Auflage stieg in den nächsten Jahrzehnten in die Hunderttausende, später auf 1,5 Millionen. Im Spiele lernen Denn auch nach dem Tod Kubczaks, als der Düsseldorfer Schwann-Verlag die Rechte übernahm und die Werke mit neuen Bildern in acht verschiedenen Auflagen edierte, hatte die Zauberformel, Noten wie im Spiel durch Bilder zu lernen, nichts von ihrer Kraft verloren. Es erschien auch eine Sonderauflage mit acht Liedern und einer Schallplatte, auf der ein Kinderchor, begleitet von Orffscher Musik, singt. Drei Generationen von Kindern sind nicht nur mit der „Liederfibel“ aufgewachsen, sondern auch mit den vielen anderen von Johannes Grüger illustrierten Kinderbüchern. Genannt seien besonders die in ihren Bildern – einer inspirierten Mischung aus mittelalterlicher Miniatur und unschuldsvoll-naiver Kunst – auf so wundersame Weise kindhaften religiösen, im Patmos-Verlag erschienenen Bücher, darunter die „Kleine Eckersche Schulbibel“: ein Welterfolg. Sie wurde in 27 Sprachen übersetzt, zum Beispiel ins Russische, Ukrainische, ins Arabische, in die Sinti-Sprache, in verschiedene afrikanische Dialekte und in Indianersprachen. Die für noch kleinere Kinder gedachte „Bilderbibel“ erreichte in Deutschland und acht weiteren Ländern, von der Tschechoslowakei bis Borneo, eine Gesamtauflage von über 350 000 Exemplaren. Neben seinen Illustrationen hat Johannes Grüger, der seit 1951 in Düsseldorf lebt, unter dem Eindruck der Schrecken und Ängste der Kriegs- und Nachkriegszeit expressiv-surreale, phantastische, Kubin, Brueghel, Bosch nahestehende Federzeichnungen geschaffen. In dieser Zeit malte er auch zwei kleine niederbayerische Kirchen aus. In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 13. Februar 1991.

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Yvonne Friedrichs Gespräch mit Heinz Mack über Dürer

Respekt aber keine Bewunderung  (1971) *

Ein Gespräch unserer Kunstkritikerin Yvonne Friedrichs mit Heinz Mack über Albrecht Dürer

„Zero“ und Dürer – lässt sich dafür ein gemeinsamer Nenner finden? Was bedeutet Dürer für einen „progressiven“ Künstler unserer Zeit? Völlig ungewiß über den Verlauf unseres Gespräches sitze ich Heinz Mack in der geräumigen Wohndiele seines jahrhundertealten Bauernhauses in Mönchengladbach gegenüber. Die Synthese von denkmalgeschütztem, mittelalterlichem Fachwerk und gleißenden Aluminiumrastern, Plexiglasstelen und Lichtrotoren scheint verheißungsvoll.   Y. F. „Herr Mack, haben Sie ein Verhältnis zu Dürer?" „Mit dieser Frage werde ich zum erstenmal konfrontiert. Ich habe drei bis vier Schulaufsätze geschrieben. Als sehr kleiner Junge über die Dürerzeichnungen mit der Drahtziehermühle, als Abiturient über die Eisenätzung „Die große Kanone“, natürlich auch über „Ritter, Tod und Teufel“ – womit des Deutschen liebste Bildungsgüter genannt wären. Nach dem Beethovenjahr haben wir nun ein Dürerjahr. Ich halte das Werk Dürers nicht für geeignet, ein ganzes Jahr gefeiert zu werden.“   Y. F. „Warum? Aus thematischen, formalen oder technischen Gründen?" „Von der Sache her. Ich glaube kaum, daß es gelingt, Dürer so zu aktualisieren, daß sein Werk ein ganzes Jahr lang fasziniert. Hat man übrigens in Nürnberg, wo man jetzt so bemüht ist, die jüngste Vergangenheit der Parteitage mit Dürer zu übermalen, nicht daran gedacht, daß gerade Dürer wie kaum ein anderer von den Nationalsozialisten gefeiert wurde.“   Y. F. „Das dürfte doch wohl eher ein typisches Beispiel dafür gewesen sein, wie Kunst in Richtung von Parteipolitik verzerrt wurde." „Dürer ist ein nationaler Genius. Er ist der Prototyp des deutschen Künstlers. Das hat seine guten und bösen Seiten. Übrigens: Die Stadt Nürnberg erteilte Dürer nie einen Auftrag. Ja, sie schuldete ihm sogar lange Zeit Geld, da sie sich weigerte, die von Kaiser Maximilian für Dürer ausgesetzte Leibrente auszuzahlen. Daß man jetzt den Großen Dürer-Preis der Stadt an HAP Grieshaber vergibt, ist bezeichnend für die provinzielle Mentalität, die die Aufmerksamkeit der Welt auf sich lenken will. Max Ernst wäre ein würdigerer Preisträger gewesen. Dürers Kupferstich der ‚Bekehrung Pauli’, die ‚Melancholie’ und ganz besonders die Holzschnittfolge ‚Die Unterweisung der Messung’ sind gar nicht so weit von Max Ernst entfernt.“   Y. F. „Ist Dürer also doch für den modernen Künstler aktuell?" „Nein. In allen Büchern ist zu lesen, daß Dürer immer bewundert wurde. Ich selbst erweise ihm Respekt als großem Künstler. Meine Generation ist jedoch weit davon entfernt, in ihm unseren größten Meister zu sehen.“   Y. F. „Wie begründen Sie das?" „Dürer hat unbestreitbar viel Einfluß auf die deutsche Kunst gehabt, auch durch seine theoretischen Neigungen. Ich persönlich würde Grünewald weit höher einschätzen als Dürer, weil das Werk Grünewalds irrationaler ist. Darunter verstehe ich keinen romantischen Aspekt. Dürer war ein freier, bewundernswerter Forschergeist, doch nicht mit Leonardo zu vergleichen. Er lebte aus dem Geist der Renaissance und formulierte ihn. Aber auf mich heute wirkt er sehr akademisch und trocken – zuviel Grammatik, wenig Sprache. Seine moralische Integrität, seine eindeutige ethische Haltung bleiben unangetastet. Aber dieses Moment der Moral setze ich bei einem großen Künstler als selbstverständlich voraus. Es ist kein eigentlich künstlerisches Kriterium.“   Y. F. Spezifisch dem „Maler" Dürer spricht Mack – und damit steht er nicht allein – die höchsten Qualitäten ab. „Die Farbe hält die von Dürer erstrebte Monumentalität nicht aus. Ich schätze ihn als Graphiker und Aquarellisten viel höher ein. In den Aquarellen ist er naiv, spontan, unbefangen, frischer, lebendiger. Es fehlt jeder falsche Ehrgeiz. Hier hat die Farbe sinnliche Präsenz und ist wirklich malerisch empfunden. Typisch dafür erscheint mir das Blatt ‚Arco’. Es erinnert mich sogar an Cézanne. In Dürers eigentlicher Malerei hat dagegen die Farbe keine Primärbedeutung und wird überlegt in Kontrastflächen nebeneinander gesetzt. Es fehlt das, was Dürer selbst in Venedig nicht gesehen hat und was bei Giorgione so großartig ist: daß sich über das ganze Bild eine Farbtemperatur allen Farben gleichermaßen mitteilt.“   Y. F. „Nun, das kann man ihm, objektiv gesehen, als primär linear empfindendem Renaissance-Künstler – nach Wölfflins Definition – nicht übel nehmen. Auch Leonardo verdammt die Maler, die ‚die Reize der Farben gleich schönen Buhlerinnen für ihre Bilder werben ließen’“. „Ich bewundere, daß Dürer sich in Italien nicht überfahren ließ, daß er Selbstbewusstsein hatte. Er konnte Venedig als freier Mann wieder verlassen. Doch wenn es darum geht, zu werten und Dürer als universalen und größten deutschen Künstler auf den Olymp zu heben, sehe ich diese Universalität im malerischen Werk nicht. Die fast graphische Pinselführung verrät – wie die Liebe  zum Kleinen auch in der Graphik – die typisch deutsche Akribie.“   Y. F. „Dürer lebte in einer Zeit und einem Milieu des Übergangs von mittelalterlicher Befangenheit zur Weltoffenheit der Renaissance. Man spürt in seinem Werk die Entdeckerfreude, mit der er sich dem Diesseitigen, der Natur zuwendet, ohne dabei seine unerschütterliche religiöse Bindung preiszugeben." „Auch darin war er einer der deutschesten Künstler, in dessen Brust zwei Seelen wohnten: die Freizügigkeit, der Forschergeist des Erkenntnismalers mit dem offenen Blick für die Natur, andererseits die Aussage des Bekenntnismalers. Diese beiden Elemente in ihrer Spannungsrelation sind typisch für einen großen Teil der deutschen Malerei. Bekenntnismalerei wie Dürers Selbstporträt als Christus – das ist noch Joseph Beuys. Typisch für die gegenwärtige Kunst erscheint mir aber die Objektivation des Irrationalen; die Befangenheit im Subjektiven ist immer eine Schwäche.“   Y. F. „Diese Objektivität findet sich in hohem Maße doch gerade bei Dürer. Denken Sie nur an die realistischen Porträts und ihre scharfe Charakterisierung." „Das ist ein humanistisch-literarisch Aspekt, kein spezifisch malerischer. Trotz der Charakterisierung ist übrigens ihre Variationsbreite verhältnismäßig gering. Dürers Werk ist für mich – mit wenigen Ausnahmen – ohne Faszination, ist keine Quelle der Imagination, weil in ihm keine Imagination realisiert wurde.“   Y. F. „Sie reagieren sensuell?" „Ja. Ein Dürer-Bild muß man lange anschauen, weil es reich an Details ist. Dabei erkennt man, daß Natur unmittelbar in die Kunst übertragen wurde. Betrachte ich das Werk eines irrationalen Künstlers, vollziehe ich nicht eine Naturbeobachtung nach, sondern es öffnet meiner Imagination einen weiten Raum.“   Y. F. „Dürer ist Ihnen also zu real vordergründig?" „Vieles finde ich ausgesprochen banal.“   Y. F.„Das ist aus der Zeit heraus zu verstehen. Das Reale war das Neue, ein großes Felder der Entdeckung." „Das respektiere ich. Unsere moderne Welt wäre ohne die Renaissance nicht denkbar. Wir befinden uns aber nach wie vor in einem Prozeß der Emanzipation gegenüber der Natur.“   Y. F. „Sind Sie auch nicht beeindruckt von den großen Holzschnittfolgen, der Passion, der Apokalypse?" „Ich habe kein Verhältnis zum Holzschnitt. Ich halte ihn für eines der unglücklichsten Medien in der Kunst. Ein Holzschnitt erscheint mir wie das Gerippe eines vertrockneten Blattes, verholzt, hart. Als Linearstruktur mag das bei Dürer sehr schön sein, aber doch manieriert.“   Y. F: „Gerade die Apokalypse zeigt aber – im Vergleich mit der Kölner Bibel, die Dürer als Vorbild diente -, mit welcher Leidenschaft, mit welcher Dramatik er diese in Holz geschnittenen Bilder aufzuladen vermochte." „Es ist ein leidenschaftliches Pathos, das jedoch wieder in der Struktur erstickt und in unauflöslichem Widerspruch zur ‚Grammatik’ der Technik steht. Genial finde ich dagegen fast alle Zeichnungen. Sie sind expressiver, wie das Bild der Mutter Dürers, das die ganze Käthe Kollwitz vorwegnimmt. Oder auch das Selbstporträt mit 14 Jahren. Am meisten schätze ich persönlich die Landschaftsaquarelle und die spontanen Federzeichnungen, die für Dürer nur Skizzen waren. Auch die Kupferstiche – ‚Hieronymus’, ‚Melancholie’, ‚Eustachius’ – beeindrucken mich sehr, wo am meisten das Eingang findet, was ich das Irrationale oder die Imagination nenne.“   Y. F. „Hier liegt wohl auch der Ansatzpunkt für den starken Einfluß Dürers auf die heutige Wiener Schule des Phantastischen Realismus." „Sie ist für mich der Inbegriff einer modischen, anachronistischen, dekadenten Haltung. Im Vergleich dazu war Dürer ein hochgesunder Künstler. Sein moralisch und formal gefestigtes Werk verrät nichts von existentieller Selbstzerstörung.“   Y. F. „Dennoch lebt auch er in einer Zeit des Umsturzes. Denken Sie an den Prozeß seiner Schüler Jörg Pencz und der Brüder Beham, die 1524 wegen Verbreitung extrem anarchistischer, materialistisch-atheistischer und kommunistischer Ansichten angeklagt und aus der Stadt Nürnberg ausgewiesen wurden. Gerade Nürnberg war ein Sammelbecken solch radikaler Strömungen, die dann zu den Bauernkriegen führten. Dürer hat in seinem Bild der Vier Apostel – der Johannes trägt die Züge des Melanchtons – ein Bekenntnis seiner gegenteiligen Ansicht abgelegt, die den Wirrnissen Ordnung und Harmonie entgegenstellen." „Ja, Dürer ist durch diese Zeit – ähnlich wie später Goethe – mit großer Gelassenheit gegangen.“   Y. F. „Gerade im Augenblick dominiert wieder die Strömung eines Neuen Realismus in der Kunst der Gegenwart." „Die Gruppe Zéro hatte einen Neuen Idealismus auf ihr Programm geschrieben. Das war ein Missverständnis. Heute fühle ich mich völlig frei, und ich wünsche mir, daß mein Werk den Menschen daran erinnern könnte, daß es neben dieser von einem Extrem und einem Elend ins andere fallenden Welt eine Welt rein ideeller Natur gibt, die aber sinnlich erfahrbar, beglückend und problemfrei ist. Dieser Wunsch ist menschlich und künstlerisch begründet.“   Y. F: „Auch Dürer strebte nach der vollkommenen Schönheit und musste schließlich einsehen, daß sie sich durch keine Regel fassen und rational begründen ließ." „Ja, das Wort Dürers, er wisse nicht, was das Schöne sei, bestätigt ihn zuletzt als einen Künstler, der die Grenze der Rationalität und damit alle Endlichkeit des Diesseitigen erkannte. Da er der Künstler der deutschen Renaissance war, ist seine Erkenntnis besonders schicksalhaft.“   Y. F. „Sie plädieren für eine weitgehend abstrahierte, sensibilisierte Schönheit?" „Nun, ich gehe der Natur aus dem Wege, weil Ihre Schönheit etwas anderes ist als das Schöne in der Kunst. Insofern war die Renaissance-Schönheit, so schön sie auch war, ein Irrtum.“ In: Rheinische Post. Geist und Leben, 15. Mai 1971.  

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* Den Text ins Internet zu stellen, wurde freundlicherweise durch die Verlagsleitung der Rheinischen Post in Düsseldorf genehmigt. Das Copyright liegt weiterhin bei der RP.

Yvonne Friedrichs Kunstkritik: 1992 *

Drei Generationen – unter einem Dach vereint  (1992) Ausstellung des Westdeutschen Künstlerbunds im Landesmuseum Volk und Wirtschaft

„1945 – da werden Erinnerungen wach an das Ende der apokalyptischen Bombennächte, an die Rückkehr der Überlebenden in Trümmerstädte, demoralisierte Heimkehrer mit nichts in den Händen. Es blieb wenig Zeit, um über Ursache und Schuld nachzudenken, weil die elementarsten Bedürfnisse, ein Dach über dem Kopf zu haben, das Stillen des hungrigen Magens, die letzten Kräfte des gelähmten Lebenswillens forderten . . . Und doch werden diese ersten, wirtschaftlich von Unmoral, Sorgen und Resignation gezeichneten Jahre für den, der sie mitgemacht hat, unvergeßlich bleiben als eine später nie wieder erlebte Zeit beherzter kultureller Aktionen, leidenschaftlicher Diskussionen und nicht lahmzulegender Aktivitäten – allerorten . . . Was war das damals für eine aufregende Sache, einen Quadratmeter Leinwand oder Karton ergattert zu haben . . .“ Dies schreibt Thomas Grochowiak in seinem Katalogtext „Im Blick zurück“ auf die Gründerjahre des Westdeutschen Künstlerbundes. Vor solchem Hintergrund die 25. Hauptausstellung des 1946 in Hagen gegründeten Westdeutschen Künstlerbundes zu sehen, ist vielleicht gerade im Augenblick naheliegend. Sie wird erstmals außerhalb ihres Stammsitzes, des Hagener Karl Ernst Osthaus Museums, im Düsseldorfer Landesmuseum Volk und Wirtschaft am Ehrenhof gezeigt. Der neue Vorsitzende des Westdeutschen Künstlerbundes, Utz Brocksieper, will auch die nächsten, weiterhin im zweijährigen Turnus veranstalteten Hauptausstellungen in verschiedenen rheinisch-westfälischen Städten präsentieren. Die damit traditionell verbundene Verleihung des Karl Ernst Osthaus-Preises in Höhe von 10 000 Mark wird dann jeweils im Zusammenhang mit einer alternierenden Themenausstellung in Hagen vergeben. Im Westdeutschen Künstlerbund haben sich im damals neugegründeten Nordrhein-Westfalen Künstler zusammengeschlossen, die in dieser Region geboren sind oder dort leben und arbeiten. Auch Vorstand und Juroren setzen sich aus gewählten Künstlermitgliedern zusammen. Geschäftsführer ist der Direktor des Karl Ernst Osthaus-Museums, Michael Fehr. Knapp ein Drittel der 100 in dieser Jubiläumsschau vertretenen Künstlerinnen und Künstler, darunter 35 Gäste, wohnen im Rheinland, die anderen überwiegend in Westfalen. Die Schau wurde geschickt, locker gegliedert und in den nicht eben leicht „bespielbaren“ Räumen auf drei Etagen aufgebaut. Man kann sich auf jedes einzelne Werk ungestört einlassen. Ein gutes Niveau integriert Arbeiten von drei Generationen aus den letzten drei Jahren, und besonders die Jugend sorgt für manche Überraschung. Gleich eingangs im Vestibül begegnet man einer großen Landschaft in Acryl und Pastell von Ludmilla von Arseniew, in der sich systematisierende Strenge und informelle Spontaneität zur prickelnden Farbstruktur verweben. Rolf Noldens „Glasbogen“-Objekt aus gespaltenen Glasscheiben fasziniert durch seine grünschimmernde Lichttransparenz. In Wulf Noltes große abstrakt-expressive Landschaft „Rückblick auf Texel“ taucht der Blick ein in großflächig strömendes und doch in sich ruhendes atmosphärisches Grau, Blau, Schwarz und Weiß nordischer Melancholie. Gleich daneben suggeriert Margot Kerchners Wandinstallation „Orgelpfeifen“ aus Fließbandgummi, die sich gleichsam wie durch Luftgebläse ausdehnen, öffnen und schließen, visuelle Musik mit vollen und zurückgenommenen Tönen. „Inzucht“ nennt Victor Ronato seinen amüsanten Kreis aus igelartigen Stachelwesen, bestehend aus Roßhaarbürsten und einem Spiegel. Christina Hoppes kassettenartige Bodenplastik mit Deckel im Holz ist wie eine konstruktive Blume mit Holunderblüten gefüllt. In wilder, gestischer Vitalität stürmen die Farben durch Thomas Grochowiaks großartiges Tusche-Bild „Nach Mozart: Dies irae aus dem Requiem“. Oder sie fangen einen „Lichteinbruch“ auf in Sigrid Kopfermanns sprühendem Gemälde. Wie in Luft aufgelöst, schaukelnd im Wind, ein Medium der Phantasie, ist Günter Zins’ ganz immaterieller „Fliegender Teppich“ der Phantasie aus zarten Edelstahlstangen. Graphisch-linear, raumdurchlässig sind auch Utz Brocksiepers „2 Keile in Aktion“ aus roten Vierkantrohren. Unverkennbar die sich ganz dem Raum anvertrauenden feinen Blätter in Aquarell und Feder von Gabriele Grosse und der „Molekularkörper“ in eloxiertem Aluminium und Acrylglas von Karl-Ludwig Schmaltz. Mancherlei witzige illusionistische Täuschungen baute Silke Rehbert in ihr Mixed-Media-Objekt „Amphitrite trifft Flipper“ im Untergeschoß ein, wo auch Jens Christian Brand sein verspieltes, durch kleine Ventilatoren bewegtes „Triptychon für Carlos Gardel“ platziert. In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 11. September 1992.  

Schauer und Schönheit  (1992) „Zauber des Rheins“, zu sehen in Bonn und Koblenz

Wenn Ernst Moritz Arndt einst in napoleonischer Zeit den Rhein als „Deutschlands Fluß, nicht Deutschlands Grenze“ proklamierte, so kann das im Europajahr 1992 eine ganz neue Dimension einschließen. Dieser ins Übernationale verweisende Aspekt findet seine zunächst überraschende Bestätigung in einer nicht absichtslos gerade jetzt in zwei Museen der Region, dem Mittelrhein-Museum Koblenz und dem Rheinischen Landesmuseum Bonn, arrangierten Ausstellung. Ihr Titel „Vom Zauber des Rheins ergriffen ... Zur Entdeckung der Rheinlandschaft vom 17. bis 19. Jahrhundert“ entspricht ganz der Faszination, in die sie den Betrachter und auch den Leser der Katalogtexte verstrickt: sei es in Koblenz, wo niederländische Malerei, Zeichnungen, Graphik des 17./18. Jahrhunderts den Reigen des Rhein-Zaubers eröffnen, oder in Bonn, wo Klaus Honnef in sichtlicher Sammelfreude ein pittoreskes Ensemble von Gemälden, Aquarellen, Zeichnungen, Aquatinta-Arbeiten, Stichen, alten Photographien sowie Karikaturen vornehmlich britischer Künstler des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts zusammenstellte. Aber auch Reisekoffer und –kamera, Reiseapotheke und –farbkasten, eine Lampe zur Beleuchtung der Kutsche, ein Modell der belgischen Postkutsche von 1830 oder des Dampfschiffs „Friede“ von 1886 fehlen als greifbare Zeitzeugen nicht. Gleich eingangs wird der Besucher mit der vergrößerten Zeichnung des „karierten“ reisenden Engländers „Mister Pief“ mit Fernglas von Wilhelm Busch (1882) konfrontiert und mit Richard Doyles ironisierender Rheinzeichnung „The Scenery becomes mysterious“ (Die Szenerie wird mysteriös). Romantik ist angezeigt. Die Entdeckung der Rheinlandschaft für die Kunst ging keineswegs von den Deutschen, sondern von den Niederländern Ende des 16., Anfang des 17. Jahrhunderts aus. Auf den Bildungsreisen nach Italien wurde man auf die Schönheit und Phantastik des Rheins zwischen Köln und Bingen aufmerksam. Von Anfang an ging dieses Imaginäre, Märchenhafte und Sagenumwobene, das Stimmungsbetonte in Bilder mit Rheinmotiven ein, etwa von Roelant Savery, dem einstigen Hofmaler Rudolfs II. in Prag, der von 1617 an in Amsterdam und Utrecht wirkte, und dem von ihm beeinflußten Herman Saftleven. Selbst der andere Zweig niederländischer Landschaftskunst, die durch den Aufstieg Hollands zur Welt- und Handelsmacht hoch favorisierte und in berühmten Sammelwerken verlegte realistische Vedute, blieb vom Zauber des Rheins nicht unberührt. In Koblenz kann man sich in die atmosphärischen, ins traumhaft Zeitferne entrückten Blauräume der dennoch glasklaren und präzise dokumentierenden aquarellierten Federzeichnungen von Wenzel Hollar entführen lassen: von Boppard etwa, Ehrenbreitstein, dem Mäuseturm bei Bingen. Der Prager Künstler begleitete damals, 1636, den englischen Gesandten Arundel von Köln aus als Zeichner auf seiner Reise nach Wien. Selbst Böllerschüsse vom Festungsturm Engers zur Begrüßung des Schiffs-Konvois scheinen in verklärter Stille am menschenleeren Rheinufer zu verpuffen. Noch sanfter schmiegen sich Berge und Burgen in den braun-, grau- und blautonig lavierten Federzeichnungen von Lambert Droomer (1662) mit ihren rhythmisierten Schattenpartien in den Lichtraum seiner schon nicht mehr topographisch genauen kleinen Ideallandschaften mit reglosen Staffagefigürchen. Dem bürgerlichen Kunstgeschmack des 17. Jahrhunderts in den Niederlanden kamen dann besonders Herman Saftlevens phantastische, seit 1640/50 entstandene Ideal-Landschaften entgegen. Wie außerordentlich beliebt und populär der auch von dem Barockdichter Joost van den Vondel besungene Rhein als Kunstmotiv schon damals war, beweisen in Koblenz zwei sehr kleine Rheinlandschaften von Saftleven. Sie hingen in der „Kunstkammer“ eines holländischen Puppenhauses (um 1674/79), das sich heute im Centraal Museum Utrecht befindet. Daß selbst die Wirklichkeit phantastische Züge annehmen kann, verrät ein Kupferstich von Hendrik de Leth aus dem topographischen Werk „Gezichten längs den Rhijn ... von F.W. Grebe, Amsterdam, 1767“. Wie ein riesiger Lindwurm schlängelt sich auf dem Blatt ein Floß durch den Fluß. In einem Rheinreisebericht von 1789 wird es als „schwimmende Holz Insel“ von 1000 Fuß Länge, 90 Fuß Breite, mit zehn bis 13 geräumigen Hütten darauf beschrieben, die von 400 bis 500 Ruderknechten und Arbeitern bewohnt wurden. Wie extrem ist aber der Gegensatz zwischen den sublimen Zeichnungen von Vincent Laurensz van der Vinne und seinem haarsträubenden Bericht über die Beschwerlichkeit und Gefährlichkeit der auch ständig von Raubrittern und plündernden Soldaten bedrohten Rheinreise in damaliger Zeit! Das wurde im 19. Jahrhundert anders durch die Entwicklung der Dampfschiffahrt, später der Eisenbahn. Als 1816 der erste Dampfer „Prinz von Oranien“ von London nach Köln fuhr, dauerte die Reise von Rotterdam nach Köln nur noch knapp vier Tage. Und als 1827 die Preußisch-Rheinische Dampfschiffahrts-Gesellschaft den ersten regelmäßigen Personenverkehr zwischen Köln und Mainz startete, wurden schon im ersten Jahr über 18 000 Passagiere befördert. Ihre Zahl hatte sich zwei Jahre später verdoppelt. Fast die Hälfte davon – 16 000 Touristen – kam aus England. Die Reiselust der Bürger drängte die einstige Grand Tour der Gebildeten in den Hintergrund. Der Massentourismus hatte begonnen. Schauer, Schönheit, Erhabenheit von Natur, Historie, Sage, Traum, fast mystischer Übersteigerung. Ruinenromantik werden von den nach dem Ende der napoleonischen Kriege den Rhein bereisenden englischen Künstlern in wahren Bildwundern reflektiert: als Meister über allen William Turner. In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 19. September 1992.  

Als Anatol den Beuys heimfahren wollte  (1992) „Mit Haut und Haaren“ aus der Düsseldorfer Szene 1967 – 75 in der Kunsthalle

Ein Auftrieb, ein Menschengewimmel; fast wie einst war das. Viele waren gekommen und freuten sich ganz offensichtlich über ein Wiedersehen mit vielen bei der Eröffnung der Ausstellungen zum 25jährigen Jubiläum der Kunsthalle: der kleinen, aber inhaltsreichen, von Helga Meister engagiert als Rückblick auf die Szene der „Gründerjahre“ 1967 –1975 zusammengestellten Schau „Mit Haut und Haaren“ und der großen Präsentation „Avantgarde & Kampagne“, in der Arbeiten von 40 Künstlern mit Werbung konfrontiert werden. Trotz der Fülle war aber doch unterschwellig ein wenig Resignation und Enttäuschung zu spüren. Alles ist in diesen beiden ja eigentlich städtischen Ausstellungen Sponsoren zu verdanken. Schon in der Pressekonferenz hatte Jürgen Harten – real und auch im übertragenen Sinn – von der Brüchigkeit und dem dringend notwendigen Umbau des „Kunstbunkers“ gesprochen. Die 25jährige Kontinuität der Vielfalt – sei jetzt einer Verunsicherung gewichen. „Der international stärker gewordenen Kunst sind wir mit dem kleinen Haus, den geringen Mitteln nicht mehr gewachsen.“ „Glücklich verheiratet“ Karl Ruhrberg, der erste Direktor der Kunsthalle, mit der er „sieben glückliche Jahre (einschließlich der Verlobungszeit) verheiratet“ war, hält sie noch immer „für einen unentbehrlichen Fixpunkt auch international“. Was waren das doch noch für Zeiten in den Endsechzigern, als es vielfach keine Kunst war, Kunst zu machen, weil man eigentlich die Anti-Kunst wollte, und als im Beuys’schen Sinne „jeder ein Künstler war“. Ideen aber gab’s zuhauf. Die Kunstwerke selbst waren arm, bescheiden: arte povera. Sie verbargen dahinter doch oft ihre politische Brisanz im Wirtschaftswunderland. „Mit Haut und Haaren“ brachte man sich selbst ein. Alles wurde zum Happening. Vielleicht gibt gerade die dichte Enge des Ausstellungsraums den vielen Relikten jener Zeit wieder mehr Präsenz. Vieles haben damals ja immer nur wenige miterlebt. Selbst Insider werden nun so manches entdecken, das sie noch nie sahen. Katharina Sieverdings 1969 mit dem Photomaton gemachte riesige frontale Selbstporträts reißen suggestiv Zonen zwischen Bewusstem und Unbewusstem auf. In den beiden bemalten Gipsbüsten im Kasten von ihr selbst und Imi Knoebel erscheinen Beziehungen: zugleich maskenhaft erstarrt zu sein und sich doch in der Suche nach Identität zu finden. Sich selbst mit der Photographin Monika Baumgartl stellte auch Klaus Rinke in der Aktion „masculin-feminin“ auf der Tokio-Biennale 1970 aus als Personifikation eines Grundprinzips allen Lebens. Ausgeburten von Angstträumen gleichen oft Günter Weselers Atemobjekte aus Fell, wenn sie in Käfige eingesperrt sind, die ihren Lebens- und Atemraum beengen oder sie vielleicht auch schützen. Sind es festgenagelte Ängste, die Günther Uecker zeigt, wenn er sich unter eine mit Nägeln gespickte Schreibmaschine stellt? Der einst aus der DDR übergewechselte Künstler stellt auch seine „Kleine Revolution 1948 – 1948“ vor: einen Käfig, in dem Hammer, Sichel und roter Stern maschinell angetrieben rotieren. An einem mit Illustrierten bedeckten weißen Stuhl Ferdinand Kriwets „Walk-Talk“-Läufer und „Sehtexte“ verwirren als neuartige Seh-Schule, und Marcel Broodthaers, der in seinen fiktiven „Museen“ Kunst und Kultur in Frage stellt, schnitt aus einem Hundertmarkschein den Adler aus, um ihn als Symbol des Geistes über den Mammon triumphieren zu lassen. Handfester, greifbarer sind Anatols „Arbeitszeiten“, in denen er beispielsweise den Einbaum machte, mit dem er 1972 seinen von der Akademie vertriebenen Lehrer Joseph Beuys über den Rhein wieder dorthin zurückbringen wollte. Die rote Rose im Wasserglas war das Wahrzeichen von Beuys, als er 1972 auf der „documenta“ in Kassel über „direkte Demokratie“ debattierte und die „1 a gebratene Fischgräte“, das „Freitagsobjekt“, das der „Magier“ jener Zeit 1970 in der legendären Eat-Art-Galerie von Daniel Spoerri am Burgplatz ablieferte, mögen hier knapp den Radius seiner Arbeit vor und nach der Gründung seiner „Deutschen Studentenpartei“ abstecken. Der „Lidl-Klotz“, mit dem sein Schüler Jörg Immendorff im Januar 1968 vor dem Bundestagsgebäude demonstrierte als Inbegriff für die Proteste und Feste vor und in der Kunstakademie; Klaus Staecks bissige aggressive Plakat-„Anschläge“, Hans Peter Alvermanns süffisante Polit-„Schweinchen“ gehören zu den Scharfmachern der Schau. Scheren in den Wolken Doch welch magrittescher Witz in Robin Pages „Skyssors“: einer Schere, die in Vogelfedern endet und die Wölkchen im blauen Himmel eher streichelt als zerschneidet. Welch kindlich-raffinierter, erotischer Charme in den Bildern von Dorothy Iannone, die in „siebenjähriger Umarmung“ mit dem Schokolade-Künstler Dieter Roth verbunden war. Eine Rarität Fritz Schweglers „Ratat“-Koffer. Herrlich dieser „Pinselstrich“ aus Kuchenteig und Zuckerguß, ein Eat-Art-Objekt, in dem sich Roy Lichtenstein selbst über sein weltberühmtes Bild lustig macht. Und nicht zu vergessen Robert Filliou, der früh Gestorbene „Entertainer von Gedanken, der Fluxus-Künstler, Träumer und weiser Spieler und unerschöpfliche Poet“! In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 22. September 1992.  

Über Europas Grenzen schwingende Bögen  (1992) Zu den Ausstellungen Henry van de Velde in Hagen und „1910 – Halbzeit der Moderne“ in Münster

Es gibt Ausstellungen, die Einsichten in Zeitläufe vermitteln, Vergangenheit aufwirbeln, Zusammenhänge aufdecken. Das ist besonders eindringlich der Fall in der Schau „Henry van de Velde – Ein europäischer Künstler in seiner Zeit“ im Karl-Ernst-Osthaus-Museum Hagen. Mit der seit Jahren von Klaus-Jürgen Sembach und Birgit Schulte vorbereiteten Ausstellung wurde das Osthaus-Museum nach längerer Pause wiedereröffnet: nun mit seiner, soweit es möglich war, rekonstruierten, 1902 von Henry van de Velde geschaffenen Jugendstil-Innenausstattung. Vieles davon war zerstört worden, als nach Osthaus’ Tod (1921) dieses von ihm gestiftete private Hagener Museum Folkwang, das damals weltweit erste Museum für zeitgenössische Kunst, mit seiner berühmten Sammlung von den Erben 1922 nach Essen verkauft wurde. Das Hagener Gebäude war danach zu einem Bürohaus für das Kommunale Elektrizitätswerk umgebaut worden, bis man es von 1930 an wieder museal nutzte. Im Anschluß an Hagen, wo auch der von van de Velde zwischen 1906 und 1908 gebaute und eingerichtete „Hohenhof“, das Wohnhaus Karl Ernst Osthaus’, besichtigt werden kann, wandert die bedeutende Ausstellung in weitere mit dem Wirken van de Veldes verbundene Städte: nach Weimar, Berlin, Gent, Zürich und Nürnberg. In Hagen wird das immense vielgleisige Lebenswerk des Malers, Zeichners, Typographen, Architekten und Gestalters ganzer Inneneinrichtungen, des Entwerfers von Möbeln, Tafelsilber, Schmuck, Keramik, Porzellan und Textilien gezeigt – den frei über die europäischen Grenzen schwingenden Bögen und Stationen seines bewegten Lebenslaufs folgend. Parallel präsentiert das Westfälische Landesmuseum Münster die Schau „1910 – Halbzeit der Moderne. Van de Velde, Behrens, Hoffmann und die anderen“, mit vielen Architekturzeichnungen, -photos und -modellen, einer Flut von Plakaten, Werbegraphik, Design und kunstgewerblichen Objekten. Die beiden Katalogbücher tragen dazu bei, die Faszination und die Einsicht in diese folgenreiche Übergangszeit zu vertiefen. Der Hagener Katalog erschien im Wienand-Verlag (466 Seiten, zahlreiche, meist farbige Abbildungen, Preis im Buchhandel gebunden 98 Mark), die Münsteraner Publikation (240 Seiten, über 300 teilweise farbige Abbildungen, 38 Mark) bei Hatje. Frisiersalon und Textilmuster Die etwa 1000 Werke aus allen Schaffensbereichen des 1863 in Antwerpen als zweitjüngstes von acht Kindern eines Apothekers und Chemikers geborenen, 1957 in Zürich gestorbenen belgischen Künstlers Henry van de Velde sind in Hagen, ganz im Sinn auch von Osthaus, locker zueinander geordnet. Das aufregendste ist die Vitalität, die leidenschaftliche Expressivität, ja Dämonie, die unglaubliche Schönheit und Reinheit der Linie, die in van de Veldes Schöpfungen immer wieder begeisteren, sei es in einem Eßzimmerstuhl aus Haus Bloemenwerf (1895/96), seinem ersten selbstentworfenen eigenen Wohnhaus in Uccle bei Brüssel, in dem fast magischen, von inneren Energien getriebenen Schwung eines silbernen Kandelabers von 1898/99 aus dem Bröhan-Museum Berlin oder in der Ornamentik seines berühmten „Tropon“-Plakats aus „Pan“ von 1891. Schon in seinen frühen, in Antwerpen, Paris und Brüssel zwischen 1880 und 1893 entstandenen, von Seurat, Gauguin und van Gogh beeinflußten Bildern und Zeichnungen wird die Bedeutung der Linie offenbar. Van de Veldes Leidenschaft für die Linie wirkt fort, als er 1893, nach dem symbolistischen Bild „Engelwache“, die Malerei aufgibt und sich, tief beeindruckt durch die Schriften von John Ruskin und William Morris und ihre Arts- and Crafts-Bewegung, ganz der angewandten Kunst und der Architektur zuwendet, um stärker und direkter durch Kunst in die Gesellschaft zu wirken. In Weimar gründete und errichtete van de Velde 1907 das Institut für Kunstgewerbe und Kunstindustrie als Vorläufer des Weimarer Bauhauses und baute das jüngst restaurierte Nietzsche-Archiv. Man sieht aus diesen Jahren zum Beispiel ein Kompartiment aus dem luxuriösen Frisiersalon Hardy in Berlin (1901), Textilmuster-Entwürfe für Krefeld, die Weimarer Wohnungseinrichtung Graf Kesslers (1902), Photographien seiner Weimarer Bauten, auch die in ihrer Sparsamkeit bezaubernden, nicht ausgeführten Entwürfe für den Umbau des Weimarer Museums. Dazu hinreißend profilierte Silberschalen, -tabletts, -terrinen, weich fließende Reformkleider. In der Weimarer Zeit (1902 – 1917) entstanden auch seine ersten Theaterentwürfe (1903) für die Schauspielerin Louise Dumont, die, bevor sie nach Düsseldorf ging, in Weimar ein „Mustertheater“, ein Festspielhaus wie in Bayreuth, errichten wollte. Sie fielen, wie auch seine Pläne für das Pariser Théâtre des Champs Elysées (1911), Intrigen zum Opfer. Allein sein in der horizontalen Gliederung fein rhythmisierter Theaterbau der Werkbundausstellung von 1914 in Köln wurde realisiert. In zweckmäßiger Strenge Auch die Jahre nach van de Veldes kriegsbedingter Emigration in die Schweiz (1917) sind vor allem durch architektonische Projekte ausgefüllt. Zunächst seine Planungen für das Museum Kröller-Müller in Holland, das infolge der Inflation erst 1936 in sehr reduzierter Form gebaut werden konnte. In der Zeit seiner Berufung als Professor für Architektur nach Gent und Leiter der Hochschule für Angewandte Kunst in Brüssel (1925/26) fallen unter anderem der Bau der Universitätsbibliothek Gent sowie die belgischen Pavillons auf der Weltausstellung in Paris (1937) und New York (1939), die nun allerdings in zweckmäßiger Strenge der Zeit ihren Tribut zollen. Sein letztes Lebensjahrzehnt hat van de Velde, längst weltberühmt und bis zuletzt an seinen Memoiren schreibend, „in einer weniger verpesteten Atmosphäre“ auf dem Land in der Schweiz verbracht. In: Rheinische Post. Feuilleton, 24. September 1992.  

Die geometrischen Strukturen wachsen wie Organismen  (1992) Frantisek Kyncl stellt für das Kunstmuseum eine große plastisch-malerische Rauminstallation im Kunstpalast am Ehrenhof aus

Wie Kunst einen Raum verwandeln kann, wenn sie für ihn gemacht oder auf ihn bezogen ist, kann man jetzt in Halle 5 des Kunstpalasts am Ehrenhof wahrnehmen. Dort zeigt Frantisek Kyncl (geboren 1934 in Pardubice, Tschechoslowakei), der schon nach dem „Prager Frühling“ 1968 nach Düsseldorf kam, seine bisher schönste Ausstellung in dieser Stadt. Sie wird vom Kunstmuseum veranstaltet, betreut von Stephan von Wiese, und geht anschließend – in einer ersten Museumskooperation – ins Haus der Kunst der Stadt Brünn. Auch der von Winfried J. Jokisch gestaltete Katalog ist zweisprachig. Die ganze Schau ist eine einzige, vielteilige und erstaunlicherweise erste große Rauminstallation Kyncls, der in Düsseldorf nach Ausstellungen auf der IKI (1972), in Galerien, in der Kunsthalle (1977) und im Kunstverein (1982) kein Unbekannter ist. Kyncl, zugleich Plastiker und Maler, behauptet allerdings, daß er keins von beiden sei. Technik, Material sind für ihn nicht ausschlaggebend. Wesentlich ist für ihn eine Struktur von Dreieck und Tetraeder, von der er geradezu besessen ist und die schon seit 1966 die alleinige Substanz seines Schaffens darstellt. Sie wurde zur Keimzelle, aus der jedes seiner Werke wächst. Wohlgemerkt: nicht als rationale, serielle Konstruktion nach Plan, sondern – und das ist das Besondere an Kyncl – sie entsteht in geduldiger, geradezu liebevoller Handarbeit wie Organismen. Deshalb sind Kyncls Arbeiten, seien sie nun zwei- oder dreidimensional, niemals starr. Sie dehnen sich aus in der Fläche, wenn nötig weiter und weiter, sie wachsen in den Raum und lassen den Raum in sich hinein. „Ich weiß nicht, was herauskommt, ich fange einfach an“, sagt Kyncl. „Das wächst weiter wie in einem Kindertraum, ins Unendliche.“ Sind das wirklich Konzepte oder nicht eher Prozesse, die sich in diesen Arbeiten manifestieren? Geht man um die transparenten Objekte herum, so bewegt und verändert sich auch das Liniendickicht in ihrem Innern. „Das ist wie Gras“, meint Kyncl. Von effektvoller Kinetik hält er nichts. In der Mitte des großen, nüchternen Raumes sind die aus filigranen Strukturen entwickelten plastischen Objekte teils an vom Boden zur Decke gespannten, sich fast unmerklich bewegenden Gummiseilen aufgehängt, teils stehen und liegen sie auf dem Boden: Kuben, rechteckige Elemente, Stelen, unregelmäßige Gebilde. Alle sind sie eigenhändig aus Bambusstäbchen gebaut. An den Treffpunkten der ineinandergreifenden Module wurden die Stäbchen mit Pattex oder Zwei-Komponentenkleber fixiert und diese Knotenpunkte dann leicht mit Ölfarbe übermalt. Das ergibt ein lyrisches punktuelles Farbspiel in den grazilen linearen Verzweigungen der entweder naturbelassenen oder schwarz, zuweilen weiß gestrichenen Stäbchen. Manche dieser plastischen Elemente werden öfters wieder verändert, wie ein schwarzer Würfel, den Kyncl 1972 begann und bei dem er nun das Innere herausgerissen hat. Das Ganze wirkt schwebend leicht, verleiht dem kahlen Raum einen Anflug von Charme. Die gleichen leichten Unregelmäßigkeiten handwerklicher Arbeit wie in den Objekten nehmen auch den malerischen Arbeiten die Trockenheit von Rastern. Es sind Prägedrucke, bei denen Stäbchen in das feuchte, dicke Papier gedrückt wurden. Über einem mit der Rolle eingefärbtem Grund sind die gereihten Linienstege der ineinandergreifenden Tetraeder wieder von anders getönten Pinselzügen begleitet. Das Wechselspiel der Farben mit den Linienstrukturen ist reizvoll, hat vielerlei Nuancen. Und die Kreuzungspunkte der Linien werden auch malerisch betont. Wie gewachsen schaut das aus, und es macht Freude, mit den Augen darin spazieren zu gehen. Bestimmend sind aber auch Monochromien von Bildergruppen, die wechselweise den Ton angeben und somit Akzente im Raum setzen: ultramarinblaue oder rote, schwarze (mit rosa Grund), purpurne, grüne. Besonders vielseitig ist das Gespräch der Farbtöne untereinander und mit den Strukturen in den reinen Zeichnungen. Rhythmus und Klang steuert als Hintergrund auch eine von Kyncl selbst zusammengestellte Musik bei. Er hat darin Radiomusik auf Band aufgenommen, die er in Intervallen immer wieder abschaltete und so ebenfalls strukturierte. Die schöne Ausstellung, die mit Fremdmitteln finanziert wurde (darunter vom Institut für Auslandsbeziehungen), ist die erste, die das Kunstmuseum in diesem Jahr im Kunstpalast veranstaltet, da dafür kein Etat zur Verfügung stand. Eine gelungene Sache. In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 7. Oktober 1992.  

Sonnenblumen flattern  (1992) Maler Adolf de Haer, ausgestellt in Kaiserswerth

Heute vor 100 Jahren wurde der Düsseldorfer Maler Adolf de Haer (1892 –1944), einer der bedeutendsten Vertreter des rheinischen Kubo-Expressionismus, geboren. Mit einer verdienstvollen Ausstellung ehrt das 1991 eröffnete „Museum Kaiserswerth“ im Schulgebäude Fliednerstraße 32 den Künstler, der seit 1936 in Kaiserswerth wohnte und arbeitete. Dort wird auch der Nachlaß von seiner Nichte, Melitta Ficher, betreut, den die Galerie Remmert und Barth erst vor knapp einem Jahrzehnt der Verborgenheit entriß. Ihre 1985 gezeigte Ausstellung mit frühen Arbeiten de Haers war eine kleine Sensation. Die jetzige Schau wird auf Initiative des Heimat- und Bürgervereins veranstaltet. Dessen Vorsitzender Wilhelm Mayer ist zugleich Leiter des privaten Museums Kaiserswerth, das er mit großem Engagement begründete. Er wurde unlängst dafür von der Hans-Maes-Stiftung ausgezeichnet. Der gebürtige Düsseldorfer Adolf de Haer war schon in jungen Jahren fest entschlossen, Maler zu werden. Sein Rüstzeug erwarb er als Stipendiat an der hiesigen Kunstgewerbeschule (bis 1914), bevor er zum Kriegsdienst eingezogen wurde. Im Sommer 1917 konnte er einige Monate bei Adolf Hölzel in Stuttgart studieren, um sich bei ihm mit Grundgesetzen von Farbe und Form vertraut zu machen. 1919 gehörte de Haer in Düsseldorf zu den Gründungsmitgliedern des „Jungen Rheinland“ und zum Kreis der Johanna Ey. Er engagierte sich auch im „Aktivistenbund“. Schon 1919 stellte er im „Graphischen Kabinett“ von Dr. Hans Koch aus. Die Städtischen Sammlungen kauften im gleichen Jahr sein Bild „Menschen“ an, einige Jahre später unter anderem auch sein „Damenbildnis“ und ein Porträt seines Malerfreundes Werner Gilles. Gleichzeitig mit seiner Ausstellung im „Ey“ 1921 war er mit Abbildungen im ersten Heft der Zeitschrift „Das junge Rheinland“. Obwohl de Haer schon Mitte der zwanziger Jahre die kubistisch-expressionistische Abstraktion aufgegeben hatte, gehörte er in der Nazizeit zu den Verfemten. Auch aus dem Düsseldorfer Kunstmuseum wurden Bilder von ihm entfernt. Seine große Zeit – und das wird besonders in dieser Kaiserswerther Ausstellung deutlich, in der auch Arbeiten der dreißiger und vierziger Jahre zu sehen sind – war eindeutig die zwischen 1919 und 1921. Das Ensemble der drei großen Bilder „Maler und Mädchen“ (1919), „Mädchen mit Blume“ (1919) und „Zwei Sonnenblumen“ (1924) zeigt ihn auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Die straffe kubistische Komposition der beiden figürlichen Gemälde ist doch voller emotionaler Spannkraft. Fast dramatische innere Erregung deutet die grün-gelbe, von Licht durchflutete Hautfarbe des Manns und der beiden Mädchen an. Traumhafte Versunkenheit spricht aus den Farben – blauem Haar, gelbem Kleid, gelber Blüte – des „Mädchens mit der Blume“ vor abstraktem Farbengrund. Von kubistischen Zwängen befreit, flattern dagegen die drei Jahre später entstandenen Sonnenblumenblätter im Bild. Eine Übergangssituation zwischen Expressionismus und Impressionismus markiert das große Porträt „Cellist Flieger“ (1925). Das „Stilleben mit Tisch und Stuhl“ von 1929 bewahrt die spontane Frische des impulsiven Pinselstrichs und der Farben, ebenso manche impressionistisch wirkenden Blumenstilleben von 1928/29. Charaktervoll, realistisch auch ein Bildnis wie „Frau Heinen (mit Vogelbauer)“ (1928). Schlicht und gesammelt selbst noch das „Selbstbildnis mit Buch“ von 1935 und das Porträt des Bildhauers Fritz Peretti. Doch was dann später kommt an Blumenstilleben und weiblichen Akten, macht verständlich, warum Adolf de Haer in der Versenkung verschwand. Der Schock der Verfemung von 1937 war offenbar zu stark. Großartig sind aber auch die frühen kubistisch-expressiven Holzschnitte wie etwa das farbig aquarellierte „Mädchen“ von 1919 in seinem herben Lyrismus, das der „Brücke“-Kunst nahe steht, oder „Im Atelier“ von 1920 und „Erhebung“ (1921). Nicht zu vergessen Radierungen und Lithographien, wie „Porträt am Fenster“ (1923) und „Gasse“ (1920) aus dem „Buch Eins des Aktivistenbundes 1919“. Im ganzen sind 70 Arbeiten zu sehen. Adolf de Haer ist 1944, nachdem er zum Volkssturm eingezogen worden war, in einem Lazarett in Osnabrück an Lungenentzündung gestorben. In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 29. Oktober 1992.  

Worte, die im Raume schweben Ausstellung der Arbeiten von Robert Barry in der Galerie Bugdahn und Kaimer

Der 1936 in New York geborene, in Teaneck/New Jersey lebende Amerikaner Robert Barry gehört zu den ersten Konzeptkünstlern und zur gleichen Generation wie Sol Lewitt oder Kossuth. Das Verzeichnis seiner internationalen Einzelausstellungen seit 1964 ist beachtlich. Die renommiertesten Galerien und Museen haben sich für ihn interessiert. Viermal war Robert Barry auf der Kasseler „documenta“ vertreten. Jetzt hat er in der Düsseldorfer Galerie Bugdahn und Kaimer (Mühlenstraße 3) ein eigens auf diese Räume abgestimmtes neues „Wallpiece“ gemacht: ein Wandstück also. Doch diese Übersetzung kommt der Sache nur ungefähr nahe, denn was Barry dort in gelber Latexfarbe mittels Schablonen auf die Wand und die Decke gemalt hat, ist ebenso raum- wie flächenbezogen. Es sind einzelne Worte, die da im Raum zu schweben scheinen. Nicht etwa brav in Zeilen oder Kolumnen, sondern horizontal, vertikal und schräg in allen Himmelsrichtungen locker über die Wände verteilt, die sie übergreifend zu verbinden scheinen. Ja selbst der obere und der untere Raum, die Treppe werden sozusagen zusammengeschlossen. Man hat den Eindruck von ins Räumliche ausgeweiteter „visueller Poesie“: jener Anordnung von Worten und Sätzen in Büchern, die das Zeilenschema durchbricht. Robert Barry wehrt ab: „Ich bin Visualist, nicht Poet.“ Dennoch gibt er zu, daß die Bedeutung der Worte wichtig ist. Nicht im anekdotischen Sinn, sondern als „reine Worte, reine Konzepte“. Jedes Wort habe seine eigene Geschichte und solle nicht in Relation zu den anderen stehen. Und wirklich: jedes suggeriert ein Gefühl, eine innere Bewegung, einen Gedanken, einen Bewußtseins- oder Gemütszustand. Jedes läßt aber auch etwas offen, das der Betrachter vervollständigen muß. Fixiert und freigesetzt Nur einige seien genannt: Somehow / Remember / Could be / Try / Each one / Look / Listen / Changing / Almost / Please / Beyond / Given / Ourselves / Another / Wait / Together / Doubt / Chance / Alone / Coming / Later / Only one / Loved / Please / could be … (irgendwie, erinnere, es könnte sein, versuche, jeder, sieh, lausche, wechselnd, nahezu, bitte, jenseits, gegeben, wir selbst, ein anderer, warte, zusammen, Zweifel, Chance, allein, Kommend, später, nur einer, geliebt, bitte, kann sein ... Mit den Worten scheinen alle diese Gefühle und Bedeutungen im Raum zu stehen. Sie werden durch das geschriebene Wort gleichzeitig angeregt, fixiert und freigesetzt in der Phantasie des Betrachters. Wie viele Gedanken und Empfindungen bewegen und durchdringen einander doch in einem Raum, in dem sich ein Mensch aufhält. Robert Barry setzt in seinen „Wallpieces“, die er schon seit dem Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre macht, einen Kontrapunkt zur Architektur, zum rein Konstruktiven. Er öffnet darin einen spirituellen, immer anders gestimmten Raum, auch in der Farbe, und dabei läßt er sich immer von der gegebenen Situation anregen. Hier wollte er, auch in dem lichten Gelb, etwas Freudiges, Helles machen. Freilich sind seine „Wallpieces“, sofern sie nicht von Museen oder privaten Sammlern angekauft werden, temporäre Erscheinungen, ähnlich wie Performances. Auch das Raumkonzept in der Galerie Bugdahn wird nach Ende der Ausstellung zerstört. „Für mich sind die Wände wie verschiedene Seiten eines Buches. Jede ist anders“, meint der Künstler. Barry macht auch Projektionen von Worten, Lichtworten, im dunklen Raum, die kommen und gehen wie das Licht in der Zeit. Oder er projiziert Dias, etwa einen einzelnen blauen Kreis oder einen roten Punkt, auch einzelne Porträts. Für Rudi Fuchs in Eindhoven und für die „documenta“ 1982 erfand er „Soundpieces“ (Klangstücke). Begonnen hat er als Maler, gab aber Mitte der Sechziger die Malerei 20 Jahre lang auf. Robert Barry ist auch Photograph. Am liebsten porträtiert er seine Freunde und Galeristen. In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 21. Oktober 1992.

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*Die Texte ins Internet zu stellen, wurde freundlicherweise durch die Verlagsleitung der Rheinischen Post in Düsseldorf genehmigt. Das Copyright liegt weiterhin bei der RP.

Elisabeth Büning-Laube zum 10. Todestag, Teil 2

Zum 4. Januar 2015: Freundinnen, Freunde, Weggefährten erinnern sich

Gepa Klingmüller: Gedanken zum 10. Todestag von Elisabeth Büning-Laube

Meine Erinnerung spiegelt unsere Begegnungen in lebhaften Farben – auch noch den Tag ihrer letzten Lesung eigener Gedichte in der Goethe Buchhandlung am Dreieck. Es war ihr bevorzugter Lebensraum, da war sie bekannt und kannte jeden – im Blumengeschäft oder in der Bäckerei, in der Kirche den Organisten oder den Obdachlosen mit den „Fifty-Fifty“-Zeitungen unten an der Straßenecke. Jeder teilte seine Freuden, Erfolge und Enttäuschungen mit ihr. An dem Abend ihrer letzten Lesung war Elisabeth fast elegant gekleidet – schwarz – ungewöhnlich für sie und ihre sonst so unbekümmerte Art, mit besonderen Gelegenheiten umzugehen. In ihrem langen Kleid wirkte sie blass und schmal – und – auch sehr ungewöhnlich – sie wirkte verhalten, in sich gekehrt. Die Lesung verlief fast andächtig: So, wie sie ihre Gedichte vortrug, schien jedes einzelne Wort im Raum stehen zu bleiben – nachzuklingen für immer.   Der Horizont kleidet sich blau Morgenrot durchfließt die stille Frühe Durchflug der Vögel setzt Zeichen Meine Augen halten das Bild eine Sekunde an Danach zerfließt alles in ein neues großes Geheimnis.   Bald konnte ich Elisabeth nur noch im Hospiz besuchen. Sie brauchte nun die nötige Pflege, fand dort Ruhe und ein Gefühl der Sicherheit. Von dort aus fuhr ich sie im Rollstuhl in den nahe gelegenen Park. Sie wollte in der Natur und unter Menschen sein und freute sich über jede herzlich-besorgte Begrüßung. Wir waren uns erstmals bei einer ihrer Lesungen im Schnabelewopski begegnet – unserem zweiten „literarischen Zuhause“. Hier trafen sich Lyriker, Prosaisten, aber auch Zuhörer, die ein Gespräch über Literatur suchten. Elisabeth Büning-Laube war nur eine unter vielen Poeten, aber sie wurde begrüßt als „beachtete Literatin“. Lebhaft, temperamentvoll, kämpferisch und charmant zugleich, wandte sie sich dem Einzelnen ganz zu, um besser zu verstehen, teil zu nehmen, aber auch um zu fördern oder zu beraten. Immer interessiert und – sehr belesen – war Elisabeth kritisch, direkt und schlagfertig zugleich. Im „Schnabel“ gestaltete sie auch selber Lesungen – ihre eigenen und die anderer – wie für mich oder für uns beide zusammen. So lernten wir uns kennen und schätzen. Ich war überrascht von ihrem freien und selbstbewusst-lockeren Umgang mit jedem, dabei war sie voller Neugier für alles, was Gedanken an Poesie anklingen ließ. Elisabeth hatte eine ganz eigene, einfühlsame Art, ihre Gedichte vorzutragen. Bei einer unserer Lesungen empfand ich solche Freude daran – wie ihre geschriebenen Worte wieder Klang wurden – dass ich hineinrief: „Das ist es – geschriebene Worte klingen lassen – wie aus Noten Musik – kommt alle in mein Atelier – da können wir lesen – so lange und so oft wir wollen!“ Und sie kamen – auch Elisabeth Büning-Laube kam – so entstand „Lesen im Atelier“. Nach ersten Treffen nahm sie uns mit in ihren Salon. Der „Literatur – Kultur – Salon Elisabeth Büning-Laube“ war etwas Besonderes. Sie lud Schreibende ein, ihre eigene Lyrik oder Prosa in einer Lesung vorzustellen – ernste bis heiter-humorvolle, aber auch eigenwillig-originelle. Alle hatten eine eigene Sprache in Inhalt, Form und Aussage – so wurde jede Lesung erfrischend ungewöhnlich. Elisabeth gelang es immer, eine Atmosphäre von gegenseitigem Verständnis zu schaffen. Jede/r Lesende fühlte sich angenommen und – auf der Suche nach dem eigenen Ziel – verstanden. Dabei war ihre kritische Offenheit verblüffend und herausfordernd. Meinungsverschiedenheiten gab es oft, sie wurden diskutiert und von ihr mit Scharfsinn hinterfragt. Auf diese Weise gingen wichtige Impulse von ihr aus.   Zu jeder Lesung gehörte auch eine Ausstellung von Bildern – auch ihrer eigenen, denn Elisabeth hat auch selber gemalt. Lieder wurden mit Klavierbegleitung vorgetragen. Bald mussten die Stühle enger gerückt und der Pausenkuchen kleiner geschnitten werden. Es gab auch immer etwas zu helfen: Stühle schleppen, servieren, was als Stärkung für die Pause bereit stand oder den Vortragsraum wieder in einen bewohnbaren Zustand versetzen. Danach saßen wir an einem großen runden Tisch, oft um das Aquarium mit vielfarbig schimmernden kleinen und großen Diskusfischen, um den Ablauf der letzten oder nächsten Lesung zu besprechen.   Elisabeth führte die Gäste auch gerne auf ihren Balkon. Er bot durch Blüten und Kletterpflanzen den Ausblick in die von hohen Häusern eng begrenzte „Weite“. Die Mauern wurden unsichtbar, denn die vielen Fensterscheiben reflektierten das Sonnenlicht in unzählige Blumentöpfe, Blüten und Ranken. Sie liebte es, aus der Hinterhofkargheit nicht nur eine Hinterhofidylle, sondern ein blühendes Wunder entstehen zu lassen – ihre „hängenden Gärten der Semiramis“. Trauer künden die grauen Steine der großen Stadt Der Frühling sprengt ihr hartes Echo und aus dem gebrochenen Fels der Häuser bricht mit Macht ins Graue die lichte Narzisse.   Die Begrüßung der Zuhörer verlieh den Lesungen einen festlichen Anklang: Für Elisabeth – als Moderatorin – war es „ihr Auftritt“ auf dieser kleinen eigenwilligen Literatur–Kultur–Bühne, für die Zuhörer eine Überraschung, denn sie trug dann einen großen Hut. Der letzte war aus rosaroter Organza-Seide mit ebenso zarten rosaroten Blüten besetzt. Dieser zauberhafte Seidenhut verlieh ihrem dunkelroten Haar und dem schmalen Gesicht zarte grün-farbige Schatten. Er ließ die kleine Gestalt viel größer erscheinen – so groß wie ihre Träume: Kunst, Musik – und vor allem der Dichtung – Raum zu geben zur freien Entfaltung und – zur eigenen Lebensfreude. Wie oft hat sie zu mir gesagt: „Wir sind alle auf dem Weg – Du musst ihn nur mit Freude gehen.“   Engel fallen selten sie fliegen – Fallen sie, fallen sie sehr leise wie frischer Schnee den wir erst spüren wenn er unsere Haut zerfließend berührt. Es scheint Engel zu geben die werden immer lichter in ihrer Liebe zum Menschen. Ständig wachsen in mir bewegte widerspenstige Gedanken die ihn erschüttern Mein Engel hat es sehr schwer ich bin so leicht dass mich der leiseste Wind entführen kann. Bald schenkt er mir Flügel.   Ihre Gedichte sind ihrem Leben abgelauscht – aus der Tiefe ihrer sicherlich oft schmerzlich erworbenen Erfahrung herausgehoben – Anklänge einer gesuchten und gefundenen inneren Harmonie. Sie öffnen den weiten Horizont einer intensiv durchlebten Gedankenwelt von zarter Poesie bis hin zu kraftvoller Dynamik. Sie öffnen ein Spektrum von fein empfundener Lyrik – geschrieben aus Freude und Schmerz. Und doch klingt immer ein Hauch von Humor in ihren Zeilen mit, als wollte sie sagen: „So ist es eben – das ist das Leben – oder hast Du gedacht, Du wirst ins Paradies geboren? – Das musst Du dir schon selber erst ‚er-leben‘ – aber dann ist es voller Wunder.“ Das etwa waren ihre Worte – so hat sie gelebt – sehr einfach und bescheiden. Unscheinbares hat sie als beachtenswert wahrgenommen, um dann das für sie einzig Richtige entschieden zu tun – es hervorzuheben. Dabei verfügte sie über ein feines Gefühl für Qualität und Werte besonderer Art. Auch wusste sie noch, was Krieg und Frieden bedeuten. Sie ließ keinen Zweifel an ihrer Haltung für ein friedliches, menschlich-positives Miteinander aufkommen.   Gemeinsam standen wir Tuch an Tuch gegen Kriege in eisiger Kälte die unsere Kleidung zerbiss Als eine Fürbitte um den Heiligen Geist für Saddam über das Pflaster am Rathaus rollte Wusste ich wie vergeblich unser Ruf nach Frieden nicht vergeblich unser Streben.   Elisabeth Büning-Laube hat uns ihre Idee vom freien Denken und selbstbewussten Leben vorgelebt. Sie war in mancher Hinsicht wegweisend. In der Erinnerung begegne ich ihr mit herzlicher Dankbarkeit: Sie hat mich – und wahrscheinlich auch andere – „auf den Weg gebracht“. Es war ihre Idee, dass ich meine Lyrik und Prosa im „Kultur-Haus-Berlin“ vorstellen durfte. Sie veranlasste auch, dass ich in der von ihr als Herausgeberin kreierten Buchreihe „KunstLive“, Edition XIM „Virgines“, vier Bild-Gedicht-Bände veröffentlichen konnte. Seither folgten zahlreiche eigene Lesungen. Und – „Lesen im Atelier“ ist heute noch sehr „lebendig“.   Seit dem Tod von Elisabeth Büning-Laube hat sich die literarische Szene in Düsseldorf weiter entwickelt. Sie gleicht heute einem dichten Netzwerk mit immer neuen Impulsen – auch der jüngeren Generation. Dazu hat Elisabeth Büning-Laube durch ihre Anregungen und Initiativen unvergessen beigetragen. [Die Gedichte von Elisabeth-Büning-Laube sind „KunstLive“ Band 13 „Farbbogen“ – Anthologie – entnommen. Herausgeberin Elisabeth Büning-Laube, Edition XIM „Virgines“, 1. Auflage 2003.]  

Konstanze Petersmann

  Wenn der Tag verweht und die Schatten wachsen der Vogel im rauschenden Lied ist verstummt, Sterne murmeln : außerhalb, ... in fernsten Nebelauen – ein schweigender Kreis; dort schwebt die Feder über das Wasser, versinkt die köstliche Perle darin, ... im Lichtkegel sehe ich drei finstere Fenster im Turm; dahinter spiegelt sich die Rose im Venezianischen Rot auf dem Fächer, ... auf den Wegen liegen Erinnerungen – im versiegelten Quell   Ich erinnere mich an Elisabeth Büning-Laube. Wir, Elisabeth Büning-Laube und ich, begegneten uns auf der Ebene des „Kleinen Prinzen“ – das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. Wiederum lebte sie und sprach durch ihre Fantasie. Ihre Kreativität gab ihr den sicheren Mut, meiner Lyrik eine gute Zukunft vorauszusagen. Sie war Herausgeberin meiner ersten Gedichte in der Edition XIM Virgines Düsseldorf. Den Salon-Gedanken der Salonnière Büning-Laube griff dann mein Ehemann ein Jahr nach ihrem Tod auf. Im Jahr 2006 setzte ich diese Anregung in die Tat um, zusätzlich inspiriert durch die Salonnière, Schriftstellerin und Hofrätin aus Danzig, Johanna Schopenhauer, die Mutter des großen Philosophen Arthur Schopenhauer, die mit ihrem bürgerlichen Salon die Anlehnung an den Musenhof der Anna Amalia zu Weimar suchte. In Dankbarkeit erinnere ich mich an Elisabeth Büning-Laube, deren Vorname ‚Elisabeth’ im Babylonischen heißt: Eli si beti: Unser Gott ist sieben (Vater, Mutter = Sonne, Mond und die fünf Planetenkinder). Der Kreis schließt sich, denn die Sieben war die Glückszahl von Elisabeth Büning-Laube, wie sie sich selbst zum siebenjährigen Bestehen ihres Salons im Jahr 2003 bei einem Interview gegenüber der WZ äußerte. Januar 2015  

Frank Schmitter: Zartheit und Zähigkeit. Meine Erinnerungen an Elisabeth Büning-Laube

Ich war bereits über 40 Jahre alt und als Schreibender ein Kind. Ein Kind, das die Haustür ganz vorsichtig öffnet und erste Gedichte an Internet-Zeitschriften schickt wie die „Federwelt“, ein immer noch existierendes Periodikum, das der an intellektueller Langeweile leidende Zivildienstleistende Titus Müller gegründet hatte. Er, der mittlerweile arrivierte Schriftsteller, druckte 1999 meine ersten Gedichte und erwähnte, dass eine Düsseldorfer Malerin, Autorin und Förderin junger Talente bald seinen ersten Gedichtband publizieren würde. Ob ich nicht … Und ob. Ich schickte ihr einen Stapel meiner Gedichte, und sie meldete sich und sagte, dass sie sich da etwas vorstellen könne in ihrer Verlagsreihe. Und schickte damit das Kind in den Himmel.

Monate danach lud sie mich in Düsseldorf – ich glaube, ins Theatermuseum – zu einer Lesung gemeinsam mit Elisabeth Hoheisel und Titus Müller, deren Bände in der Reihe "KunstLive" bereits erschienen waren. (Erst nach jener Lesung unterschrieb ich den Vertrag mit dem Verleger Georg Aehling und wäre, wenn das technisch überhaupt möglich wäre, noch vom Himmel weiter aufgestiegen.)

Bei dieser Gelegenheit sah ich sie zum ersten Mal, diese körperlich so zarte Person, mit einer Vorliebe für farbige Kleidung und extrovertierte Hüte. Ein Vogel, dem man instinktiv wünschte, nicht im nächsten Augenblick von der Katze Welt gerissen zu werden. Aber damit unterschätzte man sie. In dieser Person steckte eine Beharrlichkeit und Überzeugungskraft, die kaum einer von hundert besitzt. Sie hatte im Leben zu viel gesehen und zu viel durchlitten, um sich von ihrem Kurs abbringen zu lassen. Elisabeth Büning-Laube tat, was sie tun wollte und das war das, was sie einfach tun musste. Sie wusste sehr wohl, dass mancher im Kulturamt und in anderen Institutionen auf sie, die nie studiert, die nie künstlerisch-literarisch wirklich „reüssiert“ hatte, mit saturierter Überheblichkeit herabblickte. Sie vertraute ihrem gesunden Menschenverstand, sie vertraute sich selbst. Sie bildete sich ihre Meinung und äußerte sie. Nie vorsätzlich verletzend, niemals opportunistisch oder berechnend, aber klar und eindeutig. Sie war Widerstands-fähig.

Und sie besaß noch eine weitere, so seltene Charakterqualität: Sie förderte nicht andere, um im eigentlichen Sinne sich selbst zu promoten. Sie lud nicht andere Lyriker ein, um ihre eigene Lyrik zu lesen oder auf ihre Bilder zu zeugen. Ihr Salon, ihr Einsatz für andere AutorInnen war kein Deal. Sie gab, ohne gleichzeitig nehmen zu wollen.

Ich sah sie danach nur noch ein einziges Mal, bei einer Lesung in ihrem legendären Salon. Ich las meine Gedichte direkt nach einer Punkband, als die Fensterscheiben noch zitterten und den Zuhörern die Ohren klingelten. Egal. Ihre Wohnung platzte schier aus den Nähten, aber in dieser drangvollen Enge gediehen Kontakte und Gespräche.

Wir blieben in Kontakt, notgedrungen auf Distanz, weil ich in München lebte und lebe. Sie brachte noch zwei weitere Titel von mir in ihrer Reihe in der Edition XIM Virgines. Dann hörte ich über Georg Aehling von ihrer schweren Erkrankung und schrieb ihr einen langen Abschieds- und Dankesbrief. Aber noch einmal trug ihre ungewöhnliche Zähigkeit den Sieg davon, wenngleich es ein temporärer Sieg blieb. Sie kehrte aus dem Hospiz in ihre Wohnung zurück. Das passte zu ihr: Selbst der Tod hatte ihre Kraft unterschätzt, nicht für lange, aber doch für einige Monate.

 

Ellinor Wohlfeil: Erinnerungen an Elisabeth Büning-Laube

Elisabeth Büning-Laube – mit Dankbarkeit denke ich an die Zeit zurück, in der wir gemeinsam mein erstes Buch herausgegeben haben. Sie hat ihm den Titel gegeben „Verwässerte Zeugnisse“ und es in ihrer Reihe KunstLive veröffentlicht. Inzwischen heißt es „Kein menschlicher Makel – weder gestern noch heute“. Der Verlag 3.0 in Bedburg hat es neu aufgelegt. Es war schön, mit Elisabeth zu arbeiten. Sie ist mit mir den ganzen Text durchgegangen, sehr einfühlsam, zurückhaltend, fast ein bisschen schüchtern mit Respekt vor der Autorin. Sie wollte mir nicht irgendetwas aufzwingen. Wir haben alles gemeinsam besprochen und wir verstanden uns auf einer tieferen seelischen Ebene, waren wir doch beide Opfer des Nationalsozialismus. Ich habe viel von ihr gelernt und ihre Anregungen und gelegentliche Kritik waren für mich sehr wertvoll. Ich zehre noch heute davon. Ihre Persönlichkeit habe ich immer bewundert. So klein und zierlich sie war, verfügte sie doch über eine starke innere Kraft und Energie. Mit großer Intensität widmete sie sich ihrer Arbeit, sei es der Salon, ihre eigene schriftstellerische Tätigkeit oder der Umgang mit den Menschen, die sie fördern wollte, so wie mich. Ein Erlebnis, das so typisch für Elisabeth Büning-Laube war, ist mir besonders im Gedächtnis geblieben: Es war an einem heißen Sommertag. Da ich keine Termine hatte und auch nicht damit rechnete, dass jemand mich zu sprechen wünschte, ging ich zum Unterbacher See schwimmen. Ich kam gerade pudelnass aus dem Wasser, als mein Handy klingelte. Elisabeth Büning Laube war es. „Wo stecken Sie denn?“ hörte ich ihre Stimme sagen. „Am Unterbacher See schwimmen.“ „Wieso gehen Sie schwimmen, wenn Sie ein Buch herausbringen wollen? Nun kommen Sie mal ganz schnell hierher, aber vor 14 Uhr, danach bin ich nicht mehr da.“ So schnell bin ich noch nie zum Bus gerannt. Als ich um Viertel vor Zwei an ihrer Wohnungstür stand, empfing sie mich mit einem strahlenden Lächeln. Was damals so eilig sein musste, weiß ich gar nicht mehr genau. Aber so war sie, sie gab alles für die Dinge, die sie sich nun einmal vorgenommen hatte, und die ihr Leben ausfüllten. Und sie gab auch alles für ihre Überzeugungen. Als vor Jahren am Bahnhof Wehrhahn eine Gruppe von jüdischen Flüchtlingen aus Russland angegriffen wurde und eine Frau zu Tode kam, ging sie noch Tage später zu der Stelle und legte Blumen nieder. Trotz ihrer angegriffenen Gesundheit stellte sie sich bei schlechtem Wetter zu einer Demonstration gegen Rechts auf den Rathausplatz. Dinge, die ich auch hätte tun sollen und auch tun wollte, aber aus Bequemlichkeit dann doch unterlassen habe. Sie tat es. Elisabeth Büning-Laube – ich habe sie geliebt und verehrt und ich vermisse sie!  

Yvonne Friedrichs Kunstkritik: 1993 *

Als dänische Künstler in Düsseldorf studierten (1993) „Malerei auf Bornholm“ im Stadtmuseum

Unter dem Patronat von Prinzessin Benedikte von Dänemark, einer Schwester der dänischen Königin, steht die Ausstellung im Stadtmuseum „Malerei auf Bornholm“. In ihr wird erstmals die vom besonderen Licht, von der reizvollen Landschaft und ihren Menschen angeregte moderne Malerei dieser Insel außerhalb von Dänemark gezeigt. Anlaß ist der 100. Geburtstag des Bornholmer Stadtmuseums, das aus diesem Grund einen Neubau bekommt und deshalb zur Zeit geschlossen ist. So konnten 40 Bilder aus der Zeit zwischen 1840 und 1950 nach Düsseldorf reisen. Welche Überraschung! Es sind auch Werke von zwei dänischen Malern darunter - A.E. Kieldrup (1827-1869) und Viggo Feuerholdt (1832-1883) -, die im 19. Jahrhundert an der Düsseldorfer Kunstakademie studierten. Museumsdirektor Wieland König nahm dies zum Anlaß, ein Forschungsprojekt über den Einfluß der Düsseldorfer Malerschule des 19. Jahrhunderts in Dänemark in Gang zu setzen. Ebenso will man versuchen, die Sammlung moderner und „entarteter“ Kunst des vor den Nazis nach Bornholm mit seinen Bildern emigrierten Hannoveraner Kunsthändlers Herbert von Carvens wieder in einer Ausstellung zusammenzubringen. Es ist zu hoffen, daß im Gegenzug auch Düsseldorf in dem Bornholmer Museumsneubau eine Ausstellung mit in dieser Stadt entstandenen Bildern zeigen kann. Das Inselmuseum hat nicht nur eine beachtliche Sammlung unter anderem von prähistorisch-geologischen, naturhistorischen, keramischen, ethnographischen Objekten aufgebaut, sondern auch eine große Kollektion von Gemälden, Skulpturen, Graphiken, Kunsthandwerk, die alle auf Bornholm entstanden oder mit der Insel eng verbunden sind. Obwohl immer vom europäischen Kontinent, seinen Schulen und Stilen beeinflußt, bewahrten sie, besonders in der Moderne, viel Individuelles. Die Bornholmer Inspiration Schon im 19. Jahrhundert suchten immer wieder Künstler die abgeschiedene Insel Bornholm auf. Hat doch ihre Ostküste, ähnlich wie Skagen, das intensivste Licht in ganz Dänemark. Immer wieder bildeten sich Künstler-Kolonien. Die dänische Kunstgeschichte verzeichnet sogar seit 1911 eine „Bornholmer Schule“ oder „Bornholmer Inspiration“. Die frühen in der Ausstellung vertretenen Gemälde stehen freilich noch ganz unter dem Einfluß des europäischen Klassizismus und der deutschen Romantik. Amüsant ist das 1843 entstandene Gemälde „Die Malerschule in Göteborg“ des in Bornholm geborenen Lars Hansen. Ausschließlich junge Mädchen (!) zeichnen hier nach Gipsmodellen, darunter Thorvaldsens „Leier spielendem Amor“, auf den sich die ganze Aufmerksamkeit der jungen Kunststudentinnen konzentriert. Der Bornholmer Landschaft wendet sich A.E. Kieldrup in seiner 1849 gemalten romantisch-idealistischen Ansicht von „Hammershus“, einer der größten mittelalterlichen Burgruinen Dänemarks auf Bornholm, zu. Vor dem Motiv hat er nur die Skizze gemacht und dann, getreu den Richtlinien der Düsseldorfer Malerschule im Atelier das Bild aus Einzelbeobachtungen in der Phantasie komponiert: Schon in erstaunlich lichten Plein-air-Farben. Auch Viggo Fauerholdt fängt das besondere Licht Bornholms in seiner Klippenlandschaft bei Gudjem an der Bornholmer Ostküste ein (1857). Bahnbrecher der Moderne Winzig ist die Rückenfigur des Hirten in Georg Emil Liebens grandiosen, dramatischen „Randkloven“ (Randklippen) einer gewaltigen Felsschlucht auf Bornholm. Der gebürtige Bornholmer Kristian Zahrtmann (1843-1917) wurde dann, zusammen mit anderen Kollegen in Kopenhagen, zum an Paris orientierten Bahnbrecher der Moderne und Überwinder des Akademismus. In seiner Nachfolge hielt auch auf Bornholm, wo 1911 bis weit in die 20er Jahre hinein auf Christansö eine Künstlergruppe bestand, die Moderne Einzug. Cézanne und der Kubismus formten nun auf eigenwillige Weise den Stil ihrer Landschafts- und Figurenbilder, ihrer Porträts. Sie sind die eigentliche Überraschung dieser Ausstellung. Gestisch und formstreng zugleich ist das Porträt von Bertha Brandstrup (1914) des mit Dänemark eng verbundenen Schweden Karl Isakson, während er in einem Stilleben (1916-1918) oder einer „Ansicht von Gudhjen“ (1921) und dem „Friedhof von Christansö“ (1921) mit der zarten, schwebend leichten Lichttransparenz von Farbflächen mit kubistischem Einschlag spielt. Ein temperamentvoller, oft ekstatischer Pinselstrich zeichnet Edvard Weies „Selbstporträt“ (1910/15), seinen „Waldweg Christansö, Morgen“ aus oder seinen „Entwurf für eine romantische Phantasie“ (um 1921). Zahrtmannschüler wie Weie war auch Olaf Rude, der ständige Sommergast auf Bornholm. Streng in farbige kubistische Flächen geschichtet ist seine „Schwarze und weiße Frau“ von 1918. Farbflächen schaffen Farbräume in seinen späteren abstrahierten, doch stimmungsreichen Landschaften („Frühlingsmorgen, Allinge“. 1941). Weitere in großen vereinfachenden Farbflächen und Schichten aufgebaute Gemälde sind auch Niels Lergaards herbe Porträts und Landschaften, die schlichten Bilder von Claus Johansen und die fast informellen, das Gegenständliche nur als Vorwand für Farb- und Lichtschimmer nehmenden Malereien von Oluf Möst. In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 3. März 1993.  

Wie Wölkchen im Wind  (1993) Doppelausstellung Poncar/ Minnich im Kunstverein

Für seine erste Ausstellung als neuer Direktor des Kunstvereins für die Rheinlande und Westfalen hat Raimund Stecker das Oberlicht seiner Räume in der Kunsthalle mit weißer Gaze abgeschirmt. In solch gefilterter, wie schwebender Atmosphäre kann die gelungene Doppelschau mit Bildern von Bernd Minnich und Photographien von Jaroslav Poncar ihre Reize ganz entfalten. Bei beiden Künstlern geht es gleichermaßen um Weite, um Raum, um das Abgehobene, um eine Dimension, in der das Reale, Faßbare zu entgleisen scheint, fast aufgesogen wird eben von diesem Raum, gegen den es sich gerade noch behauptet. Die Einsamkeit des Menschen zwischen Erde und Himmel empfindet man besonders in den Panorama-Photographien des 1945 in Prag geborenen Jaroslav Poncar aus West- und Ost-Tibet, dem Karakorum, den Himalaya-Gebieten – Ladakh, Nepal – sowie Burma und Südjemen. Bernd Minnichs großformatige Gouachen auf Holz, Papier oder Schaumstoff (1990 – 1992) sind gegenüber solch erhabenem, schweidendem, fast reglos in sich ruhendem Ernst ein heiterer, bewegter Aufschwung, ein Sich-Lösen von irdischen Bindungen und materiellen Zwängen. Es sind Bilder in lichten, zarten Farben – Rosa-, Gelb-, Orange-, Hellgrün-, Zartblau- und Grautönen, in die sich wie eine Ahnung Gold- und Silberabglanz mischt. Minnichs wie in Sphärenräumen schwebende lyrische Klangfarben wirken als abstrakte, flüchtige Farb-Erscheinungen und -Bewegungen im weißen Raum, wie Ahnungen oder Erinnerungen. Frühlingshaft wirken sie wie Wölkchen oder Schleier im Wind, wie schöne Träume und Spuren von Glück. Der gebürtige Hamburger Bernd Minnich (1941) ist nach seinem Studium der Kunstgeschichte, Archäologie und Geologie in Hamburg und dem Kunststudium an den Akademien in Braunschweig und Düsseldorf seit 1990 Professor für Freie Malerei an der Kunsthochschule Braunschweig. Er lebt in Düsseldorf. Jaroslav Poncar ist seit 20 Jahren Professor für Photoingenieurwesen an der Kölner Fachhochschule. Bekannt wurde er nach zahlreichen Expeditionen durch seine Dokumentationen buddhistischer Wandmalereien im Tempel von Alchi (Ladakh), zusammen mit Professor Goeppner, dem ehemaligen Direktor des Museums für Ostasiatische Kunst in Köln. Auf Anregung von Josef Sudek hat er sich seit 1976 der Panorama-Photographie zugewandt und ist seitdem, allen Tücken seiner russischen Panorama-Kamera zum Trotz, immer tiefer in die Feinheiten dieses schwierigen Metiers eingedrungen. Mit seiner hinten mit einem Schlitz sowie mit einer Wasserwaage versehenen Panorama-Kamera kann man ohne Verzerrungen einen optischen Blickwinkel von 120° erfassen. Trotzdem müssen die von links bis rechts scharfen Aufnahmen noch im Labor den letzten Schliff bekommen. Für die grandiosen, weiten Landschaften Tibets, des Himalaya oder etwa des Jemen ist die Panorama-Photographie das ideale Medium, Poncars Schwarzweiß- und Farbphotographien mit ihren einerseits subtilsten Binnenstrukturen, andererseits dem großartigen Pathos der Landschaft, ihrer matten, weichen Tonigkeit und gleichzeitig dramatischen Helldunkel-Kontrasten sind ein Erlebnis. So lassen die Aufnahmen des Lake Manasarovar, des dunklen, heiligen Sees in West-Tibet, erschauern, die Klarheit auch, die ungeheure Einsamkeit zwischen Himmel und Erde in der Bergwelt im Quellgebiet des Indus in West-Tibet oder der märchenhaft-illusionistische, zwischen Wasser und Land verspiegelt schwebende „Goldene Tempel von Amritsar“. Dann wieder das zwischen wandernden Wolken in dünner Luft über wogende Berggipfel huschende Licht einer Landschaft wie auf einem fernen Planeten einer Landschaft in Tibet oder die Majestät einer Lehmhochhäuserstadt im Südjemen. In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 18. März 1993  

Kraft aus heimischen Bräuchen  (1993) Lateinamerikanische Kunst im 20. Jahrhundert / Ausstellung in Köln

„Lateinamerikanische Kunst im 20. Jahrhundert“ – diese chronologisch nach Stileinflüssen, nicht nach Ländern gegliederte, klar die wesentlichen Aspekte herausstellende Schau ist zur Zeit in zwei Etagen der Kölner Kunsthalle zu sehen. Für Europäer ist das Obergeschoß der eigentliche Ort der Begegnung. Dort schreitet man von geradezu atemberaubend packenden Sektionen der Pioniere der Moderne – unter dem Einfluß von Kubismus, Futurismus, Expressionismus, Surrealismus – aus Mexiko, Uruguay, Argentinien und Brasilien zu einer eigenen, gewachsenen, selbst in den 20 lateinamerikanischen Staaten nicht homogenen Kunst. Über die bekannten sozial engagierten „Mexikanischen Muralisten“ Orozco, Rivera und Siqueiros führt der Weg zu konstruktivistischen, neo-konkreten und op-artistisch-kinetischen Tendenzen. Im Untergeschoß sind dann Neu-Figuratives, Pop-art und unmittelbar zeitgenössische Installationen untergebracht. Gleich zu Anfang wird man konfrontiert mit der Vielfalt individueller künstlerischer Reaktionen junger, aus der akademischen Tradition lateinamerikanischer Länder ausbrechender, seit etwa 1910 nach Europa strömender Künstler. In den von Temperament und Farben sprühenden, naiv-spontanen Bildern des Argentiniers Alejandro Xul Solar, der in München Klee und Kandinsky kennenlernte, vermischen sich konstruktive und mythische altindianische Traditionen mit kubistischen und expressionistischen zu vielschichtigen Aussagen („Heiliger Tanz“, „Welt“, „Nana Watzin“, 1923 – 1925). Zeigt schon Diego Riveras kubistisches „Porträt Martin Luis Gazmán“ von 1915 einige folkloristisch-brasilianische Elemente, so ist sein „Tag der Blumen“ von 1925 geradezu eine Beschwörung heimischer Bräuche. Allenthalben besinnt man sich in den zwanziger Jahren auf die eigene Herkunft. In Brasilien ruft der Dichter Oswald de Andrade in seinem „Anthropophagischen Manifest“ dazu auf, die europäischen avantgardistischen Strömungen dem eigenen afroindianischen Kulturgut „menschenfresserisch“ einzuverleiben. Einzigartig und im Ausdruck überwältigend gelingt das der Brasilianerin Taarsila do Amaral in ihren monumental deformierenden und vereinfachenden tropisch-vegetativen Bildern; darunter „Abaporu“, „Die Negerin“ und „Anthropophagia“. Renaissance der Wandmalerei Auch die engagierte, in der Mexikanischen Revolution von 1910 wurzelnde „Renaissance der Wandmalerei“ seit den zwanziger Jahren ist in diesen alten Kraftquellen begründet, die den Menschen durch die Kunst wieder bewußt werden sollen; besonders bei Diego Rivera in seinen schlichten Darstellungen des bäuerlichen Lebens, während David Alfaro Siqueiros in düsteren Menschenbildern Leiden und Unterdrückung der Armen von einst und jetzt ins Unheimliche steigert und José Clemente Orozco die Grausamkeit und den Terror schildert, denen sie ausgeliefert sind. Die intimen Kabinette für Maria Izquierdo und Frida Kahlo, die in ihrer traumhaften Melancholie, ihrem zum Bild geronnenen Schmerz zum Bewegendsten der Ausstellung gehören, leiten über zu den eigenartigen Versionen eines lateinamerikanischen Surrealismus, wie er vor allem durch die von André Breton mit initiierte große Internationale Surrealistenausstellung in Mexiko-City 1940 Impulse erhielt. Die erotisierten, durch schweifende Linien in Schwingung versetzten Räume des Chilenen Matta und die von Picasso nicht unberührten, aus geheimnisvollen Vorstellungen und Ritualen afro-kubanischer Glaubensvorstellungen erwachsenen Visionen von Wifredo Lam, dem Sohn chinesischer und afro-kubanischer Eltern, sind in großartigen Bildbeispielen vertreten. Unter den mancherlei Varianten eines teils spielerischen (Arte Madi), teils streng-konkreten Konstruktivismus bezaubern vor allem die Bilder und reizvollen Holzkonstruktionen des in Uruguay geborenen Pioniers des lateinamerikanischen Konstruktivismus Joaquin Torres-Garcias, in denen sich die geometrische Grundstruktur der präkolumbischen Kunst erzählerisch und nicht ohne Humor mit stilisierten Figuren, Zeichen und Zahlen verbindet. Die vorgeführte Op-Art und Kinetik, darunter von Soto, Cruz-Diez und Le Parc, durch die sich Lateinamerika seit den sechziger Jahren international profilierte, ist uns geläufig; auch der Kolumbianer Fernando Botero mit seinen prallen, die aufgeblasene Gesellschaft ironisierenden Figurenbildern oder Marisol aus Venezuela mit ihren in bemalte Holzklötze gebannten Figuren. Für die lebhafte Gegenwartskunst, die sich freilich von der europäischen kaum unterscheidet, hätte man sich lieber eine eigene Ausstellung gewünscht. In: Rheinische Post. Feuilleton, 19. März 1993.  

Neben dem Licht wartet das Dunkel, und das Blühen ist auch Tod  (1993) H. Hödickes Ausstellung „Berliner Ring / Gemälde und Skulpturen 1975 – 1992“ des Kunstmuseums im Kunstpalast

Karl Horst Hödicke ist einer der wesentlichen Künstler unserer Zeit. Mit Herzblut getränkt sind Hödickes in der ganz banalen Umweltwirklichkeit aufgelesenen Bilderlebnisse und doch immer zugleich Symptom, Vision. Ein seherischer Blick hat sie gleichsam durchleuchtet, hat in ihnen das Zeichenhafte aufgespürt. Aufgescheuchte, geheime Bewegkräfte der Zeit scheinen in ihnen sichtbar zu werden. Und das grenzt sich keineswegs auf der Ebene des Sozialkritischen oder Politischen ein. Auch der Titel seiner jetzigen, aus Berlin kommenden Ausstellung „Berliner Ring – Gemälde und Skulpturen 1975-1992“, die das Kunstmuseum im Kunstpalast am Ehrenhof zeigt, stellt dies wieder unter Beweis nach der vor sieben Jahren in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen ausgerichteten Hödicke-Retrospektive. Gegenüber Berlin hat sich zwar die Zahl der großformatigen Bilder auf 30, die der Skulpturen auf eine einzige reduziert. Doch die großräumig placierte Schau hebt die geniale, im Impuls ungemein sichere, sparsame, selbst in der Expressivität jedes Zuviel vermeidende Pinselführung um so eindringlicher hervor. K. H. Hödicke (geboren 1938 in Nürnberg), „Vater“ der aus der 1964 gegründeten Galerie Großgörschen 35 hervorgegangenen Berliner Malergruppe der „Neuen Expressiven“ (vertreten unter anderem durch Koberling, Middendorf, Salome bis hin zu Hella Santarossa und Elvira Bach), lebt seit seinem Studium bei Fred Thieler in Berlin, ist dort Professor an der Hochschule der Künste und Mitglied der Akademie der Künste. Die geteilte Stadt, dieser Brennpunkt des Zeitgeschehens, wo Hödicke immer noch sein Atelier in der Dessauer Straße hat - ganz nahe der ehemaligen Zonengrenze in einer verödeten Niemandslandschaft -, erscheint wirklich wie ein „Ring“, der auch sein eigenes Denken ein- und umschließt. Das Aufregende und Bestürzende an seinen Bildern ist ja diese Gleichzeitigkeit des Gegensätzlichen, das sie vermitteln. Das Schöne, Leben, Lust, Begeisterung und Freiheit sind zugleich Schmerz, Trauer, Melancholie, Sterben. Neben dem Licht wartet das Dunkel, Blühen ist auch Tod. Offenheit und beklemmende Enge schließen einander fast aus. Man vergißt sie nicht, diese traumatischen Stadtlandschaften von 1973/75 („Der Himmel über Schöneberg“), deren Häuserschluchten den („versilberten“) Himmel wie einen Gefängnishof einmauern. Welche Perversion: Dieses „Feuerwerk über dem Alexanderplatz“ (1982) hinter den gespenstisch vom Dunkel ausgehöhlten Silhouetten des Brandenburger Tors neben tristen Plattenbauten. Menschen sind nicht zu sehen. „Fluchtfuß“ (1985), riesig über dem Grünstreifen fliegend-fliehend in schwarzer Nacht, mit leuchtenden Blutspuren auf der Sohle. Oder die angstvoll-lustvolle „Vertreibung“ von 1981, der Sprung an das rettende andere Ufer. Das Brandenburger Tor immer im Visier auch des inneren Auges über die „Wüste Gobi“: unpathetisch, fragil, Relikt der Erinnerung, ins Dunkel getaucht. Die verfremdend grellen Farben der „Quadriga“ und die vergänglichen, sich versprühenden Feuerwerksblumen erscheinen über dem „Flammenden Tor“ als Bühne der Leidenschaften, der Schmerzen, Trauer und Hoffnungen. Das Bild der „Mütter“ dann im Golfkriegsjahr 1991, die den toten Sohn auf ihrem Schoß tragen, die Pietà aller Zeiten in einer unendlichen Reihe: Leiden, das sich in Linien ausdrückt, in fahlem Rosa, entschwindendem Blau. Durchscheinend ist das Bild wie der in den Körpern eingefangene leere weiße Raum. Aufgereiht auch die Frauen im „Polenmarkt“ (1990) wie Puppen, durch deren weiße, gleichförmige Maskengesichter schmerzhaft zurückgestaute menschliche Not bricht. Wie Lampions, vielleicht aber auch wie vertropfendes Blut sind sie aufgehängt vor schwarzem Grund, die rotleuchtenden Fuchsienblüten und –knospen, angeregt durch Fuchsienhecken in Irland. Kaum intensiver als vor diesem vierteiligen Bild könnte man erleben, wie schmerzhaft das Schöne, wie tödlich das Blühen sein kann. „Hecke (wo sind die Heckenschützen?) Rot wird so leicht glutrot so blutrot so feuerrot durch Schwarz“ hat es K. H. Hödicke genannt. In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 6. April 1993.  

Ringen gegen Hemmnisse – ein Künstlerleben lang  (1993) Malerin Julie von Egloffstein im Goethe-Museum

Für die außergewöhnliche Schönheit und die große künstlerische Begabung ihrer Tochter Julie, die am 12. September 1792 in Erlangen geboren wurde, hatte die Mutter, Henriette Gräfin von Egloffstein, eine plausible Erklärung. Während sie dieses - ihr drittes - Kind unter dem Herzen getragen habe, sei sie durch Italien gereist und habe dort von der Natur und der Kunst überwältigende Eindrücke empfangen. Das Leben der Julie von Egloffstein (1792-1869), „Goethes Zeichnerin“, ist Thema einer bezaubernden Ausstellung im Goethe-Museum, die aus dem Hildesheimer Roemer-Museum kommt als Ehrung zu ihrem 200. Geburtstag. Bewegliches Temperament Die Zeit der Klassik, der Romantik und des Biedermeier gewinnt in dieser Schau mit Gemälden, Aquarellen, Zeichnungen, Lithographien, Handschriftlichem und in ihrem schönen Katalog greifbar menschliche, ja persönliche Konturen. Im Milieu, in den wechselnden Schauplätzen, in den Porträts, Landschaften, Genrebildern, in Person und Lebensweg der Künstlerin selbst reflektiert sie immer zugleich Weite, Größe, Zielstrebigkeit, Tatendrang, schwärmerische Entdeckungsfreude und ein bewegliches Temperament, die doch alle den Rahmen des Angepaßten nicht sprengen. Dieser bleibt durch Erziehung und Standesbewußtsein gewahrt und hemmte die künstlerische Entfaltung Julie von Egloffsteins lebenslang. Und dies, obwohl sie von Jugend an eine professionelle Künstlerlaufbahn anstrebte, immer unvermählt blieb, um sich in damals ungewöhnlicher Hingabe für eine Dame von Rang dieser Aufgabe zu widmen und jede Gelegenheit ergriff, sich malerisch-zeichnerisch und auch in der neu aufkommenden Lithographie weiterzubilden. Weimarer Künstler wie Haller von Hallerstein und Heinrich Meyer, Georg Kersting in Dresden, Heinrich Christoph Kolbe, Karl Stieler oder Overbeck in Rom, Peter Cornelius, Dillis in München, an der Düsseldorfer Akademie (1837) Louis Ammy Blanc, Schadow, Hübner, Lessing gehörten zu ihren Lehrern und Vorbildern. Nicht zuletzt auch die alten Niederländer und Raffael, Guido Reni, Correggio, Rubens. Goethe, ihr großer Förderer und Verehrer am Weimarer Musenhof, war es, der sie „seine glückliche Zeichnerin“ nannte. War sie es wirklich? Nach den Jahren in Weimar (1816-1828), wo sie unter dem Scherznamen „Julemuse“ zusammen mit Ottilie von Pogwisch („Tillemuse“), Adele Schopenhauer („Adelmuse“) und der Schwester Caroline („Museline“) zum Freundeskreis des „Musenvereins“ gehörte, brach sie fast fluchtartig zu einem zweijährigen Rom- und Italienaufenthalt auf, weil sie ihr Amt als Großherzogliche Hofdame zuletzt als „wahre Höllenpein“ empfand und Behinderung ihres Schaffens. Die Bilder der Ausstellung spiegeln ihre zahlreichen Reisen, die Schauplätze ihres Wirkens, ihrer Erfolge und Anerkennungen auch in Ausstellungen: Reisen nicht nur in die deutschen und italienischen Kunstmetropolen, sondern auch nach England, in die Schweiz und die Niederlande, ebenso die Zeiten idyllischer Zurückgezogenheit im Forsthaus Misburg bei Hannover, im fränkischen Stammsitz Schloß Egloffstein und zuletzt im Klostergut Marienrode bei Hildesheim. Besonders anmutig in der subtilen Schwerelosigkeit sind die lichtdurchwobenen, meist lavierten, teils auch aquarellierten Graphit- und Bleistiftzeichnungen ihrer Rheinromantik-Reise von Mainz bis Köln 1816. Voller Charme und Frische, auch souverän in der Zusammenschau und dem Detailreichtum die gezeichneten Ansichten von Schloß Egloffstein (1814) oder aus der Umgebung von Weimar, während die Architekturzeichnungen aus dem antiken Rom zum Teil etwas angestrengt, die eigenhändig lithographierten Genreszenen aus Italien indes grazil und technisch perfekt wirken. Meisterhaft in der zupackenden Erfassung von Wesen und Charakter sind Porträtzeichnungen wie die von August von Goethe (Kreide, Bleistift, aquarelliert, um 1830) oder von der gealterten Charlotte von Stein (um 1825, hier als Kreidelitho). Unter den großen, repräsentativen Ölporträts gefällt besonders das romantisch-empfindsame Selbstbildnis von 1822 vor dem Hintergrund der fränkischen Landschaft mit Burg Egloffstein oder das prachtvolle, in seiner Ausstrahlung von hoheitsvollem Glanz und Faszination der Farben, kostbarer Stofflichkeit und weiblicher Schönheit unübertreffliche Bildnis der Therese, Königin von Bayern (1836). Gestellt und unlebendig wirkt dagegen die „Sitzende Dame auf der Terrasse“ (um 1833), und auch die Goethe-Porträts können nicht überzeugen. Daß sich aber die kinderlose Königin Adelheid von England so sehr in das reizende kleine Kinderbild der dreijährigen schlafenden Elise Rautert (hier in einem Schabkunstblatt vertreten) verliebte, es für 1000 Pfund Sterling kaufte und immer um sich haben wollte, kann man wohl verstehen. In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 21. April 1993.  

Mythen und Monströses  (1993) Zyklus Frauen in Sagenwelt und Kunst bei Zimmer

Im Rückblick auf den jeweils mit einem Vortragsabend verbundenen Ausstellungszyklus der Galerie Zimmer (Oberbilker Allee 27) „Frauengestalten aus Mythologie und Kunst in der Malerei der Gegenwart“ darf eine positive Bilanz gezogen werden. Der gute Besuch, der Brückenschlag zwischen Historie und Gegenwart, die künstlerische Anregung durch zeitübergreifende Themen und die Vertiefung der Ansicht durch Einsicht in bemerkenswerten Vorträgen eröffneten fruchtbare Perspektiven. Künstler unserer Zeit haben mythische oder biblische Themen neu erlebt. Nach den beiden ersten Ausstellungen, die der griechischen Leda und der fernöstlichen Göttin Ushas/ Ratri gewidmet waren, muß nun auch der Bogen zur derzeitigen Schau geschlagen werden: Sigrid Redhardts monumentale Malereicollagen von 1992/93 zum Thema „Die Töchter des Pelias“. Den Vortrag zu diesem Medea-Thema hielt der Direktor des Kunstmuseums, Hans Albert Peters. Es ist die Geschichte von der Zauberin Medea, die ihre Töchter gegen deren Willen anstiftet, ihren Vater Pelias zu ermorden und zu zerstückeln, angeblich, um ihm auf diese Weise unaufhörliche Jugend zu schenken, in Wahrheit aber, um ihn aus Rache zu töten. Die Töchter folgen aus Liebe zum Vater vertrauensvoll dem Rat der Mutter. Gerade dieser Aspekt reizte die Düsseldorfer Künstlerin zur Darstellung. Zerrissenheit wirkt schon im Herstellungsprozeß des monumentalen Schlüsselbildes, das zunächst für die durch acht Fenster geteilte Wand des „Ballhauses“ konzipiert und entsprechend in acht Teile aufgespalten wurde. Gerissen und geschnitten, auch wieder zusammengeklebt die figurativen Teile der Malereicollage. Die Zerstückelung in Fragmente führt im Bild zu einem neuen Ganzen. Gewaltig, wie in Stein gehauen, wirken Redhardts malerisch-rhythmisierte Figuren. Ohne Schatten sind sie, auf das Wesentliche reduziert und zeitlos. 15 Zeichnungen führen zu dem 260 x 320 cm großen Gemälde und anderen Bildern des Zyklus hin, in denen zärtlichere, traurig-empfindsame Aspekte der mörderischen Tragödie zum Vorschein kommen. Vorangegangen waren die der Lilith gewidmete Ausstellung von Tina Juretzek mit einem Vortrag von Gisela Götte vom Clemens-Sels-Museum Neuss und Antonius Höckelmanns Trilogie „Judith und Holofernes“, eingeführt von Siegfried Gohr, ehemaligem Chef des Museums Ludwig. Die böse Schlange Lilith Die vor Eva erschaffene Dämonin Lilith, böse Schlange und schwarzgeflügeltes Gegenstück des Teufels – diese vielschichtige Gestalt hat Tina Juretzek in einer ganzen Folge expressiver, zum Teil collagierter Zeichnungen in Tusche und Graphit in flackerndem Helldunkel 1986 dargestellt in einer von Zweifeln gequälten Phase ihres Schaffens: spannungsvoll, zerrissen, abgründig. Flügelwesen sind das voll düsterer Unberechenbarkeit, bedrohlich, auch in tierhafter Körperlichkeit. Selbstquälerisches, Selbstzerstörerisches drückt sich darin aus. Und die alttestamentarische Judith, die den Assyrerfürsten Holofernes erschlug, um ihr jüdisches Volk zu retten? Höckelmann hat in seinen großen Bleistift- und Tuschzeichnungen, farbigen Wachskreiden und bemalten Reliefs das wild lachende und zugleich todbringende Gesicht der Judith, in dem Schönheit und Monströses, Wildes und Grausames verschmelzen, mit flackerndem Helldunkel gleichsam aus einer Maske entwickelt: Abgründe des Menschen, wie sie sich zu allen Zeiten in ihm verbergen oder ausbrechen können. In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 28. April 1993.  

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Hulda Pankoks Lebensweg

Am 20. Februar 1895 wurde sie als sechstes Kind der Theaterkritikerin Julie Droste (geb. Sassenberg) und des Lehrers Wilhelm Droste in Bochum geboren. In Sölde verbrachte Hulda ihre Ferien beim Großvater Sassenberg, der Bergwerksdirektor war. In Bochum besuchte sie die Höhere Töchterschule und schloss diese mit dem Abitur ab. Ab 1913 besuchte sie in Bonn eine Hauswirtschaftsschule. Im Anschluss daran ließ sie sich in Essen zur Bibliothekarin ausbilden. Die 1. Anstellung erhielt sie in Essen; in Bochum richtete sie die erste Kinderbibliothek ein. Nach Kriegsende studierte sie für kurze Zeit in Jena Kunstgeschichte und Literatur.

Hulda Droste ging 1919 nach Düsseldorf und arbeitete als Kulturjournalistin in der von ihrem Bruder Heinrich Droste herausgegebenen Düsseldorfer Zeitung, ebenso im Mittag, der seit Mai 1920 im Droste-Verlag erschien. 1920 bekam sie Kontakt zur Avantgarde-Kunstgalerie von Johanna Ey und lernte dort u. a. den Maler und Zeichner Otto Pankok kennen, Mitglied der Gruppe Das Junge Rheinland (s. die Darstellung ihrer 1. Begegnung in Die Kunst von heute von 1928 in diesem Text-Forum). Hulda Droste und Otto Pankok heirateten 1921; sie arbeitete weiter als Journalistin. Nach der Geburt der Tochter Eva 1925 erfolgte der Umzug in das Haus in der Brend’amourstraße 65 in Düsseldorf-Oberkasssel, das zu einem künstlerischen Zentrum der Stadt wurde. Hier trafen sich u.a. die Lyrikerin Martha Saalfeld, der Grafiker Werner vom Scheidt, die Theaterleiter Louise Dumont und Gustav Lindemann, die Bildhauerin Eva Brinkmann und das Schriftstellerehepaar Herbert und Hedda Eulenberg.

Der journalistische Wirkungskreis Hulda Pankoks erweiterte sich auf die Frauenbeilagen des Düsseldorf Stadt-Anzeigers und der Gladbach-Rheydter Zeitung, auf den Schacht. Westdeutsche Wochenschrift für Kunst, Wissenschaft und Volksbildung und auf den Scheinwerfer. Blätter der städtischen Bühnen Essen. Als freie Mitarbeiterin war sie auch beim Westdeutschen Rundfunk tätig. 1929 folgte sie den Spuren El Grecos in Spanien und schrieb 12 Rundfunkbeiträge über ihre Kunstreise, die sie zusammen mit Otto Pankok unternahm.

1931 entwickelte Hulda Pankok für den Mittag die Kulturbeilage Geistiges Leben und steuerte in den folgenden Jahren eine Fülle von Buchbesprechungen bei, Darstellungen zum zeitgenössischen Theater und kulturphilosophische Essays, die von einer wertkonservativen und zugleich liberalen Grundhaltung geprägt waren. In den Anfangsjahren des Dritten Reichs wich sie auf historische und frauenspezifische Themen aus, bei denen sie ihre Grundüberzeugungen verdeckt zum Ausdruck brachte.

Seit 1936 unterlag Otto Pankok einem strikten Ausstellungsverbot. 1937 erhielt Hulda Pankok Schreibverbot, das sie jedoch umging, indem sie unter dem Pseudonym Anna Sasse und Henriette Reiser schrieb. Von ihrem Bruder erhielt sie für den Droste Verlag Lektoratsaufträge. Nach einer nur knapp abgewendeten Verhaftung Otto Pankos durch die Gestapo, zogen die Pankoks 1938 nach Bokeloh ins Emsland. 1941 zogen sie sich in die Eifel zurück, zunächst nach Iversheim und 1942 nach Pesch, wo ihr Domizil einige Flüchtlinge beherbergte. Die Befreiung durch die Amerikaner wurde zu einem Freudenfest.

Mit der Gründung des Drei Eulen Verlags im März 1946 verfolgte Hulda Pankok mehrere Ziele. Nach der Zeit der intellektuellen Leere und Verrohung während der Nazi-Herrschaft wollte sie dem ausgehungerten deutschen Lesepublikum neue Horizonte eröffnen durch die Übersetzung ausländischer Literatur. Im Dritten Reich verbotenen Autorinnen und Autoren gab sie eine Stimme und das im Untergrund entstandene Werk verfemter Maler und Grafiker dokumentierte sie in Bildbänden und Mappen. Ein weiterer von ihr ausgebauter Bereich war die Pflege des klassischen deutschen Erbes von Kant über Goethe, Heine bis zu Mörike.

Das zerstörte Haus in der Brend’amourstraße konnte 1947 wieder bezogen werden. Im gleichen Jahr hielt Hulda Pankok bei der Beerdigung von Mutter Ey, der frühen Förderin von Otto Pankok, eine viel beachtete Grabrede (s. die Rede in diesem Text-Forum). 1949 legte die Verlegerin das kleine Unternehmen still, da es bedingt durch die Währungsreform und durch das Nachlassen des Lesehungers zu wirtschaftlichen Engpässen gekommen war.

Sie engagierte sich Anfang der 50er Jahre vehement gegen die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik und beteiligte sich 1951 an der Gründung der „Deutsche Frauenpartei“, deren Vorsitzende sie wurde (s. ihre Darstellung in diesem Text-Forum). Da die Wirkung dieser Partei sehr eingeschränkt war, wählte sie sich ab 1953 mit der von Helene Wessel und Gustav Heinemann gegründeten „Deutschen Volkspartei“ eine neue Heimat für ihr politisches Engagement.

An der Aussöhnung zwischen dem damaligen Jugoslawien und der vormaligen Besatzungsmacht Deutschland hatte Hulda Pankok wesentlichen Anteil. Auf Grund ihrer antifaschistischen Haltung wurde sie offiziell von der Ministerin für soziale Angelegenheiten Vida Tomšič eingeladen als erste Vertreterin Deutschlands. Hulda und Otto Pankok fuhren in den 50er Jahren mehrfach nach Jugoslawien zu den neuen Freunden. Über ihre Erlebnisse in Jugoslawien schrieb sie einen Reisebericht, Jugoslawische Erlebnisse (1961), in dem sie besonders die Integrationsleistung des jugoslawischen Staates bezüglich seiner vielen Ethnien hervorhob.

Nach dem Ende von Otto Pankoks Professur an der Düsseldorfer Kunstakademie zog man 1958 nach Drevenack in das „Haus Esselt“. 1966 starb Otto Pankok nach schwerer Krankheit. Zwei Jahre später gelang es Hulda Pankok und ihrer Tochter Eva das Otto-Pankok-Museum zu eröffnen, wo sie regelmäßig Besuchergruppen durch die Dauerausstellung führte und themenbezogene Sonderausstellungen erarbeitete.

An der Veranstaltung im Düsseldorfer Stadtmuseum zu ihren 90. Geburtstag konnte Hulda Pankok im Februar 1985 noch teilnehmen. Am 8. September starb sie.

© Ariane Neuhaus-Koch, Frauen-Kultur-Archiv

Anneliese Ksiensik - eine Brückenbauerin

Welchen Respekt sich Anneliese Ksiensik in der vielgestaltigen Düsseldorfer Frauenszene, repräsentiert im Düsseldorfer Frauenforum, erworben hatte, zeigte sich am 8. März 2000, als dieses Frauenforum im Düsseldorfer Rathaus zum 1. Mal in seiner Geschichte das Engagement von Bürgerinnen ehrte. Die 79-jährige war die Erstgeehrte, die die Schmuckehrengabe in Empfang nehmen konnte.

Im Düsseldorfer Frauenforum vertrat sie den Katholischen Deutschen Frauenbundes viele Jahre lang in einer Weise, der ihr Anerkennung und Sympathie über alle ideologischen Grenzen hinweg eintrug. Sie vertrat dezidiert und fundiert ihre Positionen, ohne andere zu verletzen. Sie bemühte sich um Ausgleich zwischen kontroversen Standpunkten und war dabei geistig so unabhängig, dass sie einen Standpunkt begründet vertrat, wohl wissend, dass dieser nicht immer mit dem des KDFB im Einklang stand. Sie pflegte dann in den Sitzungen im Rathaus zu sagen: „ich sehe das jetzt so, aber mein Verein wird dies nicht so sehen“.

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Zu ihren bleibenden Verdiensten gehört es, das Problem der geringen Renten von älteren Frauen in den öffentlichen Diskurs der Stadt eingebracht und an der Brücke zwischen den katholischen und evangelischen Frauenverbänden gebaut zu haben, was in gemeinsame 8.-März-Aktionen der christlichen Frauenverbände einmündete. Sie war – für ihre Generation sehr progressiv – eine Netzwerkerin, die durch ihre offene, klare und humorvolle Art auch junge Frauen für sich und ihre Überzeugungen gewinnen konnte. Auf diese Weise baute sie nicht nur Brücken zwischen den christlichen Frauenverbänden sondern auch zwischen den Repräsentantinnen der traditionsorientierten Frauenbewegung und der neuen Frauenbewegung.

Dass sie im 3. Reich als junge Christin die aus ihrem Glauben erwachsende Verantwortung offensiv vertrat, das hat sie als Selbstverständlichkeit angesehen und nicht als besondere Leistung. Um so mehr freuen wir uns, dass sie zum Stadtjubiläum 1989 von ihrem Wirken in der NS-Zeit berichtet hat und wir diese Darstellung hier mitteilen können.

 Ariane Neuhaus-Koch, Frauen-Kultur-Archiv

Anna Elisabeth Ksiensik: Meine Aktivitäten im 3. Reich

Nach der Schulzeit wurde ich Mitglied im Jugendbund des Katholischen Frauenbundes. Inzwischen waren die meisten katholischen Jugendorganisationen durch die Nazis verboten worden. Wir durften uns nur rein religiös betätigen, das heißt es gab keine Reisen und Wanderungen, sondern nur Wallfahrten und Besinnungstage oder Exerzitien (...). Unter der Obhut des Katholischen Frauenbundes, besonderes durch Vermittlung von Frau Horion, konnten wir im Frauenbundhaus in Bendorf unsere Begegnungen abhalten. Wir feierten dort die Hochfeste; Ferienfreizeiten sowie Führerinnenschulungen wurden uns in diesem Haus ermöglicht. Wir wunderten uns oft, dass die Partei und die Gestapo uns in Ruhe ließen, waren aber auch bemüht, nicht aufzufallen.

Während meiner Berufstätigkeit bei der Firma Franzen hatte ich keinen Kontakt zu Parteigenossen und Nazis (...). Da ich in dieser Firma keine Aufstiegschancen hatte, wechselte ich meine Stelle und arbeitete in einem mittleren Industrieunternehmen in Neuss. Hier lernte ich erst den Einfluss der Nazis kennen, da es sich um einen sogenannten kriegswichtigen Betrieb handelte. Inzwischen waren unsere Brüder, Vettern und Freunde eingezogen worden und kämpften an allen Fronten. Es entstand eine lebhafte Korrespondenz mit ihnen, unter anderem über das Thema „Junger Tod“.

Es hatte nach dem Ersten Weltkrieg im Verlag Albert Langen/ Georg Müller ein Buch gegeben: „Kriegsbriefe gefallener Studenten“. Es interessierte uns sehr, und wir diskutierten und korrespondierten darüber, weil es zeigte, in welch elenden Tod die Kriegsbegeisterung führte. Zu unserer Korrespondenz gehörte auch die Euthanasie-Predigt des Bischofs von Galen in Münster. Das war am 3. August 1941. Ich hatte diese Predigt im Büro in Neuss im Zehnerblock (ein Original und neun Durchschlage) geschrieben.

Jemand muss mich bei der Gestapo angezeigt haben, denn eines Tages erschienen im Büro mit dem Betriebsobmann zwei Gestapobeamte und verhörten mich im Beisein meines Chefs, der kreidebleich war und heftig zitterte. Die Beamten waren bestens informiert und beanstandeten, dass ich nie im BDM und nicht in der Partei war. (...) Dann musste ich noch den Lieferanten der Predigt angeben, es war meine Schwester Maria. Sie wurde eine Woche später ins Polizeipräsidium Düsseldorf geholt und hatte es dort wesentlich schwerer, sich aus der Sache herauszureden. Da sie die Unterlagen von einer Lehrerin hatte, hatten wir schnell überlegen müssen, wen wir als Lieferanten angeben konnten, der nicht in einer Staatsstellung war.

Nach den Verhören durch die Gestapo überlegten wir, wie wir uns nun verhalten sollten, entschlossen uns aber, weiter die Soldaten im Feld mit unseren Briefen zu betreuen und sie zu informieren. Mein Bruder hatte inzwischen auch als Offizier Verbindung zum Widerstand aufgenommen. Er starb in Russland am 11. September 1942. Auch viele unserer Vettern und Freunde waren bereits gefallen. Wir hatten inzwischen eine Schreibmaschine organisiert und arbeiteten noch einige Zeit im Luftschutzkeller weiter. Meine Schwester studierte dann in Bonn und später in Tübingen. Nach meiner Heirat am 15. Mai 1944 zog ich aufs Land in die Nähe von Koblenz und war so der Polizei in Düsseldorf ausgewichten.

Nachdem die Geschwister Scholl im Februar 1943 ihren Widerstand mit dem Leben bezahlen mussten, kam uns die Gefährlichkeit unseres Einsatzes erst recht zum Bewußtsein. Wenn ich heute darüber nachdenke, stelle ich fest, dass wir viel riskiert, aber wenig bewegt und erreicht haben.“

Wiedergegeben im Aufsatz von Monika Bunte: „Emma Horion und der Katholische Deutsche Frauenbund“.
In: Der eigene Blick. Frauen-Geschichte und -Kultur in Düsseldorf. Hrsg. von Ariane Neuhaus-Koch. Neuss 1989, S. 116-117.

Anneliese Ksiensik zum Gedenken

Im Alter von 91 Jahren ist am 12. August des Jahres Frau Annelise Ksiensik, Jg. 1919, nach längerer Zeit in einem Pflegeheim in Düsseldorf verstorben. Sie war gläubig und wartete auf den Tod, der sie nun erlöst hat. Frau Ksiensik hat sich um die katholische Kirche und besonders auch um unseren Verband wirklich verdient gemacht. Schon mit 8 Jahren trat sie der franziskanischen Jugend bei; mit 10 Jahren wurde sie Mitglied der katholischen Jugend ihrer Pfarre und mit 13 Jahren Mitglied in der Jugendbewegung „Christi Reich“. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse allgemein musste sie dann mit 16 Jahren die katholische Marienschule verlassen. Von 1935 – 1944 war sie im Einzelhandel und in der Industrie tätig. Nach der Heirat 1944 arbeitete sie bis Kriegsende als Verwaltungsangestellte in Koblenz und 1946 bei der Militärregierung in Düsseldorf.

Mit 16 Jahren trat sie dem Jugendbund des Katholischen Deutschen Frauenbundes bei, dem sie bis 1944 angehörte. Während des Krieges wurde sie von der Gestapo verhört, weil sie Soldaten an der Front mit religiöser Literatur und kirchlichen Nachrichten versorgt hatte, zusammen mit ihrer Schwester. Nach der Geburt ihrer beiden Kinder in den Jahren 1946 und 1949 trat sie schon 1946 dem Zweigverein Düsseldorf bei und widmete sich ab 1962, bis zu ihrem 80. Lebensjahr, dem Pfarrbesuchsdienst. 1972 wurde sie geschieden. Schon ab 1949 war sie berufstätig geworden, zunächst im Einzelhandel, später in der Verwaltung der LVA und der Kreishandwerkerschaft.

Frau Ksiensik zeichnete sich durch ein kluges, ehrliches und ausgewogenes Urteil aus, das überall geschätzt wurde. So vertrat sie vor allem unserem Zweigverein im Frauenforum, einem Zusammenschluss der unterschiedlichsten Frauenverbände, Initiativen und Richtungen. Dort setzte sie sich für die Probleme der älteren Frauen mit kleinen Renten ein und konnte die Lage der alleinerziehenden Mütter verdeutlichen. Am Internationalen Frauentag 2000 zeichnete das Frauenforum sie mit einem erstmals verliehenen Schmuckorden für ihre mutigen Stellungsnahmen aus. 2004, anlässlich ihres 85. Geburtstages, verlieh ihr der Hl. Vater auf Antrag des Zweigvereins den kirchlichen Orden „Pro ecclesia et pontifice“. Darüber hatte sie sich sehr freut und in ihrem Dankesbrief geschrieben: „Die Arbeit im KDFB war mir immer sehr wichtig, und ich bin stolz, was dieser Verband in den 100 Jahren alles geleistet hat. Unsere Nachfolgegeneration genießt alle Erfolge, die wir erkämpft haben“. Heute folgt ihre Tochter als Frauenbeauftragte ihren Spuren. Gott schenke Frau Ksiensik die ewige Ruhe!

Für den Zweigverein Düsseldorf: Dr. Marina R. Küppers
In: Mitteilungsblatt des KDFB, Zweigverein Düsseldorf e.V., 8/9 2010

Georg Aehling: Erinnerungen an Elisabeth Büning-Laube

Das ‚Literaturschiff‘, gechartert von Michael Serrer, dem Leiter des Literaturbüros, hatte am späten Vormittag soeben vom Altstadtufer Düsseldorf abgelegt. Es war ein Samstag im Juni 2000, der Bücherbummel strebte seinem Höhepunkt entgegen: Literarische Vorträge und Lesungen an Bord des MS Goethe. Die Sonne schien grell, ich trug einen Sommerhut und setzte mich im Salon an einen Tisch am Fenster, wir fuhren los in Richtung Zons.

Eine keck behütete Dame im hellen Sommerkleid, begleitet von ihrem Dackel, den sie Monky nannte, näherte sich meinem Tisch und fragte, ob sie dort Platz nehmen könne, was ich gern bestätigte. Die kleine, rothaarige Frau und auch ihre schnarrende Stimme waren mir bekannt, denn ich hatte zuvor bereits einmal ihren Salon KunstLive besucht. Ich bestellte eine Flasche Rheinwein, wir tranken auf unser gemeinsames Wohl und kamen ins Gespräch. Sie berichtete von ihrem Salon und erwähnte, dass ihr zur Abrundung ihrer Bemühungen um die Förderung von Künstlerinnen und Künstlern bislang noch ein Element fehlte: ein Verlag, der die im Salon auftretenden Literaten publiziert. Sie berichtete mir von ihren Plänen, eventuell einen eigenen Verlag gründen zu wollen und bat mich um Hilfestellung, da ich im Jahr zuvor meinen eigenen Verlag gegründet hatte. Ich wusste daher aus eigener Erfahrung von den nicht unerheblichen Aufwendungen und den zahlreichen zu erwerbenden Kenntnissen und Qualifikationen für die Gründung eines Verlags und riet ihr ab, diese Mühen auf sich zu nehmen. Ich bot ihr dann umgehend an, die verlegerische Tätigkeit selbst zu übernehmen und entwarf auf der ausliegenden Getränkekarte kurzerhand ein Konzept. Wir gaben uns daraufhin eine Stunde Bedenkzeit. Ihre literarisch versierte Hündin Monky wedelte derweilen freudig mit dem Schwanz und gab uns damit das Zeichen, sich noch auf dem Wasser zu einigen.

Bei einer Flasche Goethe-Wein wurde dann die Zusammenarbeit besiegelt: Eine neue, als lose Abfolge von bebilderten Monografien konzipierte Publikationsreihe namens KunstLive, die meine Edition Virgines in Kooperation mit dem gleichnamigen Verein besorgt und die von Elisabeth Büning-Laube sowie z. T. von Holger Ehlert herausgegeben wird, soll dazu beitragen, bekannte und weniger bekannte Literaten, Künstlerinnen und Künstler einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Jeder Band sollte zunächst in einer kleinen Auflage von 50 bis 100 Exemplaren erscheinen. Ich entwarf in den darauf folgenden Tagen ein Logo (als das Parkett, auf dem man auftritt) und schlug ihr vor, jeden Band auf einer anderen Papierfarbe zu drucken, eine bunte Reihe, so bunt wie der Salon.

Wir arbeiteten intensiv zusammen, die Mails flogen täglich mehrfach vom Rechts- zum Linksrheinischen und vice versa hin und her, daneben tägliche Telefonate. Sie war extrem genau in ihren Vorstellungen, Vorgaben und Planungen, auch sehr fordernd, meinte es aber stets gut mit allen Beteiligten. Der Salon war immer aufs Genaueste vorbereitet, das Programm lief jeweils über mehr als 3 Stunden, mit geselligem Intermezzo bei Wein und Snacks. Den 5. Jahrestag des Salons feierten wir im Theatermuseum mit vierstündigem Programm: Literatur, Musik, Darbietungen, einer Kunstausstellung. In lediglich vier Jahren entstanden 16 Bände, für einige Autoren wie Titus Müller erwiesen sie sich als ein Sprungbrett.

Im Spätherbst 2004 besuchte ich sie zum letzten Mal, sie war inzwischen bettlägerig geworden, Aufenthalte in Krankenhäusern und in einem Hospiz waren unvermeidlich geworden. Als ich am 4. Januar 2005 von einer Weihnachtsurlaubsreise zurückkam, zählte sie nicht mehr zu den Lebenden.

Ich habe erst in den Tagen danach von ihrem Tod Nachricht erhalten. Der Salon starb mit ihr.

5. März 2015

Ina-Maria von Ettingshausen: Lebensmotiv

Gewidmet meiner lieben Freundin Elisabeth in Erinnerung an wunderschöne Spaziergänge und tiefe Gespräche über Menschen, Poesie und Natur, über Frauenbilder und unser Selbstverständnis als Dichterinnen.

Lebensmotiv

Im Traum schon die kleinen Stoffbeutel gepackt
weiß ich nicht was darin eingesackt
vielleicht die ängstlichen Abschiedsgefühle
beim Hinter-mir-Lassen der vielen
schon abgesessenen Lebensstühle

Ein seltsames Unbewusstsein bewegt sich in mir
spielt Wege höhlende Töne hinauf und hinab
wie auf einem klangoffenen Seelenklavier
von dem Himmel so hoch bis ganz tief hinein ins Grab

Kann ich noch nichts sagen
trag innen treibende Fragen
zu Körper empfindendem Gegenwartsnu
mich warten lassen die Handlungsschuh

Tausende prasselnde Regentropfen
lassen mein schlafgründig Lebensmotiv
Neubewusstsein frei schreibende Wörter klopfen

© Ina-Maria von Ettingshausen

Klaus Grabenhorst: Die kleine Frau mit großem Hut

Ich war neu in dieser Stadt, von der man sagt, sie hätte die längste Theke der Welt. Mit einem Koffer voll französischer Chansons, die ich zusammen mit französischen Freunden in mein Deutsch gebracht hatte, wollte ich mich in die hiesige Kunstszene stürzen.
Ich las den Veranstaltungskalender in den Kulturseiten. Sofort sprang mir ins Auge: „Kunst-Live am Freitag, 19:30 Uhr (nur mit telefonischer Anmeldung).“ Ich griff zum Hörer. „Ein letzter Platz wäre noch zu vergeben“, erklärte mir eine resolute Stimme am anderen Ende, „Sie müssten sich nur gleich entscheiden.“ Ich ließ mich auf die Besucherliste setzen.
Knapp fünfzig Personen saßen in diesem Wohnzimmer, das dicht gefüllt war. An der einen Wand hingen Aquarelle, an der anderen sah ich Plakate aus der Literaturszene. Und ich roch den Duft von frischen Blumen. In der Küche standen Käsebrote und Getränke bereit.
Eine kleine Frau mit einem großen Hut betrat den Raum. Sie begrüßte die Gäste, setzte sich in ihren Sessel und las eine Geschichte von einer Frau, die ihre Kräfte verlor, nachdem er ins Jenseits gegangen war. „Sie irrte durch einen Wald. Auf einmal bemerkte sie, wie ihr ein rot-gelbes Laubblatt in ihre ausgestreckten Hände fiel. Sie brachte es nach Hause und beim Betrachten des Blattes entdeckte sie die verschiedenen Farbtöne und Nuancen und begann zu erahnen, dass“ – und jetzt sprach die kleine Frau so leise, dass man die Worte kaum hören konnte – „auch der Herbst des Lebens manche Farbenpracht zu bieten hat“. Dann stand sie auf und kündigte die Künstler des Abends an.
In der Pause erzählte ich meinen beiden Nachbarn, dass ich zum ersten Mal hier sei und mich darüber freue, noch den letzten Platz bekommen zu haben. Sie erzählten, dass sie hier zu den Stammgästen gehören, und dass auch sie, wie jedesmal, „den letzten Platz“ bekommen hätten.
Beim Verabschieden sprach ich der kleinen Frau eine Einladung für mein nächstes Konzert aus.

Es war eine heitere Atmosphäre in dem Kellertheater in dem Stadtteil auf der anderen Seite des Flusses. Die kleine Frau, die mit dem großen Hut aussah, als sei sie einem impressionistischen Gemälde entstiegen, saß in der ersten Reihe, kicherte, gluckste und strahlte mich an.
„Bezahlen kann ich nichts“, sagte sie nach der Vorstellung zu mir, „aber ich möchte gerne, dass Sie einen Abend in meinem Salon singen. Fragen kostet ja nichts! Als Gegengeschäft haben Sie einen Wunsch bei mir frei!“
Ich erwähnte, dass ich gerne einmal im Geburtshaus von Heinrich Heine singen würde. „Sie meinen im Künstlercafé Schnabelewopski! Das machen wir! Ich kenne den Wirt! Und nicht nur das, junger Mann! Ich werde Sie überall einführen! Allerdings bitte ich Sie, dass jedes Mal vor Ihnen ein bis zwei Lyriker ihre Gedichte vorlesen können, und – das ist ein persönliches Anliegen von mir – bitte vergessen Sie nicht, das Lied von der Margerite zu singen!“

Seither fragte sie mich jedesmal, wenn ich ein Konzert gab, bei dem sie dabei war, nach dem Chanson von der Margerite. Es erzählt von einem Pastor, dem einmal bei seiner Predigt eine Margerite aus seinem Gebetsbuch gefallen ist. Wie wankte da der heilige Ort vor Erregung! Ein Skandal! Die Gemüter kamen in Wallung: „Woher kommt das Gänseblümchen? Kam es zu ihm? Kam er zu ihr? Doch“, so heißt es im Lied, „oben im Himmel unser Herr, kümmert sich wenig um das Getuschel im Parterre“. Und nachdem sich die Gemeinde allmählich wieder beruhigt hatte, heißt es zum Schluss: „Und dass niemand, das sei meine kleine Bitte, zeige auf den Pastor und die Margerite!“

Einmal, als ich die kleine Frau mit dem großen Hut an einem warmen Sommertag zufällig auf der Straße traf, erzählte sie, dass ihr Arzt ihr geraten habe, ab und zu mal ein Bier zu trinken, sie habe zu wenig Eisen im Blut. Ich lud sie für den Abend in einen Biergarten ein und flachste, sie könne mir ja dann nebenbei ihre Lebensgeschichte erzählen. „Das werde ich!“, stieß sie begeistert aus und tippelte von dannen.

„Mein Vater war Pianist, meine Mutter Sängerin“, begann sie ihre Geschichte. „Sie waren beide im Widerstand gegen Hitler. Sie kämpften unter Einsatz ihres Lebens. Ich war nicht gewollt, denn ich wurde nur gezeugt, weil die Nazis sonst meine Eltern ins KZ gesteckt hätten. Wir waren fünf Kinder. Wären meine Eltern ins KZ gekommen, hätten wir Kinder in ein Heim gemusst. Das war den Nazis zu teuer.
Wir haben damals nicht einmal Lebensmittelmarken bekommen. So musste ich schon als kleines Kind lernen, wie man sich etwas für ‚zwischen-die-Zähne‘ organisiert. Ich bin durch die Nachbarschaft gezogen und habe gesungen. Wenn ich Glück hatte, erbarmte sich jemand und gab mir ein Butterbrot. Noch heute habe ich den Geschmack von einem Butterbrot in meiner Nase.
Nach dem Krieg, im Adenauer-Staat, waren meine Eltern wieder auf der Verliererseite und mussten mit ansehen, wie die braune Pest Karriere machte.
Ich habe es zuhause nicht mehr ausgehalten. Eines Nachts bin ich aus dem Fenster gehüpft und dann immer den Bahngleisen entlang gegangen. Als es hell wurde, kam ich zu einer Fabrik mit vielen Schornsteinen. Ein Pförtner in einem Häuschen packte gerade sein Butterbrot aus. Ich setzte mich zu ihm und sagte: ‚Hm, so etwas hätte ich auch gerne!‘ Er brach mir die Hälfte ab. Ich sagte: ‚Bei dir möchte ich bleiben.‘ Der Pförtner nahm mich mit nach Hause und zusammen mit seiner Frau schaffte er es, dass ich bei ihm bleiben konnte.“

Die kleine Frau mit den roten Haaren hatte inzwischen ihr Glas ausgetrunken. Ich bestellte ihr ein zweites und fragte, warum sie so gerne das Lied von der Margerite höre.
„Also, junger Mann“, fuhr sie fort, „das war, als ich zu den Nonnen kam. Wegen meiner Herkunft hieß es, ich sei des Teufels. ‚Du hast böse Gedanken, ich sehe genau, was du denkst‘, zischte die Obernonne. Ich konnte mir das nicht vorstellen. Ich stellte mich heimlich vor einen Spiegel und schaute mich an. Dann dachte ich an etwas ganz Böses und schaute wieder in den Spiegel. Ich konnte keinen Unterschied feststellen.
Doch ich habe in all den qualvollen Jahren auch viel gelernt: Kochen, Kleider nähen, Hauswirtschaft, und: nicht zu lügen! Als die Obernonne mich auf die Prüfung vorbereitete, nahm sie mich zur Seite und sagte mit ernster Miene, dass man mich fragen werde, ob mir der Herr erschienen sei, und dann hätte ich mit ‚ja‘ zu antworten.
Vor dem Einschlafen dachte ich lange darüber nach. In der Bibel steht doch: du sollst nicht lügen! Und da mir der Herr wirklich nie erschienen war, sagte ich in der Prüfung die Wahrheit. Sie können sich vorstellen, junger Mann: meine Tage bei den Nonnen waren gezählt!“
Eine Geschichte nach der anderen sprudelte aus ihr heraus und da ich mein zweites Bier auch ausgetrunken hatte, fiel es mir immer schwerer, mir die vielen Details zu merken.
Später sei sie Krankenschwester geworden. An der Uni-Klinik. Und einmal habe sie zu dem berühmten Professor Doktor Hüsgen gesagt, er dürfe seine Mitarbeiter nicht so anschnauzen: „Das macht man nicht! Das haben die Menschen, die hier arbeiten, nicht verdient!“ Der perplexe Professor habe sie daraufhin mit nach Hause genommen und seiner Frau vorgestellt. So sei sie bei ihm Haushälterin geworden.
„Mein späterer Mann, der übrigens dreißig Jahre älter war als ich, wollte mich kurz nachdem wir uns im Schnabelewopski kennengelernt hatten, zu meinem sech­zigsten Geburtstag zum Essen einladen und anschließend mit mir eine Lesung besuchen. Aber es gab in der ganzen Stadt keine einzige Literaturveranstaltung. ‚Dann laden wir eben selber ein paar Dichter ein‘, schlug er vor. Der Abend wurde ein voller Erfolg. Und alle waren der Meinung, wir sollten doch öfters solche Abende veranstalten. Und so entstand der Salon.
Als mein Mann zwei Jahre später starb, sagte er auf dem Sterbebett zu mir: ‚Schätzgen, jetzt machst du den Salon alleine weiter!‘ Wir hatten doch gerade erst geheiratet! Wir waren glücklich. Und er freute sich immer, wenn die Gäste eintrafen. Er stand da, wie ein Leuchtturm, so stolz war er. Vorher hatten wir geputzt, die Künstler ausgesucht, die Presse informiert, Einladungen verschickt, frische Blumen geholt, Butterbrote und Getränke bereitgestellt. Und immer, wenn alles fertig war, sagte er: ‚Schätzgen, und jetzt setzt du deinen Hut auf!‘
Kurz vor unserer Hochzeit, junger Mann, war noch etwas passiert! Wir waren alle in einem Hotel auf dem Land. Da erzählte mir am späten Abend eine Verwandte von ihm, dass er bei der Waffen-SS war. Das muss man sich mal vorstellen! Ich wollte gerade schlafen gehen, und dann das! Ich, die Tochter aus einem Elternhaus aus dem Widerstand, heirate einen Nazi, der bei der Waffen-SS war!
Um Mitternacht stellte ich ihn zur Rede: ‚Warum hast du mir das nicht gesagt?‘ ‚Liebchen‘, antwortete er, ‚weil du mich dann nicht genommen hättest!‘
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Am nächsten Morgen sollte die Hochzeit sein. Um sechs Uhr in der Früh, nach einer langen Nacht, in der er mir alles erzählt hatte, sagte ich völlig erschöpft: ‚Ich kann darüber nicht richten!‘ Und dann habe ich ihn geheiratet.“

Manch schönes Konzert stellte die kleine Frau seitdem mit mir auf die Beine. Und als ihr Salon vom Kulturamt offiziell anerkannt war und die ersten Fördergelder flossen, frohlockte sie „jetzt kannst du bei mir singen“ und fügte voller Stolz hinzu „für Mucken!“

Einmal lud sie mich zu ihrem Geburtstag ein. Mein bester Freund war in diesen Tagen gestorben. Ich fühlte mich nicht in der Lage, auf eine Geburtstagsfeier zu gehen. Sie verstand, rief mich aber zwei Tage vorher noch einmal an und bat mich inständig, zu kommen.
Ihr Salon platzte an diesem trüben Novembernachmittag aus allen Nähten. So viele Menschen hatte ich dort noch nie gesehen! Mit ihrem großen Hut saß sie in ihrem Sessel. Die Füße hatte sie auf ein Bänkchen gelegt.
Sie las von einem kleinen Mädchen vor, das auf Befehl christliche Worte zu verinnerlichen hatte: „Wollte sie an ihnen nicht ersticken, musste sie gehorchen. Wer weiß, ob dieser Gott, von dem sie keiner befreien konnte, nicht noch viel grausamer war als der Führer, der sich umgebracht hatte, als der sinnlose, lange Krieg verloren ging. Ihr Schicksal war für sie ein vorprogrammiertes Verlorensein, ein Leben, das von Gott aus unweigerlich darin bestehen sollte, für die Ewigkeit zu leiden. Die Höllenschilderungen der Ordensfrauen quälten sie mehr als die Nazis es je gekonnt hatten.“ Sie trank mit zitternder Hand einen Schluck aus ihrem Glas. „Immer jedoch spürte das Mädchen in sich ein Sehnen. Wonach es sich allerdings sehnte, wurde ihm erst klar, als es Jahrzehnte später den Schlüssel zu seiner Innerlichkeitskammer fand, in der sich alte und neue Worte versteckt hielten und sich ihr nun, da sie die seelische Kraft der Erinnerung besaß, offenbarten.“
Sie beendete ihre Lesung mit einem Gedicht. Danach stand sie aus ihrem Sessel auf und kündigte die nächsten Vortragenden an. Nach drei Stunden bedankte sie sich und erklärte, dass dies die letzte Salon-Veranstaltung gewesen sei. Inzwischen war es dunkel geworden. Ein paar Kerzen brannten auf den Tischen. Sie bewegte sich langsam durch den Raum und schaute jedem einzelnen lange in die Augen, berührte ihn, ging zum Nächsten, vor dem sie wieder lange verweilte. Es fiel kein Wort.
Spät in der Nacht war ich einer der letzten, die das Haus verließen. Sie hatte von ihrer Krankheit erzählt und dass sie den Arzt gefragt habe, ob er sie, wenn sie seine Frau wäre, in Anbetracht der Befunde operieren würde. Der Arzt hatte verneint.

Nach ein paar Monaten bekam ich einen Anruf von einem Hospiz. Sie hätte gebeten, dass ich komme.
Abgemagert und zerbrechlich wie ein zerrupftes Vögelchen im Schnee lag sie in ihrem Bett. Ihr kleiner Kopf mit den roten Haaren guckte aus der weißen Bettdecke und ruhte auf dem großen weißen Kopfkissen. Der Tisch war voll prächtiger Blumengeschenke. Daneben lag ihr Hut.
Ich setzte mich auf die Bettkante. Sie konnte kaum sprechen und wir lächelten uns an. Sie sah, dass ich meine Gitarre mitgebracht hatte.
„Die Margerite?“ Sie strahlte.
„Man darf andere kritisieren, aber man darf ihnen nie ihre Würde nehmen!“, seufzte sie.
Sie wurde immer müder. Sie setzte ihre Brille mit den dicken Gläsern ab und legte die beiden Hörmuscheln mit der Verkabelung auf ihr Nachtschränkchen.
Ich hörte sie leise sagen: „Mit der Kunst ist es möglich, uns auf die Zehenspitzen zu stellen, um mit unserem dummen Kopf ein Stück vom Himmel zu berühren.“
Ich streichelte ihr Gesicht und küsste ihre Wangen. Dann schlief sie ein. Ich hielt noch lange ihr kleines Händchen.
Von da an rechnete ich jeden Tag damit, einen Anruf mit der Nachricht ihres Todes zu bekommen.
Nach drei Wochen aber war sie selbst am Telefon: „Ich bin wieder zuhause! Willst du kommen?“ Sie schimpfte: „Halsabschneider! Alle wollten nur mein Geld!“
Über mehrere Monate hatte sie viel Besuch. Es war ein Kommen und Gehen. Allerdings konnte sie kaum noch hören und magerte noch weiter ab.

Als ich sie das nächste Mal besuchen wollte, war die Wohnung ausgeräumt. Sie wurde gerade renoviert und ich konnte einen letzten Blick in die Räume des Salons werfen.
Später hörte ich, dass sie mit einem jungen Künstler in die Schweiz gefahren sei und eine Kapsel genommen habe. „Eine Beerdigung wollte sie nicht“, hieß es, sie wollte „in den Wolken begraben sein.“

Aus: Klaus Grabenhorst: Ein Stück vom Himmel, Geistkirch-Verlag, Saarbrücken 2011, S. 7-15. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Geistkirch-Verlags.

Clemens Hüsgen: Das Besondere

Von vielen Freunden von damals wird bedauert, dass keine Nachfolge des von Elisabeth initiierten Salongedankens erfolgte. Die atmosphärische Dichte wird weder in der „Blauen Stunde“ in der Destille noch im Literaturkreis von Prof. Gepa Klingmüller (bei anderer Zielsetzung) erreicht. Das aber war das Besondere: Konzentrative Stille bei größter körperlicher Nähe der dichtgedrängt sitzenden Zuhörer zum Vortragenden, aber auch locker-freundschaftlicher Umgang in der großen Pause bei Gebäck und Wein. Von der Gitarre bis zur Percussionsgruppe, vom Gesang bis zum Schauspieler waren Künstler und Künstlerinnen vertreten. Lesetexte mussten, vorher genehmigt, den Ansprüchen nach Form und Aussage genügen. Elisabeths leise, sensible Art bewirkte ein kultiviertes Miteinander ohne je förmlich-steif zu sein.

Ich erinnere mich noch lebhaft an meine erste Lesung bei ihr, mit Lampenfieber trotz Erfahrungen vor großem Publikum (Waldhotel Wesel, Schloss Beck, Schloss Ringenberg u. a.) – das hier war eine andere Welt: Kurz vor sich spürt man jeden Blick, ist wie ausgeliefert bei jeder Bewegung, die geringste Nervosität wird wahrgenommen. Doch Elisabeth führte mich ans Micro, stellte mich vor, sprach beruhigend zu mir, alles Befremdliche war verflogen. So mag es manchem ergangen sein, der die Intimität dieses Salons kennenlernte und sich dann später draußen weiterentwickelte. Hilfreich war sicher die Aufnahme in eine Buchreihe, aber entscheidender war wohl die Bewährung vor einem sachkundigen Publikum, die freundschaftlichen Verbindungen untereinander, die Anregungen durch vielfältige Darbietungen.

Elisabeth Büning-Laube hat sich mit der Förderung junger Talente verdient gemacht, doch ihr eigentliches Anliegen, die Wiederbelebung des historischen Vorbilds eines „Salons“ mit einem kultivierten Fluidum jenseits vom lautstarken, oft literarisch wenig Anspruchsvollen – diese Idee ist nach meiner Kenntnis in Düsseldorf nicht weitergeführt worden.

Eine große Wohnung, Engagement und künstlerisch vielfältige Verbindungen als Voraussetzung für dieses Vorhaben sind heute wohl nicht mehr zu bewerkstelligen. Schade, - umso größer ist ihr Verdienst, umso lebhafter und dankbarer unsere Erinnerungen an viele schöne Stunden.

Ihr weithin sichtbarer, großer Hut schmückte unsere Nordstraße, unser Viertel ist kulturell ärmer geworden.

Gedanken zum 10. Todestag von Elisabeth Büning-Laube

Meine Erinnerung spiegelt unsere Begegnungen in lebhaften Farben – auch noch den Tag ihrer letzten Lesung eigener Gedichte in der Goethe Buchhandlung am Dreieck. Es war ihr bevorzugter Lebensraum, da war sie bekannt und kannte jeden – im Blumengeschäft oder in der Bäckerei, in der Kirche den Organisten oder den Obdachlosen mit den „Fifty-Fifty“-Zeitungen unten an der Straßenecke. Jeder teilte seine Freuden, Erfolge und Enttäuschungen mit ihr.

An dem Abend ihrer letzten Lesung war Elisabeth fast elegant gekleidet – schwarz – ungewöhnlich für sie und ihre sonst so unbekümmerte Art, mit besonderen Gelegenheiten umzugehen. In ihrem langen Kleid wirkte sie blass und schmal – und – auch sehr ungewöhnlich – sie wirkte verhalten, in sich gekehrt. Die Lesung verlief fast andächtig: So, wie sie ihre Gedichte vortrug, schien jedes einzelne Wort im Raum stehen zu bleiben – nachzuklingen für immer.

Der Horizont kleidet sich blau
Morgenrot durchfließt die
stille Frühe
Durchflug der Vögel
setzt Zeichen
Meine Augen halten das Bild
eine Sekunde an
Danach zerfließt alles
in ein neues großes Geheimnis.

Bald konnte ich Elisabeth nur noch im Hospiz besuchen. Sie brauchte nun die nötige Pflege, fand dort Ruhe und ein Gefühl der Sicherheit. Von dort aus fuhr ich sie im Rollstuhl in den nahe gelegenen Park. Sie wollte in der Natur und unter Menschen sein und freute sich über jede herzlich-besorgte Begrüßung.

Wir waren uns erstmals bei einer ihrer Lesungen im Schnabelewopski begegnet – unserem zweiten „literarischen Zuhause“. Hier trafen sich Lyriker, Prosaisten, aber auch Zuhörer, die ein Gespräch über Literatur suchten. Elisabeth Büning-Laube war nur eine unter vielen Poeten, aber sie wurde begrüßt als „beachtete Literatin“. Lebhaft, temperamentvoll, kämpferisch und charmant zugleich, wandte sie sich dem Einzelnen ganz zu, um besser zu verstehen, teil zu nehmen, aber auch um zu fördern oder zu beraten. Immer interessiert und – sehr belesen – war Elisabeth kritisch, direkt und schlagfertig zugleich. Im „Schnabel“ gestaltete sie auch selber Lesungen – ihre eigenen und die anderer – wie für mich oder für uns beide zusammen. So lernten wir uns kennen und schätzen. Ich war überrascht von ihrem freien und selbstbewusst-lockeren Umgang mit jedem, dabei war sie voller Neugier für alles, was Gedanken an Poesie anklingen ließ.

Elisabeth hatte eine ganz eigene, einfühlsame Art, ihre Gedichte vorzutragen. Bei einer unserer Lesungen empfand ich solche Freude daran – wie ihre geschriebenen Worte wieder Klang wurden – dass ich hineinrief: „Das ist es – geschriebene Worte klingen lassen – wie aus Noten Musik – kommt alle in mein Atelier – da können wir lesen – so lange und so oft wir wollen!“ Und sie kamen – auch Elisabeth Büning-Laube kam – so entstand „Lesen im Atelier“. Nach ersten Treffen nahm sie uns mit in ihren Salon.

Der „Literatur – Kultur – Salon Elisabeth Büning-Laube“ war etwas Besonderes. Sie lud Schreibende ein, ihre eigene Lyrik oder Prosa in einer Lesung vorzustellen – ernste bis heiter-humorvolle, aber auch eigenwillig-originelle. Alle hatten eine eigene Sprache in Inhalt, Form und Aussage – so wurde jede Lesung erfrischend ungewöhnlich.

Elisabeth gelang es immer, eine Atmosphäre von gegenseitigem Verständnis zu schaffen. Jede/r Lesende fühlte sich angenommen und – auf der Suche nach dem eigenen Ziel – verstanden. Dabei war ihre kritische Offenheit verblüffend und herausfordernd. Meinungsverschiedenheiten gab es oft, sie wurden diskutiert und von ihr mit Scharfsinn hinterfragt. Auf diese Weise gingen wichtige Impulse von ihr aus.

Zu jeder Lesung gehörte auch eine Ausstellung von Bildern – auch ihrer eigenen, denn Elisabeth hat auch selber gemalt. Lieder wurden mit Klavierbegleitung vorgetragen. Bald mussten die Stühle enger gerückt und der Pausenkuchen kleiner geschnitten werden. Es gab auch immer etwas zu helfen: Stühle schleppen, servieren, was als Stärkung für die Pause bereit stand oder den Vortragsraum wieder in einen bewohnbaren Zustand versetzen. Danach saßen wir an einem großen runden Tisch, oft um das Aquarium mit vielfarbig schimmernden kleinen und großen Diskusfischen, um den Ablauf der letzten oder nächsten Lesung zu besprechen.

Elisabeth führte die Gäste auch gerne auf ihren Balkon. Er bot durch Blüten und Kletterpflanzen den Ausblick in die von hohen Häusern eng begrenzte „Weite“. Die Mauern wurden unsichtbar, denn die vielen Fensterscheiben reflektierten das Sonnenlicht in unzählige Blumentöpfe, Blüten und Ranken. Sie liebte es, aus der Hinterhofkargheit nicht nur eine Hinterhofidylle, sondern ein blühendes Wunder entstehen zu lassen – ihre „hängenden Gärten der Semiramis“.

Trauer künden
die grauen Steine
der großen Stadt
Der Frühling sprengt
ihr hartes Echo
und aus dem
gebrochenen
Fels der Häuser
bricht mit Macht
ins Graue
die lichte Narzisse.

Die Begrüßung der Zuhörer verlieh den Lesungen einen festlichen Anklang: Für Elisabeth – als Moderatorin – war es „ihr Auftritt“ auf dieser kleinen eigenwilligen Literatur–Kultur–Bühne, für die Zuhörer eine Überraschung, denn sie trug dann einen großen Hut. Der letzte war aus rosaroter Organza-Seide mit ebenso zarten rosaroten Blüten besetzt. Dieser zauberhafte Seidenhut verlieh ihrem dunkelroten Haar und dem schmalen Gesicht zarte grün-farbige Schatten. Er ließ die kleine Gestalt viel größer erscheinen – so groß wie ihre Träume: Kunst, Musik – und vor allem der Dichtung – Raum zu geben zur freien Entfaltung und – zur eigenen Lebensfreude. Wie oft hat sie zu mir gesagt: „Wir sind alle auf dem Weg – Du musst ihn nur mit Freude gehen.“

Engel fallen selten
sie fliegen –
Fallen sie, fallen sie sehr leise
wie frischer Schnee
den wir erst spüren
wenn er unsere Haut
zerfließend berührt.

Es scheint Engel zu geben
die werden immer lichter
in ihrer Liebe zum Menschen.

Ständig wachsen in mir bewegte
widerspenstige Gedanken
die ihn erschüttern
Mein Engel hat es sehr schwer
ich bin so leicht
dass mich der leiseste Wind
entführen kann.
Bald schenkt er mir Flügel.

Ihre Gedichte sind ihrem Leben abgelauscht – aus der Tiefe ihrer sicherlich oft schmerzlich erworbenen Erfahrung herausgehoben – Anklänge einer gesuchten und gefundenen inneren Harmonie. Sie öffnen den weiten Horizont einer intensiv durchlebten Gedankenwelt von zarter Poesie bis hin zu kraftvoller Dynamik. Sie öffnen ein Spektrum von fein empfundener Lyrik – geschrieben aus Freude und Schmerz. Und doch klingt immer ein Hauch von Humor in ihren Zeilen mit, als wollte sie sagen:

„So ist es eben – das ist das Leben – oder hast Du gedacht, Du wirst ins Paradies geboren? – Das musst Du dir schon selber erst ‚er-leben‘ – aber dann ist es voller Wunder.“

Das etwa waren ihre Worte – so hat sie gelebt – sehr einfach und bescheiden. Unscheinbares hat sie als beachtenswert wahrgenommen, um dann das für sie einzig Richtige entschieden zu tun – es hervorzuheben. Dabei verfügte sie über ein feines Gefühl für Qualität und Werte besonderer Art. Auch wusste sie noch, was Krieg und Frieden bedeuten. Sie ließ keinen Zweifel an ihrer Haltung für ein friedliches, menschlich-positives Miteinander aufkommen.

Gemeinsam standen wir Tuch an Tuch
gegen Kriege
in eisiger Kälte
die unsere Kleidung zerbiss
Als eine Fürbitte
um den Heiligen Geist
für Saddam
über das Pflaster am Rathaus rollte
Wusste ich wie vergeblich unser
Ruf nach Frieden
nicht vergeblich unser Streben.

Elisabeth Büning-Laube hat uns ihre Idee vom freien Denken und selbstbewussten Leben vorgelebt. Sie war in mancher Hinsicht wegweisend. In der Erinnerung begegne ich ihr mit herzlicher Dankbarkeit: Sie hat mich – und wahrscheinlich auch andere – „auf den Weg gebracht“. Es war ihre Idee, dass ich meine Lyrik und Prosa im „Kultur-Haus-Berlin“ vorstellen durfte. Sie veranlasste auch, dass ich in der von ihr als Herausgeberin kreierten Buchreihe „KunstLive“, Edition XIM „Virgines“, vier Bild-Gedicht-Bände veröffentlichen konnte. Seither folgten zahlreiche eigene Lesungen. Und – „Lesen im Atelier“ ist heute noch sehr „lebendig“.

Seit dem Tod von Elisabeth Büning-Laube hat sich die literarische Szene in Düsseldorf weiter entwickelt. Sie gleicht heute einem dichten Netzwerk mit immer neuen Impulsen – auch der jüngeren Generation. Dazu hat Elisabeth Büning-Laube durch ihre Anregungen und Initiativen unvergessen beigetragen.

Die Gedichte von Elisabeth-Büning-Laube sind „KunstLive“ Band 13 „Farbbogen“ – Anthologie – entnommen. Herausgeberin Elisabeth Büning-Laube, Edition XIM „Virgines“, 1. Auflage 2003.

Gepa Klingmüller

Konstanze Petersmann: Wenn der Tag verweht und die Schatten wachsen

Wenn der Tag verweht und die Schatten wachsen

der Vogel im rauschenden Lied
ist verstummt, Sterne murmeln
: außerhalb, ... in fernsten Nebelauen
– ein schweigender Kreis;

dort schwebt die Feder über das Wasser,
versinkt die köstliche Perle darin,
... im Lichtkegel sehe ich
drei finstere Fenster im Turm;

dahinter spiegelt sich die Rose im
Venezianischen Rot auf dem Fächer,
... auf den Wegen liegen Erinnerungen
– im versiegelten Quell

Ich erinnere mich an Elisabeth Büning-Laube.

Wir, Elisabeth Büning-Laube und ich, begegneten uns auf der Ebene des „Kleinen Prinzen“ – das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.

Wiederum lebte sie und sprach durch ihre Fantasie. Ihre Kreativität gab ihr den sicheren Mut, meiner Lyrik eine gute Zukunft vorauszusagen. Sie war Herausgeberin meiner ersten Gedichte in der Edition XIM Virgines Düsseldorf.

Den Salon-Gedanken der Salonnière Büning-Laube griff dann mein Ehemann ein Jahr nach ihrem Tod auf. Im Jahr 2006 setzte ich diese Anregung in die Tat um, zusätzlich inspiriert durch die Salonnière, Schriftstellerin und Hofrätin aus Danzig, Johanna Schopenhauer, die Mutter des großen Philosophen Arthur Schopenhauer, die mit ihrem bürgerlichen Salon die Anlehnung an den Musenhof der Anna Amalia zu Weimar suchte.

In Dankbarkeit erinnere ich mich an Elisabeth Büning-Laube, deren Vorname ‚Elisabeth’ im Babylonischen heißt: Eli si beti: Unser Gott ist sieben (Vater, Mutter = Sonne, Mond und die fünf Planetenkinder). Der Kreis schließt sich, denn die Sieben war die Glückszahl von Elisabeth Büning-Laube, wie sie sich selbst zum siebenjährigen Bestehen ihres Salons im Jahr 2003 bei einem Interview gegenüber der WZ äußerte.

Januar 2015

Frank Schmitter: Zartheit und Zähigkeit. Meine Erinnerungen an Elisabeth Büning-Laube

Ich war bereits über 40 Jahre alt und als Schreibender ein Kind. Ein Kind, das die Haustür ganz vorsichtig öffnet und erste Gedichte an Internet-Zeitschriften schickt wie die „Federwelt“, ein immer noch existierendes Periodikum, das der an intellektueller Langeweile leidende Zivildienstleistende Titus Müller gegründet hatte. Er, der mittlerweile arrivierte Schriftsteller, druckte 1999 meine ersten Gedichte und erwähnte, dass eine Düsseldorfer Malerin, Autorin und Förderin junger Talente bald seinen ersten Gedichtband publizieren würde. Ob ich nicht …
Und ob. Ich schickte ihr einen Stapel meiner Gedichte, und sie meldete sich und sagte, dass sie sich da etwas vorstellen könne in ihrer Verlagsreihe. Und schickte damit das Kind in den Himmel.

Monate danach lud sie mich in Düsseldorf – ich glaube, ins Theatermuseum – zu einer Lesung gemeinsam mit Elisabeth Hoheisel und Titus Müller, deren Bände in der Reihe "KunstLive" bereits erschienen waren. (Erst nach jener Lesung unterschrieb ich den Vertrag mit dem Verleger Georg Aehling und wäre, wenn das technisch überhaupt möglich wäre, noch vom Himmel weiter aufgestiegen.)

Bei dieser Gelegenheit sah ich sie zum ersten Mal, diese körperlich so zarte Person, mit einer Vorliebe für farbige Kleidung und extrovertierte Hüte. Ein Vogel, dem man instinktiv wünschte, nicht im nächsten Augenblick von der Katze Welt gerissen zu werden. Aber damit unterschätzte man sie. In dieser Person steckte eine Beharrlichkeit und Überzeugungskraft, die kaum einer von hundert besitzt. Sie hatte im Leben zu viel gesehen und zu viel durchlitten, um sich von ihrem Kurs abbringen zu lassen. Elisabeth Büning-Laube tat, was sie tun wollte und das war das, was sie einfach tun musste. Sie wusste sehr wohl, dass mancher im Kulturamt und in anderen Institutionen auf sie, die nie studiert, die nie künstlerisch-literarisch wirklich „reüssiert“ hatte, mit saturierter Überheblichkeit herabblickte. Sie vertraute ihrem gesunden Menschenverstand, sie vertraute sich selbst. Sie bildete sich ihre Meinung und äußerte sie. Nie vorsätzlich verletzend, niemals opportunistisch oder berechnend, aber klar und eindeutig. Sie war Widerstands-fähig.

Und sie besaß noch eine weitere, so seltene Charakterqualität: Sie förderte nicht andere, um im eigentlichen Sinne sich selbst zu promoten. Sie lud nicht andere Lyriker ein, um ihre eigene Lyrik zu lesen oder auf ihre Bilder zu zeugen. Ihr Salon, ihr Einsatz für andere AutorInnen war kein Deal. Sie gab, ohne gleichzeitig nehmen zu wollen.

Ich sah sie danach nur noch ein einziges Mal, bei einer Lesung in ihrem legendären Salon. Ich las meine Gedichte direkt nach einer Punkband, als die Fensterscheiben noch zitterten und den Zuhörern die Ohren klingelten. Egal. Ihre Wohnung platzte schier aus den Nähten, aber in dieser drangvollen Enge gediehen Kontakte und Gespräche.

Wir blieben in Kontakt, notgedrungen auf Distanz, weil ich in München lebte und lebe. Sie brachte noch zwei weitere Titel von mir in ihrer Reihe in der Edition XIM Virgines. Dann hörte ich über Georg Aehling von ihrer schweren Erkrankung und schrieb ihr einen langen Abschieds- und Dankesbrief. Aber noch einmal trug ihre ungewöhnliche Zähigkeit den Sieg davon, wenngleich es ein temporärer Sieg blieb. Sie kehrte aus dem Hospiz in ihre Wohnung zurück. Das passte zu ihr: Selbst der Tod hatte ihre Kraft unterschätzt, nicht für lange, aber doch für einige Monate.

Ellinor Wohlfeil: Erinnerungen an Elisabeth Büning-Laube

Elisabeth Büning-Laube – mit Dankbarkeit denke ich an die Zeit zurück, in der wir gemeinsam mein erstes Buch herausgegeben haben. Sie hat ihm den Titel gegeben „Verwässerte Zeugnisse“ und es in ihrer Reihe KunstLive veröffentlicht. Inzwischen heißt es „Kein menschlicher Makel – weder gestern noch heute“. Der Verlag 3.0 in Bedburg hat es neu aufgelegt. Es war schön, mit Elisabeth zu arbeiten. Sie ist mit mir den ganzen Text durchgegangen, sehr einfühlsam, zurückhaltend, fast ein bisschen schüchtern mit Respekt vor der Autorin. Sie wollte mir nicht irgendetwas aufzwingen. Wir haben alles gemeinsam besprochen und wir verstanden uns auf einer tieferen seelischen Ebene, waren wir doch beide Opfer des Nationalsozialismus. Ich habe viel von ihr gelernt und ihre Anregungen und gelegentliche Kritik waren für mich sehr wertvoll. Ich zehre noch heute davon.

Ihre Persönlichkeit habe ich immer bewundert. So klein und zierlich sie war, verfügte sie doch über eine starke innere Kraft und Energie. Mit großer Intensität widmete sie sich ihrer Arbeit, sei es der Salon, ihre eigene schriftstellerische Tätigkeit oder der Umgang mit den Menschen, die sie fördern wollte, so wie mich. Ein Erlebnis, das so typisch für Elisabeth Büning-Laube war, ist mir besonders im Gedächtnis geblieben: Es war an einem heißen Sommertag. Da ich keine Termine hatte und auch nicht damit rechnete, dass jemand mich zu sprechen wünschte, ging ich zum Unterbacher See schwimmen. Ich kam gerade pudelnass aus dem Wasser, als mein Handy klingelte. Elisabeth Büning Laube war es.
„Wo stecken Sie denn?“ hörte ich ihre Stimme sagen.
„Am Unterbacher See schwimmen.“
„Wieso gehen Sie schwimmen, wenn Sie ein Buch herausbringen wollen? Nun kommen Sie mal ganz schnell hierher, aber vor 14 Uhr, danach bin ich nicht mehr da.“
So schnell bin ich noch nie zum Bus gerannt. Als ich um Viertel vor Zwei an ihrer Wohnungstür stand, empfing sie mich mit einem strahlenden Lächeln. Was damals so eilig sein musste, weiß ich gar nicht mehr genau. Aber so war sie, sie gab alles für die Dinge, die sie sich nun einmal vorgenommen hatte, und die ihr Leben ausfüllten.

Und sie gab auch alles für ihre Überzeugungen. Als vor Jahren am Bahnhof Wehrhahn eine Gruppe von jüdischen Flüchtlingen aus Russland angegriffen wurde und eine Frau zu Tode kam, ging sie noch Tage später zu der Stelle und legte Blumen nieder.

Trotz ihrer angegriffenen Gesundheit stellte sie sich bei schlechtem Wetter zu einer Demonstration gegen Rechts auf den Rathausplatz. Dinge, die ich auch hätte tun sollen und auch tun wollte, aber aus Bequemlichkeit dann doch unterlassen habe. Sie tat es.

Elisabeth Büning-Laube – ich habe sie geliebt und verehrt und ich vermisse sie!

Website: ellinor-wohlfeil.de

Reisen in die Phantasie. Barbara Oertel-Burduli starb

Sie war ein Mensch, der in einem Raum wie auf einer Bühne auftrat. Voller Elan und gestenreich schilderte sie ihre Ideen, die es dann demnächst auf der Bühne zu sehen gab. Es schien, als habe sich immer schon eine Schar treuer Fans im Alter von sechs bis sechszehn Jahren um Barbara Oertel-Burduli mit ihren wachen Augen und der roten Lockenpracht versammelt. Welches Theater schafft es sonst, dass die Vorstellungen zu 90 Prozent ausverkauft sind? Das Düsseldorfer Kinder- und Jugendtheater ragt wie ein Leuchttum über viel pädagogisch Gutgemeintes hinaus und sendet sein Licht. Doch die Frau, die die Laterne angezündet hat, ist jetzt im Alter von nur 57 Jahren gestorben.

Den direkten, spontanen Kontakt mit Kindern hat sie immer schon gesucht - sie empfand ihn als Jungbrunnen. Barbara Oertel-Burduli nahm ihre Theaterbesucher mit auf phantastische Reisen und ließ sie mitmachen. Sie verstand sich selbst als Mutmacherin, Angstvertreiberin und Sehnsuchtmacherin, die ihr Theater der Bilder, Klänge, Gerüche und Farben bewusst gegen eine verkopfte High-Tech-Welt einsetzt. Dabei sollen keine Rezepte, sondern Impulse gegeben werden, die junge Menschen dazu ermutigen, Fragen zu stellen und nach Antworten zu suchen.

Barbara Oertel-Burduli wurde in Leipzig geboren, kam als 16-Jährige mit ihren Eltern aus der DDR in die Bundesrepublik und wollte Schauspielerin werden. Nach ersten Auftritten in Wiesbaden entschied sie sich, Psychologie, Philosophie, Germanistik, Theaterwissenschaft und Zeitungswissenschaft in München und Wien zu studieren. In ihrer Doktorarbeit entwickelte Oertel-Burduli eine Theaterstückanalyse nach theaterwissenschaftlichen Methoden und schlug dann die Dramaturgen-Laufbahn ein. Sie arbeitete beim Berliner Hansa-Theater, bevor sie Anfang der 70er Jahre mit dem festen Vorsatz, ein Kindertheater aufzubauen, nach Saarbrücken ging. Richtig umgesetzt hat sie diesen Plan sechs Jahre später in Düsseldorf.

Zunächst zog die couragierte Frau mit ihrer Truppe von Provisorium zu Provisorium bis sie eine ehemalige Maschinenhalle im Stadtteil Rath angeboten bekam. Im September 1993 eröffnete Barbara Oertel-Burduli dort nach jahrelangem Umbau ihre eigene feste Spielstätte, für die sie - unterstützt von ihrem Mann Alex, aus Georgien stammend, wie eine Löwin gekämpft hatte.

Musik, Tanz und Gesang haben einen festen Platz in ihren Mitspielstücken, den neuen Märchen nach alten Vorlagen und den Inszenierungen, die sich mit Intoleranz, Gewalt und Ausländerfeindlichkeit auseinandersetzen. Das Musical "West Side Story" gehört zu den Höhepunkten unter den vielen Inszenierungen; die Theaterleiterin selbst erinnerte sich am liebsten an "Hänsel und Gretel" in Zusammenarbeit mit der Deutschen Oper am Rhein.

"Ich würde sofort aufhören, wenn ich spürte, dass die Phantasie der Kinder in eine ganz andere Richtung geht als meine", hat Barbara Oertel-Burduli einmal über sich gesagt. Sie musste nun gehen. Kinder, Jugendliche und Erwachsene sind traurig.

Rheinische Post, 18. Juli 2002. Natascha Plankermann

Interview der RP-Mitarbeiterin Helga Bittner mit Barbara Oertel-Burduli vom 18. Oktober 2000

"Ich möchte jungen Menschen Impulse geben"

25 Jahre Kinder- und Jugendtheater Düsseldorf heißt auch 25 Jahre unter der Chefin Barbara Oertel-Burduli. Intendant Günter Beelitz brachte die junge Dramaturgin zu Beginn seiner Amtszeit mit ans Schauspielhaus. Sie begründete das Kinder- und Jugendtheater als eigenständige Abteilung des Düsseldorfer Theaters. Wie es in der Vergangenheit war und in der Zukunft noch werden soll, wollte RP-Mitarbeiterin Helga Bittner von ihr wissen.

Was hat Sie damals bewegt?

"Schon in meiner Zeit als Dramaturgin an Erwachsenentheater wusste ich: Wenn man Menschen ins Theater locken will, muss man bei ganz jungen Menschen anfangen, am besten schon im Kindergartenalter. Ich habe dann immer nur ein Ziel gehabt: ein eigenes Haus für das Kinder- und Jugendtheater. Das hat mich auch in den harten Anfangszeiten immer bei der Stange gehalten."

Was hält Sie jetzt bei der Stange?

"Vor allem das Mitspieltheater. Da hab ich einen so direkten, spontanen Kontakt mit den Kindern, das ist wirklich ein Jungbrunnen. Mich reizt als Herausforderung; Wie lange kann ich das? Bleibt meine Phantasie und die der Kinder verbunden? Ich würde sofort aufhören, wenn ich spürte, dass die Phantasie der Kinder in eine ganz andere Richtung geht als meine. Dann wäre es Zeit, dass andere es machen. Aber solange die Dinge noch stimmen für die Kinder, die Eltern und für mich, halte ich mich für kompetent, Kindertheater zu machen."

Haben Sie manchmal nicht ein bisschen Angst davor, was mit dem Theater geschieht, wenn Sie die Leitung mal abgeben?

"Es gibt viele gute Kindertheaterleiter, und das Düsseldorfer Haus ist mit Sicherheit sehr attraktiv. Aber es wäre schon wichtig, die Kontinuität zu wahren, in Richtung Schulen zum Beispiel. Natürlich wird es jeder anders machen, aber man sollte schon versuchen, jemanden sehr froh mit dieser Materie vertraut zu machen."

Sie haben bereits unter drei Intendanten gearbeitet. Sind die Unterschiede sehr groß?

"Günther Beelitz und ich - wir haben uns unglaublich aneinander gerieben. Aber dadurch habe ich die notwendige Härte entwickelt, für die ich ihm heute sehr dankbar bin. Ich wäre sonst sicher nicht so hart im Nehmen geworden. Und das war notwendig in der Geschichte des Theaters."

Mit Volker Canaris habe ich gelernt, wie fair man miteinander umgehen kann. Er hat immer sehr genau zugehört und mir die nötige Freiheit gegeben. Er hat das Kindertheater und mich als erwachsenen, künstlerischen Partner akzeptiert.

Frau Badora vertraut mir voll und ganz. Wir sitzen unter einem Dach, aber akzeptieren uns als eigenständig. Es ist eine sehr faire, partnerschaftliche Zusammenarbeit. Ich muss meinen Spielplan nicht mehr verteidigen."

Was möchten Sie mit ihren eigenen Stücken bewirken?

"Natürlich versuche ich von Ängsten, Sehnsüchten und Hoffnungen aller Menschen, großer und kleiner, zu erzählen, und bringe da auch sicher meine Erinnerungen an das Jungsein hinein. Aber ich will keine Rezepte geben - dass hasse ich -, sondern Wegweiser und Impulsgeber sein, junge Menschen dazu ermutigen, eigene Fragen zu stellen und vielleicht nach Antworten zu suchen."

Haben Sie eine Lieblingsinszenierung?

"Die schönste Arbeit war sicherlich "Hänsel und Gretel" mit der Oper unter Kurt Horres. Die Vorstellungen waren ständig ausverkauft. Ich hätte gerne noch einmal so etwas gemacht. Aber leider kam bei entsprechenden Vorstößen beim letzten Opernchef Tobias Richter nichts heraus."

Und die unangenehmste Erinnerung?

"1984, zum Nato-Nachrüstungsbeschluss, sollte es ein Stück von einer jungen Nachwuchsautorin geben. Aber darüber, wie es aussehen sollte, haben wir uns alle verkracht, die Autorin, das Ensemble und ich. Wir sind trotzdem mit dem Stück herausgekommen und wurden von allen verrissen. Dann hatte ich mit Beelitz einen so fürchterlichen Streit, in dem er mich schließlich gezwungen hat, ein eigenes, neues Märchen zu schreiben. Seitdem mache ich das regelmäßig."

Was muss ein Schauspieler für das Kindertheater mitbringen?

"Ich brauche dieselben Schauspieler wie das Schauspielhaus, aber sie müssen eines zusätzlich haben: starke Nerven. Denn es gibt immer wieder Vorstellungen, die gestört werden. Aber man muss sich auch darüber im Klaren sein, dass derartig heftige Emotionen oft Reaktionen auf das ungewohnte Live-Erlebnis sind."

Mussten Sie schon mal eine Vorstellung abbrechen?

"Nein, das haben wir bisher zu verhindern gewusst."

Haben Sie einen besonderen Wunsch für die Zukunft?

"Ich wünsche mir zehn Millionen Mark. Sofort. Ich habe doch noch so furchtbar viele Ideen. Ich wünsche mir, immer weniger ‚das geht nicht' zu hören. Und ich wünsche mir, dass die Probebühne als dritte Experimentierstätte genutzt werden darf. Da gibt es zur Zeit noch bautechnische Probleme."

Rheinische Post, 18. Juli 2000

Laudatio des Düsseldorfer Frauenforums auf Doris Burkhardt zur Verleihung der Ehrenbrosche des Frauenforums

Verfasst und gehalten von Barbara Herz, Frauen-Bücher-Zimmer
am 8. März 2001 im WBZ, Bertha von Suttner-Platz, Düsseldorf

Meine Damen und Herren, meine liebe Doris,

ich freue mich, Sie und Euch begrüßen zu dürfen zur Ehrung für Doris Burkhardt, die heute mit der Ehrenbrosche des Frauenforums ausgezeichnet wird.

Wir Frauen vom Frauenforum fanden, dass in unserer Heimatstadt - wie in vielen Städten - das Engagement und die ehrenamtliche Arbeit von Frauen nicht recht gewürdigt wird und starteten deshalb im letzten Jahr die Vergabe dieser Ehrenbrosche, die nun immer zum 8. März, dem Internationalen Frauentag, einer Frau aus dem Frauenforum für ihre hervorragende Arbeit verliehen wird.

Zur Erklärung, falls einige von Ihnen nicht recht wissen, was sich hinter dem Begriff „Frauenforum“ verbirgt: Das Frauenforum ist ein Zusammenschluss von Düsseldorfer Fraueninstitutionen, Frauenvereinen und -verbänden sowie Düsseldorfer Bürgerinnen. Wir tagen immer am 2. Mittwoch im Monat im Rathaus und beschäftigen uns mit frauenpolitischen Themen; wir unterstützen einander so gut wir können und versuchen, der Stadt politischen Dampf zu machen, wenn es um die Sache der Frauen geht.

In diesem „Frauenforum der Stadt Düsseldorf“ hat Doris Burkhardt - von einer kurzen Auszeit abgesehen - sehr engagiert mitgewirkt.

Nun zunächst allgemein wenige Einblicke in das Leben von Doris Burkhardt. Sie wurde 1938 geboren und verlebte Kindheit und Jugend in Herdecke und Hagen. Nach einer Ausbildung zur Kaufmannsgehilfin arbeitete sie einige Jahre als Lohnbuchhalterin. Der Wunsch, im Sozialbereich tätig zu werden, ließ sie nicht los. So schloss Doris 1966 mit Erfolg hier in Düsseldorf im Evangelischen Krankenhaus die Kinderkrankenpflege-Ausbildung ab und war einige Jahre als Kinderkrankenschwester in Krankenhäusern und Kinderheimen tätig.

In Frankfurt am Main arbeitete sie in einem städtischen Kinderheim - für ein Jahr sogar nur halbtags -, um mit 37 Jahren noch bei einer Fachschule für Sozialpädagogik die so genannte Fremdenprüfung zur „Staatlich anerkannten Erzieherin“ gut zu bestehen.

Doris erzählte mit Stolz, dass sie in den 70-er Jahren in Frankfurt an der „Wiege der neuen Frauenbewegung“ gelebt und gewirkt habe und dass diese Zeit der Frauen-Foren sie sehr beeinflusst hätte. Sie wohnte nach ihrer Frankfurter Zeit in Nordbaden für ein Jahr in Mosbach als Untermieterin in dem dortigen Frauenzentrum. Von dort aus nahm sie im Mai 1981 an dem ersten bundesweiten Kongress der „Fraueninitiative 6. Oktober“ in Bonn teil. - Das Markenzeichen von Doris war wohl auch schon damals das einer aktiven Frauen-Kämpferin. Wir „alten Häsinnen“ wissen ja, dass sich gerade auch in kleinen Orten die Frauen auf den Weg machten, um Erstaunliches zu leisten. Der Kampf um die Streichung des § 218 zum Beispiel mobilisierte viele Frauen und animierte sie immer wieder, ihren Forderungen auch auf anderen Gebieten kreativ nachzugehen.

Seit Herbst 1981 lebt Doris wieder in Düsseldorf und arbeitete noch viele Jahre im psycho-sozialen Bereich der Altenpflege (Gruppenarbeit/ Gedächtnis-Training). Heute gibt sie als Rentnerin ehrenamtlich in einer Senioren-Begegnungsstätte einmal wöchentlich einen Kurs „Gedächtnistraining“.

Bei einem Besuch in ihrer kleinen Wohnung mit Balkon in zentraler Lage empfand ich diese wie ein Archiv: Zu jedem Frauen-Thema hat sie die passenden Zeitungsausschnitte, Aufsätze und Bücher gesammelt und geordnet, dazu auch sehr, sehr viele Bilder. Ein beeindruckendes Zuhause einer Frau, die sich ganz den frauenpolitischen Zielen verschrieben hat.

Doris brachte sich mit ihrer Erfahrung und Kreativität dann erfolgreich in die Düsseldorfer Frauenbewegung ein. Das Gedankengut ihrer Frankfurter Zeit und besonders das der „Fraueninitiative 6. Oktober“, Bonn, deren Auffassung vom Feminismus ihrem eigenen Denken entsprach, gab sie als Impulse weiter – und den Bonner Frauen für deren „Ifpa“ (Initiative Frauenpresse-Agentur mit bundesweitem Verteiler) manche Information aus Düsseldorf, z. B: über die Forderung des Frauenforums nach öffentlichen Geldern für obdachlose Mädchen in Düsseldorf oder über das „Aus“ der Frauenmesse in Düsseldorf oder über den bundesweit ersten „Frauen-Armutsbericht“ des Frauenbüros der Stadt Düsseldorf von 1999.

Für September 1982 - vor der ersten großen „Rentenreform 1983/84“ der Bundesregierung - organisierte Doris für die „Fraueninitiative 6. Oktober“ eine bundesweite Arbeitstagung in Düsseldorf - in Zusammenarbeit mit dem „Frauen-Bücher-Zimmer“, das auch seine Räume zur Verfügung stellte. Es wurde die Reform kritisch beleuchtet etwa nach dem Motto „Frauen leben länger - aber wovon?“ unter Frau Eva Rühmkorf, der bundesweit ersten Leiterin einer „Frauen-Gleichstellungsstelle“ in Hamburg. Ich erinnere mich gut, wie viele Abende wir uns ernsthaft, verärgert und enttäuscht mit diesem Thema beschäftigten.

Doris wurde bereits im Frühjahr 1982 für viele Jahre ehrenamtliche Mitarbeiterin bei der ersten Düsseldorfer Frauenzeitschrift „Kom'ma“ auf der Luisenstraße 7, und schrieb zunächst Terminankündigungen, später auch noch verschiedene Artikel.

Außerdem nahm Doris seit 1984 über vier Jahre an dem Volkshochschul-Kurs „Frauen in die Kommunalpolitik“, bei der Kom'ma angesiedelt, teil, den sie schließlich auch selbst leitete.

Bei ihrer Mitarbeit im „Frauenforum“ - bereits vor den monatlichen Sitzungen im Rathaus - brachte sie manche Ideen und Pläne ein. Mit Recht stolz ist sie auf ihr „Kind“ - die Forderung an die Stadt Düsseldorf nach einer „Ehrenamtsstudie über Frauen in Düsseldorf“. Diese Idee brachte Doris November 1987 im Frauenforum ein und sie wurde über viele Monate diskutiert - leider ohne das politische Ziel im Sinne des Frauenforums zu erreichen. Das Frauenforum war seiner Zeit oft voraus, denken wir doch, dass erst jetzt - 2001 - das „Jahr des Ehrenamtes“ ist!

Als 1997 die Stadt Düsseldorf ein Jahr lang für UNICEF für die Straßenkinder der Welt Spenden sammelte, initiierte und organisierte Doris im Frauenforum eine Diskussion und eine Resolution (November 1997) mit der Forderung an die Stadt Düsseldorf, öffentliche Gelder für die Mädchen-Obdachlosen-Arbeit regelmäßig einzusetzen - mit Erfolg, zum Beispiel für das „Trebecafé“ und den „Knackpunkt“ (für Mädchen).

Mit großem Engagement setzte Doris sich auch für die „Lokale Agenda“ ein, bei der sie im Arbeitskreis „Arbeit und Soziales“ mitwirkte (1998/1999) und darüber im Frauenforum berichtete. Die Vorstellung der Frauen für eine „Notwohnung für Opfer von Frauenhandel“ wurde im Rat der Stadt allerdings so stark verändert, dass sie später als Frauenprojekt nicht mehr erkennbar war.

In der Zeit der verstärkten Friedensbewegung (z. B. die Frauen-Friedenskette in Düsseldorf am 17.10.1983) wollten Düsseldorfer Frauen einen zentralen Platz nach einer Frau benennen. Wir stießen bei der Stadtverwaltung nicht auf großes Entgegenkommen, galt es doch - wie immer - unter einer großen Anzahl von Männern auszuwählen. Der Wunsch der Frauen, den Platz vor dem Carsch-Haus „Bertha-von-Suttner-Platz“ zu nennen, schlug fehl.

Aber Doris gab nicht auf und brachte im August 1984 den Punkt dieser Platzbenennung in Verbindung mit dem neuen Platz Hauptbahnhof-Ost als Vorschlag im Frauenforum ein - mit bereits vorbereiteten Briefen an die Stadt und organisierten Unterschriften-Listen. Dieser wurde von den anwesenden Frauen mehrheitlich akzeptiert und war somit auch Sache des Frauenforums. Damals tagte das Frauenforum u. a. in den Räumen der Kom’ma, Luisenstraße 7.

Zum Thema Platzbenennung Hauptbahnhof-Ost wandte sich Doris auch mehrmals mit Erfolg an die Presse - mit unterschiedlichen Informationen und Argumenten, zum Beispiel mit „Mehr Straßen und Plätze nach Frauen benennen“. Diese Hartnäckigkeit bewirkte, dass mit Hilfe von Frauen im Rat der Stadt das Ziel endlich erreicht und der neue Platz hinter dem Hauptbahnhof nach Bertha von Suttner benannt wurde. Ein lebendiger Platz, über den wir heute alle gegangen sind, um den „Internationalen Frauentag“ zu feiern.

Doris kam bei ihrer Arbeit fast immer ihre Fähigkeit zugute, Gedanken, die in der Luft lagen, auszusprechen. Immer wieder lieferte sie Artikel und Redebeiträge zu den anstehenden Themen, Und es ist sicher eine Kunst, im rechten Augenblick loslassen zu können, um auch fachkompetente Frauen zu finden, die ihre Gedanken in die Tat umsetzen.

Es ist nicht ihre Sache, in vorderster Reihe zu stehen. So ist es bezeichnend, dass sie seit Oktober 1996 als „Stellvertretende des Frauenforums“ im Frauen-Ausschluss der Stadt mitarbeitete, wobei sie häufig für die eine oder andere „Vertreterin des FF“ einsprang. Schließlich wurde sie dann seit 1998 selbst „Vertreterin für das FF“. - Aber nach einem Jahr legte sie 1999 frustriert die ehrenamtliche Arbeit im Frauen-Ausschluss nieder und ist dort jetzt als kritische Besucherin anzutreffen.

Doris hat die Eigenschaft, ausdauernd und mit langem Atem ein Thema zu bearbeiten.

Und so danken wird Dir, Doris, dass durch Deine Hartnäckigkeit mancher Brief geschrieben wurde, manches nicht im Sande verlief, weil Du wieder mit einem Artikel kamst, über den Du verärgert warst oder den Du zur Nachahmung in Düsseldorf empfehlen wolltest. Den Dank aller Frauen des Frauenforums darf ich Dir jetzt materialisiert in dieser Brosche, die auch als Anhänger getragen werden kann, überreichen. Ich gratuliere Dir von ganzem Herzen.

[Es gilt das gesprochen Wort.]

Dankesrede von Doris Burkhardt nach der Ehrung durch das Düsseldorfer Frauenforum am 8. März 2001 im WBZ

Liebe Barbara Herz, vielen Dank für deine Worte und insgesamt den Frauen des Frauenforums Dank für die Anerkennung meiner Mitarbeit!
Ich bin stolz, diese Ehrenbrosche zu erhalten - und das als Rentnerin, im Jahr des Ehrenamtes, im ersten Jahr des neuen Jahrhunderts und im 20. Jahr als Bürgerin dieser Stadt.
Düsseldorf ist mir in den vergangenen Jahren zur Heimat geworden - besonders durch meine nebenberufliche, mir sehr wichtige frauenpolitische Arbeit im außerparlamentarischen Bereich, unabhängig von politischen Partei-Programmen.
Im Alleingang wäre manches kaum möglich gewesen. Die enge Zusammenarbeit mit den autonomen Fraueninitiativen und mit dem Frauenforum und mit dem Frauenforum verliehen den Vorhaben mehr Nachdruck und zeigten: "Frauen gemeinsam sind stark!".
Für solidarisches Miteinander und gegenseitige Ergänzungen danke ich ausdrücklich den früheren und heutigen Mitstreiterinnen des Frauenforums.
Dieser Dank gilt auch dem Team des Düsseldorfer Frauenbüros und allen frauenfreundlich gesonnenen Personen im Düsseldorfer Rathaus und in der Volkshochschule!

Ich möchte sie alle hier ermuntern, Räume für Frauen und Mädchen zu fordern, zu schaffen und auszubauen - auf allen Ebenen im privaten und öffentlichen Bereich!

In diesem Sinne sei mir erlaubt, drei Beispiele zu nennen:

  1. Schaffung eines sofortigen eigenen Aufenthaltsrechtes für verheiratete Migrantinnen
  2. Bereitstellung ausreichender und angemessener konstanter Schutzräume mit Therapieangebot für Opfer von Frauenhandel - gegebenenfalls wie beim VRR als Verbundsystem von Städten in der Region!
  3. Schaffung eines Rechtsraumes mit gleichem Strafmaß bei gleicher Straftat bei sexueller Nötigung oder bei Vergewaltigung von Frauen mit und ohne Behinderungen. - Dazu werden auf dieser Veranstaltung Unterschriften gesammelt!

Erinnern muss ich Sie an das Jahr 1999 - und an die seit dem 8. März im Rathaus vorliegenden "Wahlprüfsteine" mit Forderungen des Frauenforums und außerdem an die Handlungs-Empfehlungen im Frauenarmutsbericht des Düsseldorfer Frauenbüros!

Abschließend erinnere ich Sie gern an Schlagworte, die auch mich begleitet habe:

Erlauben Sie mir, noch etwas anzumerken zum Thema "Ehrenamt": Es ist bekannt, dass die Frauen des Frauenforums ehrenamtlich, außerdem ohne Fahrgeld-Erstattung und ohne Erhalt von Sitzungsgeldern in Eigen-Regie abends tagen, um Müttern und Erwerbstätigen die Teilnahme zu ermöglichen.

Zwei delegierte Frauen des Frauenforums stellen sich außerdem zur aktiven Teilnahme an den Frauen-Ausschuss-Sitzungen zur Verfügung!

Für diese delegierten Frauen sollte im "Jahr des Ehrenamtes" endlich eine "Frauenförderung im politischen Ehrenamt" verwirklicht werden, das heißt: Dienstbefreiung am Arbeitsplatz und Erhalt von Sitzungsgeldern für Verdienstausfall und Erstattung von Fahrgeld-Auslagen! — Danke!

Was bedeutet mir hier und heute Lebensqualität?

Aus dem Nachlass von Doris Burkhardt, aufbewahrt im Frauen-Kultur-Archiv der HHUD.

Meine Rede zum Internationalen Frauentag

für das Frauenforum – am 8. März 1988 auf der DGB-Veranstaltung, Schadowplatz um 17 Uhr

Ich bin Doris Burkhardt und arbeite in der autonomen Frauenbewegung in Düsseldorf, unter anderem bei KOM’MA, der Düsseldorfer Frauenzeitung mit Veranstaltungskalender. Außerdem gehöre ich zur Initiative „Frauen ins Düsseldorfer Rathaus“ und arbeite hierfür auch in dem VHS-Kurs „Frauen in der Kommunalpolitik“.

Solidarisch mit der Arbeit der DGB-Frauen spreche ich heute für Frauen der autonomen Frauenbewegung in Düsseldorf.

Heraus zum Frieden – gegen die unsozialen Sparmaßnahmen!

Unter einer ähnlichen Losung fanden die ersten Demonstrationen zum Internationalen Frauentag vor dem 1. Weltkrieg in Deutschland statt.

Heraus zum Frieden – gegen die unsozialen Sparmaßnahmen! – unter diesem Motto erschien am 6. März 1982 in einer Düsseldorfer Tageszeitung eine Anzeige. – Frauen aus unterschiedlichen Bereichen, Gruppen und Initiativen der Düsseldorfer Frauenbewegung riefen darin zur Demonstration auf für den 8.3.1982.

Wir gingen immer wieder zum 8. März auf die Straßen. Die alten Forderungen und Kämpfe sind so aktuell wie eh und je. Ich will sie hier knapp zusammengerafft nennen:

Frauen fordern Frieden ohne Waffen. Wir wehren uns gegen Krieg und Militarisierung, gegen die Einbeziehung von Frauen in die Bundeswehr, gegen die Dienst-Verpflichtung von Frauen - auch im zivilen Bereich, - gegen die Herstellung, Lagerung und den Export aller Waffen! Wir wehren uns gegen Ausländerfeindlichkeit und Rassismus!

Wir fordern das Recht auf Erwerbsarbeit für alle mit Lohngleichheit – bei schrittweiser Einführung des Sechs-Stunden-Tages und Arbeitszeit-Verkürzung bei vollem Lohnausgleich, - eine eigenständige, Existenz sichernde Rente mit Anerkennung von Erziehungszeiten, dazu ausreichende Versorgung mit Kindertages-Stätten und Ganztagsschulen!

Wir fordern Recht auf Selbstbestimmung – wir wehren uns gegen Diskriminierung und Berufsverbot von Lesben, gegen die Herabsetzung der Frau als Sexual-Objekt, gegen frauenfeindliche Werbung und Berichterstattung in Schrift, Bild und Ton!

Wir erheben auch 1988 diese Forderungen! – Die Verwirklichung steht noch aus!

Der so genannte Fortschritt in Wissenschaft, Technik und Gesellschaft ist nicht immer im Sinne von Frauen. Hier einige Beispiele:

Die Gen- und Reproduktionstechniken schaffen neue Probleme im sozialen, ökologischen und ethischen Bereich und eröffnen neue Möglichkeiten der Ausbeutung von Frauen. Bei den Techniken – Zeugung im Reagenzglas/Embryonen-Verpflanzung – wird die Frau sozusagen zu einem „Gegenstand mit verwertbarem Material“ degradiert.

Außerdem bestehen die Gefahr der Selektion und die Gefahr der Manipulation an überzähligen Eizellen oder Embryonen. –

Es wird die fragwürdige Idee der „Pflicht der Frau zur biologischen Mutterschaft“ gefördert und die Würde der Frau herabgesetzt. – Unsere Selbstbestimmung verkehrt sich in eine Abhängigkeit von der Kontrolle verschiedener Experten. –

Wir wehren uns gegen Frauen verachtende Techniken!! - und gegen Einschränkungen der Meinungsfreiheit!

Hier muss ich zum Beispiel an das Essener Gen-Archiv und andere Gruppen erinnern, die im Augenblick besonderen Repressionen ausgesetzt sind, weil sie sich kritisch mit den Gen- und Reproduktionstechniken auseinander setzen.

Besonders sei erinnert an die kritischen feministisch arbeitenden Ingrid Strobl und Ursula Penselin, deren Haftentlassung wir fordern!

Die Koalitions-Absprachen über die neuen Strafgesetz-Entwürfe zur Problematik „Sexuelle Nötigung / Vergewaltigung in der Ehe/Konstruktion der so genannten „minderschweren“ Fälle können eine angestrebte Verbesserung für Frauen ins Gegenteil verkehren! – So wird zum Beispiel bei Vergewaltigung eine Herabsetzung der Mindeststrafe von zwei Jahren auf ein Jahr angestrebt.

Hier muss ich die bundesweite Forderung von Frauen nach Antidiskriminierungs-Gesetzen wiederholen! – In Bonn liegen bereits seit 1978 dazu Gesetzesvorschläge vor. Also seit 10 Jahren!! In den USA gibt es z. B. seit 1964 Anti-Diskriminierungs-Gesetze. -

Die Themen „Rechts-Stellung der Frau bei Vergewaltigung“, „Frauen-Nacht-Taxi in Düsseldorf“ und anderes mehr werden in der „Frauen-Woche“ vom 19. bis 26. März in der „Werkstatt“, Börnestraße, behandelt.

Ich weise hier außerdem auf die schreckliche Situation der Frauen auf dem Universitäts-Gelände hin und auf die dort ungenügend geregelte Verkehrs-Anbindung in dieser Stadt!! – Eine Hilfe und Verbesserung ist dringend erforderlich!

Eine weitere Einschränkung des Selbstbestimmungs-Rechts der Frauen bedeutet das geplante Beratungsgesetz zur Schwangerschaftskonfliktberatung. Jahrzehntelang kämpfen Frauen für die Streichung des § 218 aus dem Strafgesetzbuch. Anstatt dieser Forderung nachzukommen, soll der § 218 durch das Hintertürchen noch verschärft werden!

Das neue Beratungs-, oder ehrlicher gesagt, das neue „Bevormundungs“-Gesetz wird knallharte Richtlinien enthalten, hier nur die schlimmsten:

Frauen sollen zum Fortsetzen der Schwangerschaft sozusagen überredet werden und Partner, Eltern, Arbeitgeber sollen in die „Beratung“ mit einbezogen werden.
Die Beraterinnen/Berater und Ärztinnen/Ärzte in den Beratungsstellen sollen zur Teilnahme an Fortbildungsmaßnahmen zum Thema „Schutz des ungeborenen Lebens“ verpflichtet werden. Insgesamt soll die Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs verzögert und erschwert werden – das heißt, Frauen sind in Ihrer Not weiteren Repressionen ausgesetzt. Das geplante Beratungs-Gesetz wird nicht die Anzahl der Abbrüche verringern, sondern Frauen in die Illegalität zurückstoßen! (sprich zum Beispiel Hollandfahrten! – und was machen Frauen ohne Geld??!

Deshalb fordern wir Beratungsangebote auf freiwilliger Basis, die Finanzierung von Beratungsstellen wie „Pro Familia“ und Frauen-Gesundheits-Zentren, die ersatzlose Streichung des § 218 aus dem Straf-Gesetz-Buch und die sofortige Zurücknahme des geplanten Beratungs-Gesetzes! – Frauen wehren sich gegen Zwangs-Mutterschaft! Weitere Informationen mit Unterschriften-Listen und „solchen Handzetteln“ finden Sie oder findet Ihr an dem Informations-Stand! –

Die Zahl der erwerbslosen Frauen steigt weiter! – trotz zunehmender Qualifikation! – und für die Einrichtung gesellschaftlich notwendiger Arbeitsplätze fehlt angeblich das Geld! Die in Statistiken nachgewiesene materielle Armut vieler Frauen im erwerbsfähigen Alter und in der Rentenphase wird offensichtlich vorprogrammiert. –

Ein besonders deutliches Beispiel von Repression von Frauen in Düsseldorf ist die Situation der Alleinerziehenden. Häufig besteht Wohnungsnot! Frauen, die einer Erwerbsarbeit nachgehen wollen, fehlt die bedingungslose Bereitstellung eines Kinderbetreuungsplatzes. Die Bereitstellung in den Einrichtungen hängt unter anderem von dem Nachweis ab, dass sie als so genannte „Arbeitssuchende“ beim Arbeitsamt gemeldet sind, - andererseits unterliegt diese Frau beim Arbeitsamt selbst dem Nachweis-Zwang, dass sie eine Kinderbetreuungsstelle hat, bevor sie überhaupt als Arbeitssuchende dort registriert werden kann. – Es ist eine Zwickmühle, die von der Stadt gelöst werden muss!

Wir fordern an dieser Stelle mit Nachdruck Erhalt und Schaffung neuer Arbeitsplätze – auch in den bereits bestehenden Düsseldorfer Frauenzentren! – und ein konsequentes Einsetzen von Frauenförderplänen auf allen Ebenen und in allen Bereichen – mit entsprechenden Kontroll-Instanzen nach der Kurzformel:

„50 aller Plätze für Frauen!“! Insgesamt werden Rat und Verwaltung der Stadt Düsseldorf mit ihrer Vorreiter-Funktion besonders angesprochen. Die finanzielle Sicherstellung von Personal – und Sachkosten für Arbeitslosen-Selbsthilfegruppen muss als Pflichtaufgabe ein Bestandteil des Sozialetats sein! –

Der Versuch, Feindbilder abzubauen, ist ein erster Schritt zum Frieden: Wir wollen eine abgerüstete Welt, in der die bisher für Waffen verschleuderten Gelder sinnvoll genutzt werden, zum Beispiel für den Umweltschutz und im sozialen Bereich. Damit wäre ein größeres Maß an Sicherheit erreicht als mit der Hochrüstungspolitik!

In diesem Sinne möchte ich mit Ihnen, beziehungsweise mit Euch Frauen hier – auch im Hinblick auf die Haushaltspolitik dieser Stadt! – zum Internationalen Frauentag 1988 ausrufen:

Heraus zum Frieden – gegen die unsozialen Sparmaßnahmen!

Dass ich als so genannte „Nichtorganisierte“ auf dieser DGB-Frauen-Veranstaltung spreche, soll ein Anfang sein, den eigentlich bestehenden Konsens zwischen den verschiedenen Frauengruppen deutlicher zu machen. Ich hoffe und wünsche darüber hinaus, dass im nächsten Jahr zu „partnerschaftlichen Bedingungen“ eine gemeinsame Veranstaltung von organisierten und autonomen Frauengruppen zum 8. März möglich wird!

Gesprochen habe ich für: Beratungsstelle Frauen in Not, Kölner Str.; Demokratische Fraueninitiative (DFI); Frauen-Archiv; Frauen-Bücher-Zimmer (F-B-Z) In der Becherstraße (am Münsterplatz); Frauencafé Benrath; Frauencafé Hexenkessel; Frauen-Initiative 6. Oktober; Frauen-kommunikation e.V.; Frauen-Ringvorlesung; Initiative Düsseldorfer Frauen gegen das geplante Beratungsgesetz – für die Streichung des § 218 StGB; Initiative Frauen ins Düsseldorfer Rathaus; Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF seit 1915) – Deutsche Sektion; KOM!MA; Lila Steinfresserinnen; Mütter für den Frieden; Terre des Femmes/Düsseldorfer Arbeitsgruppe

Düsseldorf, den 8. März 1988, Doris Burkhardt, V.i.S.D.P c/o. KOM!MA, Frauenkommunikation e.V., Luisenstr. 7, 4000 Düsseldorf 1

Aus dem Nachlass der Verfasserin, aufbewahrt im Frauen-Kultur-Archiv HHUD

Else Loelgen, geb. Bagel

21. März 1900 - 4. Januar 1997

Eltern: Fritz Bagel, Verleger, Papierhersteller, Druckereibesitzer in Düsseldorf, und Helene Bagel, geb Doerth aus Schwerte. Nach der Geburt von Else im Jahr 1900 folgten noch 3 Brüder.
1915 Tod der Mutter bis 1917 Besuch des Schuback-Schmidt-Lyzeums
1917 - 18 Besuch der Haushaltsschule Schloß Wasserburg am Bodensee
1918 - 24 Buchbindeausbildung in der Firma Bagel
1920 - 27 Sprechunterricht bei Frau E. Dalands am Schauspielhaus Düsseldorf
1922 - 24 Else Bagel verbringt die Wintersemester in München auf der Kunstgewerbeschule (ehemals Depschitz-Schule). Sie hat u. a. Unterricht bei der Schriftkünstlerin Anna Simons und besuchte Vorlesungen in Kunstgeschichte bei Heinrich Wölfflin, in Theatergeschichte bei Arthur Kutscher. Sprechunterricht erhielt sie bei Arnold Marlé.
1925 - 26 Als Buchbinderin in Düsseldorf tätig u. a. für die Galerie Flechtheim, Ausstellung ihrer Arbeiten im Kunstverein und tätig für die „GeSoLei“ im Jahr 1926. Nebenbei war sie als Rezitatorin auf verschiedenen Veranstaltungen tätig. Gerne wäre sie Schauspielerin geworden, was aber der Vater nicht billigte. So versuchte sie aus der sie nicht befriedigenden Tätigkeit der Buchbinderei zur Innenarchitektur zu wechseln.
1927 Volontariat im Architekturbüro von Emil Fahrenkamp
1927 - 28 Besuch der Klasse für Innenarchitektur in der Kunstgewerbeschule in Berlin.
1929 Heirat mit Carl August Loelgen, Sohn von August und Käthe Loelgen, Inhaber des renommierten Modehauses „Loelgen-Kriegel“ in Düsseldorf.
Kinder: Sohn Thomas im Dezember 1929 und Tochter Dorothea im Dezember 1933
1933 Zunahme der schweren Erkrankung ihres Mannes, der er 1937 erlag.
1938 Umzug nach Bayern, wo sie mit ihren Kinder den Krieg überlebt.
1947 - 48 Sprechlehrerin am „Theater der Jugend“ in München unter Martin Hellberg. Es schloss seine Pforten 1948, als Hellberg in die DDR ans Theater in Dresden wechselte.
1947 - 1956 Sprecherin (mit Unterbrechungen) der ersten Blinden-Hörbibliothek Deutschlands in Kiefersfelden. Die Gründerin und Leiterin der Blinden-Hörbibliothek war Frau Peters.
1951 Rückkehr nach Düsseldorf unter Beibehaltung des Hauses in Bayern. In den folgenden Jahren leistete sie Regiearbeit bei Schülertheatern an verschiedenen Schulen und wirkte weiter als Sprecherin der Hörbibliothek.
1955 Beginn der Tätigkeit im Verband „Frau und Kultur“, vor allem in der Sparte Literatur. Sie wurde auch Verbandsvorsitzende. Viele Lesungen führten sie als Rezitatorin mit eigenen Programmen durch Deutschland.
1982 Beendet sie 82jährig ihre aktive Tätigkeit bei „Frau und Kultur“, blieb jedoch dem Verband bis 1993 eng verbunden.
4. Januar 1997 Hoch betagt stirbt sie 60 Jahre nach ihrem Mann. Das Grab befindet sich auf dem Düsseldorfer Nordfriedhof.

Verfasst von Else Loelgens Tochter Dorothea Kubanek

Abschiedsrede als Sachgebietsleiterin für Literatur auf der Jahrestagung des Verbands Frau und Kultur 1982

Liebe Mitglieder,

ein sonderbarer Zufall oder sollte es keiner sein? Ich stellte nämlich beim Lesen alter Akten fest: 1960 habe ich das Sachgebiet Schrifttum übernommen und zwar auf der damaligen Tagung in Kiel.

Ich erinnere mich sehr genau an die Tagung. Sie fand in dem heute abgerissenen Hotel „Bellevue“ auf der Höhe statt, und als erstes war ich fasziniert von dem Blick über die Förde. Was die Literatur anlangt, so las der Lesekreis Düsseldorf – ich hatte damals schon seine Leitung – Texte von Barlach, Frau Kramer aus der gastgebenden Gruppe Kiel las aus seinen Briefen.

Und nun nochmals Zufall oder keiner, ich werde in der kommenden Woche in Düsseldorf zum zweiten Mal das Barlachprogramm lesen. Meine Zeit als Sachgebietsleiterin rundet sich also am Ende wieder in den Anfang. Soll ich dieses merkwürdige Zusammentreffen als ein Zeichen für meine Tätigkeit nehmen? Ich glaube, ich kann kein besseres finden. In sich geschlossen, harmonisch rund. Erfüllter kann ein langer Abschnitt des Lebens nicht sein.

So ist es mir eine Freude, vor Ihnen stehen zu können und allen lieben Menschen, mit denen ich in gemeinsamer Arbeit gestanden habe, ein Dankeschön zu sagen. Ein Dankeschön für die freundliche Hilfe, mit der Sie zur Rundung eines fast ¼ Jahrhunderts meines Lebens beigetragen haben.

Denn was wäre das Rund, wenn es nicht angefüllt wäre mit vielerlei Begegnung, sachlicher Unterrichtung, ehrlicher Widerrede, zuverlässiger Gemeinsamkeit und herzlicher Zuneigung.

Ganz besonders gedenke ich in diesem Augenblick derer, die auf dem Wege zur Rundung meiner Jahrzehnte nur noch in meiner Erinnerung lebendig sein können. Ich nenne als Vertretung für alle nur zwei Namen: Elisabeth Meyer-Spreckels, Leiterin des Sachgebietes Lebensgestaltung, heute staatsbürgerliche Verantwortung, und Dorothea Husserow, langjährige Vorsitzende der Düsseldorfer Gruppe.

Vielen von Ihnen sind diese Namen völlig fremd, doch sollten Sie in den Annalen unserer Geschichte immer wieder genannt werden. Beide waren Persönlichkeiten von außerordentlicher Aktivität und Einsatzbereitschaft. Und was brauchen wir heute dringender in unserer Gemeinschaft, um uns den Problemen, die Zeit und Umwelt mit sich bringen, nur in etwa stellen zu können?

Doch ich will dem Gespräch über die Zukunft des Verbandes nicht vorgreifen. Wie oft habe ich mich während meiner Amtszeit gefragt, wenn wenig Wiederhall aus den Gruppen kam: warum machst du das Ganze eigentlich? Und immer wieder erkannte ich, daß mit der Arbeit auch ein Reifeprozeß meines Lebens vor sich ging.

Die Verbindung mit den verschiedensten Menschen förderte meine Einsicht in ihre Verhaltensweisen. Ich wurde gezwungen, mich in meinem Verhalten auf sie einzustellen, ihnen entgegenzukommen, soweit es Wahrheit und Gerechtigkeit für mich zuließen. Einblicke in das Schicksal anderer Menschen ließen mich nachdenken über das Eigene, die Zusammenhänge Leben und Umwelt wurden vertieft, Unterscheidungen zwischen Wert und Unwert klärten sich für mich.

So lernte ich, um mit Peter Handke zu sprechen, über die „Außenwelt, die Innenwelt“ kennen. Nach diesen und ähnlichen Überlegungen wußte ich dann stets, warum ich das Ganze machte: Staunen und Neugier waren die Triebfedern meiner Arbeit.

Freudig wandte ich mich nach dieser Erkenntnis wieder meiner Tätigkeit zu: Der intensiven Beschäftigung mit der – wie so schön gesagt wird – gehobenen Literatur. Sie führte mich in konkrete und abstrakte Welten ein, in differenzierte seelische Probleme, in heiter, bedachtsame Nischen des Lebens, vor allem aber offenbarte sie mir immer wieder die Notwendigkeit des Bewußtwerdens über die Schönheiten und vielfältigen Möglichkeiten einer gestalteten Sprache.

Ich bin in die Düsseldorfer Gruppe 1955 eingetreten, schon mit der Bestätigung im Amt der Sachgebietsleiterin für Schrifttum. 1960 begann wie gesagt die erweiterte Arbeit für den Verband.

In dem kleinen Düsseldorfer Kreis gab es Rede und Gegenrede, aber nun ging meine Rede ins Weite, zu über 30 verschiedenen Gruppen, und die Gegenrede ließ auf sich warten. Die Lesekreise waren sehr locker organisiert, hatten kaum Konnex miteinander, und die Berichte, die einliefen, waren nicht nur spärlich, sondern auch komisch.

Zum Beweis dafür lese ich Ihnen aus zwei Berichten vor: Im ersten geht es um die Erzählung der Kaschnitz „Popp und Mingel“. --- „Mit der Erzählung, Thema Schlüsselkind, war es auch nicht ganz so aufregend, aber auch nicht befriedigend.“

Im zweiten Bericht wird über einen Theatervortrag gesprochen: --- „Ein letzter Hinweis des Redners galt dem Passionsspiel und dem religiösen Erlebnis, das dabei mit dem Bühnenerlebnis einhergeht und einem wirklichen Bedürfnis entspricht.“

Als ich nun aber noch folgenden Satz in einem Bericht lesen mußte, da konnte ich mich nicht mehr zurückhalten; es geht um einen Vortrag über die Sprache --- „Falsch ist auch die Möglichkeitsform zu meiden, es heißt: wenn ich das täte und nicht wenn ich das tun würde.“

Mit etwas erhobenem Zeigefinger ging ich daran, die sprachliche Form der Berichte anzugreifen und machte in meinem Appell den etwas pathetischen Schluß: So sei jedem Mitglied ein Studium nicht nur der großen Magier des Wortes empfohlen, sondern zugleich Kleinarbeit an der eigenen Ausdrucksweise im Umgang mit der Muttersprache.

Und dieses Schreiben, muß ich sagen, hatte eine hervorragende Wirkung. Es herrschte Schweigen, keine Gruppe war dafür, keine dagegen. Doch das Schweigen hat Frucht getragen für viele Jahre. Sie wissen alle, aus welcher Fülle gewandt geschriebener Berichte ich heute den Jahresbericht zusammenstellen kann.

Die Lektüre in den einzelnen Gruppen erschien mir ziemlich wahllos ohne Zusammenhang. Nach meinem grammatikalischen Angriff auf das Selbstbewußtsein der Lesekreise setzte ich mich nun für einen „roten Faden“ für die Wahl eines bestimmten Themas ein und machte einen Vorschlag, und hier fand ich bald Wiederhall. Mehrere Gruppen fühlten sich beeinträchtigt in ihrer „Pressefreiheit“ und wollten von solch einer Uniformierung der Arbeit nichts wissen. Doch ich wußte die Einwände zu zerstreuen mit der Bemerkung „roter Faden – kein Zwang“. Wer andere Themen besser findet für seinen Kreis, selbstverständlich, nur muß es ein bestimmtes Thema sein, dem nachgegangen wird.

So ist es geblieben bis heute. Der rote Faden hat manche Interessentin gefunden.

Meine Arbeit war angelaufen und lief nun in bestimmte Richtungen. Der jährlich herausgegebene rote Faden und der Jahresbericht machten den Lesekreisen Mitteilung über das, was gelesen werden konnte und über das, was gelesen worden war. Das später eingeführte Gruppengespräch über einen bestimmten, in der Zeitschrift veröffentlichten Artikel gab den Mitgliedern der Lesegemeinschaften Gelegenheit, sich im Gespräch zu üben.

Ein freundliches Echo brachten die Jahresberichte; das machte mir deshalb Spaß, weil es oft gar keine Mitglieder eines Lesekreises waren, die mir schrieben, sondern irgendwelche Leserinnen der Zeitschrift, die dem Bericht Anregungen entnommen hatten. So war der Jahresbericht nicht nur eine Bestätigung für mich, sondern vor allem für die Berichterstatterinnen der Gruppen.

Die größte Freude an meiner Arbeit brachten mir meine Reisen in die Gruppen mit den verschiedensten literarischen Lesungen. Nur durch sie habe ich eine direkte Verbindung vor allem zu den Vorständen der Gruppen bekommen und manche anregende Gespräche führen können.

Das letztere war mir besonders wichtig, als ich noch zweite Vorsitzende im Hauptvorstand war; ich konnte da manche vermittelnde und aufklärende Rolle übernehmen.

Meine Abschiedsrede will ich schließen mit nochmaligem Dank für alles Liebe und Gute, was ich erfahren durfte durch zahlreiche Mitglieder. Ich danke Ihnen für Ihre Herausforderung und Ihren Widerspruch; das gehört für mich zum geistigen Leben.

Meiner Nachfolgerin wünsche ich, daß ihr das Sachgebiet ebenso viel Befriedigung und Freude bringen wird, wie es mir gebracht hat.

Dem Verband wünsche ich, er möge noch manche Berg- und Talfahrt überstehen, wie er dies nun über 80 Jahre getan hat.

Quelle: Typoskript im Teilnachlass von Else Loelgen, deponiert im Frauen-Kultur-Archiv.

Selma Lagerlöf

Das 19. Jahrhundert hat die skandinavische Literatur weit über die Grenzen einer nationalen Kunst hinauswachsen lassen.

Die beiden großen Anreger und Former des modernen Theaters, Ibsen und Strindberg eroberten die Bühnen Europas. Björnson und Hamsun, die Norweger, beschritten neue Wege der Erzählkunst. Jens Peter Jakobsen und Hermann Bang, die Dänen, gehören heute zu den Klassikern der psychologischen Romans.

Eine Sonderstellung unter den nordischen Dichtern nimmt der Däne Hans Christian Andersen ein, der mit seinen Märchen die Welt eroberte und die Schwedin Selma Lagerlöf. Selma Lagerlöfs Erzählkunst wurzelt ganz im Heimatlichen. Ihre Werke lassen die Sagen, Märchen und Legendenwelt ihrer engeren Heimat Värmland immer wieder aufleuchten. Immer wieder tauchen dieselben Helden, dieselbe Landschaft, dieselben Höfe und Häuser auf, oftmals unter anderem Namen oder in anderen Bindungen. Aber diese Abenteuer, in die ihre Helden verstrickt werden, sind nicht bloß Nacherzählung mündlicher Überlieferung, sondern werden erst durch Selma Lagerlöfs Erzählkunst in die Sphäre des Dichterischen erhoben und nur so ist zu erklären, wie sie mit diesen heimatlich gebundenen Inhalten ihres Werkes weit über Schweden hinaus Berühmtheit erlangte.

Selma Lagerlöf ist am 20. Nov. 1858 auf dem Hofe Mårbacka in Värmland geboren. Mit 3 ½ Jahren wurde sie von einer Beinlähmung befallen, die aber nach einem Jahr so weit behoben war, dass die kleine Selma wieder laufen konnte, wenn sie auch für ihr ganzes Leben ein Beinleiden zurück behielt. So war sie von manchem Spiel anderer Kinder ausgeschlossen und ihre Anlage zu besinnlicher Beschäftigung in der Welt der Phantasie wurde früh gepflegt. Die stärkste und wichtigste Persönlichkeit der frühesten Kindheit war die Großmutter, die ihr jeden Tag Geschichten erzählte. Mit 23 Jahren, 1881 verließ Selma Lagerlöf ihr geliebtes Vatershaus zum ersten Mal für längere Zeit. Sie besuchte ein Lehrerinnenseminar und wurde 1885 Lehrerin an einer höheren Mädchenschule. Schon früh hatte Selma angefangen zu schreiben, aber nie Widerhall gefunden mit ihren kleinen Erzählungen und Gedichten. Ab 1885 begann sie an dem Roman Gösta Berling zu schreiben aus der Erkenntnis, in den mündlichen Überlieferungen der Heimat, den Geschichten der Värmland-Kavaliere einen ganz besonderen Stoff für eine Gestaltung gefunden zu haben.

1890 beteiligte sie sich mit einigen Kapiteln des Buches an einem Preisausschreiben für Novellen und errang den 1. Preis. Nun war der Bann gebrochen; man wurde auf sie aufmerksam und ihr Weg ging steil bergauf. Sie legte ihr Lehramt nieder. Sie machte große Reisen, die sich in ihren Büchern „Wunder des Antichrist“, „Jerusalem“ und den Christuslegenden widerspiegeln. Sie bereiste ganz Schweden, als sie im Auftrage der Regierung ein Lesebuch für die schwedischen Kinder schrieb, „Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden“, in dem sie nicht nur geographische Kenntnisse erschloss, sondern wiederum das Sagengut der Heimat verarbeitete.

1907 ging ein Traum ihres Lebens in Erfüllung: die Rückerwerbung ihres väterlichen Hofes Mårbacka, der drei Jahre nach dem Tode des Vaters 1888 hatte verkauft werden müssen und an den sie sich mit allen Fasern ihres Wesens gebunden fühlte. Der ihr 1909 zugesprochene Nobelpreis ermöglichte er ihr, auch die den zum Hof gehörenden Ländereien zurückzukaufen und von da an war sie bis an ihr Lebensende Gutsherrin auf dem Grund und Boden, mit dem sie auch in ihrer Kunst zutiefst verwurzelt war.

Als größte Ehrung wurde ihr 1914 die Mitgliedschaft in der schwedischen Akademie zuteil, der noch nie eine Frau angehört hatte. Am öffentlichen kulturellen Leben nahm Selma Lagerlöf lebhaften Anteil. In vielen Ausschüssen und Verbänden setzte sie sich für die verschiedensten Dinge ein, die ihr am Herzen lagen. Ohne Politikerin zu sein vertrat sie die Ansicht, dass der Frau das Stimmrecht gebühre, aus dem rein menschlichen Argument heraus, dass männliche und weibliche Denkungsart und Arbeit sich auch im staatlichen Leben ergänzen müssten.

1940, im Alter von 82 Jahren starb Selma Lagerlöf auf Mårbacka, als die Welt zum 2. Mal von einem Krieg erschüttert wurde und unter dem Dröhnen des Tumultes vergaß, dass es Inseln der Stille gibt, auf denen der Wind des Geistes weht, der immer und überall den Ausschlag geben wird.

Die Unterhaltungslektüre unserer Eltern und Großeltern

Referat für ein Podiumsgespräch der Ortsgruppe Düsseldorf des Verbands Deutsche Frauenkultur e.V. vom 27. Februar 1973 im Frauenbundhaus, Stresemannstr.21

Liebe Mitglieder, ich begrüße Sie sehr herzlich zu unserem Podiumsgespräch. Unsere Runde wird Ihnen – das hoffe ich sehr – mit der Auswahl der Zitate aus alten beliebten Unterhaltungsromanen oder mit deren Erläuterung, eine rechte Herausforderung sein, sich lebhaft an der anschließenden allgemeinen Diskussion zu beteiligen.

Als Motto über unsere heutige Veranstaltung setze ich das Wort von Heinrich von Treitschke, welches auch Gabriele Strecker für ihr Buch „Frauenträume – Frauentränen“ (1969) gewählt hat: „Alle Zeiten lassen sich die Wandlungen des sozialen Lebens aus den Werken jener kleinen Schriftsteller, welche nur die Meinung aller Welt wiedergeben, am sichersten erraten.“ (aus: „Deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts“)

So wollen wir Einblick nehmen in die Welt des Jedermanns, in „die Welt der Gartenlaube“, ein in den letzten Jahren zum Slogan gewordener Begriff, seit die Soziologie diese Zeitschrift als besonderen Blickpunkt ihrer Arbeit ansieht.

Nicht umsonst – das nur nebenbei – hat unsere Geschäftsstelle in Gütersloh ständig zunehmende Anfragen von Studenten und Institutionen, die Einsicht nehmen wollen, auch in unsere Zeitschrift. Sie besteht seit 1897, ist lückenlos im Archiv einzusehen und ist ebenfalls eine Fundgrube für die gesellschaftlichen Strömungen des jeweiligen Zeitabschnitts.

Doch zum Thema: Obwohl wir uns nur mit der Unterhaltungsliteratur der vergangenen Eltern- und Großeltern – ja schon Urgroßelternzeit beschäftigen wollen, so können wir nicht an der „Gartenlaube“ vorbeigehen; denn die damals bekannten Schriftsteller und vor allem die Schriftstellerinnen haben großenteils im Auftrag der „Gartenlaube“ geschrieben oder sie haben hier einen guten Platz für ihre der Zeitschrift angebotenen Werke gefunden.

Als zeitgemäße Besonderheit sei gesagt: Die Schriftstellerinnen hielten sich gerne mit der Angabe ihrer Weiblichkeit zurück, um nicht mit der damals üblichen Abwertung schöpferisch tätiger und geistig arbeitender Frauen beurteilt zu werden, sondern ihrer wirklichen Leistung gemäß. Gaben sich z. B. Mary Anne Evans (1819-1880) = George Eliot, Charlotte Brontë

(1816-1855) = Currer Bell und Aurore Dudevant (1804-1876) = George Sand nicht nur fremde Nachnamen, sondern auch männliche Vornamen, so machten es sich die Schriftstellerinnen, von denen wir heute hören, einfacher; der Vorname blieb offen. Man zeichnete mit E. Marlitt – Eugen oder Eugenie? W. Heimburg – Wilhelm oder Wilhelmine? E. Werner, F. Lehen.

So ereignete es sich, daß Ernst Keil, der Herausgeben der Gartenlaube, einen Brief an den Herrn E. Marlitt richtete, welcher ihm 1865 zwei Novellen eingereicht hatte. Es heißt da: „Wenn man genötigt ist, so viele verfehlte, triviale schülerhafte novellistische Arbeiten zu lesen, wie dies die Redaktion einer Zeitschrift wie meine Gartenlaube ist, nichts anders mit sich bringt, so tut es doppelt wohl, stößt man unter der Menge der Einsendungen einmal auf eine Schöpfung, die nach Stoff und Form unwiderleglich den Stempel des Talents an sich trägt […] ich wäre mit Vergnügen bereit, auch ferner novellistische Beiträge von Ihnen zu akzeptieren und sie zu den ständigen Mitarbeitern meiner Gartenlaube zu zählen, und würde Ihnen, sobald sich auch Ihre andern Erzählungen etc. zum Abdruck in meinem Blatt eigneten, liberale Honorare in Aussicht stellen.“

Ernst Keil wünschte nun selbstverständlich die persönliche Bekanntschaft mit dem Autor und kündete seinen Besuch an. Das Geheimnis mußte gelüftet werden und Ernst Keil schrieb: „Verehrtes Fräulein […] ich gestehe, daß mich diese Enthüllung des Geheimnisses zwar einigermaßen, aber doch nicht so völlig überrascht hat, da ich in der Schilderung der weiblichen Charaktere in der Tat eine weiblich warme und weiblich feine Feder zu erkennen glaubte.“

Doch nun zu Entstehung und Wirkung der Gartenlaube selber. Um das rechte Bild zu geben, will ich versuchen, trotz der Kürze des Berichtes einige Lichter auf den zeitgeschichtlichen Hintergrund zu werfen, denn der Herausgeber der Gartenlaube war eine politisch engagierte Persönlichkeit; und aus diesem Engagement heraus ist die Zeitschrift entstanden.

Die Gartenlaube war nicht das erste, aber wohl das später erfolgreichste „Familienblatt“. Diese Familienblätter waren inhaltlich weit gefächert. Sie kamen dem Informationsbedürfnis des Kleinbürgertums und der mittleren Bildungsschicht entgegen. Diese Bevölkerungsschicht verlangte nach einer einfachen verständlich geschriebenen Berichterstattung; anders konnte sie sich nicht mehr auf dem Laufenden halten über die Entwicklung der immer mehr das tägliche Leben beeinflussenden, technisch naturwissenschaftlichen Forschungen und Praktiken.

Der Gründer der Gartenlaube war, wie schon eben gesagt, der Journalist Ernst Keil (1816-1878). Er hatte sich schon vor 1853, dem Gründungsjahr der Gartenlaube, mit der Herausgabe verschiedener Zeitschriften befasst. 1845 war „Berlin Leuchtturm“ erschienen; Keil vertrat darin eine politisch liberale Gesinnung. Drei Jahre konnte das Blatt trotz der damals so eingeschränkten Pressefreiheit bestehen. Aber als sich die Redaktion 1848 – als es um die Erkämpfung um Bürgerrechte ging – für die liberal revolutionären Ideen einsetzte, da griff die Zensur zu: Die Zeitschrift wurde verboten und Ernst Keil kam ins Gefängnis.

Doch von seinen Vorstellungen einer liberalen Gestaltung der bürgerlichen Gesellschaft ging er nicht ab. Er gehörte zu jener gehobenen Bildungsschicht, die sich für eine demokratische Verfassung einsetzte, für eine Volksvertretung im Parlament und vor allem für die nationale Einheit. Keil grübelte im Gefängnis darüber nach, wie er mit seinen Gedankengängen Einfluss auf eine breite Bürgerschicht bekommen könne.

Der politischen Aktivität des Bürgertums war nach den Aufständen von 1848 und der gescheiterten Nationalversammlung eine tiefe Lethargie auf diesem Gebiet gefolgt. Hier nun mußte angesetzt werden. Ein Familienblatt sollte die liberalen und nationalen Ideen wieder zu neuem Leben wecken. So mußte man zunächst mit einer solchen Zeitschrift der Stimme des enttäuschten Publikums gerecht werden, um langsam wieder aufzubauen. Dieses Publikum war, nach allen gemachten enttäuschenden Erfahrungen, eher geneigt, sich unverbindlich unterhalten zu lassen. Deshalb mußte das Familiäre, der traulich umbaute Raum des privaten Lebens herausgestellt werden, um dem Wusch nach Geborgenheit vor der rauen politischen Wirklichkeit zu entsprechen.

Am 1. Jan. 1853 erschien das erste Heft mit einer Begrüßung Ernst Keils an seine Leser:

„Grüß Euch Gott. Liebe Leute im deutschen Lande.

Wenn Ihr im Kreis Eurer Lieben die langen Winterabende am traulichen Ofen sitzt oder im Frühling, wenn vom Apfelbaume die weißen und roten Blüten fallen, mit einigen Freunden in der schattigen Laube – dann lest unsere Schrift. Ein Blatt soll’s werden für’s Haus und die Familie, ein Buch für groß und klein, für jeden, dem ein warmes Herz an den Rippen pocht, der noch Lust hat, am Guten und Edlen! Fern von aller räsonierenden Politik und allem Meinungsstreit in Religions und anderen Sachen wollen wir Euch in wahrhaft gute Erzählungen einführen, in die Geschichte des Menschenherzens und der Völker, in die Kämpfe menschlicher Leidenschaften und vergangener Zeiten. So wollen wir unterhalten und unterhaltend belehren. Über das Ganze aber soll der Hauch der Poesie schweben wie der Duft auf der blühenden Blume und es soll Euch anheimeln in unserer Gartenlaube, in der Ihr gutdeutsche Gemütlichkeit findet, die zu Herzen spricht.“

Es war ein großes Programm, was da angedeutet wurde. Keil hat es erfüllt und außerdem seine politische Zielsetzung nicht vergessen. Wie stark dieses politische und soziale Engagement des Herausgebers war, das ist deutlich zu ersehen aus der Inhaltsführung der Romane und Novellen, die in der Gartenlaube erschienen sind. Die Auflageziffern stiegen mit der Beliebtheit der Romanschriftsteller. Die Zeitschrift erreichte 1874 – als das berühmte Buch „Die zweite Frau“ von der Marlitt erschien – einen Kreis von 325 000 Abonnenten.

1878 starb Ernst Keil; unter seinen Nachfolgern wurde die national-liberale Richtung langsam nationalistisch-konservativ, ja sogar militaristisch. Und so hat die Gartenlaube gewiß ideell manches zu den Konflikten beigetragen, die zum Ausbruch des ersten Weltkrieges 1914-18 geführt haben. 1924 erschien der letzte Jahrgang. Die Leser hatten sich gewandelt. Sie verlangten nach einer anderen Kost als es ein Familienblatt zu bieten hatte.

Nach diesem gedrängten Überblick wollen wir uns nun den Fragenkomplexen zuwenden, die Sie im Programm dieses Monats gelesen haben. Wir hier in der Reihe haben die verschiedensten unterhaltungsliterarischen Bücher gelesen, um Ihnen mit Zitaten aus diesen Romanen des kleinen Mannes oder der großen Masse das Wort Treitschkes zu beweisen, daß sie eine soziologische Fundgrube sind. Sie werden hinter blumenreichen und sentimentalen Wendungen viel damals aktuelle Probleme der Familie und der Gesellschaft kennen lernen. Sie werden überrascht sein, wie sehr sie uns zum Teil auch noch heute angehen. Die Umstrukturierung zur modernen Gesellschaft hat schon in der Gartenlaube einen Ausdruck gefunden.

Traueranzeige des Verbandes Frau und Kultur

Wir trauern um

Else Loelgen
* 21.3.1900
† 5.1.1997

Als 2. Vorsitzende des Bundesverbandes, als Vorsitzende der Gruppe Düsseldorf und als Sachgebietsleiterin für Literatur hat sie mit ihrer starken Persönlichkeit das Verbandsleben über Jahrzehnte entscheidend mitgeprägt.

Für die Mitglieder des Deutschen Verbandes Frau und Kultur in Dankbarkeit
Margret Werner (Bundesvorsitzende)

Nachruf für Else Loelgen

Else Loelgen hat uns kurz vor ihrem 97. Geburtstag für immer verlassen. Ein langes Leben ging zu Ende – doch in der Erinnerung der um sie Trauernden wird sie fortleben. Wir dürfen Else Loelgen zu den bedeutenden Frauen unseres Verbandes zählen, die immer auch in die Zukunft hineingewirkt haben.

Bereits 1955 bei einer Begegnung mit Eleonore Späing, der damaligen Vorsitzenden der Gruppe Düsseldorf, wurde ihr Interesse für die kulturellen Bestrebungen des Verbandes geweckt. Sie wurde Mitglied und übernahm sehr bald das Amt der Sachgebietsleiterin für Schrifttum in der Gruppe Düsseldorf.

Schon 1960, auf der damaligen Jahrestagung des Verbandes in Kiel, wurde sie zur Verbands-Sachgebietsleiterin gewählt. 1982 fand die Jahrestagung wieder in Kiel statt, diesmal verabschiedete sich Else Loelgen von ihrem Amt, sie sagte: „Meine Zeit als Sachgebietsleiterin rundet sich am Ende wieder in den Anfang. Ich kann kein besseres Zeichen finden, in sich geschlossen, harmonisch rund, erfüllter kann ein langer Abschnitt des Lebens nicht sein.“

Das Rund war angefüllt mit vielerlei Begegnungen und Gesprächen, sachlicher Unterrichtung, zuverlässiger Gemeinsamkeit und herzlicher Zuneigung. Wenn wenig Widerhall aus den Gruppen kam, fragte sie sich nach dem Sinn ihrer Arbeit und erkannte immer wieder, daß mit der Arbeit auch ein Reifeprozeß ihres Lebens vor sich ging. Die größte Freude an ihrem Sachgebiet brachten ihr die Reisen in die Gruppen mit literarischen Referaten und Lesungen.

In den Jahren von 1968 - 1975 war Else Loelgen gleichzeitig 2. Verbandsvorsitzende und konnte in dieser Zeit manche vermittelnde und aufklärende Rolle übernehmen. Vor allem die Änderung des Verbandsnamens von „Deutsche Frauenkultur“ in „Deutscher Verband Frau und Kultur“ brauchte Schlichterinnen wie Gerritje Meldau und Else Loelgen, um eine Übereinstimmung bei der erforderlichen Abstimmung herbeizuführen. Von beiden sind viele neue Ideen auf den Weg gebracht worden, für die wir den schöpferischen Frauen danken.

Bis zuletzt war Else Loelgen an der Entwicklung der Düsseldorfer Gruppe interessiert, wenn sie auch nicht mehr zu den Veranstaltungen kommen konnte. Wer ihr begegnet ist, wird sie in der Erinnerung behalten:

„Wenn durch einen Menschen
ein wenig mehr Liebe und Güte
ein wenig mehr Licht und Wahrheit
in der Welt war
hat sein Leben einen Sinn gehabt.“

Kathrin Pingel in: frau und kultur. Zeitschrift des Deutschen Verbandes Frau und Kultur e.V. 1/97, S. 25

Gerda Kaltwasser: Die Friedrichstraße

Kopfsteinpflaster, in der Mitte zwei Stränge Straßenbahnschienen, in jedem Haus im Parterre ein kleiner Laden - Metzgerei, Bäckerei, Obst und Gemüse, aber auch Bücher und sogar Schmuck - in den Obergeschossen Wohnungen ohne Bad, die Klos im Treppenhaus; auch mal ein Photoatelier, eine Uhrmacherwerkstatt, ein Herrenschneider, eine Näherin, die auf Wunsch zum Nähen und Flicken in die Wohnung kommt. In den Treppenhäusern riecht es nach Kohl, Pellkartoffeln, auch mal nach Reibekuchen, selten nach Braten oder Rouladen. Das ist meine Friedrichstraße in Düsseldorf zwischen 1930 und 1945, südlich vom Graf-Adolf-Platz, der damals Adolf-Hitler-Platz hieß, Bindeglied zwischen dem alten Bilk und dem jungen Stadtzentrum mit der Königsallee.

Kleine Leute wohnten hier bis zum Pfingstangriff im Juni 1943, auch arme Leute. Zum Beispiel in dem großen Haus mit der Nummer 23, das einen Innenhof hatte, der von drei Seiten mit Hinterhäusern umgeben war, mit grüngestrichenen hölzernen Falltüren im Hof, unter denen ausgetretene Steinstufen in Waschküchen und Abstellräume führten. Im Vorderhaus waren zwei Geschäfte, eines für Miederwaren, das andere für "Feinkost", darüber die etwas teureren Wohnungen. Hinten wohnten die armen Schlucker, die kinderreichen Arbeiter, bei denen manchmal nachts Möbel und Porzellan aus dem Fenster flogen, wenn der Vater den Wochenlohn versoffen hatte. Kommunisten sollten da auch wohnen. Das war in dieser Straße schlimmer als fliegende Untertassen.Die flogen auch bei uns hin und wieder aus dem Fenster im Hinterhaus von Nummer 43, wo mein Vater, der Metzgermeister Michael Kaltwasser, seit 1927 eine völlig heruntergewirtschaftete Metzgerei wieder zu Ansehen und Kundschaft bringen wollte. Sein Meister hatte ihm ein Darlehn gegeben. Irgendwann 1946 habe ich ihm die letzte Rate gebracht. Dort im Haus Nummer 43 ließ ein Barmusiker nach besonders großzügigen Gästen - Motto: "Geh'm se dem Mann am Klavier mal ein Bier" - das Porzellan sausen. 

Ein Barpianist in dieser Gegend? Nicht nur einer. Klamotten-Schauspieler wie Hilde und Fritz Servos wurden als Freunde begrüßt, Operettenstars wie Trude Adam oder Rudolf Rudolphi, die im Kleinen Haus, dem städtischen Operettentheater gegenüber dem Apollo, auftraten, wurden angehimmelt, Artisten, Conferenciers, Humoristen wie Karl Napp, die im Apollo oder auf Adlers Bunter Bühne auftraten, gehörten zur besser zahlenden Steak- und Schinken-Kundschaft.

Gegenüber an der Friedrichstraße war der Kristallpalast. Besuch des Kinderkarnevals vom fünften Lebensjahr an war Ehrensache; erst recht, als Besitzer Ederer Prinz Karneval geworden war. Zwischen Friedrichstraße und Hauptbahnhof war bis zum Kriegsende und noch etwas länger und trotz sich wie Meereswogen auftürmender Trümmerberge das Düsseldorfer Vergnügungsviertel, ein Paradies mit legendären Nachtlokalen wie dem Rauchfang im Apollo, dem Café Korso und der Grotte, mit Kinos wie Residenz und Asta Nielsen, mit Schwof und Rumtata im Oberbayern und dem sanften Übergang zum Rotlichtviertel an der Bandelstraße, das wir Nachtjackenviertel nannten.Das war östlich von der Friedrichstraße. Westlich war auch ein Paradies: das Ständehaus mit dem Vater-Rhein-Brunnen, mit Park, Kaiserteich und Schwanenspiegel, der Schwanenmarkt und der Spee'sche Graben oder, an der Bilker Allee, unter Aufsicht der Großeltern erreichbar, der Floragarten. Und überall Spielplätze mit Schaukeln, Sandkästen und Rutschen.

Aber das war nur für die Kleinen. Wir Größeren spielten in den Büschen, fochten blutige Bandenkriege mit den Jungens von der Villa Jück aus, eine alte Zigarrenkiste von Vati war mit Pflaster und Flickenresten gefüllt, Ersatz für Mullbinden, denn Rot-Kreuz-Einsatz war immer nötig.

Auch an jenem 10. November 1938, als die achtzigjährige Frau Cohn vom Haushaltswarengeschäft gegenüber aus einem Scherbenhaufen in unsere Metzgerei gewankt kam, Mutter ihr einen Stuhl und Wasser brachte, der Blockwart die Ladentür aufriß und brüllte: "Das werden Sie noch zu spüren kriegen!" Meine Mutter bekam es Jahre später zu spüren, als ihr, der schon schwer Behinderten, der Blockwart den Zutritt zum öffentlichen Luftschutzkeller in der Klebekiste, dem alten Bau der Landesversicherungsanstalt, verweigerte. "Korinthenkacker", sagte ich, versuchte, den Mann beiseite zu drücken. Wäre das Kriegsende nicht schon so nah gewesen, wir hätten das alle zu spüren bekommen.

So aber verkrochen wir uns in der Waschküche unter unserem Trümmerhaufen - mein Vater hatte am Tag, bevor deutsche Soldaten die Oberkasseler Brücke sprengten, noch von seinem linksrheinischen Einsatz als Volkssturmsoldat desertieren können - und warteten darauf, daß die Amis endlich kämen. Während sechs Wochen Artillerie - und Tieffliegerbeschuß lernten wir alle, mit dem Sterben und dem Tod umzugehen. Als die Amis schließlich auf ihren Panzern durch die Friedrichstraße rollten, war das eine Befreiung, aber ohne politisches Pathos.

Der Kampf ums Überleben ging weiter, nun ohne Artilleriefeuer, ohne Tieffliegerangriffe und Bombergedröhn. In der warmen Maisonne trockneten die im Waschkeller angeschimmelten Matratzen. Der Gelenkrheumatismus kam später.

Auch der Hunger. Aber da brachte uns die Tochter eines jüdischen Nachbarn, einzige KZ-Überlebende unserer ganzen jüdischen Nachbarschaft von vor 1938, Matzenbrot. Fritz und Hilde Servos hatten sich aus Berlin durchgeschlagen und standen in den Trümmern unserer Metzgerei. Von den Klos im Treppenhaus war nur das im Parterre übriggeblieben. Ein löchriger Teppich ersetzte die Tür. Es war das einzige funktionierende Klo für drei Trümmerhäuser. Durch die Schlagersängerin Evelyn Künnecke erhielt es seinen Charme, durch den Komponisten Michael Jary, der dort Amizigaretten rauchte, seinen exklusiven Duft. Jary und die Künnecke gastierten im behelfsmäßig bespielbar gemachten Apollo und wohnten in den Trümmern neben uns bei Freunden. Meine Friedrichstraße hatte überlebt. Ihr Sterben kam viel, viel später.

In: Straßenbilder. Düsseldorfer Schriftsteller über ihr Quartier, hrsg. von Alla Pfeffer. Düsseldorf 1998, S. 58ff.

Gerda Kaltwasser: Fast eine Bilkerin

"Du bist nicht aus Bilk, du bist aus der Friedrichstadt", sagte freundlich rügend der ältere Kollege, natürlich altverwurzelter Bilker, in den fünfziger Jahren zu mir. Er war so eine Art wandelndes Kataster der Stadt, nicht nur, was die Grenzziehung im ehemals zufriedenen Süden Düsseldorfs, also in und um Bilk, anging. Ich konnte damit nichts anfangen, für mich war die Friedrichstadt ein Stadtteil von Bilk, so wie Pempelfort ein Stadtteil von Derendorf war; pardon, denn Vater und Mutter waren Zugereiste, kurz vor und nach dem ersten Weltkrieg, typische Düsseldorfer eben.

Später lernte ich dann, dass Bilk ganz alt war, während die Friedrichstadt der Esel im Galopp verloren hatte, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwischen den Bahnhöfen der Bergisch-Märkischen und der Köln-Mindener Eisenbahn. Die Friedrichstadt war das Bindeglied zwischen dem soliden alten Bilk und dem jungen, ein bisschen angeberischen Stadtzentrum, zwischen der legendären Villa Billico, über die der Gründer der Bilker Heimatfreunde, Hermann Smeets, ein Buch geschrieben hat, und der Königsallee, die gerade Namenstag feiert, weil sie seit 150 Jahren so heißt, wie sie heißt.

Kindheitserinnerungen an den alten Floragarten, in dem ich in meiner Fantasie Ritterspiele spielte, und an die Ständehausanlagen, wo wir mit der Bande "Villa Jück" ganz reale Kämpfe ausfochten, werden geschwärzt von den Rauchschwaden über den Trümmern nach den Bombenangriffen des Zweiten Weltkrieges. Sie werden überlagert von der Erinnerung an Straßenzüge, deren Fixpunkte Blindgänger waren, einer zum Beispiel hinter unserem Haus, ein anderer vor dem Dominikanerkloster an der Herzogstraße. Dann der Einzug amerikanischer Panzer von Bilk her. Dass nicht geschossen wurde, war Hermann Smeets mit zu verdanken, aber das wussten wir damals nicht. Wir schwenkten aus öden Fensterhöhlen ein etwas angeschimmeltes Bettuch als Friedenszeichen. Sechs Wochen hatten wir unter den Trümmern im feuchten Waschkeller gelebt, sechs Wochen Artilleriebeschuss und Tieffliegerangriffe. Vom Hauptbahnhof bis zur Lausward schien es nur Trümmerhalden zu geben.

Das Entdecken verschonter Häuser blieb lange ein tägliches Wunder. In den fünfziger Jahren gab es schon wieder Originale in Bilk zu bestaunen, die anderes taten als am Wirtschaftswunder zu basteln. Ein langer, dünner Herr mit flatterndem Regenmantel strebte allmorgendlich von seiner Wohnung, ich glaube an der Konkordiastraße, am Ständehaus vorbei in Richtung Kunstakademie, auch zum Opernhaus und zum neuen Schumann-Saal am Ehrenhof, um dort an seinen Fresken zu arbeiten. Es war der Maler Robert Pudlich. Ebenfalls vormittags, wenn die Ständehausanlagen menschenleer waren - die älteren Kinder saßen brav in der Schule, die Mütter mussten kochen, ehe sie mit den Kleinen und mit Strickzeug zum Spielplatz gingen - vormittags also lief ein jüngerer Mann, wild um sich blickend, eine Partitur in der Hand, durch die Anlagen und schmetterte "Nie sollst du mich befragen...!" Der spätere Wagnersänger Imdahl lernte seine Rolle im "Lohengrin".

Wer damals glaubte, aus den Trümmern würde eine heile Bilker Welt wieder erstehen, täuschte sich. Auch diese Welt änderte sich tiefgreifender als durch die Kriegsverwüstungen. Man denke nur den "Bilker Stadtteil" Friedrichstadt. Und die Veränderungen gehen weiter, im traditionellen Bilk und an seinen ebenso traditionsreichen Rändern.

Dazu gehört Stoffeln. Zeitgleich mit Bilk wurde der Flecken mit dem Namen "auff den Stoffen" (auf den Stümpfen eines Sumpfwaldes) 1384 nach Düsseldorf eingemeindet. Drei Kilometer lang ist der 1573 entstandene Stoffeler Damm, der Stoffeler Friedhof einer der bekanntesten in Düsseldorf. Aber in amtlichen Schriftstücken taucht Stoffeln nicht mehr auf, sang- und klanglos scheint Stoffeln zwischen Bilk, Flehe und Wersten zu verschwinden. Aber da ist ja noch das den 14 Nothelfern gewidmete Stoffeler Kapellchen, das 1734 unter Kurfürst Karl Philipp geweiht wurde. Dahin pilgern auch die Bilker gern.

In: Jubiläumsbuch zum 50-jährigen Bestehen des Heimatvereins Bilker Heimatfreunde e.V., 2001, S. 99.

Ein Düsseldorfer Portrait: Interview mit Gerade Kaltwasser

Frau Kaltwasser, Sie arbeiten seit 40 Jahren in Düsseldorf als Journalistin, mögen Sie diese Stadt überhaupt noch?

Eigentlich mag ich die Stadt erst seit 20 Jahren wirklich. Die 50er Jahre waren mir doch zu provinziell. Erst in den 60er Jahren, als mit aufregenden Aktivitäten an der Akademie, mit Kneipen als begehbaren Kunstwerken, mit der wachsenden Zahl von Studenten Leben in die Stadt kam, fing ich an, sie zu mögen.

Was fasziniert Sie an Düsseldorf?

Es ist diese bemerkenswerte Mischung aus Betulichkeit, Weltoffenheit und Arroganz, die man anderswo nicht oft antrifft. Da kann man sich aber auch oft ärgern, wenn die Betulichkeit Übergewicht bekommt. Die Weltoffenheit ist ganz zufriedenstellend. Es herrscht ein Klima der Bereitschaft, den Anderen anzuerkennen.

Was waren die interessantesten Themen, an denen Sie gearbeitet haben?

Das ist nach Jahrzehnten schwer zu sagen. Aber es waren in erster Linie die Probleme in der Logistik der Stadtbauer. 1962, als in nur einer Nacht der komplette Jan-Wellem-Platz umgebaut wurde, da war ich die ganze Nacht dabei, das hat mich schon sehr fasziniert. Auch der Brückenbau war immer wieder eine faszinierende Sache. Besonders natürlich der Verschub der Oberkasseler Brücke.

Was ärgerte Sie am meisten in Düsseldorf?

Von langer Zeit die Heimatvereine, aber das ist inzwischen vorbei. Heute ärgere ich mich häufig über die Stadtverwaltung.

Ist Düsseldorf Ihrer Meinung nach auf einem angemessenen kulturellen Stand?

Es ist auf jeden Fall besser als dargestellt. Doch es sollte einfach mehr für die Stärkung privater Initiativen getan werden.

In: Düsseldorfer. 64 Portraits. Von Rüdiger Nehmzow und Christoph Elbern Verlag der Mayerschen Buchhandlung: Düsseldorf, 1991, S. 80

Stadtgewissen mit lächelnden Augen

Flüchtige Anmerkungen zu Gerda Kaltwassers 70. Geburtstag

Ach, Gerda, was sollten wir denn tun ohne dich? Ohne das leichte, unermüdete Stadt-Gedächtnis, das auf einer Karosse mit vier Gummirädern schnurrt, elektrisch angetrieben, deren Merkwürdigkeiten einem Satiriker wie Hermann Harry Schmitz gewiss ein paar hübsche Sottisen aus der Feder gespritzt hätten.

Eine Journalistin ist dies, die das Klischee scheut wie der Teufel den Weihrauch. Immer wieder wunderbar und vorbildlich, wie sie in flüssiger Schreibweise zwischen den Gemeinplätzen durchsegelt ohne Angst vor Skylla noch Charybdis.

Biografische Fakten? Zu skizzieren ist der Lebenslauf der Metzgerstochter aus der Friedrichstadt übers Schlittschuhlaufen am Schwanenspiegel zum Amerika-Stipendium nach dem Krieg zur Ochsentour über verschiedene Tageszeitungen bis hin zur Rheinischen Post (1962). Dort machte sie sich vor allem als Anwältin für prekäre, große und kleine Themen und Regionen von Heine über Minderheiten bis Israel einen Namen. Oft hat sie sich vertippt. Doch nie verschrieben.

Die Summe ihrer Verdienste (streichen wir mal den Singular "Verdienst") addiert sich auf zahlreiche Ehrenringe. Nach wie vor segelt sie zwischen den vielen "H's" herum, Heine, H. H. Schmitz (dem jetzt wenigstens eine Schule gewidmet wurde - also keine Sackgasse, wie auch schon geplant), Hetjens-Museum. Und zahlreichen Büchern, Vorworten, Film-Kommentaren.

Der Bildhauer Bert Gerresheim formulierte bei einer Lobrede 1998 Gerda Kaltwassers Erkenntnis, dass man Wort und Leben, Ästhetik und Moral niemals voneinander trennen könne.

Gerda, das mobile, überfliegende, flatternde, nie flatterhafte Journal-Gedächtnis ihrer Stadt (die deren Herzblut oft genug noch nicht einmal verdiente) - sie ist so eine, über die Jean Paul einmal schrieb: "Die alten Menschen. Wohl sind sie lange Schatten. Aber sie weisen alle gen Morgen."

Sebastian Feldmann. Rheinische Post, 15. November 2000

Nachruf

Am 24. Juli 2002 starb Gerda Kaltwasser nach langer, schwerer Krankheit im Alter von 71 Jahren. Noch wenige Wochen vor Ihrem Tod schrieb sie für die Rheinische Post, deren Lokalredakteurin sie 1962 wurde. Mit "spitzer Feder und einem großen Herzen" schrieb sie für ihre Stadt und die Menschen.

Wir möchten an dieser Stelle ein Bild von Gerda Kaltwasser und ihrem Wirken entwerfen. Wir sammeln Stimmen über "uns Gerda", wie sie in der Zeitungs-Redaktion und bei all jenen hieß, die sie und ihr Engagement liebten.

"Schlage die Trommel und fürchte Dich nicht" - diese Zeile von Heinrich Heine war das Motto einer unangepassten und mutigen Frau.

Nachruf der Rheinischen Post

"Uns Gerda" ist nicht mehr bei uns. Die frühere RP-Lokalredakteurin Gerda Kaltwasser starb gestern im Altern von 71 Jahren

Das erste Treffen bleibt unvergesslich: Ein Verlag stellte damals, es muss 1981 gewesen sein, einige Bücher über das Rheinland vor. Die Tür ging auf, eine kleine Dame - vom Hut über die Pelerine bis zum Kostüm komplett und keck in rotem Pepita gekleidet - kam herein, warf einen sehr skeptischen Blick auf die Machwerke, stellte zwei Fragen, fällte ein kurzes, aber vernichtendes Urteil. Und ging wieder. Erschienen ist über diese Bücher in der RP keine Zeile. Das war Gerda Kaltwasser, damals stellvertretende Lokal-Chefin der RP in Düsseldorf.

"Uns Gerda", wie wir sie in der Redaktion genannt haben, war wandelndes Düsseldorf-, Heine-, Harry-Schmitz und Hetjens-Museum-Lexikon. Sie kannte alle und alles, denn sie hatte diese Stadt ja seit ihrer Geburt buchstäblich er-lebt. Aufgewachsen als Tochter eines Metzgers in Bilk, kam sie nach dem Abitur auf dem Luisen-Gymnasium früh zum Schreiben, seit 1962 tat sie es bei der Rheinischen Post, noch vor wenigen Wochen stand ihr Name über einem Text in der RP.

Immer hat sie in, aber nicht ausschließlich für Düsseldorf gelebt. Sie liebte die Stadt, aber auch aus der Ferne - damit dem von ihr verehrten Heine durchaus ähnlich. Kaum ein Land der Welt, das "uns Gerda" nicht besucht hat. Sie war schon auf Tonga, als hier zu Lande keiner wusste, dass es dieses Inselreich überhaupt gibt. Gerdas "Schreibe" war von einer Qualität, die Nachwuchsjournalisten anspornt - einmal so fein, so packend, mit so wenigen Mitteln sprachlich ins Schwarze treffen. Sie konnte es meisterlich, bis zuletzt. Und wenn der Begriff "spitze Feder" jemals passte, dann bei ihr. Viele, vor allem die ihr suspekten Selbstdarsteller, haben das häufig erleiden müssen. Benachteiligte, egal aus welcher Ecke, konnten dagegen auf ihre Hilfe zählen. Ein Engagement, das die Stadt 2000 mit dem Jan-Wellem-Ring belohnte. Jahrelang war sie der Lambertus der RP - für diese Samstag-Glosse ging er (also sie) langsam durch die Stadt, und erzählte, was er (also sie) sah.

Als ihr Körper wegen einer tückischen neurologischen Krankheit (von der sie seit langem wusste!) den Dienst versagte, bremste dies ihre Energie und die Freude an der Arbeit nicht. Sie rollte im Elektrowagen zu Terminen - und schrieb am Computer so fit und flott wie eh und je.

Nun ist sie nicht mehr bei uns. Gestern Morgen starb Gerda Kaltwasser. Sie wurde 71 Jahre alt. [ho-]

Rheinische Post. 25. Juli 2002

Heidede Morgenbrod: Selbstdarstellung in der dhg-Rundschau 2/94

1933 bei Insterburg in Ostpreußen geboren, habe ich innerhalb von zwei Ehen vier Kinder betreut und erzogen, zeitweilig auch als Alleinerziehende. Seit 1979 bin ich bis auf den heutigen Tag halbtags erwerbstätig. Als gelernte Steuerfachgehilfin lebe ich im Dauerzorn über die bisher geschaffenen Strukturen und immer wieder dreisten Veränderungen zu Lasten von Frauen. Mein gesellschaftliches Engagement gilt seit 20 Jahren der Frauenpolitik mit dem Schwerpunkt: "Eigenständige soziale und finanzielle Sicherung der Frau". Ich bin felsenfest davon überzeugt, daß der Lohn für häusliche und soziale Pflegearbeit die einzige brauchbare und gerechte Lösung darstellt, finanzierbar durch Ungestaltung des Sozial- und Steuerrechts.

Glücklich bin ich, daß die dhg diese Zielsetzung mittlerweile in ihr Grundsatzprogramm aufgenommen hat. Glücklich bin ich auch, daß sich viele junge Frauen aktiv für diese Forderung einsetzen und damit Druck auf die Parteipolitik ausüben. Von 1979 bis 1989 war ich Mitbegründerin und aktive Mitarbeiterin im autonomen Frauenprojekt "Frauen-Bücher-Zimmer" in Düsseldorf (Frauenbuchladen, Kulturbetrieb und "ständige Informationsbörse" verbunden mit gesellschaftspolitischer Arbeit).

Seit 1979, also seit Gründung der dhg, bin ich Mitglied und seit drei Jahren im Vorstand und im Arbeitskreis Grundsatzfragen tätig.

Frauen–Bücher–Zimmer

Am Anfang stand die Idee einer „ständigen Informationsbörse“. „Informationsbörse“, ein Begriff geprägt durch Antje Huber, ist eine Selbstdarstellung der etablierten Frauenverbände ihrer Zielsetzung und Programmgestaltung. Räume hierfür wurden in der Bundesrepublik in den verschiedenen Städten von den Stadt-Sparkassen zur Verfügung gestellt. Diese Informationsbörsen in den verschiedenen Städten fanden bisher nur einmal statt und dazu begrenzt auf maximal 14 Tage zu unterschiedlichen Zeitpunkten.

Zu der Idee „ständige Informationsbörse“ kam die Frage nach der praktischen Durchführung und der Wunsch zur Einbeziehung aller Frauengruppierungen außerhalb der unter dem Dach des Deutschen Frauenrates zusammengefassten Verbände. Hier wurde an die Frauenbewegung, sowie an die Bürgerinitiativen von Frauen, wie Spielplatzforderungsgruppen oder ähnlich gedacht.

Das heißt, die „ständige Informationsbörse“ soll ein Dach sein für etablierte wie für autonome Frauengruppierungen.

Zur praktischen Durchführung der Idee „ständige Informationsbörse“ wurde ein Verein gegründet als Rechtsform, der dieser Idee wegen auch die vorläufige Gemeinnützigkeit seitens des Finanzamtes erhielt und zwar begrenzt bis zum 31.12.1980. Der Verein wird vom Finanzamt dann überprüft auf die Einhaltung seines Zweckes, um die Gemeinnützigkeit für die Zukunft zu bekommen.

Zur praktischen Durchführung der Idee „ständige Informationsbörse“, wurden Räume in zentraler Lage Düsseldorfs gemietet, wo die Informationsbörse Herberge finden konnte.

Wie die Informationsbörse arbeiten soll, ist in § 2 „Zweck“ der Satzung des Vereins Frauen-Bücher-Zimmer sehr ausführlich dargelegt, sogar noch mit Nachtrag zur Verdeutlichung besonders für das Finanzamt.

Der Frauenbuchladen erscheint unter § 2 „Zweck“, Punkt 4: Informationsbüro mit dem Angebot entsprechender Literatur. Unter Punkt 1 kommt die Vermittlungstätigkeit der Informationsbörse zum Ausdruck mit dem Satz: „Informationen aus allen Lebensbereichen zu sammeln und an interessierte Frauen weiterzugeben (z. B. Termine für Vorträge, Bekanntmachungen über Frauengruppen, -verbände, Seminare)“.

Unter Punkt 3 kommt die Eigeninitiative des Vereins Frauen-Bücher-Zimmer zum Ausdruck mit dem Satz: „Kommunikative Veranstaltungen, z. B. Referate, Diskussionen, Austausch von Meinungen und Erfahrungen“.

Diese Konzeption zeigt eindeutig auf, dass das Frauen-Bücher-Zimmer keinen 26. Frauenverband Düsseldorfs darstellt oder eine autonome Frauengruppe mit einer eindeutigen Meinung.

Bei den langen Vorverhandlungen mit der Leitung der Arbeitsgemeinschaft Düsseldorfer Frauenverbände sowie anderer Organisationen, die nicht einsahen, wieso nun noch wieder eine neue Frauengruppierung entstehen soll, wo es doch schon so viele Frauengruppierungen gibt, wurde von uns immer argumentiert, dass wir uns nicht als 26. Frauenverband oder eine neue autonome Frauengruppe ansehen, sonder ein Dach (Überbau) darstellen wollen, um allen bestehenden Frauengruppierungen eine ständige Selbstdarstellung und ein ständiges Programmangebot zu ermöglichen.

Dieser Zielsetzung, die in der Satzung des Vereins Frauen-Bücher-Zimmer festgelegt und mit dieser Zielsetzung auch im Vereinsregister des Amtsgerichts Düsseldorf angemeldet ist, steht nun vom Grundsatz her absolut entgegen, dass der Verein Frauen-Bücher-Zimmer sich einem Frauenverband oder einer autonomen Frauengruppe in der Öffentlichkeit stützend zur Seite stellt. Dieses heißt aktuell konkret, dass gar nicht zur Debatte stehen kann, dass wir Aufrufe zu Demonstrationen mitunterschreiben und Slogans, Parolen aufnehmen und unterstützen (z. B. „Stoppt Strauß“, „Wir pfeifen auf linke Vögel“, oder „Stoppt Kernenergie“, „Wozu brauchen wir Kernenergie, bei uns kommt der Strom aus der Steckdose“), da unsere Beschlussfassung im § 9 der Satzung nach demokratischem Verständnis festgelegt wurde und unter Ziffer 2 „Mehrheitsverhältnisse“ steht: „Sofern das Gesetz oder die Satzung nicht entgegenstehen, werden alle Beschlüsse mit einfacher Mehrheit der erschienenen stimmberechtigten Mitglieder wirksam.“

Um eine groteske Zukunftsvision zu verdeutlichen, hierzu zwei Beispiele:

  1. Das jetzt aktuelle Beispiel: Die demokratische Fraueninitiative, über die sich jede Frau von uns ein Bild aus dem Courage-Artikel vom April 1979 machen kann, ruft zur Demonstration auf und demonstriert u. a. für die Streichung des § 218 aus dem Strafgesetzbuch. Die von uns erschienenen Mitglieder stimmen mit einfacher Mehrheit zu, wir unterschreiben den Aufruf, erscheinen hiermit in allen Zeitungen Düsseldorfs und marschieren mit dem Transparent „Frauen-Bücher-Zimmer“ auf der Straße mit.
  2. Eine mögliche Situation in naher Zukunft, da der Wahlkampf vor der Tür steht und diese und ähnliche Anliegen besonders häufig jetzt auf uns zukommen werden.

Eine katholische Frauengemeinschaft ruft zur Demonstration auf, den § 218 im Strafgesetzbuch beizubehalten und die Konstellation unserer Mitglieder ist an dem Abstimmungstag so, dass mit einfacher Mehrheit der erschienenen Mitglieder dem zugestimmt wird, wir erscheinen wiederum als Mit-Aufrufer zur Demonstration in allen Zeitungen Düsseldorfs und marschieren auf der Straße mit dem Transparent „Frauen-Bücher-Zimmer.“

Wir verstoßen gegen die Satzung und gegen den Zweck des Vereins, wenn wir Parolen, Slogans, Aufrufe, Resolutionen jeglicher Art im Namen des Frauen-Bücher-Zimmers unterstützen. Persönliches Engagement und Beitritt zu entsprechenden Vereinen und Gruppierungen bleibt jeder Frau unbenommen.

Heidede Morgenbrod, Düsseldorf den 28.01.1980

Wir stellen zur Diskussion: „Düsseldorfer Tarifpapier“

Jede Arbeit, die im Haushalt mit Kindern anfällt, muß bezahlt werden, wenn sie an zuständige Dienstleistungsbetriebe in Auftrag gegeben wird. Übernimmt dieselbe Arbeit die Hausfrau oder der Hausmann, dann wird sie zu einer unbezahlten Arbeit.

Private Gegebenheiten, wie der Gang zum Standesamt mit vollzogener Hochzeitsnacht, sind Leistungen im Sinne des Steuerrechts und führen zum Ehegattensplitting.

Private Gegebenheiten, wie die Anzahl der Kinder, sind Leistungen im Sinne des Steuerrechts und führen unter anderem zu Kinderfreibeträgen, die wiederum über die Höhe des Erwerbseinkommens in ihrer Höhe unterschiedlich ausfallen.

So gibt es eine Reihe von steuerlichen Leistungen des Staates, die lediglich aufgrund privater Gegebenheiten erbracht werden, aber nichts mit der Erwerbsarbeit zu tun haben. Der Nettolohn der Erwerbstätigen wird hiermit erhöht: zum Beispiel:

  1. Ehegattensplitting
  2. Kinderfreibeträge
  3. Kinderbetreuungskosten
  4. Kinderanteile im Ortszuschlag bei Beschäftigten im Öffentlichen Dienst.

Es gibt eine Reihe von sozialen Leistungen des Staates für Familien oder Alleinstehende mit Kindern, wie zum Beispiel:

  1. Erziehungsgeld
  2. Kindergeld
  3. Wohngeld und Sozialhilfe (hauptsächlich Frauen erhalten sie)
  4. Familienstandsdarlehen in einigen Bundesländern
  5. Stiftung Mutter und Kind
  6. Mutterschaftsgeld nach dem Lohnfortzahlungsgesetz.

Zur Zeit gibt es in der Bundesrepublik Deutschland cirka neun Millionen Hausfrauen ohne eigenes Erwerbseinkommen, die unbezahlte Arbeit leisten, wo die steuerlichen und sozialen Hilfen aber gewährt werden. Aus diesen Hilfen leitet sich für die neun Millionen Hausfrauen keine eigenständige soziale Sicherung im Alter ab, es kommt zu der „verschämten Altersarmut“, wie es heute formuliert wird.

Die Aufhebung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung mit Hilfe eines Sechsstundentages für alle, wäre die ideale Lösung. Hierbei wären Mann und Frau gleichermaßen verantwortlich für Erwerbsarbeit und häusliche Pflege- und Erziehungsarbeit.

Als Voraussetzung zu dieser Ideallösung fordern wir statt der steuerlichen und sozialen Hilfen vom Staat einen Tarif: – den Lohn für häusliche Pflege- und Erziehungsarbeit. –

Dieser Lohn kann vorschlagsweise bei einem zu versorgenden Kind DM 2.100,- brutto monatlich betragen und erhöht sich bei jedem weiteren zu versorgenden Kind um DM 500,- brutto monatlich.

Nach Angaben des Katholikenrates im Bistum Trier betrug der durchschnittliche Aufwand für Familienleistungen im Jahr 1986 je Kind rund DM 2.100,- monatlich. Nach diesen Zahlen könnte der Lohn für häusliche Pflege- und Erziehungsarbeit noch höher angesetzt werden.

Hier bedarf es einer klaren Organisation! Zum Beispiel brauchen wir dann nur noch eine Steuerklasse für alle Erwerbstätigen. Die steuerlichen und sozialen Hilfen vom Staat für die Familie fließen dann in den Lohn für häusliche Pflege- und Erziehungsarbeit.

Mit diesem Tarif-Modell ist die optimale Wahlfreiheit gegeben: Beruf, Kindererziehung oder Arbeitsteilung (Halbe, halbe). Durch diese Umstrukturierung werden Arbeitsplätze für Männer und Frauen im Haushalt möglich, falls die Eltern der Kinder sich für weitere Erwerbstätigkeit entscheiden.

Mit diesem Tarif-Modell ist auch die eigenständige soziale Sicherung von männlichen und weiblichen Personen gesichert, die sich für Kindererziehung und Kinderbetreuung entscheiden. Gewährleistet sind dann: eigenständige Versicherung für das Altersruhegeld sowie für die Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente, eigenständige Krankenversicherung.

Gewährleistet ist dann die gesetzliche Unfallversicherung (möglicherweise der Gemeindeunfallversicherung einzugliedern). Häusliche Pflege- und Erziehungsarbeit begründet dann auch Ansprüche auf vermögenswirksame Leistungen, Urlaubsgeld, Weihnachtsgratifikation sowie Förderung, Fortbildung und Umschulung durch das Arbeitsamt. Tarifpartner ist der Bund.

Heidede Morgenbrod für die Düsseldorfer Arbeitsgruppe „Lohn für häusliche Pflege- und Erziehungsarbeit“ der dhg. In: dhg-Rundschau der Deutsche Hausfrauengewerkschaft e. V., H. 1, 1988, S. 5

Die Ehe - eher nicht? Eherecht auf dem Prüfstand

Was macht die Ehe attraktiv?

Für gläubige Menschen stellt die Ehe ein Sakrament dar. Erstaunlich nur, daß im südlichen Raum der Bundesrepublik das Wort "Sakrament" als Fluch benutzt wird, abgekürzt: "Sakra!" Sollte dieser Fluch sich entwickelt haben, weil die Ehe ein Sakrament und im Katholizismus unauflöslich ist?

Neben dem religiösen Aspekt möchten viele verliebte Menschen nach außen dokumentieren, zu wem sie gehören. Sie erhalten den Status "verheiratet". Nebenbei bemerkt, nennt Esther Vilar die Frage nach diesem Status eine pornographische Frage. Sie vermutet, daß sich dahinter Neugier verbirgt, ob diese Personen geregelten Sex mit einem ständigen Partner haben. So ganz von der Hand zu weisen ist dieser Gedanke nicht. Läßt sich deshalb der Staat heute alleine den Ehestand ca. 30 Mrd. jährlich kosten, obwohl 1957 die Steuerklasse III als Anerkennung für die Erziehungsarbeit der Frau eingeführt wurde? Damals verpflichtete das Gesetz die Frauen zur Kindererziehung. Bis 1977 galt, daß eine Frau nur erwerbstätig sein durfte, wenn der Haushalt und die Familie nicht darunter litten. Zu beurteilen hatte das der Mann. Im Laufe der Jahre, bedingt durch "die Pille", haben ein Drittel der Ehen heute keine Kinder, ein Drittel nur ein Kind und ein Drittel zwei und mehr Kinder.

In Hoffnung!"

Der wichtigste Aspekt für eine Ehe scheint mir der Kinderwunsch zu sein. Die zukünftigen Kinder sollen ehelich geboren werden. Gerade dieser Aspekt stellt ein Problem dar. Heute hat beinahe jede Frau einen Beruf erlernt, hat in diesem Beruf bereits gearbeitet und eigenes Geld verdient. Nun kommt das erste Kind. Spätestens dann stellt sich die Frage, wer leistet die Erziehungsarbeit? Es läßt sich nicht wegdiskutieren, überwiegend übernimmt traditionsgemäß die Frau die Kindererziehung auch ohne Gehalt für Familienarbeit. Sie wird Unterhalts- und Taschengeldempfängerin bis ins hohe Rentenalter. Die 60% Hinterbliebenenrente vom Ehemann haben Unterhaltsersatzfunktion. Eine eigenständige soziale und finanzielle Sicherung hat die Ehefrau mit der Entscheidung, ihr eigenes Kind und die noch folgenden Kinder selbst zu betreuen und zu erziehen, nach der heutigen Gesetzeslage aufgegeben. Sie empfängt Unterhalt wie ihre eigenen Kinder. Reicht der Unterhalt des Ehemannes nicht aus, dann greift die Sozialhilfe. Beide Formen bieten keine Altersrente.

Gesetzliches eheliches Güterrecht

Laut Bürgerlichem Gesetzbuch, BGB, gehört dem Mann sein Erwerbsgehalt ganz alleine. Ich zitiere BGB § 1363, Absatz 2:

"Das Vermögen des Mannes und das Vermögen der Frau werden nicht gemeinschaftliches Vermögen der Ehegatten; dies gilt auch für Vermögen, das ein Ehegatte nach der Eheschließung erwirbt."
So wird die Abhängigkeit der kindererziehenden Ehegatten von ihren erwerbstätigen Ehepartnern zementiert. Das Machtgefüge innerhalb einer Ehe wird vom Gesetzgeber vorgegeben. Der die "Brötchen verdient" bekommt auf sein Nettogehalt aus Steuergeldern über Steuerklasse III die eheliche Subvention als Bestandteil seines Gehalts. Hinzu kommen die steuerlichen Kinderfreibeträge bisher und ab 1.1.1996 das wesentlich erhöhte Kindergeld, wenn es vom Arbeitgeber ausgezahlt wird. Bei vier Kindern hat der Ehemann DM 1050,- monatlich zusätzlich, die sein Nettogehalt erhöhen. Über Rechtsprechung ist geregelt, daß die Ehefrau ein Taschengeld von 5% bis 10% der Nettoeinnahmen ihres Ehemannes beanspruchen kann, also auch vom erhöhten Kindergeld ab 1.1.1996, und daß am Ersten eines jeden Monats ein angemessenes Haushaltsgeld auf dem Tisch zu liegen hat, damit sie im Rahmen ihrer Schlüsselgewalt (ein Thema für sich) einen Monatsplan entwickeln kann. Über sein Einkommen kann sie jedoch nicht verfügen und eine Kontovollmacht steht ihr juristisch nicht zu.

BGB eine Lachnummer?

Nun komme ich zu dem Schlußsatz des Absatzes 2, BGB §1363, der einem die Schuh' auszieht. Das muß man langsam auf der Zunge zergehen lassen:

"Der Zugewinn, den die Ehegatten in der Ehe erzielen, wird jedoch ausgeglichen, wenn die Zugewinngemeinschaft endet."

Bitte, auf der Zunge zergehen lassen: "... wenn die Zugewinngemeinschaft endet." Wir haben oben über den ersten Satz des Absatzes 2 BGB §1363 ausführlich gesprochen. Ich zitiere nochmal:

"Das Vermögen des Mannes und der Frau werden nicht gemeinschaftliches Vermögen der Ehegatten"; in Ordnung, weiter: "dies gilt auch für das Vermögen, das ein Ehegatte nach der Eheschließung erwirbt".

So, und das nennt nun der Gesetzgeber "Zugewinngemeinschaft!" Mir scheint, daß Juristen, Professoren? (lernen etwa unsere Studentinnen und Studenten diesen Unsinn in der Uni?) ein Wortfindungsaufgabe haben. Das Gesetz macht eine Falschaussage. Während der Ehe liegt de facto eine Gütertrennung vor mit Unterhaltsverpflichtung. Erst bei Scheidung wird geteilt, und zwar das, was nach drei Jahren Streit noch übrigbleibt. BGB §1373 erläutert den Begriff "Zugewinn":

"Zugewinn ist der Betrag, um den das Endvermögen eines Ehegatten das Anfangsvermögen übersteigt."

§1374 ff BGB enthalten weitere Vorschriften der Handhabung, aber sie betreffen die Auflösung der Ehe und nicht die eheliche Gemeinschaft.

Scheidung

Das Scheidungsrecht sieht seit 1977 vor, daß, wenn ein Partner es so will, nach drei Jahren geschieden wird. Der Selbstbehalt schütz den verdienenden Mann vor der Sozialhilfe. Die Frau ist mit ihren Kindern auf Unterhalt oder Sozialhilfe angewiesen. Zum Thema Scheidung gibt es eine äußerst unattraktive Variante für eine häuslich erziehende Person. Das Scheidungsrecht kennt eine Anrechnungs- und eine Differenzmethode für die Unterhaltsberechnung. Würde es ein Gehalt für Familienarbeit geben, wäre die häuslich erziehende Frau der erwerbstätigen Frau gleichgestellt und die Differenzmethode käme zur Anwendung. Sie geht so vor, daß die beiden Nettoeinkommen der Eheleute verglichen werden; von der Differenz erhält die Frau eine Quote von 3/7. Heute trifft die häuslich erziehende Frau, die wegen der kleinen Kinder nicht erwerbstätig sein will, die Anrechnungsmethode. D.h., wenn die Frau mit kleinen Kindern nicht genügend Unterhalt vom geschiedenen Mann bekommt und sich mit z.B. Nachtarbeit Geld hinzuverdient, wird dieses Geld mit dem Unterhalt verrechnet. Sie arbeitet bei der Anrechnungsmethode (oder Abzugsmethode) für den Mann, aber nicht, um ihre mißliche finanzielle Situation zu verbessern.

Wenn ich dann noch an Minister Seehofer denke, Stichwort: "Arbeit statt Sozialhilfe", dann kommt noch mehr Unattraktives auf die häuslich Erziehenden zu, weil Blätter im Park harken seiner Meinung nach Arbeit ist, aber Kindererziehung keine Arbeit. Aus dem Grund werden die Alleinerziehenden im Referentenentwurf zur Sozialhilfe nicht ausdrücklich ausgenommen. Strafe droht, d.h. 25% Verlust, wer Arbeit ablehnt! Die Unzumutbarkeitsregelung kann zwar greifen, doch Willkür und Gnade begleitet sie vor Ort.

Die gerechte Lösung!

Gesetze sind Rahmenbedingungen für unsere Lebenssituation. Eine neue Regelung des gesetzlichen Güterstandes muß beiden Ehepartnern vom Zeitpunkt der Eheschließung an gleichberechtigte Verfügungsbefugnis über das während der Ehe erworbene Einkommen und Vermögen der Ehepartner geben.

Das ist die Forderung der deutschen Hausfrauengewerkschaft. Die höchste deutsche Richterin, Prof. Jutta Limbach, Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, hielt zum hundertsten Geburtstag des "Deutschen Frauenrates" eine Rede über den Feminismus. Sie stellte die konkrete Frage, Zitat: "Welche der gegenwärtigen Forderungen von Frauen verdient das Prädikat ‚feministisch'? Die der Hausfrauengewerkschaft, den Familienfrauen die direkte Verfügung über das Familien-, also das Manneseinkommen, einzuräumen? Oder aber der Appell: Den Männern die Hälfte der Familie - den Frauen die Hälfte der Welt?" Sie sagte dann weiterhin, Zitat: "Als am Ende des vorigen Jahrhunderts im Deutschen Reichstag über das die Frauen bevormundende Familienrecht des BGB "mit einer das übliche Maß übersteigenden Heiterkeit" verhandelt wurde, gab es nicht eine weibliche Abgeordnete, die den Ernst des Themas hätte anmahnen können." BGB eine Lachnummer?

Bündnis für Arbeit

Mein Fazit: Ehe lohnt sich für Mann und Frau ohne Kinder. Sie loht sich für Mann und Frau, wenn Personal die Erziehung und Betreuung der Kinder übernimmt, weil Geld da ist. Die Ehe lohnt sich nicht, wenn das Ehepaar die Kinder selbst betreuen und erziehen möchte. Vereinbarkeit von Beruf und Familie gibt es nicht. Die Wirtschaft denkt nicht im Traum daran, den häuslich Erziehenden entgegenzukommen. Sie führt nicht den notwendigen "Fünf-Stunden-Tag für alle" bei gleitender Arbeitszeit ein. Seit 1970 kenne ich diese Forderung. Wir haben ca. vier Mio. Arbeitslose. Wir haben aber auch ca. zwölf Mio. Frauen im erwerbsfähigen Alter, die nicht erwerbstätig sein können, weil sie Kinder erziehen oder Kinder erzogen haben. Diese Frauen müßten auch einen Erwerbsarbeitsplatz bekommen. Wo denn, bitte? "Bündnis für Arbeit" wunderbar, aber der Bereich Familienarbeit muß mit berücksichtigt werden bei den derzeitigen Überlegungen und Neuordnungen!

In: Rundschau der Deutschen Hausfrauengewerkschaft e.V., Ausgabe 1/1996, Januar-März

Eherecht und Steuerklasse V passen wie die Faust aufs Auge!

Die dhg fordert, daß eine gleichberechtigte Verfügungsbefugnis über das während der Ehe erworbene Einkommen Gesetz werden muß. Nachfolgende Ausführung begründet unter anderem diese Forderung.

Steuerklasse III/V

Das Existenzminimum, steuerlich Grundfreibetrag genannt, ist ab 1996 auf DM 12 095,- festgesetzt worden. Dafür wurde der Eingangssteuersatz auf 25,9% erhöht. Bedingt durch die Kinderziehung nehmen viele Frauen eine Teilzeittätigkeit auf und wählen die Steuerklasse V, damit ihr Ehemann die Steuerklasse III behalten kann. Diese Steuerklassenkombination III/V führt zu einem geringeren monatlichen Lohsteuerabzug für beide Ehepartner - gemeinsam gesehen. In der Steuerklasse V gibt es kein Existenzminimum. Das Existenzminimum der Frau hat der Mann innerhalb der Steuerklasse III. Für die Frau greift also sofort ohne Grundfreibetrag der Eingangssteuersatz von 25,9%. (Im vorigen Jahr noch 19%.) Die Frau trägt den monatlichen Steuerausgleich und hat damit ein wesentlich niedrigeres Nettoeinkommen. Somit schafft sie sich mit der Wahl der Steuerklasse V ein niedrigeres Erwerbsnettoeinkommen und verhilft dem Mann zu einem höheren Erwerbsnettoeinkommen. Laut Eherecht gehört den Ehepartnern das eigene Erwerbsgehalt jeweils alleine (siehe auch RS 1/96). Spöttisch gesagt, sorgt die Frau durch die Wahl der Steuerklasse V selbst dafür, daß sie einen höheren Anspruch auf Taschengeld vom Ehemann (laut Rechtsprechung 5% bis 10%) erhält, anstatt eines höheren eigenständigen Einkommens.

Steuerklasse IV

Die Wahl der Steuerklasse IV wäre die logische Folge, um dem gesetzlichen Güterstand der sogenannten Zugewinngemeinschaft im Eherecht zu entsprechen. In Wahrheit handelt es sich bei der Zugewinngemeinschaft um eine Gütertrennung während der Ehe. Sind die Verdienste aber sehr unterschiedlich hoch, dann könnten die erhöhten Steuerzahlungen als "Sparstrumpf" angesehen werden. Über die Einkommensteuerveranlagung oder den Lohnsteuerjahresausgleich werden die überhöhten Zahlungen vom Finanzamt zurückerstattet. Der einzige Haken hierbei ist, daß die Rückzahlung zinslos erfolgt. Eine Änderung muß hier angestrebt werden.

Wer sich für die Steuerklasse IV entscheidet, muß beide Steuerkarten dem Einwohnermeldeamt vorlegen. Die Einwilligung des Ehepartners ist Voraussetzung, sonst geht das nicht. Die Wahl der getrennten Veranlagung (Steuerklasse I) geht ohne Einwilligung des Ehepartner, aber ab dann hängt sicher der Haussegen schief.

Wie es die Bundesregierung sieht

Im Auftrag von Bundesministerin Nolte läßt Frau Dr. Thielenhaus der dhg laut Schreiben vom 14.12.1995 mitteilen:

"... Die klassische ‚Hausfrauenehe' scheint nicht länger den Lebensvorstellungen der meisten Paare zu entsprechen. Dem trägt auch das Bürgerliche Gesetzbuch Rechnung, indem es beiden Ehegatten (gnädigerweise seit 1977!, Anmerk. der Autorin) das Recht zuspricht, erwerbstätig zu sein (§ 1356 Abs 2 BGB). ... Von den verheirateten Frauen sind knapp 60% voll- oder teilzeiterwerbstätig. ... Wie bereits in einem Schreiben an Ihren Bundesverband vom 28.07.1995 dargelegt, sieht die Bundesregierung keine Notwendigkeit zur Änderung des gesetzlichen Güterstandes."

Frau Dr. Thielenhaus sagt uns nicht, wie viele von den 60% Frauen teilzeiterwerbstätig sind. Bedingt durch die Kindererziehung ist das sicher ein großer Teil der Frauen, die dann auch Steuerklasse V wählen. Sie sitzen damit in der Zwickmühle zwischen Eherecht und Steuerrecht.

In: Rundschau der Deutschen Hausfrauengewerkschaft e.V., Ausgabe 3/1996, Juli-September

Gibt es im Jahr 2000 eine neue Chance?

Eigenständige soziale Alterssicherung für Frauen

Die Rentenreform 1984 wurde im Parlament in skandalöser Weise entschieden. Trotz langer Vorbereitung, knapp 10 Jahre Vorlauf, fiel die Entscheidung überwiegend zu Lasten von Frauen aus.

Verfassungsbeschwerden

Die Ordnungsprinzipien des Rentenrechts sind "Beitragsgerechtigkeit" und "sozialer Ausgleich". Die Versichertenrenten, die auf Beiträgen beruhen, haben Lohnersatzfunktion.

Die Hinterbliebenenrenten, die aus Gründen des sozialen Ausgleichs bewilligt wurden, haben Unterhaltsersatzfunktion. Anlass für die Rentenreform 1984 waren verschiedene Verfassungsbeschwerden von Witwen und Witwern. Frauen wie auch Männer fühlten sich bei einzelnen Regelungen im Rentenrecht benachteiligt. Dabei beriefen sich alle auf das Verfassungsgebot der Gleichbehandlung von Mann und Frau.

Eine Witwe klagte, weil ihr nach dem Tod ihres Mannes, obwohl sie keine eigenen Rentenansprüche hatte, nur 60% seiner Rente zugebilligt wurde. Im Gegensatz dazu wurde einem Witwer nach dem Tod der Ehefrau seine eigene Rente zu 100% weitergewährt. Ein Witwer klagte, weil ihm normalerweise zusätzlich zu seiner eigenen Rente kein Anspruch auf einen Teil der Rente seiner erwerbstätig gewesenen Ehefrau nach ihrem Tod zustand, es sei denn, er wurde von seiner Ehefrau überwiegend unterhalten.

Aufgrund dieser Beschwerden hatte das Bundesverfassungsgericht im März 1975 der Bundesregierung aufgegeben, bis Ende 1984 die Gleichbehandlung von Mann und Frau in der Hinterbliebenenversorgung zu verwirklichen.

Die Arbeit der Kommission

Um Vorschläge für die Neuordnung der sozialen Sicherung der Frau und der Hinterbliebenen zu erarbeiten, wurde auf Beschluss der damaligen Bundesregierung eine Sachverständigenkommission vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung im Oktober 1977 berufen, die aus 17 Mitgliedern bestand, darunter sieben Frauen. Der Abbau von sozialen Ungerechtigkeiten gegenüber Frauen stand im Auftrag. Die Kommission gab ihr Gutachten im Mai 1979 ab. Sie diskutierte vier Modelle der Neuordnung. Schließlich konzentrierte sie sich auf das "Teilhabemodell 2 Variante 1".

"Teilhabemodell 2 Variante 1"

Es sieht so aus: Solange beide Ehegatten leben, behalten sie ihre durch Beiträge erworbene eigene Rente. Wenn einer von beiden stirbt, wird die Rente des Witwers oder der Witwe neu berechnet. Grundlage dafür sind zunächst die eigenen, außerhalb der Ehe erworbenen Rentenansprüche, die unverändert für die betroffene Person erhalten bleiben. Analog zum neuen Eherecht seit 1977 (Versorgungsausgleich) sollen dann die Rentenansprüche, die beide Partner während der Ehe erworben haben, zu einer "Gesamtversorgung" zusammengezählt werden. In diese sollen auch Ansprüche eingehen, die sich ein Partner durch die Erziehung der Kinder erwirbt. Erziehungszeiten bedeuten Rente dann aus eigenem Recht, wie der Versorgungsausgleich. Die Anrechnung von Erziehungszeiten sollte sich damals bis zum vollendeten 3. Lebensjahr des Kindes erstrecken, obwohl die Forderung bis zum vollendeten 6. Lebensjahr des Kindes bereits im Gespräch war. Diese Erziehungszeit sollte einheitlich mit einem Prozentsatz des Durchschnittsentgelts aller Versicherten von 100% bewertet werden. Aus dieser so errechneten Gesamtversorgung sollten die hinterbliebenen Ehegatten 75 (alternativ 70) Prozent der Rentenansprüche erhalten, die zu den eigenen außerhalb der Ehe erworbenen hinzugezählt werden.

Diese Regelung entspricht dem Gleichheitsgrundsatz, und durch die Anrechnung von Erziehungszeiten sollte der spezifische Beitrag aller Eltern zu Generationenvertrag endlich honoriert werden. Ansprüche werden danach nur gerechter verteilt. Abstriche gibt es dort, wo die Ansprüche ohne entsprechende Eigenleistung unangemessen günstig sind, vor allem bei sogenannten Versorgungsehen, den wirtschaftlich gut gestellten kinderlosen Einverdienerehen. Die Kommission war sich einig.

Männermodell "Garantierente"

Und nun meldeten sich drei Mitglieder der Kommission Ende Februar 1979, also nur knapp drei Monate vor Abgabe des Gutachtens, nachdem es nach eingehender Diskussion seit Oktober 1977 bis Februar 1979 zu einer Einigung gekommen war und präsentierten einen neuen Vorschlag, der die Frauen in der Kommission sehr erbitterte. Der Vorschlag der drei Männer stützte sich auf die Eigentumsgarantie von Artikel 14 Grundgesetz und sie forderten die "Garantierente".

Dieser Vorschlag sah so aus: Für die Versorgung des überlebenden Ehepartners sollen die gesamten Rentenanwartschaften beider Eheleute zusammengelegt werden, nicht nur die während der Ehe erworbenen. Die Hinterbliebenenrente soll 70 (65)% dieser gesamten Rentenanwartschaften betragen, mindestens aber soll die Rente aus den eigenen Anwartschaften garantiert werden. Kindererziehungszeiten waren nicht mehr Thema.

Die Kommission verzichtete auf eine Kampfabstimmung und überließ die Entscheidung der Politik. Seitdem, wenn vom Teilhabemodell geredet wird, meinen die Politiker und Politikerinnen das Männermodell "Garantierente", das eigentlich ja gar keine Teilhabe ist, sondern nur eine Hinterbliebenenrente unter Anrechnung eigener Ansprüche.

Kosten

Die damalige Kostenschätzung für das Männermodell, Teilhabemodell "Garantierente - 70% der Gesamtversorgung insgesamt und "Garantie" der selbsterworbenen Ansprüche - ergaben auf Dauer Mehraufwendungen zwischen rund einer bis drei Milliarden DM jährlich.

Das ursprüngliche Modell, "Teilhaberente Modell 2 Variante 1" - 75% der Gesamtversorgung aus der Ehezeit zuzüglich vollem Rentenanspruch aus Zeiten außerhalb der Ehe hätte vier bis sechs Milliarden Minderausgaben ergeben und damit Finanzierungsspielraum für die Anrechnung von Erziehungszeiten für alle Mütter, auch für die heute bereits Rente beziehenden Mütter.

Das ursprüngliche Modell sah eine Übergangsregelung von 25 Jahren vor. Heute hätten wir davon schon 14 Jahre überwunden.

Wie hatte das Parlament beschlossen?

Das Gutachten der Sachverständigen interessierte die Politiker und Politikerinnen nicht, sie fanden eine eigene Entscheidung, die zu Lasten der erwerbstätigen Frauen ging und zu Gunsten der erwerbstätigen Männer. Ein 80jähriger Mann kann seine Rentenansprüche einer 24jährigen Frau übertragen nach dem Motto: "Wie soll sonst noch ein alter Mann eine Frau bekommen?"

Die Anerkennung der Erziehungsleistung mit einem Jahr trug zur Bewusstseinsbildung bei, dass Familienarbeit auch Arbeit ist, wirkt sich aber finanziell als Rente lächerlich gering aus.

Geltendes Recht

Seit 1986 sieht das geltende Recht so aus, dass es eine Hinterbliebenenrente mit Freibetrag für Mann und Frau gibt. Dieser Freibetrag ist dynamisch. 1986 begann der Freibetrag mit DM 900, heute liegt er bei DM 1.274.

Ein Jahr Erziehungszeit gibt es seit 1986. Für Geburten ab 1992 gibt es Ansprüche auf drei Jahre Erziehungszeit je Kind, die aber erst etwa ab 2025 in Form von Rente wirksam werden.

Skandal

Die Politiker und Politikerinnen haben sich der Witwer angenommen. Diese bekommen seit 1986 weiter ihre eigenen Renten zu 100% und 60% der Rente ihrer verstorbenen Frauen dazu. Übersteigt ihre eigene Rente den jeweils gültigen Freibetrag, wird der übersteigende Betrag mit 40% ausgerechnet und von der Witwerrente abgezogen.

Das heißt also, die Verfassungsbeschwerde der Witwer hat sich gelohnt. Für sie wurde eine Verbesserung vorgenommen, obwohl sie überwiegend eine lückenlose Erwerbsrentenbiografie vorzuweisen haben. Männer machen auch heute noch keine durch Kindererziehung bedingte Erwerbsarbeits"pause" und auch keine Teilzeiterwerbsarbeit.

Die Politikerinnen und Politiker haben für die Witwen, die bis 1986 ihre eigene Rente aus eigener Erwerbstätigkeit erhielten und 60% der Rente ihres verstorbenen Mannes dazu, eine Verschlechterung vorgenommen, indem sie die 40%-Anrechnung auch für die Witwen eingeführt haben. Das heißt, diese Rentenreform ging zu Lasten der erwerbstätigen Frauen und der Frauen, die Kinder erziehen, zumal die durchschnittliche Höhe der Altersrente für Frauen, unter anderem bedingt durch die Kindererziehung, etwa die Hälfte der Rente der Männer ausmacht.

1986 wurde lediglich eine Rente für Kindererziehung eingeführt, die erst ab 1.7.2000 auf der Basis von 100% des Durchschnittseinkommens aller Rentenversicherten liegen wird. Ab 1.7.1999 beläuft sich der Wert der Rente für Kindererziehung für ein Kind auf DM 43,44 im Westen und DM 37,79 im Osten.

Die neue Chance im Jahr 2000

Die Teilhaberente "Modell 2 Variante 1", also das ursprüngliche Modell der damaligen Rentenkommission, auf das sich die Mehrheit der Kommission geeinigt hatte, ist die Chance 2000. Die heutige Regierungskoalition hat die Macht, dieses Modell Gesetz werden zu lassen. Aus heutiger Sicht ist klar, dass sechs Jahre Anerkennung von Erziehungsarbeit mit eingebaut werden müssen. Diese sechs Jahre sind dann für alle Mütter, auch für diejenigen, die heute bereits in Rente sind, finanzierbar.

Die neue Chance im Jahr 2000 ist auch ein Gehalt für Familienarbeit, wie es die dhg fordert, in Höhe des Durchschnittsverdienstes aller Rentenversicherten schon ab dem ersten Kind, aber mindestens, bis das jüngste Kind sechs Jahre alt ist. Die Familienarbeit darf delegiert, das Gehalt also weitergegeben werden. Mit diesem sozialversicherungspflichtigen Gehalt für Familienarbeit entsteht eine Rente für Kindererziehung, die den Versichertenrenten entspricht, die auf Beiträgen beruhen und Lohnersatzfunktion darstellen.

Das Gehalt für Familienarbeit beseitigt mehrere Ungerechtigkeiten. Es ermöglicht die eigenständige finanzielle und soziale Sicherung bei Familienarbeit und trägt unter anderem zur Steuergerechtigkeit bei.

Es muss darüber nachgedacht werden, wie Personen, die keine Kinder großziehen, an der Finanzierung beteiligt werden können.

In: Rundschau des Verbands der Familienfrauen und -männer e.V., Ausgabe 2/2000). Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag bei der Jahresmitgliederversammlung der dhg von NRW am 18.03.2000.

Nachruf auf Heidede Morgenbrod: Ein großer Verlust

Heidede Morgenbrod ist von uns gegangen. Sie starb im Alter von 68 Jahren. Ihre Erkrankung war so kurz und heftig, daß man wohl sagen kann: Mitten aus dem Leben gerissen. Auf der Rückfahrt von der Gesamtvorstandssitzung in Altleiningen im März diesen Jahres äußerte sie die Absicht, den Landesvorsitz in NRW, den sie seit 1990 innehatte, in jüngere Hände zu geben. Ich war verblüfft, weil wir nie zuvor davon gesprochen hatten. Mit großer Zielstrebigkeit (und Vorahnung?) führte sie Telefongespräche, und so konnten wir im Mai in Düsseldorf einen neuen Landesvorstand wählen. Am 9. Juni mußte sie ins Krankenhaus, das sie nicht mehr verlassen sollte.

Wie kann ich ihr Leben und ihre Leistung würdigen? Am besten gebe ich etwas von dem weiter, was sie mir erzählt hat. Nie hat sie die Flucht aus Ostpreußen vergessen können, vor allem nicht die nächtlichen Schreie von vergewaltigten Frauen im Sommer in dem Notquartier in Mecklenburg. Dieses Trauma war die eine Wurzel ihres frauenpolitischen Engagements.

Eine andere Wurzel liegt in ihrer Erfahrung, daß eine Frau ihre finanzielle Eigenständigkeit durch ein Kind verliert und dass Kinderbetreuung durch Freunde nicht so leicht zu haben ist und auch nicht unbedingt gewünscht wird. Als ihre erste Ehe Mitte der 60er Jahre scheiterte und sie in ihrem erlernten Beruf als Buchhalterin mit halber Stelle arbeiten wollte, erwies sich die Betreuung des jüngeren Sohnes als unüberwindliches Hindernis. Die Kindergärtnerin des älteren Sohnes räumte ihr - außerhalb der Legalität - die Möglichkeit ein, den Kleineren ohne Anmeldung im Kindergarten "mitlaufen" zu lassen. Daß sie als Preußin/Ostpreußin gezwungen war, etwas "Gesetzwidriges" zu tun und daß sie eine andere Frau, die Kindergärtnerin, veranlassen mußte, ebenfalls etwas "Gesetzwidriges" zu tun, hat sie zutiefst verstört und aufgebracht und nach anderen Lösungen suchen lassen. Sie dachte an etwas, das wir heute "Gehalt für Familienarbeit" nennen. Später heiratete sie wieder. Ihr Mann hatte zwei Kinder, und sie hatte zwei, und sie machte die ganze Familienarbeit für den großen Haushalt. Im Jahr 1979 kam eine Halbtagsstelle als Buchhalterin dazu.

Anfang der 70er Jahre gehörte sie zu den Frauen, die im Düsseldorfer actionsring frau und welt den "Gesellschaftspolitischen Arbeitskreis" gründeten. Nach dem Wahlsieg der SPD bei der Bundestagswahl am 5. Oktober 1972 (mit der darauf folgenden Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler) gehörte sie zu den Gründungsmitgliedern der Initiative 6. Oktober, die die Regierungspartei "am Tag nach der Wahl" mit den Forderungen der Frauenbewegung konfrontierte.

Von 1979 bis 1989 war sie Mitbegründerin und aktive Mitarbeiterin im autonomen Frauenprojekt "Frauen-Bücher-Zimmer" in Düsseldorf (Frauenbuchladen, Kulturbetrieb und "ständige Informationsbörse" verbunden mit gesellschaftspolitischer Arbeit). Für diesen eingetragenen Verein machte sie die Buchhaltung und sorgte dafür, dass er gemeinnützig war.

Im Rahmen ihrer gesellschaftspolitischen Arbeit hatte sie schon vor 1979 brieflichen Kontakt zu Dr. Gerhild Heuer, die später die dhg gründete. Für Heidede Morgenbrod war offensichtlich, daß bei der Frauenbewegung der 70er Jahre die "Familienarbeiterin" überhaupt nicht im Blickfeld lag. Daher galt ihre besondere Liebe seit 1979 der dhg. Daß es in Düsseldorf bald eine aktive Ortsgruppe gab, ist ihrem Impuls und ihrer Anregung zu verdanken. Auf jeder Messe, auf jeder Ausstellung, fast auf jedem Kirchentag übernahm sie "Schichten".

Im Jahr 1991 verunglückte sie schwer bei der Einrichtung des dhg-Standes bei der Messe "Aktiv leben". Sie stürzte und hatte wegen eines komplizierten Bruches einen langen Klinikaufenthalt. Im Jahr 1995 übernahm sie zu allen übrigen Verpflichtungen die Buchhaltung mit großer Umsicht und Gewissenhaftigkeit. Sie schaffte es mit ihren Vorschlägen zur Satzungsänderung, dass die dhg gemeinnützig wurde. Der Namensänderung von der geliebten dhg-Hausfrauengewerkschaft zu dhg-Verband der Familienfrauen und -männer stand sie reserviert gegenüber. Aber Heidede war zutiefst demokratisch, und sie trug die Mehrheitsentscheidung mit.

Was mich an ihr fasziniert hat: ihre Fähigkeit, "Atmosphäre" zu fühlen und atmosphärische Veränderungen zu registrieren und darauf zu reagieren. Irgendwann erfuhr ich, daß sie als junges Mädchen gern und viel Schach gespielt hat. Da wurde mir klar, daß ihre Art zu denken die einer Schachspielerin war; sie spielte strategisch einschließlich der Rösselsprünge, und ihre Intuition hatte sie wohl mit einer 360-Grad-Antenne begabt.

Der evangelische Pastor in Korbach, der sie nie gekannt hat und der sich auf die Angaben der Familie und der Freundinnen stützte, zitierte aus Heidedes Selbstdarstellung (dhg-Rundschau 2/94): "[...] ich lebte im Dauerzorn über die bisher geschaffenen Strukturen und immer wieder dreisten Veränderungen zu Lasten von Frauen." Er hatte als Vers für die Trauerrede bei der Beerdigung den Spruch gewählt:

Lebt als Kinder des Lichts.
Die Frucht des Lichts ist
Gerechtigkeit, Güte und Wahrheit.

Alle Flaggen standen am 13. August auf Halbmast. Es war zur Erinnerung an "40 Jahre Mauerbau", aber es paßte auch zur Beerdigung der (frauen-)politisch denkenden und handelnden Heidede Morgenbrod. Für sie war die Gerechtigkeit für Mütter Herzenssache.
Wir wollen unsere dhg-Arbeit in ihrem Sinne fortsetzen.

Monika Bunte (Düsseldorf)

Gedenkworte von Professor Dr. Joseph A. Kruse, Berlin

vorm. Direktor des Heine-Instituts Düsseldorf, im August 2014

Von großer Zuverlässigkeit in einer nicht eben mit allzu sicheren Versorgungsstellen ausgestatteten Editionsphilologie kündete die Lebensweise von Marianne Tilch im Rahmen ihrer Tätigkeit innerhalb der Heine-Ausgabe, als deren gewissermaßen dem noch so unleserlichen Buchstaben verpflichtete Sachwalterin ich sie kennenlernte. Mit ihrer besonderen Funktion wie Wertschätzung trieb sie freilich keinerlei kapriziösen Aufwand. So geradeaus ruhig und unkompliziert erschien sie mir damals, der ich ihr gewissermaßen „dienstlicher“ Nachbar im Heine-Institut war und ihr zunächst zwar regelmäßig, aber nicht andauernd begegnete.

Ihrem auf Zeit angelegtem editorischen Erscheinungsbild samt seiner überzeugenden Art und Weise war allerdings in der unaufgeregten Ruhe durchaus auch die Sicherheit einer pragmatischen Zukunft beigemischt. Sie hatte einerseits im Unterschied zu vielen anderen akademischen Kräften bereits ein Berufsleben als Buchhändlerin hinter sich und wusste darüber hinaus, dass ihr nach getanem erstem, perfekt ausgeführtem Streich in der Düsseldorfer Ausgabe eine Anbindung an das Heine-Institut offenstand. Das war ihr als Laufbahn mit zu ihr passenden Pflichten wie eine Hülle aus Begabung und Zufriedenheit mehr als ausreichend. Jegliche akademische Attitüde oder auf Publikationen sich kaprizierende Verhaltensweise lehnte sie ab.

Das heißt mit anderen Worten und in ihrem speziellen Fall: Man muss den Gegenstand, an dem man arbeitet, nicht nur irgendwie mögen und beherrschen, nein, man muss ihn ganz um seinetwillen geradezu lieben, dabei aber sein praktisches Augenmaß behalten. Sie bildete also für mich als anfänglichen Beobachter, der gleichzeitig ideell wie in den technischen Vorgaben an der Düsseldorfer Heine-Ausgabe beteiligt war, ein besonders verlässliches Exempel mit dem festen Bewusstsein, dass einfach Ordnung in das Ganze zu bringen sei, auch wenn es seine Zeit brauchen würde. Sie gab sich dieser Aufgabe, für die sie gewissermaßen den dienend notwendigsten Posten innehatte, aber gleichwohl eine ausgewogene Mitte bildete, mit Haut und Haaren hin. Besaß sie überhaupt ein Leben außerhalb ihrer ruhig-konsequenten Beschäftigung für den Apparat der Ausgabe? Durchaus. Aber all solche emotionale Anhänglichkeit war sozusagen integriert in die einmal übernommene Pflicht, für den Autor Heine das zu leisten, was in der Literaturwissenschaft für andere längst erledigt war.

Und integriert in das archivarische Leben des Heine-Instituts war sie von vornherein und allemal, also weit vor dem offiziellen Eintritt in ihr Amt als Nachfolgerin der Archivarin des Instituts. Ihr Austausch nämlich mit Inge Hermstrüwer, der ebenfalls unvergesslichen Mitarbeiterin, die dem Archiv des Heine-Instituts, zumal den Heine-Beständen, der Schumann-Sammlung und den Teilen vom Barock bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, einen so lebendigen Anteil in der historischen Landschaft der rheinisch-bergischen Region durch ihre Hilfsbereitschaft und beispielsweise museale Bemühungen bis in die weite Welt hinein zu verschaffen wusste, war gewissermaßen sprichwörtlich, will sagen: symbiotisch.

Mittags nahmen sie in regelmäßigen Abständen zusammen ihr Essen ein. Auch wenn es vielleicht länger dauern mochte, als die eigentliche Pause es erlaubt hätte: Beide Frauen waren sowieso über den Zeitrahmen hinaus für ihren Beruf unermüdlich im Einsatz. Und auch die gemeinsame Mittagspause gehörte zu ihren anregenden Pflichten. Auch Inge Hermstrüwer hatte anfangs, als ich sie, selber im Rahmen der Arbeitsstelle tätig, kennenlernte, für die Heine-Ausgabe gearbeitet, und zwar in der Gruppe der die zeitgenössische Zeitschriftenlandschaft durchackernden hilfreichen Geister. Sie kannte sich also im literarischen Betrieb des 19. Jahrhunderts aus. Danach hatte sie im Rahmen des Bestandes des neu sich konstituierenden Heine-Instituts zumal das Heine-Archiv und dessen direkte Umgebung übernommen und sich zur verantwortungsvollen Begleiterin der frühen Anfänge entwickelt. Sie gehörte zu meinen Stützen von Beginn an.

Als die Heine-Ausgabe an ihr Ende gelangte, kam Marianne Tilch für einige Zeit der Eingewöhnung zu ihrer treuen Gefährtin, die dann ihrerseits bald aus Altersgründen ausschied, in das Heine-Archiv selbst. Der Abschiedsschmerz vom gewohnten Umfeld war für die alte Archivarin nur schwer zu verkraften. Die neue Arbeitsnähe und der tägliche Austausch über die Personen wie Heine und Schumann an den nicht mehr als Benutzerin, sondern als Betreuerin zu bearbeitenden Handschriften und Objekten führte zwischen den beiden Freundinnen unmerklich zu kleinen Spannungen, die besonders dem völlig neutralen, wenn nicht distanzierten Standpunkt Marianne Tilchs, was die beiden Schumanns anging, entsprangen. In manchen Urteilen und Bemerkungen konnte Marianne Tilch nämlich besonders schroff erscheinen und somit ihre Vorgängerin und deren anteilnehmenden Mann brüskieren. Gerade in Archiven mag es manchmal zugehen wie im familiären Generationengefüge mit seinen sich wandelnden Ansichten.

Inge Hermstrüwer betreute zum Glück nach ihrem Abschied vom Institut noch eine Heine-Ausstellung in London, was angesichts ihrer geschwächten Gesundheit enorm viel Aufwand und Kraft bedeutete. Bei diesen Aufgaben stand Marianne Tilch ihr durchaus solidarisch und freundschaftlich zur Seite. Gerade ihre neue Archiv-Stellung mit zum Teil anderen Aufgaben, darunter die umsichtige Redaktion des „Heine-Jahrbuches“, verlieh dem Heine-Archiv nach und nach ein weniger emotionales, dafür gewissermaßen aufgeklärtes Gesicht. Was Inge Hermstrüwer vor allem mit dem Herzen gemacht hatte, leistete Marianne Tilch nunmehr vor allem mit dem Verstand oder sagen wir besser: vernünftig. Beide Annäherungen an das kulturelle Erbe haben, wenn sich nur die richtige Mitte zwischen den Kräften ergibt, ihre volle Berechtigung.

Auf Marianne Tilch konnte ich mich während unserer gesamten gemeinsamen dienstlichen Zeit verlassen wie auf einen ruhenden Pol oder Felsen in der Brandung. Sie begegnete mir als Leiter respektvoll, aber ohne jegliches rheinische Gedöns. Ich erfreute mich ihres Vertrauens und ihrer sachlichen Ratschläge. Nie verließ ein Manuskript von mir das Haus, bevor sie nicht einen Blick darauf geworfen und ihre Korrekturen angebracht hätte. Ihrem Urteil habe ich viel zu verdanken, ihre stille, aber bestimmte Art immer geschätzt. Wie sie ihre ganz spezielle tödliche Krankheit annahm, die übrigens vorher von ihrer Vorgängerin ebenfalls durchlitten worden war, ist bewundernswert. Ihre Kraft und Gelassenheit blieben ihr bis zuletzt.

Da wir uns nach dem Ende der Dienstzeit und durch meinen Wegzug nach Berlin trotz gemeinsamer Arbeitspläne nur noch selten sahen, warnte sie mich nach rechtzeitiger schriftlicher Aufkündigung ihrer Beschäftigung am gemeinsamen Projekt vor meinem möglichen Erschrecken beim nächsten Wiedersehen. Sie sei nur noch die Hälfte von früher. Sie nahm es hin und war tapfer, ja, sie stellte sich einfach mit Namen neu vor, damit ich mich an ihre körperliche Reduktion gewöhnen konnte. Wenige Tage vor ihrem Tod hatte ich noch einmal die Gelegenheit, mit ihr im Hospiz zu telefonieren. Ihre kräftige Stimme, ihre abgeklärte Bewusstheit klingen mir noch heute im Ohr. Wir nahmen voneinander Abschied ohne es so zu nennen: gefasst und fern jeglicher Sentimentalität. Die lag ihr tatsächlich immer fern.

Gedenkworte von Dr. Sabine Brenner-Wilczek

Direktorin des Heine-Instituts Düsseldorf, 23. Juni 2014

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Weggefährten, Freundinnen und Freunde von Frau Tilch,

es war uns – und damit spreche ich im Namen des gesamten Teams des Instituts – ein Anliegen, heute im Heinrich-Heine-Institut eine kleine Trauerfeier zu veranstalten. Und dass es auch Ihnen ein Anliegen war, sehe ich daran, wie zahlreich Sie der Einladung gefolgt sind.

Auch wenn dieser Nachmittag ganz der Erinnerung und dem gemeinsamen Austausch gewidmet ist, so möchte ich doch einige wenige Worte an Sie richten, bin mir aber auch sicher, dass die Kürze meiner Ansprache Frau Tilch sehr entsprochen hätte. Drei Eckpfeiler möchte ich in den Mittelpunkt der Rede stelle: Klugheit, Offenheit und Humor.

Klugheit

Frau Tilchs Fachwissen über „ihren Autor“ Heinrich Heine war – von der Düsseldorfer Heine-Ausgabe kommend und im Heine-Institut u.a. auch als Redakteurin des Heine-Jahrbuchs arbeitend – ein großer Anziehungspunkt, auch für die Kolleginnen und Kollegen. Für fachliche Gespräche und den Austausch stand ihre Tür stets offen und rasch war ein guter, starker Kaffee aufgesetzt.

Sie war nicht nur in Bezug auf die von ihr betreuten Bestände von Heine, Schumann oder der Düsseldorfer Malerschule eine Koryphäe, sondern trug ein nahezu enzyklopädisches Wissen in sich. So wurde oftmals und bei vielen Gelegenheiten aus dem Kolleginnen- und Kollegenkreis zuerst Frau Tilch befragt, so dass kein Nachschlagewerk mehr konsultiert werden musste. Diese faszinierenden Fertigkeiten rührten vielleicht auch von ihrer Vorliebe für Sachbücher, die sie neben Krimis besonders schätzte, wohingegen sie ausufernde und verstiegene Romane mit deutlicher Missbilligung strafte.

Offenheit

Danken möchte ich Frau Tilch für ihre Offenheit, Geradlinigkeit und Verschwiegenheit. Sie besaß die Fähigkeit des vertrauensvollen Zuhören-Könnens, wovon viele Gespräche innerhalb und außerhalb des Hauses zeugten.

Humor

Unvergesslich ist ihr treffsicherer Humor, der stets geistreich, niemals persönlich oder verletzend war, und der sich – ganz im Sinne Heinrich Heines – auf höchstem sprachlichem Niveau befand. Schließlich schätzte Frau Tilch Heines Humor und Sprachwitz.

Augenfällig und folgerichtig wäre es, jetzt meine kleine Ansprache mit einem Heine-Zitat zu beenden. Dies werde ich aber nicht tun, sondern mit einer persönlichen Erinnerung schließen. Frau Tilch hat mir – vor nunmehr über zehn Jahren – einen kleinen blauen Holzelefant kurz vor meiner Promotion geschenkt. Ihre Vorliebe, diese Tiere als kleine Figuren zu sammeln, wird vielen von Ihnen bekannt sein. Und so steht noch heute auf meiner Fensterbank ein kleiner blauer Elefant mit hocherhobenem Rüssel als Glückssymbol und wenn ich ihn sehe, denke ich sofort an Frau Tilch mit ihrer Klugheit, inneren Weisheit und ihrer Stärke.

Rede von Professor Manfred Windfuhr

Gehalten am 23. Juni 2014 im Heine-Institut Düsseldorf

Der Tod reißt schmerzliche Lücken, die man provisorisch mit Erinnerungen füllt, um damit fertig zu werden. Heine kannte sich gut aus mit der Erinnerung und widmete ihr viele Gedichte und Prosatexte. In den „Elementargeistern“ nannte er die Vergangenheit die „eigentliche Heimath“ der Seele (DHA IX, 52) und verstand sich auf die Merkmale der Mnemonik, der Lehre von der Erinnerung. Man ersieht es aus dem 10. Kapitel des „Schnabelewopski“ im Zusammenhang mit dem kleinen Simson (DHA V, 181). Mnemonik leitet sich ab von Mnemosyne, bei den Griechen die Muse der Erinnerung. Auch in diesem Punkt kann man von Heine lernen.

Marianne Tilch starb am 24. Mai 2014 im Alter von 71 Jahren. Als ich sie kennenlernte, war sie gerade 30 und begann als Späteinsteigerin ihr Studium hier am Düsseldorfer Seminar. Sie hatte schon Berufserfahrung, u. a. als Buchhändlerin, also praktischen Umgang mit Drucken. Bei mir lernte sie den Umgang mit Handschriften. Sie wurde Mitglied der textkritischen Arbeitsgruppe, die ich zur Vorbereitung der Düsseldorfer Heine-Ausgabe eingerichtet hatte, um auf der Grundlage von Heine-Handschriften und mit Hilfe des Heine-Index Heines Schreibweise näher zu bestimmen, die Eigenheiten seiner Orthographie, Interpunktion und seines Wortgebrauchs. Wir kamen zu dem Ergebnis, daß Heine entgegen der damaligen Annahme nicht willkürlich, sondern nach bestimmbaren Regeln verfuhr, Grundlage für das Prinzip der Restitutionen in der Ausgabe.

Marianne Tilchs eindeutige Qualifikation für dieses hochspezialisierte Arbeitsfeld war Anlaß, sie als Mitarbeiterin bei der DHA einzustellen. Wir haben 25 Jahre aufs engste im Bereich der Handschriftenanalyse, Lesartendarstellung und Textkritik zusammengearbeitet, neben der Kommentararbeit das philologische Zentrum einer historisch-kritischen Ausgabe. Ab 1986 betreute Marianne Tilch als Redakteurin die deutschsprachigen Teile von neun Einzelbänden, nämlich der Bände II – V, VII, IX, X, XIII und XIV. Beim letzten Band XVI, der 1997 erschien, fungierte sie als Bandbearbeiterin für die Nachträge und Korrekturen. Nach Abschluß der Ausgabe wechselte sie zum Heine-Institut in verwandten Funktionen als Archivarin, noch einmal gut zehn Jahre lang bis 2008.

Ich erinnere mich aus der Anfangszeit, daß ihr das Staatsexamen wie ein Pflasterstein auf der Seele lag. Mit Anfang 30 noch in eine Prüfung zu gehen, das paßte ihr gar nicht, das hielt sie für überflüssig, wo wir doch schon so eng zusammenarbeiteten. Was sollte da noch ein förmlicher Akt? Aber sie stellte sich der Nervenprobe und ich half ihr mit bei der Überwindung der Klippe.

Noch genauer erinnere ich mich natürlich an ihre fachlichen Qualitäten: Unbestechlichkeit, Nüchternheit und Scharfsinn. Ein Scharfsinn, aus winzigen Indizien produktive Schlüsse zu ziehen, eine ausgesprochen kriminalistische Begabung. Verbunden mit einem ständig wachsenden Detailwissen entwickelte sich hier eine Kollegin, der im Heinebereich nur ganz wenige das Wasser reichen konnten.

Aber ich hebe nicht allein ab auf die Quantität des Wissens, über Detailkenntnisse verfügen manche, sondern mehr noch auf Mariannes messerscharfes Urteilsvermögen. Um fachlich erstklassige Ergebnisse zu erzielen, braucht man auch ein hohes Maß an Vorurteilsfreiheit, gesundem Menschenverstand, kritischem Tiefenblick. Vorgefaßte Meinungen, theoretische Konstrukte sind eher hinderlich, den konkreten Einzelfall zu erfassen und zu lösen. Man braucht auch Selbstkritik, um sich zu korrigieren. Wir haben oft zusammen gesessen und Fehleranalysen vorgenommen, um Fehler nicht zum zweiten Mal zu machen.

Neben ihrer herausragenden Kompetenz als Heine-Expertin verfügte Marianne Tilch über persönliche Eigenschaften, von denen wir alle profitiert haben. Ich nenne ihre Arbeitskraft und ihre ungewöhnliche Hilfsbereitschaft, mit der sie ihr Wissen bereitwillig weitergab: beim Einarbeiten nachrückender Kolleginnen und Kollegen ins Handschriftenlesen, bei der Lösung kniffliger Detailfragen, bei Auskünften über die entlegensten Heine-Bezüge usw. Und es gab als besondere Eigenschaft ihren von vielen gepriesenen Humor. Eine Trauerarbeit sollte sich nicht auf die fachlichen Seiten einer Verstorbenen beschränken, sondern die Persönlichkeit insgesamt im Blick behalten. Vielleicht begegnen wir ihr noch direkter als bei den vorher umrissenen Eigenschaften bei den folgenden Kostproben ihres Humors.

Als erstes zitiere ich den ganz ungewöhnlichen Schluß ihres Nachworts zu Band XVI, wo sie nach dem Dank an viele Helfer noch an andere Helfer erinnert. Auf S. 833 schreibt sie:

„so möchte ich zum Schluß nur noch einen Dank besonderer Art abstatten. Er gilt einigen schnurrenden Geschöpfen, die uns über lange Jahre der Arbeit an der DHA begleiteten und durch ihre liebenswürdige Anwesenheit erfreuten: Luxus, Grappa, Lili, Lou und Larry.“

Der Dank an die fünf Katzen im Hof des Instituts ist gewiß eine nicht alltägliche Huldigung in einer anspruchsvollen, von vielen ehrwürdigen Institutionen geförderten Ausgabe. Die Katzen traten übrigens nicht alle gleichzeitig auf, sondern nacheinander, höchstens zu zweit.

Bei der zweiten Kostprobe handelt es sich um Nachbildungen im Heine-Stil, die von dem Heine-Freund und Heine-Fälscher Friedrich Steinmann stammen. Steinmann hatte bekanntlich nach Heines Tod in mehreren Publikationen unautorisierte Nachträge zu den Werken unseres Autors herausgegeben, in denen er dreist Originaltexte mit eigenen und fremden Nachbildungen vermischte. Nach heftiger öffentlicher Kritik blieb ein ursprünglich für den Verlag Binger in Amsterdam vorgesehener Teil ungedruckt und befindet sich heute in der Koninklijken Bibliotheek in Den Haag. Marianne Tilch schrieb über diesen spektakulären Vorgang 2004 einen instruktiven Aufsatz1 und schenkte mir zu meinem 70. Geburtstag einen hübschen Auszug aus diesen Steinmann-Falsifikationen. Ihr ironischer Titel lautete: „Lyrische Kostbarkeiten von Heinrich Heine“. Zur Illustration lese ich einige Beispiele daraus; das erste paßt gut zu den Katzen im Hof.

See-Katzenjammerlied
Kennt Ihr den Katzenjammer zu Land
Und den Katzenjammer zur See?
Vom Spiritus rührt der Eine her,
Der Zweite vom Wasser – o weh!
O weh, o weh, o weh!
Wer Einen genommen über’n Durst,
Und nimmer gegangen in See,
Der kennt wohl den Einen, den Andren nicht,
Den Katzenjammer zur See. O weh! usw
Erzvater Noah viel lieber trank
Ein Schöppchen als eine Tass’ Thee.
Bei der Sündfluth in seinem Kasten er schwamm
Hoch auf der stürmischen See. Juchheh!
Da litt der arme Erzvater gar sehr
Am Katzenjammer zur See,
Verwünschte das Wasser und sehnte sich
Nach dem Lande zurück – o weh!
Und als er vor Anker am Ararat lag,
Da war ihm nicht mehr so weh;
Da griff er durstig zum Gläschen und sprach:
Ich gehe nicht wieder zur See. Juchheh!
Erzvater Noah, du bist mein Mann!
Du trankst dir ’nen tüchtigen Zopf.
Ich mach’ es wie du, und faßt mich auch
Der Katzenjammer beim Schopf.
Der Katzenjammer zu Lande ist
Ein Jammer des Jammers – o weh!
Allein der Schrecken der Schrecken ist
Der Katzenjammer zur See.
O weh, o weh, o weh!

Ich
Lachen darf der Großmogul nicht,
Küssen nicht der Pabst,
Wein der Sultan trinken nicht:
Alles du, Himmel, mir gabst!
Pabst, Großmogul, Sultan ich
Mögte drum nicht sein:
Mich erfreu’n, so oft ich will,
Scherz und Kuß und Wein.

Noble Passion in Lappmarken
In Lappland’s eisigen Marken
Ist’s nasenkalt und graus.
Dort lebt allein der Lappe,
Das Rennthier und die Laus,
Der Lapp’ in schlechter Hütte,
Das Rennthier auf der Haid’,
Die Laus auf Lappenkopfe,
Behaglicher als Beid’.
Der Lappe lebt vom Renne,
Das Renn vom Moose gut,
Doch besser noch als Beide
Die Laus von Lappenblut.
Der Sonntag ist ein schlimmer
Tag für die arme Laus;
Dann zieht der Lapp’ zur noblen
Passion der Lausjagd aus.
Nicht hat der Lappen-Junker
Das Recht der Jagd und Hetz;
Ein Jeder frei darf knicken,
Ist gleich vor dem Gesetz.
Ihr uckermärkischen Granden,
Ihr Herren an Elb’ und Rhein,
Lappland’s Aristokraten
Laßt euch ein Beispiel sein!

Man könnte manches sagen zu dieser Mischung von Angelesenem und Holprigkeiten, eine gewisse burschikose Komik ist diesen Versuchen im Heine-Stil aber nicht abzusprechen.

Die letzten Proben stammen aus Tilchs und Kruses im Insel-Verlag erschienenen Bändchen „Heine für Boshafte“ (2008). Darin wird der geistreiche und oft ätzende Ton unseres verehrten Meisters nicht nur nachgebildet, sondern original in einer Blütenlese vorgestellt. Marianne war von Prüderie weit entfernt und hätte es gewiß nicht als Taktlosigkeit empfunden, wenn bei diesem Anlaß auch einige Krassheiten zur Sprache kommen. Ich zitiere nur Briefstellen und Prosanotizen.

Brief an Mutter Betty vom 4. Dezember 1847:

Meine Frau hat mir bereits mein Weihnachtsgeschenk gekauft (für ihr erspartes Geld) nemlich einen prächtigen Nachtstuhl, der wirklich so prächtig, daß sich die Göttinn Hammonia desselben nicht zu schämen brauchte. Ich vertausche ihn nicht gegen den Thron des Königs von Preußen. Ich sitze darauf ruhig und sicher und scheiße allen meinen Feinden was!(HSA XXII, 267)

An Gustav Kolb, 17. April 1849:

"Hier ist Alles still, denn wir haben, was wir wollen und sogar ein alter Bonapartist wie ich bin, mag allenfalls zufrieden gestellt seyn, wenn er vive Napoléon rufen hört! Dem Kommunismus geht es auch gut, obgleich er über schlechte Zeiten jammert. Wir haben alle kein Geld mehr und somit existirt de facto die communistische Gleichheit. Auch haben wir Weibergemeinschaft; nur die Ehemänner wissen es noch nicht." (HSA XXII, 309)

An Schwester Charlotte, 8. Mai 1824:

"Wann gedenkst Du niederzukommen? Siehst Du jetzt, wie gut es ist wenn man rechnen gelernt hat? Schone Dich nur, laufe nicht zuviel, nasche nichts während Deiner Schwangerschaft sonst wird Dein Kind ein Näscher, auch lese jetzt keine Verse, sonst wird das Kind das Du bekommst, ein Poet, – welches wohl ein großes Unglück genannt werden kann." (HSA XX, 158)

Zum Alexander Weill-Vorwort, 1847:

"Als ich Heine frug ob der Wihl ihn wirklich 200 Fr koste(te), antwortete er: Ja, aber es war nöthig zu seiner Abreise, und ich ward ihn los. Mit köstlicher Laune erzählte Heine die Mystifikazionen die er an dem armen Wihl ausgelassen, von dessen Narrenstreichen man hier noch viel erzählt und die alle aus der fixen Idee hervorgingen, daß er ein großer Dichter sey. Heine charakterisirte ihn sehr richtig mit den Worten: Wihl ist wahnsinnig, hat aber lichte Momente wo er bloß dumm ist. (DHA X, 309)

Aus den Prosanotizen:

Wenn das Laster so großartig, wird es minder empörend. Die Engländerinn beim Anblick eines ungeheuren Herkules, sie die sonst eine Scheu vor nackten Statuen, war hier weniger chockiert: „bei solchen Dimensionen scheint mir die Sache nicht mehr so unanständig. (DHA X, 325)

An Franz Liszt vom 12. Oktober 1836 über den Pianisten und Komponisten Kalkbrenner:

Kalkbrenner nemlich befindet sich wohl und gesund. Wir reisten jüngst mit einander auf einem Dampfboote die Seine hinauf, von Paris nach Corbeil; diese Reise dauert gewöhnlich fünf Stunden, wenn man aber mit Kalkbrenner fährt, fährt man von Paris nach Corbeil in zehn Stunden. Gegen diese Windstille des Geistes hilft keine Dampfmaschine. Wir sprachen von der Kunst im Allgemeinen und von der Musik ins Besondere. (HSA XXI, 164)

An den ominösen Friedrich Steinmann vom 4. Februar 1821:

Indessen ich kenne zu gut das Gemüth des Dichters, um nicht zu wissen, daß ein Poet sich weit eher die Nase abschneidet, als daß er seine Gedichte verbrennt. Letzteres ist nur ein stehender Ausdruck für Beiseitelegen. Nur eine Medea kann ihre Kinder umbringen. Und müssen nicht Geisteskinder uns viel theuerer sein als Leibeskinder, da letztere oft ohne sonderliche Mühe in einer einzigen Nacht gemacht werden, zu erstern aber ungeheure Anstrengung und viel Zeit angewendet wurde? (HSA XX, 37)

An August Lewald vom 15. Januar 1837:

Ihrem Style muß ich die höchsten Lobsprüche zollen. Ich bin kompetent in der Beurtheilung des Styls. Nur bei Leibe vernachläßigen Sie sich nicht und studiren Sie immer fort die Sprachwendungen und Wortbildungen von Lessing, Luther, Göthe, Varnhagen und H. Heine; Gott erhalte diesen letzten Classiker! – (HSA XXI, 177 f.)

Manchmal weiß man nicht, welchen Gefühlen eine Träne geschuldet ist: der Trauer oder der Freude, hier dem Vergnügen an der witzigen Überraschung und perfekten Pointe. Auch durch diese ausgewählten Proben dringt etwas von der unverwechselbaren Eigenart der Anthologistin hindurch.2

Diese Züge zu einem Marianne-Tilch-Porträt mögen genügen, damit wir sie im Gedächtnis behalten. Wir sind es ihr schuldig; wir werden sie nicht vergessen.

Anmerkungen

  1. Vgl. Marianne Tilch: „Impertinenz und Unverschämtheit“, „Zudringlichkeit und freche Stirn“. Friedrich Steinmanns Heine-Fälschungen – In: „… und die Welt ist so lieblich verworren“. Heinrich Heines dialektisches Denken. Festschrift für Joseph A. Kruse. Hrsg. Von Bernd Kortländer und Sikander Singh. Bielefeld 2004, S. 477-490.
  2. Ein schöner Beleg für Belesenheit und Texterschließung ist auch der stattliche Düsseldorf-Band, den Marianne Tilch zusammen mit Beatrix Müller herausgegeben hat. Darin wird die Stadt am Niederrhein durch Berichte von Bewohnern und Besuchern vom Barock bis zur Gegenwart farbig aufgeschlossen, meist von Künstlern aller Sparten. Das Vorspiel bildet ein fiktives Interview von Italo Calvino mit einem Neandertaler, bei dem im Kommentar nur Angaben darüber vermißt werden, „wann, wo und vor allem in welcher Sprache es geführt wurde“ (Düsseldorf. Texte und Bilder aus vier Jahrhunderten. Stuttgart 1991, S. 13).

Vita

Diyana Kaneti wurde am 7. Oktober 1943 in Istanbul geboren; die Mutter war Griechin, der Vater, Aron Kaneti, war türkischer Staatsbürger jüdischen Glaubens. Nach dem Besuch einer türkischen Volksschule in Istanbul absolvierte sie das renommierte französische Gymnasium Notre Dame de Sion in Istanbul. 1963 heiratete sie den Studenten Aydin Yamanlar. Von 1965 bis 1969 studierte sie Anglistik in ihrer Heimatstadt und besuchte gleichzeitig die Theaterschule L.C.C. Sie publizierte Kurzgeschichten, Theaterberichte und Kritiken in der Zeitschrift „Yeni Insan“. (‚Der neue Mensch’).

Im Winter 1969 ging sie mit einem Sprach-Stipendium nach Wien und bestand die Aufnahmeprüfung für das Max-Reinhardt-Seminar. Ab dem Sommersemester 1970 studierte sie Theaterwissenschaft an der Wiener Universität. Das Studium finanzierte sie u.a. als Statistin am Burg- und Akademietheater und als Hilfskraft in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur, gefördert von dem Begründer der Gesellschaft, Wolfgang Kraus. Sie begann in Deutsch zu schreiben und konnte Beiträge im ORF und im Studio Graz unterbringen. 1971 drehte sie in Paris den Kurzfilm „Le Pied“, der auf mehreren Festivals gezeigt wurde. 1972 veröffentlichte sie als „Diana Canetti“ den ersten Prosaband im Wiener Europaverlag: „Eine Art von Verrücktheit. Tagebuch einer Jugend“. 1974 folgte der Druck des 2. Romans „Cercle d’Orient“, ebenfalls im Europaverlag.

Im Sommer 1975 promovierte sie in Wien mit der Arbeit: „Das gesellschafts-kritische Theater in der Türkei“ bei Professorin Margret Dietrich, Theaterwissenschaft. Ein einjähriges DAAD-Stipendium führt sie im Januar 1976 nach Berlin, wo sie als „Artist in Residence“ Gast des „Literarischen Colloquiums“ war. Sie arbeitete u.a. journalistisch für den Rundfunk Rias Berlin. Zur P.E.N.-Tagung und -Lesung in Den Haag vom 10. - 13. Mai 1976 war sie als Vertreterin der Türkei eingeladen und trat neben Stefan Heym (DDR) und Günter Grass (BRD) auf.

Seit Frühjahr 1977 lebte Diana Canetti in Düsseldorf und gab von 1978 bis 1986 Kurse zu deutscher und englischer Literatur an der VHS. Sie bot freie Theaterarbeit in einer Düsseldorfer Realschule an und ab 1983 arbeitete sie im Jugendtheater des Düsseldorfer Schauspielhauses. 1985 dokumentierte sie die Entwicklung des Antisemitismus in der Ausstellung „Erziehung zum Vorurteil“ im Schauspielhaus. Während dieser Düsseldorfer Jahre schrieb sie u. a. mehrere Versionen des 3. Romans: „Ein Mann von Kultur“, für den sich aber keinen Verlag fand.

Neue Horizonte suchte sie ab Dezember 1988 in Ghana, wohin sie ihre Cousine Susie Malka Kaneti Barry, eine Soziologin und Entwicklungshelferin, eingeladen hatte. Die Afrika-Erfahrungen verarbeitete sie in der Romancollage „Goldstaub“, der im Selbstverlag erschien und 1991 im Dokumentarfilm „Queen of Bokuruwa“ über Entwicklungshilfe in Ghana.

Von 1992 bis 1993 absolvierte sie eine Ausbildung als Rundfunkjournalistin und arbeitete anschließend als freie Autorin für den WDR und den SDR und parallel seit 1994 für die „Westdeutsche Zeitung“. 1998 Diana Canetti engagierte sich im Kontext der Lokalen Agenda 21, Gruppe Kultur für die „Frauenvernetzung“, die u. a. den Aufbau eines Künstlerinnenhauses und den globalen Künstlerinnenaustausch anzuschieben versuchte. In Paris, ihrem Zweitwohnsitz, pflegte sie Kontakte zu Intellektuellen, so etwa zur in Frankreich und Griechenland lebenden Philosophin und Autorin Mimika Cranaki.

Krankheitsbedingt konnte Diana Canetti seit 2006 nicht mehr schreiben. Im November 2012 erinnerte das Frauen-Kultur-Archiv der HHU mit Lebens- und Werk-dokumenten an das interkulturelle Wirken der Autorin im Kontext der Ausstellung in der ULB Düsseldorf: „Prometheus-Funken. Zum deutsch-türkischen Wissens- und Kulturtransfer seit 1933“. Zum 70. Geburtstag präsentierte das Frauen-Kultur-Archiv im Oktober 2013 im Heine-Institut eine Lesung aus der vom Archiv herausgegebenen Edition ihrer „Betrachtungen zu Mulitkulturalität, Heimat und Fremdsein“, an der Canetti nicht teilnehmen konnte.

Nach langer schwerer Krankheit starb Diana Canetti am 22. Juli 2014 in Düsseldorf. Ihr Grab befindet sich auf dem dortigen Nordfriedhof.

© Ariane Neuhaus-Koch

Publikationen

Prosa

Ungedrucktes

Beiträge in Anthologien, Sammelbänden

Radio-Beiträge für den SWR 2 (Auswahl)

Selbstaussage der Autorin

Wenn man aus einer doppelten christlich-jüdischen Wurzel stammt, dann fühlt man sich prädestiniert, das Verhältnis zwischen Juden und Christen klären zu helfen, sei es auch um den Preis, daß man hinfällt. Wenn sich aus dieser Anregung jedoch keine sinnvolle Arbeit zu ergeben scheint, was kann dann der Sinn für einen Menschen wie mich sein? Meine alte Tante hatte mir zum Glück die unabänderlichen religiösen Elemente in salbungsvolle Sprüche gekleidet und mir mit auf meinen Lebensweg gegeben. Sie sind immer wieder Wegweiser gewesen, einfach da, um meine Verzweiflung zu bekämpfen.

An seine „Matratzengruft“ gefesselt, wußte der Dichter Heinrich Heine, was Verzweiflung heißt. „Es ist mehr Verwandtschaft zwischen Opium und Religion, als die meisten Menschen sich träumen lassen“ schrieb er. Wenn Heine seine Schmerzen nicht ertragen konnte, dann nahm er Morphium und andere Betäubungsmittel. Nicht umsonst sagt man, daß man um Hilfe fleht, wenn man zusammenbricht.

Mit zunehmendem Alter merkte ich, daß alle Religionen, Traditionen, Gebote und Gesetze etwas Gemeinsames haben. Sie alle sind Versuche, die Schwierigkeiten und die Schmerzen des Lebens zu verkraften. In der Tat, es ist nicht einfach, einer Welt ausgesetzt zu sein, die stets neue Probleme aufwirft. Herauszufinden, welchen Sinn ich in meinem Leben finde und welchen Sinn ich dem eigenen Leben gebe. Nur Geld zu verdienen kann z. B. nicht die Hauptattraktion des Lebens sein. Ich arbeite nicht für den Tanz um das Goldene Kalb. Und ich möchte nicht, daß Geld und Macht zu unserer Religion werden. Ich gehöre rein formal zu keiner Religion, bewahre aber trotzdem auf meine Art und Weise einen Glauben.

Meine Mutter hat ihr Wort gehalten. Sie war als Griechin geboren und starb als Griechin. Zur Kirche ging sie nicht. Über Gott sprach sie nicht. In den letzten Jahren ihres Lebens trug sie allerdings eine Kette mit einem Kreuz, einen Davidstern und einen Bismillahimrahmanirahim. Drei Zeichen, die für Christentum, Judentum und Islam stehen. Heute liegen diese religiösen Symbole auf einem chinesischen Teller in meinem Schlafzimmer. Und ich unternehme gern Pilgerfahrten, um Heiligtümer, Kapellen, Moscheen, Synagogen und fernöstliche Tempel zu besuchen. Wohnorte der Geister und Götter. Ganz bestimmt glauben viele Menschen nicht an Seelenwanderung und Wiedergeburt, wünschten sich aber, daß es sie gäbe. Das Herz hat Beweggründe, die in der Vernunft allein nicht begründet sind. Vielleicht ist das große Kennzeichen der Religionen das „Prinzip Hoffnung“. Wenn wir ganz unten sind, bleibt uns die Hoffnung, daß eine Auferstehung in einem heilen Körper und einer heilen Seele folgen wird. Daß eine Phase zu Ende gegangen ist, fertig ist, abgelegt. Und dass wir bei Gott von ganz vorn beginnen können.

„Wozu Kinder in eine Religion zwingen? Sie sollen selber entscheiden, wenn sie alt genug sind, ob sie Christen oder Juden sein wollen“, sagten meine Mutter und mein Vater gemeinsam. Viele denken, ich gehöre weder zu einer Religion noch zu einer anderen, Daß ich nirgends hingehöre, wird gleichgestellt mit dem Bild, dass ich nirgends einen Tempel habe. Doch so ist es nicht. Wer aus doppelten oder dreifachen Wurzeln wächst, bekommt die Überlieferungen sowohl des einen, als auch der anderen Religion, und kann sein geistiges Haus so schnitzen, wie es aus eigenem Entschluß notwendig ist.

Quelle: „Ich brauche ein geistiges Haus“. Vom Leben in christlicher, jüdischer und griechisch-orthodoxer Tradition zugleich. In: „Leben - einzeln und frei wie ein Baum und geschwisterlich wie ein Wald ist unsere Sehnsucht.“ Türkei, Deutschland, Europa. Impulse für die Gegenwartsliteratur: Das Eigene und das Fremde. Tagung der Evangelischen Akademie Iserlohn vom 12. - 14. Januar 1996. S. 88-90.

Pressestimmen zu Diana Canetti

Ähnlich wie ein Sonnenstrahl. Diana Canetti las im Café der Johanneskirche

Der oft gestellten Frage nach Sinn und Nutzen von Kunst und Kultur ging auch die Autorin Diana Canetti nach – und bot eine Antwort mit ihrer autobiographischen Erzählung „Pygmalion ohne Happy End“. Im Rahmen der Autorenreihe „Literatur um halb fünf“ im Café der Johanneskirche, das jeweils am letzten Freitag eines Monats Lesungen anbietet, lernte die internationale Zuhörerschaft mit Diana Canetti eine interessante Persönlichkeit kennen.

Die promovierte Theaterwissenschaftlerin, Journalistin und Autorin vereint als Person all das, wovon sie in ihren Geschichten erzählt und was man als „interkulturell“ bezeichnen kann. Aufgewachsen in Istanbul „in einem babylonischen Sprachgewirr“ - zu Hause wurde Griechisch, Türkisch, Spaniolisch und Französisch gesprochen - studierte sie Anglistik und verfaßte Erzählungen für eine türkische Zeitschrift. Ende der 60er ging Canetti nach Wien, um Theaterwissenschaften zu studieren. Heute lebt sie in Düsseldorf und schreibt unter anderem Hörspiele für den WDR und SDR, die immer das Thema „interkulturelle Beziehungen“ beleuchten.

Die Erzählung „Pygmalion ohne Happy End“ reiht sich ebenfalls in diesen Themenkreis ein, hat jedoch noch eine spezielle Note. So persönlich und sprachlich schlicht die literarische Erlebnisreise einer Studentin auf der Suche nach ihrer geistigen Welt anmutet, so hebt sie sich durch philosophisch-kluge Gedanken und kritische Selbstreflexion zugleich als eine Geschichte des allgemein Menschlichen hervor. Die junge Studentin ist nicht nur Türkin griechischer Abstammung mit jüdischem Glauben, im deutschen Sprachgebiet lebend auf der Suche nach ihrer persönlichen Kultur, sie ist auch der „in die Welt geworfene“ Mensch, der nicht nur sein Dasein fristet, sondern mit „unbändiger Neugier eine interessante Welt mit einem vollen Geistesleben“ kennenlernen will.

Dabei wird die begeisterungsfähige Studentin immer wieder mit provokativen Thesen ihres Professors konfrontiert, des Pygmalion, der sich mit ihr sein geistiges Abbild zu schaffen versucht. „Alles, was mit Kunst und Kultur zusammenhängt, ist Luxus“, warnt der lebenserfahrene Mentor. Doch die welterfahrene Studentin entgegnet schlicht: „Kultur streichelt unsere Sinne ähnlich wie ein Sonnenstrahl.“ Am Ende spürt sie, daß sie sich aus dem Bann Pygmalions lösen muß, und erkennt: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern auch von Symbolen.“

Renja Greis in: Rheinische Post, 27.01.1997.

Lore Schaumann: Diana Canetti. Lehr- und Wanderjahre in zwei Kulturen

Stellen wir uns vor, wir sollten ein Buch in türkischer Sprache schreiben, nach einigen Studienjahren, gewiß, und nachdem wir uns in dem fremden Kulturkreis umgetan hätten, ohne aber doch einen Zustand von Anderssein jemals ganz überwinden zu können. Kaum denkbar, meinen wir? Diana Canetti, aus Istanbul kommend und deutsche Romane schreibend, zeigt am umgekehrten Fall, daß es möglich ist.

Sie hat sich allerdings westliche Denkformen nicht erst als Erwachsene aneignen müssen - Kind zweier Minderheiten und mehrerer Sprachtraditionen, lebendes Beispiel für die Brückenfunktion des alten Konstantinopel zwischen Abendland und Morgenland. Die Mutter stammte aus einer jener griechisch-orthodoxen Familien, die 1453 nach der Eroberung durch die Türken in Byzanz geblieben waren. Dort hatten die Vorfahren des Vaters, spanische Juden, von der Inquisition verjagt, im gleichen 15. Jahrhundert Schutz gefunden.

„Mit meinem Vater sprach ich das alte Spanisch, mit meiner Mutter griechisch, in der Volksschule türkisch, im Kloster machte ich das Abitur in französischer Sprache“, schreibt Diana Canetti - damals eine oft verzweifelte Schülerin, denn „ich war ein Kind, das sich in keiner Sprache richtig ausdrücken konnte“. Als einzige Nicht-Mohammedanerin hatte sie sich schon in der Volksschule ans Anderssein gewöhnt, ein Anderssein, das wohl verloren macht, aber auch Widerstandskräfte weckt.

Schwieriger war das äußerlich glanzvolle Elternhaus mit seinem Zank und mit seiner Unvereinbarkeit der Charaktere, die schließlich zu Auflösung und allgemeiner Trennung führte. In ihrem zweiten Roman zeigt Diana Canetti einen Ausschnitt aus dem Leben dieser verwöhnten Bürgerschicht: Den Spielclub „Cercle d’Orient“, in dem die schöne stolze Mutter mit anderen Damen der Gesellschaft ihre Nachmittage und Abende verbringt, während der schwer arbeitende Vater das Geld herbeischafft. Aber auch er zwängt sich abends in den Smoking, lebenstoll, versnobt und auf möglichst genaues Nachahmen westlicher Bräuche bedacht.

Die beiden Kinder werden als Belastung empfunden, es gibt kein Nest, aus dem sie herausfallen könnten. So wandert der Sohn später nach Südamerika aus. Und auch Diana, die manchmal auf dem breiten Autositz schlafend die Eltern erwartet hat, rebelliert früh, entdeckt ihre Härte und Zähigkeit - wenn es denn erlaubt ist, die Leila der Romane mit Diana gleichzusetzen. Aber diese beiden Bücher sind so offenkundig autobiografisch, daß die Abweichungen wahrscheinlich minimal sind.

Etwas, woran wir uns halten können, ist das vorangestellte Freud-Zitat, in dem es heißt: „Es war mir längst klargeworden, daß ein großes Stück der Lust am Reisen in der Erfüllung dieser frühen Wünsche besteht, also in der Unzufriedenheit mit Haus und Familie wurzelt.“ Der Koffer mit den Initialen D. C. auf dem Umschlag des ersten ist ein Symbol für die Unruhe, die beide Bücher erfüllt und sie nachträglich als eines erscheinen läßt, obwohl das frühere spontan und ohne Glätte, das zweite stilistisch ungleich besser ist.

Fort! Ich bin geflohen, ich mußte weg, ich hielt es nicht mehr aus - lauter Aufbrüche, lauter sprachliche Chiffren für Fluchtbewegungen, die schon damals, gewiß aber im Rückblick, als Wege auf der Suche nach sich selbst begriffen werden. Bodenlose Wege zuweilen, sie erinnern an Mutproben, an Absprünge aus den Wolken, bei denen man nicht weiß, ob der Schirm sich entfalten wird. Der Aufbruch ins deutsche Sprachgebiet hat etwas Tollkühnes, absolut Irrationales. Warum ging Diana Canetti nicht nach Frankreich, in ein Land, dessen Sprache sie vorzüglich beherrschte? Das sei sie schon oft gefragt worden. Sie habe aber mit einem Stipendium des Österreichischen Unterrichtsministeriums gerechnet, und sie habe geglaubt, am Reinhardt-Seminar Theaterschriftstellerei lernen zu können.

Als beide Voraussetzungen sich als falsch erweisen, bleibt sie dennoch in Wien, wieder in der Position des Außenseiters, eine junge Türkin, die kein Deutsch kann. Sie nimmt sich vor, „das Lernen sollte für mich nicht ein Nebenzweck meines Lebens, sondern das Leben selbst sein“. In dieser Haltung lebenslangen Lernens stimmt sie exakt mit dem großen, gleichfalls spaniolischen, jedoch nicht mit ihr verwandten Namensvetter Elias Canetti überein.

Die Aufnahmeprüfung am Schauspielseminar besteht sie durch die in Istanbul gelernte Ausdruckskunst. Sie nimmt Unterkünfte und Arbeiten jeglicher Art auf sich, am liebsten im Weichbild der Bühne: „Ich kam jeden Abend um 19 Uhr 30. Schminken, Frisieren und Ankleiden dauerten maximal 20 Minuten. Dann nahm ich einen Bleistift und mein Textbuch, ging hinter die Bühne und saß neben dem Feuerwehrmann. Auf jeder Seite fand ich zwischen zwanzig und fünfzig Wörter, die ich nicht kannte. In meiner Freizeit - zwischen zwei Vorlesungen, während der Mittagspause oder in der Stadtbahn - schlug ich ständig in meinem Wörterbuch nach. Nach zwanzig Vorstellungen kannte ich das Stück fast auswendig.“

Diese wahnsinnige Anstrengung mit der deutschen Sprache hat Diana Canetti schließlich das Studium an der Universität ermöglicht. Dem Abitur auf Französisch folgt die theaterwissenschaftliche Doktorarbeit auf Deutsch - über ein türkisches Thema. Triumph der Zähigkeit, Triumph einer außerordentlichen Begabung. Diana Canetti hat dann für eine türkische Zeitung und für deutsche Rundfunkanstalten gearbeitet, Interviews mit Gastarbeitern und Theaterberichte gemacht und sich an Hörspielen versucht. Ein Theaterstück hat sie nicht geschrieben, doch ist ihr kein Bedauern darüber anzumerken. Warum auch - ihre Prosa drückt aus, was ihr wichtig ist: Die Verlassenheit des ausländischen Studenten in einer der großen Industriestädte, die trotzdem immer wieder durchbrechende Freude, jung und schön zu sein und die freien Beziehungen des Westens auszuprobieren. Ein Freund zeichnet ihr griechisch-minoisches Profil.

Gegen die schon in Istanbul erkannten sozialen Ungerechtigkeiten der Türkei wird leidenschaftlich Partei ergriffen, z. T. mit Hilfe und nach den Instruktionen eines revolutionären Landsmanns, der freilich in der Zweierbeziehung den weiblichen Partner genauso ausbeutet wie der Klassenfeind seine rechtlosen Bauern. Das Kapitel Leila und die Männer, Diana und die Männer steht noch deutlich unter dem Eindruck der neugewonnenen sexuellen Freiheit und hat etwas von einem weiblichen Leporello-Album. Daneben stehen einfühlend gezeichnete Kinderporträts: Nalan, die abgerissen und verängstigt am „Cercle d’Orient“ erscheint, weil ihre Mutter sie über dem Glücksspiel vergessen hat. Gökperi, das scheue, elternlose Kind mit den blonden Zöpfen, das auf einer gemeinsamen Bahnfahrt zutraulich wird.

Immer wieder dieses Thema des einsamen Kindes, aber auch der einsamen, kinderlosen Frau. Diana Canetti hat es in einer (später verfilmten) Schauspielszene gestaltet, die für den qualvollen Geburtsakt ein Stück des eigenen Körpers, den Fuß, zum „Baby“ erhebt.

Der beschreibend anschaulich gemachte Vorgang völliger Entäußerung und die verständnislose Reaktion der Lehrer und Schüler am Reinhardt-Seminar rücken etwaige Vorstellungen über die „kulturell zurückgebliebene Türkei“ sehr wirkungsvoll zurecht: Die bessere Schauspielausbildung brachte Diana von Istanbul mit!

Jetzt wird der Koffer nur noch für Ferienreisen hervorgeholt. Das Gehäuse, das sie mit dem Dramaturgen Jürgen Fischer an der Oberkasseler Hansa-Allee bezogen hat, sieht nach Bleiben aus: Eine große, strahlend hell hergerichtete, nach Farbe duftende Altbauwohnung, ideal zum Arbeiten, Umherwandern, Gästehaben.

Drei Jahre Düsseldorf haben sie mit der Stadt befreundet. Ein interessanter Kreis umgibt sie. Im Schauspielhaus hat sie ein Gefühl der Zugehörigkeit, ohne dort angestellt zu sein. Was sie jedoch tut, und was ihr Freude macht, ist die freie Theaterarbeit mit einer Mädchen-Arbeitsgemeinschaft der Realschule Ackerstraße. Und drei Kurse an der Volkshochschule, über Musil und Saul Bellow - genug „Gruppe“, um gegen die einsame Arbeit am neuen Roman einen Ausgleich zu haben.

Sein Titel „Ein Mann von Kultur“ liegt seit langem fest, ihn fertig zustellen dürfte aber schwieriger sein als bei den Vorgängern, weil Diana Canetti nun nicht mehr einfach ihr Leben „abschreiben“ kann, sondern Erfahrenes und Erfundenes zusammenpassen muß. Sie kam als erste Schriftstellerin mit einer ganz klar umrissenen Detailfrage ins Literaturbüro und forderte Hilfe. Solange sie in Bewegung ist, erscheint sie als morgenländische Fee, die sehr genau weiß, was sie will. Aus ihrem schweigenden Gesicht spricht jahrtausendealte Trauer.

In: Düsseldorf schreibt. 22 Autorenporträts, Düsseldorf: Triltsch Verlag, 1981, S. 30–32.

Sensible Verrücktheit. Ein neuer Name: Diana Canetti

„Heute will ich ein weiteres Mal neu beginnen.“ Dieser Satz steht zwar am Ende eines Buches, aber er könnte über jedem Kapitel, jedem Tag, jeder Stunde der Diana Canetti stehen. Ein neues (interessantes und schönes) Gesicht, ein neues, erfrischendes Buch: „Eine Art von Verrücktheit“. Da kommt eine junge Türkin, der Vater türkischer Jude, die Mutter Griechin, aufgewachsen in Istanbul, in einem Gemisch von Judentum, Orthodoxie, Islam und Katholizismus, und schreibt ein Buch über die Emanzipation junger Menschen.

Diana Canetti verbreitet keine Theorien, und selten erwähnt sie ihre marxistische Grundhaltung. Sie schreibt auf, wie sie nach Wien gekommen ist, dort Arbeit, Freunde und Leben gesucht hat. Streiflichter zeigen andere Stückchen Europa, zurückhaltend, erfahrend.

Diese Offenheit zum Leben, die begeisternde Lernbesessenheit und die Fähigkeit, körperlich zu denken und denkend zu handeln, spontan, ohne Rückversicherung, prallen natürlich im blassen Wien, an den blassen, doktrinären Schauspielschülern und -lehrern ab. Momentane Freundlichkeiten, kurze Liebschaften, viel Gerede und Ablehnung - eine eindrücklichere, für uns deprimierende Konfrontation lässt sich gegenwärtig schwer schreiben. Keine lauten Töne und Proteste; D. C. setzt an ihre Stelle den Versuch, ein, mehrere Gegenüber zu finden, darauf einzugehen, nachzudenken über ihre eigene zeitweilige Einsamkeit.

Da sind keine Bindungen, weil es Bindungen gibt. Sondern menschliche Verbindlichkeiten. Solche, die sich verändern, die plötzlich auftauchen und plötzlich sterben. Da ist kein Theoretisieren über die Emanzipation von Geschlechtern, sondern hier wird Emanzipation von Menschen gelebt als Selbstverständlichkeit.

Wenn die Schauspielschülerin D. C. im Wiener Reinhardt-Seminar aus ihrer vitalen Sicht eine Geburt, eine Mutter mit einem toten Kind, den Tod eines Kindes nicht nur zu „spielen“, sondern auf der Bühne ihren Mitschülern vorzuleben sucht, bekommt sie Verweise: ihre Lehrerin findet das obszön, die Mitschüler „würden sich schämen“, und „sowas gehört sich nicht“ usw.

D. C. wird nicht nur von widerlichen oder anziehenden Umständen gefordert. Sie will nicht einfach „ihr Fleisch verkaufen oder verschenken“. Sie sucht Wechselwirkungen, Zärtlichkeit, Liebe, Freundschaft. Uralte Wünsche, die alle unter Bergen von Konventionen, Moden, Religionen, Doktrinen, Trägheit und Machtspielen vergraben sind. Und von denen alle reden. Von jeher.

Diana Canetti schreibt sich, sie denkt sich, sie lebt sich. Das lässt sich einfach sagen. Aber ich finde, sie zeigt zumindest mit ihrem Buch, dass Einsamkeit durchaus schöpferisch, und die Strecke zum andern sehr kurz und unmittelbar sein kann. Diese Art von Verrücktheit löst Komplexe auf. Sie ist viel mehr als ein „Tagebuch einer Jugend“.

Beat Brechbühl in: Züricher Weltwoche, 07.12.1972.

Vita

Geboren am 2. Februar 1954, ermordet am 23. April 1994

In einer xenophilen Familie in Mönchengladbach aufgewachsen, studierte sie in Marburg, Berlin, Heidelberg und Düsseldorf Germanistik, Philosophie und Sprachwissenschaft. Sie promovierte 1985 mit der Arbeit „Das wilde Schreiben. Graffiti“. Renate Neumann arbeitete u.a. journalistisch in der feministischen Monatszeitschrift „Kom’ma“ in Düsseldorf und veröffentlichte seit 1990 Prosaminiaturen und Novellen-Teile in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften.

Zu ihren geistigen Müttern zählte sie Rahel Varnhagen und Hannah Arendt. Besondere Affinität bekundete sie gegenüber „der jüdischen Salonkultur in der französischen Revolutionszeit und dem intellektuellen Widerstand gegen den Nationalsozialismus und gegen undemokratischen Machtanspruch“.

Ihre Prosaminiaturen sah sie in der Tradition der Briefe einer Rahel Varnhagen: „in sich abgeschlossen und doch offen; beim Schreiben entsteht der in die Zukunft offene Text“.

Der erste Prosaband erschien posthum, nur wenige Monate nach ihrem gewaltsamen Tod. Er war mit ihr erarbeitet worden, sollte Ende 1994 erscheinen.

Publikationsliste

Pressestimmen

Aus den schaurigen Schatten. Texte der Düsseldorfer Autorin Renate Neumann im Otto-Brües-Haus

Renate Neumann: ungewöhnlich ihre Kunst, ihr Leben, ihr Schicksal. Ungewöhnlich auch die Referentin, die berichtete, las, erläuterte. Sophia Willems, Feuilleton-Redakteurin dieser Zeitung, war für ihr Thema doppelt prädestiniert: fachlich als Rezensentin, menschlich als Freundin Renate Neumanns, „eine der ungewöhnlichsten literarischen Persönlichkeiten“, nur vergleichbar vielleicht mit Elfriede Jelinek. Schreiben war Renate Neumann eine hohe innere Notwendigkeit.

Die 1954 in Mönchengladbach Geborene, promovierte Germanistin und Philosophin hatte zuletzt, vor ihrem grauenhaften Tod – ermordet am 23. April 1994 – einen Lehrauftrag an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. 1994 erschienen die Prosatexte „Du weckst die Nacht“, ein schmales Buch, dessen Veröffentlichung die Schriftstellerin nicht mehr erlebt hat. Wir hörten daraus, von Sophia Willems gelesen, einige wenige Texte. Wir konnten diese so hautnah erleben, weil Sophia Willems Stimme sie für uns so erlebbar machte. Da schienen im kleinen, vollbesetzten Raum des Otto-Brües-Hauses plötzlich die Metaphern auf: die schaurigen Schatten, die Wörterschatten, die Träume, die Alpträume, die Grenze am Tod...

„Entdeckt werden kann sie kaum“, heißt es in der Miniatur „Auf dem Weg“. Daran knüpft Sophia Willems an: „Entdeckt wurde sie in der Tat nur von wenigen.“ Ihr großes Werk „Der Ort der Dinge“, ein „enzyklopädisch angelegter Selbstversuch“, blieb bis heute ein von den Verlegern abgelehntes Manuskript. Seine Bewegungsabläufe, seine innere und äußere Zeit rückt Sophia Willems in die Nähe von Proust’s „Recherche“.

Die an Sophia Willems geschriebenen Briefe der Freundin Renate atmen die Sprachsuggestion von all ihren Texten. Sätze wie Rhythmen von Ravel oder auch wie von Gertrude Stein – staccato und prestissimo -, und so auch von Sophia Willems übermittelt. Die verwandelnde Kraft der Sprache einer Unangepaßten wurde hörbar, deren geistige Geschwister Hannah Arendt, Else Lasker-Schüler und Robert Walser waren.

„Wassertropfen an den Wimpern – auch Tränen“ bei etlichen Anwesenden. Auch bei mir.

Marianne Gatzke in: Westdeutsche Zeitung, Krefeld, 22.März 1996.

Wahre, unbequeme Sätze als Nachlaß. Prosa von Renate Neumann im Brües-Haus

Renate Neumann, 1954 in Mönchengladbach geboren, fiel 1994, kurz nach ihrem 40. Geburtstag, einer mörderischen Gewalttat zum Opfer. Die promovierte Germanistin hinterließ ein schmales literarisches Werk, das größtenteils unveröffentlicht blieb. Die Düsseldorfer Journalistin Sophia Willems stellte jetzt auf Einladung des Otto-Brües-Freundeskreises im Brües-Haus Prosa der Neumann vor.

Sie sei von der Qualität der Arbeiten überzeugt, sonst würde sie sich nicht dafür einsetzen, sagt Willems, die mit der Autorin befreundet war. Der Nachlaß umfaßt ein Theaterstück, ein Romanfragment, eine Novellentrilogie, den keiner Gattung zuzuordnenden Text „Der Ort der Dinge“. Erschienen ist bisher nur eine kleine Auswahl unter dem Titel „Du weckst die Nacht“ im Neusser Ahasvera Verlag (132 Seiten, 24 Mark).

Unangepaßte Persönlichkeit

Sophia Willems schilderte ihre Freundin als eine unangepaßte, nicht einfach funktionierende, eher mit zuvielen Zweifeln behaftete Persönlichkeit. Ihre letzten Jahre seien vom Kampf gegen Armut und um die versagte literarische Anerkennung geprägt gewesen. Manuskripte lagen Suhrkamp vor – hier gab es keine Antwort -, der Hanser Verlag lehnte eine Veröffentlichung in zynischem Ton ab.

Für Willems hat Renate Neumanns Werk „einsame Größe und große Einsamkeit“. Aufgrund der vorgestellten Texte ist leicht nachvollziehbar, was große Verlage von einer Veröffentlichung absehen lässt. Das Werk ist sperrig, Zeugnis einer Selbstsuche im Raum der Sprache, weit über dem Niveau, das man bloß selbsttherapeutischen Schreibversuchen zubilligen mag. Die Brüche der Identität werden hier nämlich keineswegs gekittet, sondern zur Sprache gebracht. Der Grad der Verdichtung ist hoch, eine leichte Lektüre ausgeschlossen. Kommerzieller Erfolg würde diesem Werk sicher versagt bleiben. Willems hofft, daß vielleicht eine Kulturstiftung zur Finanzierung einer Veröffentlichung beiträgt.

Beschädigtes Leben

Diesem Wunsch kann man sich anschließen, denn der schonungslose Blick auf die Wirklichkeit, wie ihn die Schriftstellerin vermittelt, ihre Auseinandersetzung mit der Trauer über das beschädigte Leben und das Scheitern der Beziehungen, sie verdienen, in einer für andere zugänglichen Form bewahrt zu werden. „Wir müssen wahre Sätze finden“, hat Ingeborg Bachmann gesagt. Das Werk der Neumann, das konnte man im Brües-Haus hören, hat solche und deshalb auch unbequeme Sätze zu bieten.

kMs in: Rheinische Post, Krefeld, 22. März 1996.

Räume in nuce. Renate Neumann: Du weckst die Nacht. Prosaminiaturen.

Wer Welt en miniature darstellt, liebt Paradoxien. Miniaturisten, behauptet Bachelard, in seiner Poetik des Raumes, lassen den Kern sich den Apfel erschaffen. Sie entdecken mit dem Vergrößerungsglas ihrer Aufmerksamkeit ein Detail nach dem anderen und beschreiben so minutiös den Raum, „als gebe es Weltmoleküle, als könnte man ein ganzes Schauspiel in das Molekül einer Zeichnung einschließen“.

In ihren 70 unter dem Titel Du weckst die Nacht erschienenen Prosaminiaturen muß Renate Neumann die „Weltmoleküle“, die sie unter die Lupe nimmt und perspektivisch umkehrt, zuerst mit der Taschenlampe – als Lichtmoleküle – aus dem Dunkel der Indifferenz herauslösen. Doch nicht Licht ist das Sichtbare. Und so läßt Renate Neumann eine Abfolge von düsteren Capriccios (ergänzt durch 7 Zeichnungen) entstehen, flottierende Sinnmoleküle, verbunden allein durch das als Vergessen um Kitsch und Kapital sich windende Band, jenes „goldne Gängelband“, mit dem Hölderlin Gott und Menschen verbunden wußte, als Verbundenheit mit dem Grauen desavouierend und Kunst und Künstlerin in ein Spiel mit dem Tod einbindend: „Spiel mit dem goldenen Band in deinem Haar, Shulamit, weggezogen in ein anderes Land oder Gast?“. Die Räume, die Neumann erschließt, laden nicht zum Verweilen ein; die Moleküle werden zur Weite, Weite aber erweist sich dem Gast, der nicht zum Bleiben aufgefordert wird, als Irrweg und Gefängnis: „Sie geht lebenslänglich. Sie kommt nicht an, erreicht ein Ufer, schwimmt hinüber, kehrt am anderen Ufer um, macht Umwege, verläuft sich. Kleine Papierschnipsel gräbt sie unterwegs ein, hängt Lampions an die Bäume, arbeitet mit an der Straßenbefestigung. Der Tod ist zu, sie kommt nicht rein, muß wieder weiter.“ Sie spinnt sich eine Lebenslinie am Tod vorbei: „Deine Linie weist daran vorbei, geht ins Leere, kann sich nicht aufrichten, der Schlangenbeschwörer hat seine Flöte vergessen.“ Ein weiteres Gedicht Celans alludierend: „Stimmen vom Nesselweg her: Komm auf den Händen zu mir. Wer mit der Lampe allein ist, hat nur die Hand, draus zu lesen.“ verknüpft sie Hand und Buch: „Handschriftschlängel auf Linienpapier, wohlgeordnet, eingegrenzt, gleichmäßig, parallel, bis zum Ende des Heftes, das liniert ist. Auf einer Treppe in Rom, sitzend und auf liniertes Papier zeichnen, quer zu den Linien, schräg dazu, in Schieflage, das Buch in einen Brunnen werfen und warten, bis es sich neben den Münzen auflöst. Ein gutes Zeichen für die Zukunft, wenn es da glitzert, das Kupfer.“

Renate Neumann bewegt sich im Kreis. Unter dem Stern des Todes erweist sich künstlerisches Schaffen – im traditionellen Bild der Schöpfung aus dem Wasser, den Shulamit-Wasserfällen, evoziert – als ein Unmögliches: „Wieder welche, die mit den Händen den Quell fangen wollen, Wasserfalldusche, das nehmen die zum Unbill.“ Nicht sind die „sperrangelweiten Sterne“ im Wasser (das Tiefste ist das Höchste) zu fassen, von keiner Hand, auch von der der Künstlerin nicht; die Existenz einer reinen Hand (Goethe) ist zu bezweifeln. Der Stern, auch er, „comme l’eau à garder dans la main qui tremble“ (Tzara). Ein Zeitmolekül, zu groß, um durch die Sprachgitter den „Wortschlägern“, dem Dunkel des Tages preisgegeben zu werden?

Wasser, das sich „ballen“ ließe (Goethe), erstarrt zu Kristallen, zu Diamanten gefrorener Momente glücklicher Liebe (die Biologie, ein Artefakt und ein Fossil ihrer selbst), auf dem steifleinernen Kleid der Mutter erscheint als blauer Kringel sich materialisierende Kindheitserinnerung, ein Nichts, von Sehnsucht eingekreist, läßt Hohlräume naher Fremdheit entstehen, Epiphanien einer mörderischen Banalität („Riesengeranien“). Banales ist riesig, Riesiges banal. Ein „Urtrauma“, mit der Lupe betrachtet, wird zu Spielzeugschreck, um – durch eine sarkastische Volte – schließlich als Schmuckstück am Revers zu landen. Das Schreckliche, dem Vergessen preisgegeben, wird (Kafkas Odradek ähnlich) zum skurrilen „buntscheckigen Scheusal“, das es als ansehnliche Leiche zu konservieren gilt.

Wie Scheherazade reiht Renate Neumann Geschichte an Geschichte und wirft dem Zeitgeist zur Ablenkung Parabeln zum Fraß vor. Doch hatte die Märchenspezialistin es leichter: Ihr Tyrann hatte ein Gesicht, die Banalität in der Welt Neumanns hat keins. Alles ist verkehrt in dieser Welt: Kleines ist groß, Großes klein, Krankes gesund, Rekruten sterben an Pilzvergiftung, eine Gefahr sind die Friedfertigen. Und wieder anders als Scheherazade erschließt Neumann Räume nicht auf ein Telos hin, ihr wird die Zeit selbst zum Raum: „Was wäre, wenn der Tag nicht mehr geradeaus ginge, sondern sich wie Papierschlangen immer weiter um sich selbst drehte.“ Die Zeit schlängelt sich um sich selbst, wird zum Raum, zum weißen Blatt, das bereit ist, Spuren aufzunehmen. In solchem Raum sind Ausgrenzungen nicht möglich; er bietet sich als ideale Lebensform an für die Ausgegrenzten par excellence, für Frauen und Juden. Von Text zu Text findet Neumann eine flüchtige Bleibe. An die Briefe der Rahel Varnhagen anknüpfend, weiß sie, daß solche Texte unterwegs sind wie jene, die sie schreiben , und ihnen stets das Risiko der verfehlten Kommunikation mitgegeben ist.

Es ist diese Ortlosigkeit, die Frauen, als das andere verkörpernd, die Abweichung von Normen und Ideologien, dazu »verurteilt, die Wahrheit zu sprechen und nicht den schönen Schein« (Jelinek).

Renate Neumann diagnostiziert die Absenz eines erfahrungsfähigen Subjekts. In 70 Miniaturen reiht sie dehumanisierte Fragmente nicht lebbarer Realität aneinander: „Gütige Sekunden, Splitter des Vergessens, nur nicht mehr wissen, unbedingt verschweigen, nicht näherrückenlassen, ausblenden. … Stunden gemächlicher Innenreise, aber ohne Erinnerung, nur nicht aufkommen lassen, nicht hochkommen lassen, nur nicht auskotzen. Gesprächsweise Unterschlagungen begehen, Wissen verschweigen, Können verbergen, nicht zu sehen sein, sich nicht hören lassen, die Toten schweigen ohnehin, Ermordete schweigen noch stiller, laß die Erinnerung nicht durch die dünnen Ritzen drängen, Zeitgeist.“

Du weckst die Nacht erschien posthum. Renate Neumann, geboren am 2. Februar 1954, wurde am 23. April 1994 ermordet.

Gerlinde Roth in: Virginia. Frauenbuchkritik Nr. 19, 26. Oktober 1995.

Das Lied des Todes singen. Zum ersten Todestag von Renate Neumann

„Der Tod ist unfaßlich“, schrieb Renate Neumann, kurz bevor sie starb. Es muß in ihrem Leben entsetzliche Momente gegeben haben, die sie innerlich zertrümmerten, die bei ihr sogar eine Todesangst aufkommen ließen. Welche Momente? Sie sind uns Rätsel, so wie sie uns ein Rätsel war mit ihren entweder mehrdeutigen Aussagen oder ihrer Wortkargkeit.

Sie konnte beharrlich sein in ihrem Schweigen und unternahm dann Forschungsreisen nach Innen. „Du weckst die Nacht“, der Titel ihres im Ahasvera Verlag, Neuss, erschienenen Buches, ist eine Anspielung auf diesen stummen Schrei.

Renate Neumann (geb. 1954) hat Germanistik, Soziologie und Philosophie an der Freien Universität Berlin unter anderem bei Jacob Taubes studiert. Der jüdische Emigrant hielt Vorlesungen über die nationalsozialistische Politik der Vernichtung. Die Ermordung von Millionen Menschen entsetzte die Studentin, wirkte wie ein Schock, der sie nicht mehr heimisch werden ließ auf dieser Welt und der immer wieder eingehen sollte in ihre Literatur.

„Tieflader ins Moor, die Vergrabenen, Verschütteten, viele Menschen, die bleiben da unten, da folgt nichts draus, die Geschichte geht weiter und doch gibt es einen Nerv der Vergangenheit, der durchstrahlt, der durchleuchtet, der die Gegenwart beschäftigt. Es gibt eine Zeit bis in die Gegenwart, da kehrt die Erinnerung ständig wieder, die verfolgt die Jetztzeit und blickt auf die Zukunft und erstreckt sich weiter und läßt sich nicht verdrängen und nicht vergessen, Stachel vergangener Zeit“.

Hier spricht sie deutlich aus, was sie bedrückt und beschämt. Die Vergangenheit, die unversehens in die Gegenwart zurückkehrt, wenn man sie vergißt. „Wissen verschweigen, Können verbergen, nicht zu sehen sein, sich nicht hören lassen, die Toten schweigen ohnehin, Ermordete schweigen noch stiller, laß die Erinnerung nicht durch die dünnen Ritzen dringen, Zeitgeist.“

Neumann übte Kritik am Verlust geschichtlichen Denkens. Mit ihrem unverwechselbaren Ausdruck zeigte sie uns ihr Sich-Nicht-Abfinden mit Verdrängen und Vergessen. Ihre ganze Prosa singt das Lied des Todes. „Der Tod in diesem Land hat eine Geschichte“, und sie trauerte im Namen des deutschen Volkes: „Die Trauertage sind die Klagemauern der Völker…“

Worte, die man in diesen Tagen, zu den Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag des Kriegsendes, durchaus zitieren kann. „Die Luftwaffenbomber und die Bodenkrieger lassen sich zusammenfassen als kriegsführende Parteien. Das verdunkelt den Tag, dennoch will ich leben, um den Krieg zu verhindern, große Einbildungen zu kreieren und mich auszuruhen, bis ich in mir zusammenlaufe, um wieder die Arme schwenken zu können.“

Bilder von Waffengeschäften und Kriegen verdunkelten ihren Alltag. Aber Renate Neumann war bereit zum Handeln. Sie wollte leben, um den Krieg zu verhindern. Sie wollte Widerstand leisten. Ausharren. Noch einmal bei Frühlingsduft am 1. Mai radfahren, darin liegt die Ahnung ihres Todes.

Sie starb am 23. April 1994 als Opfer eines unerklärlichen, beinahe symbolisch anmutenden Mordes. Den 1. Mai hat sie nicht mehr erlebt. Einmal wird man wissen wollen, wer Renate Neumann war, wird mehr wissen wollen, als die bloße Tatsache, daß sie Dozentin und Schriftstellerin war. Wird man sich fragen, ob Renate Neumanns Stimme nicht die Zeit überdauern wird. Aber wann, wenn nicht jetzt?

Sophia Willems in: Westdeutsche Zeitung, Düsseldorf, 22. April 1995.

„Du weckst die Nacht“. Prosaminiaturen von Renate Neumann

„Einzelne Momente des glücklichen Lebens, gibt es das?“ Die so fragt, heißt Renate Neumann. Wenige Zeit nach ihrem tragischen Tod erschien ihr erstes Buch. Hinter dem poetischen Titel „Du weckst die Nacht“ verbergen sich siebzig Prosaminiaturen und sieben Zeichnungen der Autorin.

Gequält vom Hunger nach einem „außerordentlichen Erlebnis“, skizziert Renate Neumann „belanglose Einzelheiten, die sich zu Kleinigkeiten summieren“. Geschichten, angesiedelt „zwischen Jenseits und Nirgendwo“, gezeichnet vom „Stachel vergangener Zeit“. Wo Absurdes und Alltägliches, Gewöhnliches und Ungewöhnliches aufeinandertreffen, entpuppt sich das Banale schnell als das Wesentliche.

Da begegnet uns eine Frau, die ihren Sommerurlaub aus dem Koffer zaubert, um dem Alltag zu entfliehen, eine andere, die sich nach nüchterner Betrachtung ihrer Situation in graubraune Luft auflöst, und wieder eine andere, die alleine ißt und das Gefühl genießt, daß ihr keiner etwas wegnehmen kann. Wir erfahren von dem Mann, der nackt und seltsam unbeachtet in einer Kneipe steht, hören von der Sprachlosigkeit in der Geschwätzigkeit, von der Wachheit, die den Schlaf träumt, von Berührungen, die die Distanz vorwegnehmen, und von einer Intimität, die Fremdheit atmet.

Als flüchtiger Gast, stets auf dem Sprung, unternimmt Renate Neumann Streifzüge durch Tage und Nächte. Sie scheint auf der ständigen Suche nach dem Leben zu sein. Sie taucht in die Welt des eigenen Ichs ein, treibt in den Kosmos ihrer Mitmenschen, verliert sich in Traumvisionen und stellt sich dem alltäglichsten Alltag. Bei aller narzißtischen Selbstbespiegelung sind ihre Beobachtungen nie ohne ironische Brechung. Sie ist und bleibt eine Zerrissene. Wo sie auftaucht, fühlt sie sich heimisch und fremd zugleich. Ihre Unbehaustheit treibt sie weiter. Gierig beobachtet sie Menschen und Situationen. Im täglichen Miteinander deckt sie Unsicherheiten und Brüche auf, im erotischen Beieinander entlarvt sie Irrungen und Verwirrungen. Einige ihrer Gestalten scheinen nicht aus Fleisch und Blut zu sein. Gleich „Traumgesindel“ lösen sie sich auf, verschwinden im Nichts. Andere dagegen sind greifbarer. Sie gehen ins Kino und zu Demonstrationen, verspeisen Butterbrote und trinken Wein, lieben und zanken sich – kurz: sie leben. Die Autorin entwirft ihre Begegnungen mit dem Ich und dem Du in konstruierter Flüchtigkeit. Sie verliert sich nicht in Beschreibungen, vernachlässigt Erklärungen und begnügt sich mit Andeutungen. Ihre Sprache wirkt häufig ruhelos, manchmal getrieben. Ein assoziatives Spiel mit Worten, artifiziell und nur selten umgangssprachlich. Sie gibt sich nicht redselig, erzählt in gleichbleibendem Tempo und schweift nur dann ab, wenn sie Gefühlen auf die Spur kommt. Wo sie Leidenschaft als Leiden denunziert, wirkt ihre Sprache erkaltet wie Asche. Wo sie Erinnerung bannt, Gewesenes festhält, glüht der Wortfluss.

Die Welt Renate Neumanns ist selten heiter und selten licht. Zu häufig bleibt die fieberhafte Suche nach Leben unerfüllt. Die Zeit scheint vor ihrer Zeit gestorben. „An einer Kette hängen die Wochentage aneinander, kommen wieder, ohne sich umzudrehen.“ Das „wieder von vorn“, das „Wiederholen des Spiels“ ist eines der immer wiederauftauchenden Themen. Man kann die Prosaminiaturen zügig lesen und noch zügiger vergessen. Man kann sich aber auch müßig dem Wortstrom überlassen und ohne intellektuelle Deutungsarbeit den Text als guten Geist verstehen, der die Phantasie beflügelt, um am Ende mit der Autorin zu dem Schluß zu kommen: „Glück war vielleicht der Moment hier…“

Petra Urban in: La LiBerta, Heft. 33, März/April 1995.

Unerschöpfliche Komplexität. Prosaminiaturen von Renate Neumann, gelesen von Bela Winken im Bis

Renate Neumann identifizierte sich mit Opfern von Gewalt, hat ihnen ihre Stimme geliehen. Auf der anderen Seite weisen ihre Texte „intensive Daseinsfreude“ auf. Die Verlegerin Dr. Ariane Neuhaus-Koch hat gemeinsam mit der Autorin die Veröffentlichung „Du weckst die Nacht“ redigiert.

Renate Neumann wurde dieses Jahr, knapp 40 Jahre alt, ermordet. Nach ihrer Schulzeit verließ sie ihre Heimatstadt Mönchengladbach, studierte Germanistik, Philosophie und Sprachwissenschaft, gab zuletzt Unterricht an der Düsseldorfer Universität. Die Schauspielerin Bela Winken las die Prosaminiaturen im Kulturzentrum „Bis“. Nach den ersten gehörten Zeilen ahnt man die Lust auf Wiederholen: Wiederholen, um stets tiefer zu begreifen, zu fühlen und sich von den Wortkombinationen überraschen zu lassen. Renate Neumanns Texte sind komplex und in ihrer Komplexität anscheinend unerschöpflich. Die Affinität zur Sprache sticht unmittelbar hervor; in kurzen, prägnanten Wortvernetzungen beschreibt die Autorin vielfältige (Gefühls)-Zustände. Vermeintlich alltägliche kleine Situationen und Momente werden mit Lebendigkeit gefüllt. „Verkehrte“ Assoziationsketten schaffen neue, fesselnde Bedeutungen. Durch die Offenheit der Schreibenden hat man das Gefühl, sie ein Stück weit kennengelernt zu haben. Tiefe Betroffenheit löste der an das Ende gelegte Text „Gefälligst leben“ unter den Anwesenden aus. Wochen vor ihrem Tod, als sie eine schwere Krankheit zu überwinden hatte, schrieb Renate Neumann diese kämpferischen Zeilen.

pr in: Westdeutsche Zeitung, Mönchengladbach, 28.11.1994.

Den Tod nicht gesucht

Sie zeichnete und schrieb bis zu ihrem schrecklichen Tod im April dieses Jahres. Sie half vielen Menschen, zu sich selbst zu finden. Sie war schön und nicht sehr glücklich. Stoff für einen Groschenroman? Stoff für dicke Schlagzeilen in dünnen Blättern? Nein, dazu hat sich Renate Neumann nicht geeignet, auch nicht durch ihren Tod. [...]

Sie war hochbegabt und hochsensibel. Aber sie fand für ihre Texte keinen Verlag, für ihr Zeitgespür kaum Förderung. Jetzt ist ein Buch mit Prosa-Miniaturen unter dem Titel "Du weckst die Nacht" (24 Mark) herausgekommen, an dem sie bis zu ihrem Tod mitgewirkt hat. Es enthält auch sieben Zeichnungen der Autorin.

Ihre Zeichnungen - Strichmännchen, Graffiti. Und doch anders; nicht fordernd, eher federnd. die Zerbrechlichkeit ist Schein. Ihre Texte - selten "wild", oft fein. Sie stellt alles Gegebene in Frage, auch sich selbst. So, wenn sie uns mit unserer Muttersprache bekannt macht. Oder mit unserer und ihrer Redseligkeit. Der Tod ist ihr Thema und das Leben. Aber "der Tod ist unfaßlich". Sie hat ihn nicht gesucht, trotz "Zukunftsangst, Krankheitsangst", der Resignation in der "Krankenbewahranstalt". Am 9. Februar 1994 schrieb sie: "Ich bin im Urlaub vom Krankenhaus und habe mir den Freispruch von der Arbeit erkämpft.‘ "

Jetzt wird Renate Neumann wohl "entdeckt" werden, spät, wenn auch nicht ganz so spät wie jene schreibende Frau, die heute in aller Munde ist: Rahel Varnhagen. Die entdeckte Renate Neumann schon, als Rahels Name einer unter vielen jener war, die sich Heinrich Heines Freunde nannten.

Gerda Kaltwasser in: Rheinische Post vom 22.09.1994.

Nachrufe

Renate Neumann ist ermordet worden. Nachruf

Diese erschreckende und schreckliche Tatsache machte sich die Regenbogenpresse sofort zu eigen, um herauszustellen, daß ‚sowas’ nur ‚denen’ passiert. ‚Diese’, das sind die ‚Lesbischen’, ‚Obdachlosen’, ‚psychisch Kranken’, ‚KünstlerInnen’. Ein Wort, das ich seit Jahren nicht mehr gehört hatte, kursierte durch die verschiedenen Blätter: das Wort Milieu. Was ein Milieu nun eigentlich genau sein soll, weiß keineR. Da leben halt ‚die’.

Der Lebensraum der Renate Neumann war jedoch kein Abgeschlossener. Hätte sie sich ausschließlich in ihrem ‚Milieu’, wie die Zeitungen suggerieren, aufgehalten, wäre sie ihrem Mörder niemals begegnet. Renate Neumann war diejenige Dozentin, die ihre StudentInnen zu sich einlud und ihnen ihre Bücher lieh. Sie war diejenige politisch aktive Frau, die verschiedene bewegte Frauen zusammenführte. Sie war diejenige Schriftstellerin, die drei junge unbekannte (und von daher noch nicht bedeutende) Schriftstellerinnen sozusagen als Kuckucksei zum Schriftstellerinnenkongreß NRW einlud. Sie war aber auch diejenige, die sich vor Anschlägen von Rechtsradikalen fürchtete, Drohanrufe bekommen hatte. Dem wurde, trotz Insistieren von FreundInnen, nicht nachgegangen, da die Polizei sich das einfach nicht vorstellen konnte.

Zynischerweise hat die Möglichkeit, den Mord an Renate reißerisch auszuschlachten, und ihre relative Bekanntheit in dieser Stadt ihr und uns überhaupt erst zu einer größeren Zukenntnisnahme der Tatsache durch die Medien verholfen. Wenn auch weder in ihrem noch in unserem Sinne. Mord, und vor allem Mord an Frauen, ist keineswegs die Ausnahme. Frauen werden zerstückelt und unter der Werkbank aufbewahrt. (WDR 2 nennt das dann „Mord aus Liebe“). Die tägliche und strukturelle Gewalt an Frauen ist keine drei Titelseiten wert. Sonst könnte vielleicht auch der/dem Letzten aufgehen, daß es auch um ihr/sein Leben geht. Ich weiß nicht, ob das, was Renate zugefügt wurde, uns allen passieren könnte, aber ich bin mir sicher, daß es uns alle angeht!

Renate Neumann war nicht eine von ‚denen’, sie war eine von UNS.

Nach und trotz allem ist es mir wichtig, in dieser Zeitung dem Menschen Renate Neumann mit Respekt und Anmut zu begegnen, diesem Menschen, der nach dem Mord an ihr nicht einfach so aufhört zu existieren, der uns auch so viel zurückgelassen hat.

Daher möchte ich die Menschen, die ihr am nächsten standen, ihre Schwester und ihre langjährige Partnerin, hier für sie und an sie sprechen lassen und nicht zuletzt Renate selbst.

Mithu M. Sanyal in: TERZ, Stadtzeitung, Düsseldorf, Jg. 3, Juni 1994.

Rede der Schwester, Usch Neumann, gehalten am 29.4.94 an Renates Sarg

Liebe Menschen.

Renate ist meine Schwester. Sie war ein besonderer Mensch mit Antennen für Herz, Seele und Gewissen anderer Menschen.

Ihre Texte lassen die Gedanken fliegen, das Herz hüpfen und die Seele suchen, aber der Verstand windet sich durch die Anspielungen und widersetzt sich, dem genialen Chaos zu entkommen.

Renate hämmerte an die Wände in uns, klopfte an Türen und bohrte ihre Fühler in unsere Abgeklärtheit. Ihr Leben war eine ständige Herausforderung, Normen in Frage zu stellen, den beliebten Satz „es gehört sich nicht“ an die Wand zu nageln, um endlich neue Antworten zu finden.

Wie trostlos, grausam, Entsetzen und Angst machend, bis zur Versteinerung werdend Renates Tod ist.

Sie hätte den Wunsch gehabt, ihn nicht nur persönlich zu betrachten, sondern aufzurütteln gegen Gewalt in unserer Gesellschaft. Für sie waren die Terrorakte gegen Asylsuchende gleichzusetzen mit der Judenverfolgung.

Renate hatte schreckliche Angst vor dieser Gewalt und fühlte sie wie am eigenen Körper.

Brennende Heime politisch Verfolgter sind keine Schlagzeile mehr wert, sie konnte deshalb nicht schlafen.

Ihr grausamster, gewalttätiger Tod ist eine Tragödie, er bereitet uns Schmerzen in unserer Menschlichkeit, klagt uns an, die Unmenschlichkeit in unserer Gesellschaft zu betrachten.

Renate hätte gewollt, daß dieses furchtbare Entsetzen, das uns den Hals zuschnürt, uns wachrüttelt gegen Menschenverachtung, Ausgrenzung Andersartiger und Fremdenhaß.

Und daß wir anfangen nachzudenken über eine liebevolle, gerechte, soziale und weltumfassende Form des Zusammenlebens aller Menschen und aller Nationen.

Renate fehlt uns unendlich, sie ist nicht zu ersetzen, aber die Vorstellung, daß sie im Himmel die Seelen von Rahel Varnhagen, Hegel, Karl Marx, Rosa Luxemburg und Shakespeare wachkitzelt und zur Reinkarnation anstachelt, hilft mir ein wenig.

So wie ihr Leben unvergessen häufig eine Provokation war, so wird ihr Tod ein Mahnmal bleiben.

Abgedruckt in: TERZ, Stadtzeitung Düsseldorf, Jg. III, Juni 1994.

Pressestimmen vor der Ermordung

Plötzlich rückt Geheimes nahe. Ein Porträt der in Düsseldorf lebenden Schriftstellerin Renate Neumann

„Sehr geehrte Damen und Herren, mit diesem Brief schicke ich Ihnen als ‚work in progress’ meinen Text in Arbeit, damit Sie einen Einblick in Aufbau, Stil und Technik meines Schreibens und Erzählens gewinnen können…“ Aber welchen Verlag interessiert schon noch „Aufbau, Stil und Technik“, wenn nicht hinter dem Autor, in diesem Falle: der Autorin, ein kassenfüllendes Programm, eine Publicity versprechende Person, eine power group, ein literarisches Quartett oder gut absetzbare Randgruppen (Alte wie Anna Wimschneider, Irre wie Ernst Herbeck) stecken? Soll Renate Neumann deswegen ihren Briefentwurf an die Lektorate gleich dem Papierkorb anvertrauen? Das wäre nicht nach dem Temperament einer femme de lettres, die an der Universität Arbeiten mit Titeln wie „Das wilde Schreiben“ (über Graffiti) und „Nicht mehr lieblich schweigen“ (über Rahel von Varnhagen) vorlegte.

Sprache, sagt sie, habe sie zunächst nicht sonderlich interessiert, sie zog mit Stiften und Aquarellfarben über Land; und in ihrer Wohnung hängen bedrängende Gemälde. Jenes, das sie nach der Japan-Reise 1987 zum Kongreß der Deutschen Friedens-Gesellschaft malte, strahlt es aus, das Geheimnis alles Bildens und Abbildens, die Ferne, das Unnahbare, Unwägbare, Ungewisse. Jenes Unnennbare, in das auch ihre Texte immer wieder schweben und den Leser sanft mitreißen in eine andere Welt: Beginnend mit einer Banalität des Alltags, sie zuspitzend, latent sarkastisch, leicht ironisch – und dann der Sturz, der Bruch, der Riß, wenn die Wirklichkeit zu innerer Kenntlichkeit umgeschrieben ist. Das Reale wird surreal – damit wir uns nicht entsetzen müssen, nein, jetzt erst recht entsetzen können.

Langsam also, nach manchen Krisen, schmerzhaften Verwerfungen und Umschichtungen der Seelen-Landschaft, gelangte sie über das Abbilden, das Analysieren der Wissenschaften, des Privatisieren der Tagebücher zu jenem Schreiben, das nun als Literatur vorliegt – ungedruckt, sieht man von Wenigem ab, aber umfänglich: Über 200 Seiten Kurzprosa („Minimale Geschichten“), eine Novellentrilogie, der Roman „Wenn A in B verliebt ist (ist B in C verliebt)“, ein Theaterstück.

Die autobiographische Folie läßt eine kosmopolitische Familie zum Vorschein treten, in der sich Menschen aller Sprachen ebenso versammelten wie die Temperamente sich schieden. War die Großmutter eine Briefautorin von Rang, verkaufte der Vater in alle Welt Rohrwalzwerke; über die Jahre in Pittsburgh/Pennsylvania (1979/82) hat die Mutter wiederum ein geistreiches Buch verfaßt. Ihre älteste Tochter Renate, geboren 1954 in Mönchengladbach, gewöhnte sich den schwäbischen Zungenschlag, Familienerbteil, in der rheinischen Grundschule rasch ab: „Ich war wie ein Ausländer.“ Sprach-Enteignung.

Das Etappenhafte in Renate Neumanns Schreib-Geschichte schlägt sich in der Struktur ihrer wundersamen Texte nieder als Abfolge von Schritten aus einer Wirklichkeit in eine andere. „Mir ist eine merkwürdige Labilität zugestoßen“, sagt sie. Damit ist ihre Fähigkeit bezeichnet, das Geheimnis der Dinge zu erspüren, es in Sprache zu verwandeln, ohne es zu verletzen. Es bleibt unnennbar. Und doch spüren wir lesend plötzlich seine Nähe, sehen sein Bild.

Sophia Willems in: Westdeutsche Zeitung, Düsseldorf 11, Mai 1993.

Texte von Renate Neumann

Die Verantwortliche für diese Internetseiten war die Verlegerin von Renate Neumann und verfügt über das Abdruckrecht für diese Texte.

Gedanken, Gedenken

Zielstrebig erinnern, ungezielt vergessen. Samtweiche Gefühle in dem Moment der glücklichen Erinnerung, einzelne Momente des glücklichen Lebens, gibt es das? Sekunden der Gutmütigkeit in der Erinnerung und einzelne Sätze, die auf Papier standen, die dort weiter stehen, die die Erinnerung forcieren, sich dort schwarz auf weiß eingegraben haben. Gültige Sekunden, Splitter des Vergessens, nur nicht mehr wissen, unbedingt verschweigen, nicht näher rücken lassen, ausblenden. Heftiger Erinnerungsschwall wird wieder in die Schachtel verpackt. Ausweglos in die Gegenwart geworfen, der Vergangenheit entronnen, der Zeit entkommen. Erinnerungsgeschenk, verpackt, verschnürt, zugebunden, nicht herauslassen, drinnen stecken lassen, verschnürt, zugebunden, nicht herauslassen, drinnen stecken lassen, nur nicht öffnen, draußen nichts davon sehen lassen, bis ins Unterste verbergen. Stunden gemächlicher Innenreise, aber ohne Erinnerung, nur nichts aufkommen lassen, nicht hochkommen lassen, nur nicht auskotzen. Gesprächsweise Unterschlagungen begehen. Wissen verschweigen, Können verbergen, nicht zu sehen sein, sich nicht hören lassen, die Toten schweigen ohnehin, Ermordete schweigen noch stiller, laß die Erinnerung nicht durch die dünnen Riten dringen, Zeitgeist. Wartestellung auf Durchbruchsversuche des Gedächtnisses, hochgekommene Zeiten, Schalen voll Erbrochenem, Ausgespucktem, Rübergerettetem. Ausgeschwiegen, herauskommen, deutlich werden, aber wo ist die Grenze? Die Erinnerung abschotten, das quillt dann aus allen Ohren wieder heraus, versickert wieder, macht keinen Effekt, bedeutet wenig. Unscheinbar, kleinkariert, Miniaturgeschichte, ausweglose Situation, merkwürdig, beobachtet, schnell erfasst, durchgegriffen, zu spät gekommen. Tieflader ins Moor, die Vergrabenen, Verschütteten, viele Menschen, die bleiben da unten, da folgt nichts draus, die Geschichte geht weiter und doch gibt es einen Nerv der Vergangenheit, der durchstrahlt, der durchleuchtet, der die Gegenwart beschämt. Es gibt eine Zeit bis in die Gegenwart, da kehrt die Erinnerung ständig wieder, die verfolgt die Jetztzeit und blickt auf die Zukunft und erstreckt sich weiter und läßt sich nicht verdrängen und läßt sich nicht vergessen, Stachel vergangener Zeit.

In: Renate Neumann: Du weckst die Nacht. Prosaminiaturen. Neuss: Ahasvera Verlag 1994, S. 87f.

Es ist spät, Lieb’

Aus der Kurve der Nacht kommt Liebesgeflüster, da stehen die Besucher Schlange in der Peepshow. Kolchosenarbeit, dann Nacht, dann einschlafen, doch Liebesgeflüster in den Sternen. Sie krallt sich um ihren Kragen. Wegelosigkeit. Dann eingeschlafen. Weggenommene Stunden, ausgewichene Tage, unsteuerbare Wochen, Monate gerade jetzt, in diesem Moment. Einstellungssache. Da erkürt sich die Freundin eine Freundin der Freundin, der Liebe. Liebes, es wird spät. Zur Frau geboren. Wegebahnen, Ausweichstellen, vollgestellte Straßenbahn. Arbeit, schlafen, essen, aufwachen, weitergehen, unentwegt verstreichende Stunden, weiterschlafen, weiterwachen. Wo bleibt da die Sekunde, der Einschlag? Gehäckseltes Stroh, darin Nachtgeflüster, Sternenanbetung, Gewinde der Erinnerung. Wo bleibst du Lieb’, wo steckst du, wo sind deine Momente? Liegen sie unter dem Pflaster, auf der Straße, in der Woche, in einem Jahr. Wo sind deine Stunden, wie ist dein Monat? Entschwunden, gegangen, verloren, wo bist du Lieb’? Wer hat vergessen, den Kuß unterm Schirm, es schüttete, wer hat daran gedacht, der Kuß am Rhein. Wer hat daran gedacht, die Dachlatte in der Hand, den Boden unter den Füßen, die Stunden vergessen. Wieder von vorn. In der Nacht stehen die Nutten auf den Füßen, die Freier liegen ihnen zu Füßen, keine Geburt, kein Aufwachen. Käse zum Frühstück, Kandelaber im Film, Rotlicht aus dem Fön, Schwarzkuchen als Brot. Geschmeidige Wintersonne, die sich zerstäubt. Weggewandte Zeit.

In: Renate Neumann: Du weckst die Nacht. Prosaminiaturen. Neuss: Ahasvera Verlag 1994, S. 10.

Du weckst die Nacht

Einsame Nächte umspielen wie Kautschuk den Körper. Liebesabenteuer werden kolportiert, nicht ausgegrenzt. Faulenzende Nächte im Arm des Mondes. Da hämmert es sich gut und schneidet ins Fleisch. Suchmeldung: Wo ist die Nacht? Gieriges Aussaugen der Stunden, die die Nacht hergibt. Sie liest im Bett und stützt den Arm dabei auf, bis er einschläft. Die Einschlaflektüre ist leise. Als sie die Nacht durchmachten, tunkten sie sich nicht in blaugeblümte Pyjamas. Laß die Nacht ruhen! Sie hat dir nichts getan. Du hattest keine außergewöhnlichen Wünsche im Bett, was uns nicht daran hinderte, wunschlos glücklich zu sein, eine Sekunde, die ganze Nacht. Unter uns Wasser, zwischen uns Feuer. Die trauerumflorte Nacht runzelt die Stirn, Umarmung im Treppenhaus. Der Schlüssel klemmte. Nur diese eine Nacht. Sucht der Nacht. Keine Nacht allein, immer wieder. Dein liederliches Ehebett. Wenn du die dicken Vorhänge vorgezogen hast und den Baldachin über deinem Bett ausbreitest, klingt der Beischlaf postmodern. Kissen saugen Geräusche auf. Sie wickelte ihr goldenes Haar um seine Knie. Am nächsten Morgen schnitt sie es ab. Asymmetrisch. Schwebende Trauernacht. Dein Lachen, dein goldenes Haar. Sie legte sich am Abend schon das Frühstücksei zurecht, weil sie so früh aufstand. Sie hatte vier Kinder.

In: Renate Neumann: Du weckst die Nacht. Prosaminiaturen. Neuss: Ahasvera Verlag 1994, S. 28.

Muttersprache

Gehen, Hören, Riechen, Schmecken. Aufrecht stehen lernen, Fremdheit lernen. Antennen entwickeln, sprechen lernen. Was kann das Kind denn schon? Was will es verstehen? In welchem Land leben wir? Laß mich deine Muttersprache hören, wie klingt sie, wie surrt sie in deinen inneren Tönen? In welcher Sprache träumst du, verstehst du im Schlaf Papierrascheln, Insektensausen, Füßescharren? Weltsprache. In der verstehen wir uns, hören uns, könnten uns Liebe sagen, aber nun ist doch deine Sprache meiner fremd. Ich kann nicht hören, was du sagst. Was ist deine Sprache? Ja, das ist etwas anderes, die Autosprache, Zeichen geben, Verkehrsregeln, internationale Verständigung, mit internationalem Führerschein kommst du überall durch. Aber was ist deine Muttersprache? Ist es schon das Brabbeln des Kindes, wenn es die ersten Laute hervorbringt, sandig, erdig, warm, eingelullt in der Sprache der Blumen. Diese knistern, wenn du damit zu mir kommst, laß uns durch Blumen sprechen. „Da muß ein klares Wort gesprochen werden.“ Genau, das ist der Ton der deutschen Sprache, die so durchdringend ist, daß sich ihr niemand entziehen kann, aber auch eine Sprache mit Idealismus. Ohren zuhalten würde nichts nutzen. Klingend in einer schönen Stimme, geradlinig, befehlend, beschimpfend, kasernenhörig. Aber hat sie nicht auch den Klang der Literatur, wie sie reimt, wie sie charmant tönt, warm klingen ihre Melodien, unsere Ohren sind durchlöchert von der Muttersprache, es könnte ein Gesang sein.

In: Renate Neumann: Du weckst die Nacht. Prosaminiaturen. Neuss: Ahasvera Verlag1994, S. 32f.

Auf dem Weg

Sie erneuerte sich auf dem Weg. Grenze am Tod. Sie erfährt Hinweise auf die richtige Richtung, hört von Umwegen, rennt weiter, kommt voran. Sie sieht Gabelungen, hinter ihr nichts, vor ihr Kreuzungen. Sie begleitet einige auf dem Weg, an Kurven verlieren sie sich aus den Augen. Kaum einer kommt ihr entgegen. Sie geht abwartend, stolpert. Der Weg bricht ab, sie geht querfeldein, der Weg hört auf, sie springt ins Weite. Sie geht lebenslänglich. Sie kommt nicht an, erreicht ein Ufer, schwimmt hinüber, kehrt am anderen Ufer um, macht Umwege, verläuft sich. Kleine Papierschnipsel gräbt sie unterwegs ein, hängt Lampions an die Bäume, arbeitet mit an der Straßenbefestigung. Der Tod ist zu, sie kommt nicht rein, muß wieder weiter. Blaue Pfeile sind auf den dürftigen Weg gemalt, dort wo es weitergeht. Sie folgt der Richtungsanzeige. Immer wieder bricht der Weg ab, sie fängt tausendfach wieder an, immer an der gleichen Stelle, verliert die Menge, geht allein. An Mauern entlang, überall zu Hause, mit dem Kopf im Moos, selbst langsam in den Farben der Natur, verwittert, lernend, vergessend. Weg ist, wo ihre Füße gehen. Schachteln liegen am Rand, Bauschutt, Geröll, ein alter Kühlschrank, sie klettert einen Abhang hinunter, dann Vororte, Zentren, Städtebilder gerafft. Sie geht durch Gemäuer, verfallene Durchblicke, die sie abseitig liegen läßt. Sie streicht an Wänden entlang, streicht mit den Händen darüber, saftiges Grau, Leben der Steine. Sie kennt die Richtung, verändert sich auf dem Weg, erkennt alte Pfade nicht wieder. Sie ist nicht in der Spur. Sie hört von Stockungen im Verkehr, schleicht weiter, wandert über Halden, sieht Erker und Gesimse, studiert Fensterfarben und Türformen. Sie geht längs, entlang am Vergessen. Sie fängt Wegweiser, sonst zerrinnt der Weg. Die Schuhe finden ihn, die Füße sind vorwärtsgerichtet. Die Wege im Park sind durch Sehenswürdigkeiten geschmückt, geschickt arrangiert eine Brücke. Sie fällt ins Wasser, Frosch. Nach Trockenpause geht sie wieder auf den Weg und findet wieder einen anderen, keiner von vorher, immer undurchsichtig. Sie findet sich nicht zurecht, aber sie findet weiter. Entdeckt werden kann sie kaum.

In: Renate Neumann: Du weckst die Nacht. Prosaminiaturen. Neuss: Ahasvera Verlag 1994, S. 65f.

Lebenslinien

Sie legte sich Linien zurecht. Schnurgerade Linien. Eine Lebenslinie, liliengleich, bleich, doch noch so ein Berg, schadhafter Nesselberg, der Stoffberg, darunter Kribbelndes, Krabbelndes, der Stoffberg wird weggetragen. Sie hat einen Vergewaltiger gespürt, einen Messerstecher gesehen, im Fernsehen, von Schlächtereien gehört, im Radio, und spinnt weiter an der Lebenslinie, einem Faden. Du hattest ihn um das Handgelenk gewickelt. Deine Linie weist daran vorbei, geht ins Leere, kann sich nicht aufrichten, der Schlangenbeschwörer hat seine Flöte vergessen. Der Strick bleibt im Korb. Sie fädelt den Faden durch Schlüssellöcher, verschließt damit die Tür, der Faden reißt immer wieder, sie knotet ihn zusammen. Und legt Linien damit, auf italienische Marmorböden, marmorierende Linien, vergißt den Ausgang. Der Stock klappt zusammen, bestrickendes Scharnier. Sie legt Fäden, sie kennt Spinnereien, Handauslegerinnen, weise Frauen. Handlinienleserinnen, sie hat sie gesehen, erlebt, aber die Linie weist daran vorbei. Auf der Leinwand eine satte Linie, Menschenfigur, nicht ausgemalt, Umrisse, ohne Inneres, Profil, ohne Zeichen, Zeichnung, unerkennbar, das bleibt doch anonym. Glaube an die Umrisse, der Blick sticht durch die Leinwand, ein unbewegtes Bild, es bleibt sich gleich. Sie läßt sich aufhängen, die Linien werden mittransportiert. Sie kennt Politiker, die Linien ziehen, mit dem Stöckchen im Sandkasten, daraus Weltentwürfe basteln, sie hat sie gesehen, sie stiegen nicht aus, sondern blieben im Betrieb, wurden seriös dabei, nur die Karikaturisten machten sie zu dünnen Strichen. Handschriftschlängel auf Linienpapier, wohlgeordnet, eingegrenzt, gleichmäßig, parallel, bis zum Ende des Heftes, das liniert ist. Auf einer Treppe in Rom, sitzend und auf liniertes Papier zeichnen, quer zu den Linien, schräg dazu, in Schieflage, das Buch in einen Brunnen werfen und warten, bis es sich neben den Münzen auflöst. Ein gutes Zeichen für die Zukunft, wenn es da glitzert, das Kupfer.

In: Renate Neumann: Du weckst die Nacht. Prosaminiaturen. Neuss: Ahasvera Verlag 1994, S. 108.

Epilog: Gefälligst leben

Sie hat die Ordnung zum Leben, sie hat die Wut zum Leben, sie will weiterleben. Ihre Krankenhäuser benutzt sie zum sich Hospitalisieren, sie liegt dort und steht und geht dort, und die Krankenhäuser geben ihr Urlaub.

Ich bin im Urlaub vom Krankenhaus und habe mir den Freispruch von der Arbeit erkämpft. Unter meiner Sonne liegt meine Mondin (plattgepreßt wie Blüten im Lexikon), darunter die Venus, und der Saturn verdämmert am Horizont. Recht hast du, sagt sie sich selbst und die Wahrheit sagst du, sagte sie sich selbst, und ich bin eine Sie, die dem Männlichen ausweicht, es nicht versteht, kaum anbändelt. Jetzt nicht jedenfalls.

Hochaufgewürfelt sind die Holzscheiben und darüber Klötzchen. Auf dem Boden liegen die Kinderschuhe, und auf der Straße gehen die Kinder geradewegs zum Hort, zum Kindergarten, zur Schule nicht mehr so oft in Begleitung der Mutter. Ich rastere mir meinen Weg. Die Büdchen und die Läden stehen mir wieder offen. Ich bin in Urlaub und habe gefälligst zu leben, weil selbst wenn geschnitzte Schlangen sich an den Hals des Kranichs hängen, er sich schüttelt und mir seine Schwingen zeigt. Weil die Sonne auch hinter den Wollen scheint. Weil die Mondin nachts manchmal auch mir ihr Gesicht zeigt. In der Zeit, wo das Telefon erreichbar ist, will ich leben. Den Fernseher könnte ich eigentlich verkaufen. Die Stühle hingegen sind soweit in Ordnung. Die Säbelrassler sind nicht hier, sondern klingen zu laut, um endlos zu schlafen. Die Luftwaffenbomber und die Bodenkrieger lassen sich zusammenfassen als kriegführende Parteien. Das verdunkelt den Tag, dennoch will ich leben, um den Krieg zu verhindern, große Einbildungen zu kreieren und mich auszuruhen, bis ich in mir zusammenlaufe, um wieder die Arme schwenken zu können. Außerdem will ich noch einmal bei Frühlingsluft auf dem Fahrrad zum 1. Mai fahren. Ich will noch einmal Beethovens Sinfonien hören und die gehörnte Eidechse sehen, die Pfirsichsaft dann, erst dann von meinen Beinen lecken darf.

9. Februar 1994

In: Renate Neumann: Du weckst die Nacht. Prosaminiaturen. Neuss: Ahasvera Verlag 1994, S. 126f.

Vita

Publikationen

Texte der Autorin

Bergfilme (1990/91)

Wir steigen auf die Alm zum Fernsehen. Ich will den Rauschberg sehen.
Mein Neffe lieber Watzmann.
Ich frage, was willst du Trenker?
Es sagt, ein großes Helles.
Ein Männlein bringt uns Bier und drei Weißwürste.
Ich sage, halt Männlein, da fehlt noch Wurst!
Der Hunter unter der Bank nagt am Knochen.
Ich sage, Luis, du bist ein guter Hund.
Mein Neffe kann den Watzmann nicht finden, Die Fernbedienung fällt ihm aus der Hand.
Ich sage, der erste Teil der Watzmann-Serie ist langweilig gewesen.
Er sagt, Drehbuchschreiben müßte man können.
Ich sage, Luis Trenker hat auch Bücher geschrieben.
Mein Neffe sagt, eines muß man ihm lassen, schreiben konnte er.

Das Männlein bringt nochmal drei Würste.
Ich sage, so ist recht, jetzt geht die Zahl glatt auf.
Das Männlein lächelt und streicht sich eine Locke aus der Stirn.
Mein Neffe schaltet an der Fernbedienung herum.
Ich sage, die Rauschberg-Serie ist immer spannend.
Er sagt, er findet den Hauptdarsteller nicht gut.
Ich sage, es ist auch nicht einfach einen Berg zu spielen.
Er sagt, daß Buch ist besser als der Film.
Ich sage, der Film ist eine Hommage an Luis.
Der Hund unter der Bank nagt weiter am Knochen.
Mein Neffe sagt, der Watzmann zeigt Familienschicksal hautnah und beim Rauschberg ist immer nur der Hauptdarsteller im Bild.
Ich sage, der Hauptdarsteller hat Luis leider nicht mehr persönlich kennengelernt, weil er lange im Orient gelebt hat.
Ich sage, beim Watzmann werden die Bergfamilien bloß auf ihren Hütten gezeigt. Man sieht nur Innenaufnahmen.
Er sagt, daß dafür der Vor- und Nachspann im Freien spielt.
Das Männlein kommt abkassieren, weil der Hund mit dem Knochen fertig ist.
Er nimmt meinem Neffen die Fernbedienung aus der Hand.
Mein Neffe sagt, die Würste haben ihm geschmeckt.
Ich nehme den Fernseher über die Schulter und gehe voran.
Ich sage, der Watzmann, das ist der Abstieg.
Mein Neffe sagt, er kann nicht verstehen, warum der Empfang so schlecht war.
Ich sage, morgen gibt es Schnee.
Das Männlein schraubt die Holzbank ab.
Der Hund rührt sich nicht vom Fleck.
Mein Neffe sagt, Luis, komm Watzmann!

Silvester im Mezzogiorno (1991)

Über der Gasse kracht es, zuckt es.
22 Uhr. Detonationen zögern unsere Schritte hinaus. Auf der Hauptstraße ist Autostille. Kein Taxi fährt vorbei.
Unsere Blicke suchen schreckhaft die Bürgersteige ab.
Feuerwerkskörper explodieren. Die Uhren sind vorgestellt.
Vorneujahrlicher Kriegszustand.

An den Häusermauern gehen wir in Deckung. Dann tasten wir uns wieder zur Straße vor, spähen, lugen, bangen.
Ein Knallkörper schlägt dicht neben uns zu Boden. Vom Balkon gegenüber wird scharf geschossen. Wir werden angepeilt. Unser Fluch stärkt die Schützin, macht ihr Mut und uns Angst auf der menschenleeren Straße.
Wir kehren um, schleichen ins Haus, rufen ein Taxi durchs Telefon. Die Gasse ist eng, der Wagen wird nicht in den Hinterhof kommen. Wir müssen die beschossene Gasse zur Hauptstraße zurück, winken. Schritt für Schritt fußen wir voran, kauern wieder an der Mauer, halten Atem an und betreten die Straße.
Ein Auto macht sich breit, kein Taxi fährt vorbei, niemand holt uns. Es knallt. Schwefelnebel liegt über der Nachbarschaft und wird zu Kopfschmerz. Akustische Krater reißen ins Ohr, verhallen, wie Triangeln.
Sprengkörper schlagen die Alarmanlagen parkender Autos ein.
Die Sirenen mischen sich mit der Sprengwut.
Wir zucken zum Haus zurück.
Jetzt stehen Kinder im Hof und verbrennen Holz.
Ein Junge tritt Flammen mit Füßen.
Auf dem Asphalt raucht ein verendeter Kracher.
Der Himmel ist erleuchtet.
Die Zentrale meldet sich nicht mehr.

Wir äsen in der Wohnung, grasen die Küche nach Eßbarem ab. Die Party findet zu Hause statt. Spaghetti schlängeln sich durch Öl und Knoblauch.
Eine fettige Teigmasse, Menüverzicht. Ein Restposten Wein füllt zwei Gläser.

Wir öffnen die Balkontür über den Dächern der Stadt. Im Talkessel dampft es, knallt es.
Schwarzer Weihrauch steht jetzt im Raum.
Noch zwei Minuten bis Mitternacht.
Die Sprengungen erreichen ihren Höhepunkt.
Wir sehen die Dächer nicht mehr, nur einen unbestimmten Ascheschleier, der sich über den feierlichen Himmel spannt.
Reißende, zuckende, zischelnde Raketen platzen, Lichter zerstreuen sich, Bauten vibrieren unter der Hochspannung, in die grobes Zündwerk hineinwuchtet.
Schwefel, überall Schwefel, frohes Neujahrsgefecht.
Gequälter Nachthimmel, noch Stunden später.
Krachen im Kessel
Zerstörung total
Federvieh flieht.

Evchen (1992)

Früher dachte sie sich in andere Kinder hinein, die sie lieber gewesen wäre.
Sie fand, sie rede zu viel, obwohl sie eigentlich still war. Manchmal kam es in Sprechsalven aus ihr heraus und ihre Mutter sagte, sie solle sich wieder einkriegen.

Sie hätte gerne alles richtig gemacht. Aber oft machte sie Fehler. Sie nahm sich dann vor: Achtung, fertig, los, keine mehr zu machen. Nichts mehr zu sagen, daß andere die Augen verdrehen ließ, nicht mehr so schnell beleidigt zu sein und nicht mehr die Nase hochzuziehen. Sie stieg dann aufs Fahrrad und schaute an jeder Straßenecke übertrieben genau nach rechts und links und wieder rechts, auch wenn überhaupt kein Auto kam, weil überhaupt nicht viel Verkehr war, da wo sie wohnte.

Aber es dauerte nicht lange und sie machte wieder einen Fehler, zog die Nase hoch oder sagte etwas Falsches und dann fing sie wieder von vorne an und sagte sich halb im Stillen: Achtung fertig los und machte eine Faust, so fest sie konnte und alles sollte ihr gelingen. Ab jetzt, sagte sie dann, straffte ihren Körper und fand sich neu und voller Chancen nun perfekt zu werden.

Sie hatte viele Spielkameraden. Die dicke Doris, Axel mit dem Glanzbilderkoffer, die dreckigen Kinder und Uwe. Sein schmaler Kopf wackelte immer leicht hin und her, als wolle er nicht festsitzen auf dem mageren Hals. Er wohnte gleich an der Eisenbahnbrücke. Roller und Kettcars standen im Hof herum. Das war alles was sie von ihm wollte und es machte ihm nichts aus. Er lieh ihr seine Geräte und wenn er sprach, klang es, als käme er den Worten nicht nach und er hielt den Mund leicht aufgesperrt, die vollen Lippen wie zum ständigen Nachtrag bereit. Uwe überließ ihr dann das Feld und hielt sich mit seinem langen gekrümmten Rücken am Rande, als hätte er seine Kindheit an ein frühzeitiges Gebrechen verloren.

Die Italiengeschichte (1992)

Die Kühe haben ihre Fladen dort gelassen, wo die Fußspitzen hinzeigen. Leone lächelt und sagt nichts. Die schmalen Jeansbeine betonen die Verhaltenheit seiner Hüften, die in keine Taille münden. So gut ist Esthers Italienisch nicht, ihn darauf aufmerksam zu machen.

Im Wagen rutscht das Dach kleingefaltet hinter ihre Köpfe. Späte Sonne fließt wie geschmolzenes Kupfer, nur eine Brise blonder über die Sitze. In der Trattoria stehen die Türen offen. Esther wählt die Speisen nach dem Klang der Worte und nach Leones Gesten und der Mimik seines Kommentars. Er lacht über Esthers Kauderwelsch, und seine Augen funkeln braun, und es hängen Wimpern daran, die dunkel sind, dunkler als die Haut seiner hohen Stirn, die von buschigem Haar umkränzt wird. Seine Stimme könnte sie in jeden Schlaf singen und vor Alpträumen bewahren.

Sie hat seine Nase mit dem Knick schon näher kommen sehen und ihre kurze Nase daran gestoßen und den Abdruck seiner Lippen in ihr Bett nebenan getragen. Aber in seinem Arm kann sie nicht bleiben. Und er läßt sie nicht bloß von sich nippen. Nur ganz kann sie ihn haben, und das kann sie nicht, nicht im Herzen und nicht fern der Heimat. Wenn das Telefon für Esther klingelt, antwortet sie der Männerstimme, die in ihrem Ohr wohnt, entrückt, wie von fern, während Leone mit dem Geschirr in der Küche hantiert. Dann geht Esther schnell an ihm vorbei, denn ihr Gewissen reut die Worte, die tonlos durch die Muschel fielen.

Leone kocht, was er kann. Spaghetti. Er versteht das mit Esthers Gewissen. Wir können Freunde sein, sagt er mit einem Augenaufschlag und senkt seine Schelmenmiene über den Teller. Esther tut so, als wäre sie nie älter als fünf Jahre geworden. Sie mag Leones Schoß zum Draufsitzen, als Schemel, damit sie ihm besser im Gesicht herumfuchteln kann. Sein Körper ist so ein Ruhekissen, wenn Esther das Feuer auf Sparflamme hält. Sie weiß nicht, wo sie mit den großen Flammen hin soll, die ihr Mund entfacht hat und die sich über den Rücken hinabzüngeln. Esther windet sich im schmeichlerischen Atem und nimmt unvermittelt die Arme aus dem Spiel. Leone erhebt sich. Seine Stimme klingt offiziell. Er will sich nicht mehr begrabschen lassen, wenn Esther nicht die Reihenfolge einhalten kann. „Wir sind bloß Freunde“, sagt Leone zu seiner Kameradin. Der Bernhardiner wird zum Königspudel. Es müssen erst Stunden vergehen, und sie darf wieder nach seiner Pfote greifen.

Leones Wohnung ist eine Herberge. Esthers Zimmer ist auch Veras Zimmer. Die Schlafstellen sind die Raumteiler zweier Privatsphären, die sich an Kopf- und Fußende berühren. Die Kumpelin in Vera kommt mit allen Menschen zurecht. Sie packt das Leben an der Wurzel und steht kernig in breiten Hüften darin. Ihre ausgedehnten Wiener Vokale überziehen auch die italienischen Silben mit ihrer Herkunft. Geduldig schreibt sie Lektion für Lektion in ihr Heft. Sie will, so wie Esther, eine Sprache verstehen, die zu sprechen sie noch nicht gelernt hat. Vera weiß nicht, wie es um Esther steht. Leone ist das Geheimnis einer zufälligen Wohngemeinschaft, das Dach über dem Kopf, das Esther auf einem Adresszettel in die Hände fiel. Die Zeit schweißt Vera und Esther wie zu einer Dauerübernachtung zusammen. Doch nur flüchtig haben sich die Geschichten am Küchentisch zusammengeknüpft, scheinen die Gesichter zum Greifen nah, während Esther den Fernseher bei der Antenne packt, die zimperlich querschlägt.

Leones Freunde sind beiläufig hereingeschneit und im Sofa versunken. Auf dem Tisch liegt jetzt allerlei Lotteriespiel. Nummern werden aus einem Sack gezogen, und Erbsen markieren die Treffer auf den Zahlenbrettern. Leones Schenkel lassen sich von Esthers Schenkeln ansaugen und verharren. Über das Spielbrett gebeugt, berührt sein Atem ihre Wangen. Er ist das lautmalerische Echo der Gewinnzahlen, damit Esther kein Treffer entgeht. Sie steckt die gewonnenen Lire ein. Ihre Augen senken sich unterm Neonlicht. Auf der Hammondorgel läutet Leone die letzte schlafwandlerische Begegnung ein.

Esther liegt im dunklen Abteil zwischen dicken Männerleibern auf ihrer Pritsche. Lichtstreifen flutschen durch die Jalousie über Esthers Nachtatem. Ob er sie wiedersehen werde, wollte Leone wissen. Da hatte sie ihm die Monate vorgezählt, die Monate bis Klingglöckchen. Dann war er verschwunden, der Zug war noch nicht angefahren. Leone stand im Halteverbot und Esther wollte keinen Abschied, der sich zuwinkt bis zur Unkenntlichkeit.
Esther geht mit ihrem Beutel durch den Waggon. Sie blickt nüchtern in den Toilettenspiegel.
Die Lautsprecherstimme einer deutschen Station klingt wie der Widerhall ihrer Rückkehr.
Eine unbestimmte Freude lacht sie an.
Die Stunden der vorrückenden Landstriche sind gezählt.
Esthers Ankunft schließt die Gedächtnislücken.
Die Taschen auf der Ablage fallen ihr mit einem Satz entgegen.
Die Türen wollen aufgestoßen werden.
Der Körper, der ihr entgegenläuft, erscheint ihr plötzlich fremd und mager. Sie schaut durch das freundliche Gesicht hindurch und taucht ab in Bilder, die Leone ihr auf’s Auge gedrückt hat. Sommerbilder.
Auf dem Bahnsteig ist es längst Herbst.

Vita

Publikationen

Lyrik

Herausgeberinnenschaft

Stimmen zur Autorin und zu ihrem Salon

Zu: „Geflochtene Zeit“ (2004)

Ein Spatz, der als Nachtigall erscheint – Elisabeth Büning-Laube las im Frauenbuchladen

Mehr als sieben Jahre leitete Elisabeth Büning-Laube den Salon KunstLive, bevor sie eine schwere Erkrankung an dessen Fortführung hinderte. Wieder genesen, stellte Büning-Laube im Frauenbuchladen in der Blücherstraße ihren neuen Lyrikband „Geflochtene Zeit“ vor, in dem sie in einer klaren poetischen Sprache die Jahreszeiten und ihr bisheriges Leben in verdichteter Form Revue passieren ließ.

Michael Serrer vom Literaturbüro und der Verleger Georg Aehling würdigten das Schaffen Elisabeth Büning-Laubes und führten in den neuen, mit einem Vorwort von Wilhelm Gössmann versehenen Lyrikband ein. Viele Hörerinnen und Hörer waren gekommen, frühere Salonbesucher und Kollegen, die erstmals im Salon KunstLive lasen, um den Gedichten ihrer Mentorin zu lauschen.

Die stellte sich, erneut lebenslustig und in ihrer unkonventionellen Art, als „Spatz“ vor, der vom verstoßenen Brot lebt und nun in einem anderen Federkleid erscheint. Aus den vier großen Kapiteln des Bandes, den Jahreszeiten gemäß eingeteilt, trug die Dichterin Elisabeth Büning-Laube im Wechsel mit der Schauspielerin Miriam Wiesemann ihre Naturbeobachtungen vor, die auch ungewöhnliche Metaphern nicht scheuen. „Es liegt alles an der Verkündigung“, da nimmt es kein Wunder, dass die Naturbeobachtungen auch gesellschaftliche Fragen streifen.

Ansprechend ist die Metapher von der „geflochtenen Zeit“ („Es wird weiter Zeit geflochten,/ ehe unsere Zeit/ aus den vergangenen Zeiten/ erwacht“). Hier wird Zeit innegehalten, neu verwoben, und im Durchgang durch das eigene Ich belebt. Schier unerschöpflich ist die Fülle an Bildern und an verdichteten Erfahrungen, die sich in dem neuen Buch ausbreiten.

Aus dem Spatz wird schließlich eine Nachtigall, Nacht und Traum grundieren das Buch, in dem Töne von Traurigkeit und Melancholie angeschlagen werden, etwa wenn die Dichterin vorträgt: „Nacht, ich will nicht viel von dir./ Ein kleines Sternenzwinkern/ leichte, laue Luft in meinem Haar“. Dem Band beigegeben sind vier Collagen von Petra Ellert sowie eine Collage mit dem Bild der Dichterin. < Elisabeth Büning-Laube, Geflochtene Zeit, Edition XIM Virgines Düsseldorf, 12.- Euro.>

Wulf Noll in: Westdeutsche Zeitung,1. Oktober 2004.

Zu: „Bindestriche“ (2002)

Sebastian Bialas: Vorwort  in „Bindestriche“, o. S.

Kunst ist im Leben, ist wie ein Bindestrich. Der vorliegende Band Bindestriche enthält sechzig Gedichte und zwei Prosatexte der Düsseldorfer Autorin Elisabeth Büning-Laube. Aber das Buch ist nicht einfach eine Ansammlung verfasster Texte. Es sind lebendige Texte in einer bezaubernden Sprache, der etwas hinzugegeben wurde, das sich in ihnen entfaltet und Leben sucht.

Bei den Bindenstrichen handelt es sich um eine Schatzsuche, die unsere Wirklichkeit betrifft. Die Texte öffnen Räume, die voller Bilder stecken. Dies gelingt ihnen, weil sie kunstvoll anders sind als unser gemeinsames Denken in abstrakten Begriffen. Sie eröffnen den Weg zum Schatz tiefgehender Erfahrungen. Erfahrungen, die mitten im Alltag stehen und mit der Phantasie tanzen.

Es ist ein Buch, das seine Leser sucht, findet und sie in ihr Leben stellt. Insofern sind die Bindestriche eine bezaubernde Zumutung. Sie nehmen ihre Leser ernst und verbinden sie mit sich, und das heißt auch mit der Autorin. In ihnen finden sich Erfahrungen sensibel verdichtet, sie vermitteln Nähe und Wärme. Immer wieder das Ringen, das unser Leben durchzieht und mit Rätseln überschüttet, erfahrbar.

Diesem Ringen ist die wissende Sehnsucht um das Nahe und Ferne eigen. Das Nahe und Ferne berühren sich bevor sie sich scheinbar aufmachen, ihr Position wieder einzunehmen.

Elisabeth Büning-Laube trennt sich nicht von ihren Texten, sie ist in ihnen enthalten. Sie schickt ihre Texte auf die Reise und lässt sie ihre Leser finden. Ihre Worte führen uns in eine neue Wirklichkeit, die uns berührt, stärkt und zu Augenblicken verhelfen kann, die die Augen schärfen. Es sind Bilder, die zu leben beginnen.

In der Reihe KunstLive erscheint nach dem ersten Band der Autorin SpiegelSplitter nun diese Auswahl ihrer Gedichte und Prosatexte. Die Texte treten für dieses Buch in ein interessantes Gespräch mit Bildern der Künstlerin Gepa Klingmüller aus Köln.

Wer schon einmal den KunstLive-Salon von Elisabeth Büning-Laube besucht hat, weiß , wie es ist Kunst nicht nur zu hören, zu lesen, zu sehen, sondern sie zu erleben und zu erfahren. Die Bindestriche freuen sich auf ihre Leser und sind gespannt darauf, ob sie sich mit ihnen verbinden.

Zu: „SpiegelSplitter“ (2001)

Holger Ehlert: Vorwort in „SpiegelSplitter“, S. 6f.

[…] Neben Gedichten schreibt die Autorin eine empfindsame und gleichwohl den Alltag und die Menschen kritisch fokussierende Kurzprosa. Ihre Schaffensbreite umfasst jedoch keinesfalls das geschriebene Wort allein. Die Gestaltungskraft Elisabeth Büning-Laubes sucht und findet seit vielen Jahren ebenso ihren künstlerischen Ausdruck in der Aquarellmalerei.

Mit den SpiegelSplittern ermöglicht die in (Un)- Ruhestand lebende und arbeitende Düsseldorfer Autorin und Malerin vielschichtige Einblicke in ihre Lyrik und damit immer auch die Seelenzustände und Sichtweise der in der Öffentlichkeit stets extravaganten „behütet“ und von ihrer Monky „bedackelt“ auftretenden Elisabeth Büning-Laube.

Die achtundfünfzig vorgestellten Momentaufnahmen, poetische Daguerreotypien einer ratlosen Flaneurin mit Sinn für den Augenblick, sensualistisch und doch treffend prägnant, bestechend einvernehmlich durch ihre vordergründige Eindeutigkeit und Spontaneität als auch durch die hintergründige Tiefe der Bilder und Assoziationen.

Die Themenvielfalt der Verfasserin scheint unfassbar. Und doch zeichnen sich thematisch fünf Schwerpunkte der Büning-Laubeschen – in ihren Miniaturensplittern gespiegelten – Welt ab. Es sind die Menschen und Begegnungen mit diesen, die Natur aber auch die politische Auseinandersetzung sowie die Reflexion der eigenen Kriegserlebnisse und die Kritik an kriegerischen Auseinandersetzungen der Gegenwart. Und schließlich, doch sicher nicht letztlich, eine private Sehnsucht, deren Ziel es zu erlesen und nicht zu beschreiben gilt.

Ein Vorwort zu einer Veröffentlichung dieser Autorin wäre unvollständig, ohne auf die Saloniére Elisabeth Büning-Laube hinzuweisen. Seit 1995 betreibt sie getreu den großen und kleinen Vorbildern der deutsche Salonkultur des 18. und 19. Jahrhundert s in ihrer Derendorfer Privatwohnung mit großem Erfolg den Literatur- und Kunstsalon KunstLive e.V.

Künstlerinnen und Künstler verschiedenster Ausrichtung und ein interessantes Publikum pflegen dort ein regelmäßiges im privat- öffentlichen Kontext ein produktives kulturelles Miteinander.

Aus Anlass des Zusammenfallens des fünfjährigen Jubiläums von KunstLive mit dem Erscheinen dieses Buches schließt sich an den lyrischen Teil ein Nachwort von Georg Aehling unter dem Titel Renaissance oder Erneuerung der Salonkultur? an, in dem der Düsseldorfer Salon in einen historische Zusammenhang eingebunden wird. [...]

Größte Laus der lausigen Welt

„Lyrik macht auch Politik transparent“, sagte Heine-Kenner und tätiger Kunstsalon-Freund Wilhelm Gössmann, spielte damit auf aktuelle Ereignisse an. Er eröffnete die Lesung von Elisabeth Büning-Laube aus ihrem im Frühjahr bei XIM Virgines erschienenen Gedichtband „SpiegelSplitter“.

Das Schnabelewopski war gedrängt voll von jungen und alten Freundinnen und Freunden, denn die Autorin fördert seit fünf Jahren junge Künstler in ihrem privaten Derendorfer Salon. Sie hat den Pfad geebnet, den jetzt andere betreten wollen. Sie werden es schwer haben: Elisabeth Büning-Laube setzte Maßstäbe an Qualität und Selbstlosigkeit.

Die Fülle und Stille im Raum hatte die couragierte 65-Jährige, die man uneingeschränkt eine Dame nennen darf, wohl verdient. Die Lacher waren herzlich beim Gedicht von der Blattlaus, die von sich sagt: „Ich bin die größte Laus der lausigen Welt.“ Atemlose Nachdenklichkeit folgte dem Gedicht: „Nichts ist mehr, wie es war“. Beifall galt der Autorin und Marc Gurek, der moderne Klassik auf der Gitarre spielte.

Gerda Kaltwasser in: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 19.09.2001.

Die schöne Distel – Lesung mit Elisabeth Büning-Laube

Das Publikum, das sonst in den Salon „KulturLive“ strömt, in dem Elisabeth Büning-Laube Menschen und Künstler aller Richtungen zusammenführt, kam diesmal ins Literaturcafé Schnabelewopski, um der Lesung der zierlichen älteren Dame mit den flammend roten Haaren zu lauschen. Sie las Gedichte aus „SpiegelSplitter“, neueste Lyrik und die Erzählung „Das Gesicht“.

Wilhelm Gössmann, der in die Veranstaltung einführte, meinte, Lyrik sei einfach schön, aber lässt doch ein Transparent-Werden von Lebensformen und politischen Dimensionen zu. Wenn in einer Stadt, von der Büning-Laube schreibt, dass sie unbeschreiblich leer und tot sei, „eine Distel verschämt neues Leben verkündet“, erinnere das an die Droste. Die Dame im (Un-)Ruhestand, die rastlose Flaneurin, sei gewissermaßen selbst die „schöne Distel“ in dieser Stadt, fraglos ein Kompliment.

Der Satz Heines aus der „Lutetia“, dass die Vergeltungstheorie eigentlich ausgedient habe, macht sich auch Büning-Laube zu eigen, wenn sie in „Nichts ist mehr“ davon spricht, dass der Nachbar, der eben noch unser Freund war, jetzt als Schwarzer, Türke oder Jude ausgegrenzt wird. In ihren vorsichtigen, kurzen Texten thematisiert sie drohendes Unheil. „Am Rand der Welt / von Raketen bewacht / steht der letzte grüne Baum der Erde.“

Doch Büning-Laube spricht auch von Hoffnung, von Begegnungen mit Menschen, von Liebe, Natur und Zeitereignissen, die das Licht des Wortes verdunkeln, aber nicht löschen können. Ihre Lyrik und Prosa lässt sich auf Mitfühlen und Mitleiden ein. In „Das Gesicht“ berichtet sie von der Begegnung einer jüngeren Frau mit einer älteren. Von einem Bild am Fenster ausgelöst, bleibt die Beziehung lange Zeit nur visuell, beschränkt auf Gebärdensprache und auf Zeichen. Als die junge Frau endlich den Besuch bei der alten wagt, findet sie diese fiebernd auf dem Fußboden vor. Unterschwellig drückt Büning-Laube, die selbst als Waise aufwuchs, hier eine Mutter-Tochter-Beziehung aus, wenn auch verwandelt. […]

Wulf Noll in: Westdeutsche Zeitung. Düsseldorfer Kultur, 21.09.2001.

Neue Literatur aus dem geschichtsträchtigen Immermann-Salon. Für junge Autoren: Digitale Buchreihe

Literatur hat Konjunktur, trotz der oder vielleicht durch die sich atemberaubend ausbreitenden elektronischen Kommunikationsmittel. Beim Bücherbummel im Juni hatte die hiesige Lyrikerin, Malerin und Gastgeberin eines musischen Salons Elisabeth Büning-Laube noch einen Verleger für ein digitales Verlagsprojekt gesucht, das jungen Autoren helfen sollte. Da hat sie ihn denn auch gleich in dem Düsseldorfer Georg Aehling gefunden.

Gestern stellten die Düsseldorfer Autorin Elisabeth Hoheisel und der Berliner Lyriker Titus Müller die ersten Bücher der Reihe „KunstLive“ vor, herausgegeben von Elisabeth Büning-Laube, verlegt von Georg Aehling, Einheitspreis 25 Mark, mit Chansons bedacht von Martine Pruvost-Voss.

Die Büningsche Adresse Collenbachstraße 2, Treffpunkt einer treuen Salon-Gemeinde, hat übrigens eine einschlägige Geschichte, die Aehling im Nachwort zum Hoheisel-Buch schildert. Hier wohnte zwischen 1830 und 1839 Karl Leberecht Immermann, Dichter und Begründer der ersten Düsseldorfer Reformbühne, mit seiner Lebensgefährtin Elisa Gräfin von Ahlefeldt. Der Salon der Beiden entwickelte sich zu einer kleinen Republik der Freiheit des Geistes und der Künste im biedermeierlichen Düsseldorf.

Gute Voraussetzungen also für das Projekt des Jahres 2000. Und viel Lesevergnügen gleich zum Auftakt mit Hoheisels Prosatexten unter dem Titel „Hebels Strategie“ – Illustrationen von der Autorin – und mit den frechen Gedichten von Titus Müller, der seine Freundin Sybille Schäfer die Sammlung „Sturmtag“ illustrieren ließ.

Gerda Kaltwasser in: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 14. September 2000.

Vita

Auszeichnungen

Publikationen

Prosa

Lyrik

Dramentexte

Sachbuch

Beiträge in Anthologien (Auswahl):

Mit-/Herausgeberschaft:

Übersetzungen/ Überarbeitungen

Pressestimmen

Zum Tod von Astrid Gehlhoff-Claes

Lyrikerin Astrid Gehlhoff-Claes gestorben

Wie erst jetzt bekannt wurde, ist am 1. Dezember 2011 die Lyrikerin und Übersetzerin Astrid Gehlhoff-Claes 83-jährig in einem Düsseldorfer Pflegeheim gestorben. Sie hatte 1953 mit einer Arbeit über Gottfried Benn promoviert und wurde von ihm in ihren frühen Jahren als Lyrikerin gefördert. Ihr Briefwechsel mit dem Dichter erschien 2001, zwei Jahre später wurde auch ihre Dissertation erstmals veröffentlicht. Neben zahlreichen Lyrikbänden erschienen 2002 autobiografische Aufzeichnungen unter dem Titel «Inseln der Erinnerung». Astrid Gehlhoff-Claes war die Mutter der Schriftstellerin Undine Gruenter.

In: Neue Zürcher Zeitung, 21.01.2012.

Trauer um Dichterin Astrid Gehlhoff-Claes

Spaziergänger in den Rheinwiesen von Oberkassel werden die kleine, zarte Frau noch gut in Erinnerung haben. Wie sie mit ihrem geliebten Hund Noah spazieren ging, einem reinrassigen „Cavalier King Charles“, der sie überallhin begleitete – zu all ihren Lesungen, auf Reisen, oft nach Rom. Astrid Gehlhoff-Claes war eine eigensinnige, feinnervige, beeindruckende Erscheinung – in ihrer Dichtung wie in ihrem Leben. Wie erst jetzt bekannt wurde, ist die Lyrikerin bereits am 1. Dezember 83-jährig in einem Pflegeheim gestorben.

Wer an Astrid Gehlhoff-Claes denkt, muss sogleich an Gottfried Benn denken. Das ist ungerecht gegenüber dem sehr eigenständigen Werk der Lyrikerin; aber diese Beziehung ist eben auch ein Markstein ihrer literarischen Entwicklung. Als erste in Deutschland hatte Gehlhoff-Claes über Benns Sprachstil promoviert. Der Dichter suchte die Nähe der jungen Forscherin, las ihre Gedichte und geriet in Verzückung. „Ich wollte, es wäre von mir“, urteilte er ziemlich pompös über eins ihrer Gedichte. Man ahnt, dass nicht nur die Verse Benn verzückten. Nachzulesen ist das in dem wunderbaren Briefwechsel der beiden, der nach rechtlichen Streitereien erst vor knapp zehn Jahren erscheinen konnte. Benn hat ums „Liebe Kindchen“ geworben; die Angebetete wusste sich mit allerlei Ausreden dem zu entziehen. Häufig dienten dazu Unfälle und Krankheiten. Darauf Benn in einem Brief: „Ihnen passiert viel, finde ich ... Ich erlaube mir, über Ihre kranken Stellen zu streicheln.“

Die Gedichte hatten die Lobeshymnen von Benn („verblüffend“, „unvergleichlich“, „wunderbar“) nicht unbedingt nötig; aber sie verhalfen ihnen natürlich dazu, weithin gehört zu werden – wie „Der Delphin“, eine Metapher der Glückssuche und zugleich Zeichen der Unerreichbarkeit. Benn hat Gehlhoff-Claes einmal gefragt, warum sie einsam sei. Als die Angesprochene sich ertappt zeigte, fügte er hinzu: „Gedichte, wie Sie sie mir schickten, entstehen anders nicht.“

Astrid Gehlhoff-Claes, die 2003 für ihr Gesamtwerk mit der Trude-Droste-Gabe (10 000 Euro) geehrt wurde, ließ viele an ihrer Dichtkunst teilhaben, auch Gefangene, denen sie regelmäßig vorlas. In ihrer Autobiografie „Inseln der Erinnerung“ erzählt sie auch von ihrem einzigen Treffen mit Benn. Am Ende des Kapitels dann der verblüffende Satz: „Die Erde war schön.“

Lothar Schröder in: rp-online, 8.01.2012.

Zu: Inseln der Erinnerung (2002)

„Mir ist, als löse der Himmel über dir sich auf in ein Meer von Malven, die auf den Türmen, auf den Bäumen liegen bleiben, was ein Stück Erde selbst zum Himmel macht.“

Bäume als Vorbilder. Das Dasein der Straße als lebenswichtig. Kirchen als Oasen des Friedens.

Astrid Gehlhoff-Claes erzählt von den Inseln ihres Lebens, an denen sie noch heute gerne strandet. Denn ein solches Stückchen Festland im Meer der Einsamkeit spendet Trost, gibt Hoffnung. Hoffnungen, die „wie Vögel sind, die das Ankommen kennen: du lebst.“

In kurzen Episoden beschreibt die Autorin Stationen der Vergangenheit. Sie erzählt von ihrer Traumstraße, die ihr Kraft gibt. Von Sankt Gereon, wo das Leben die alltägliche Dunkelheit verliert. Und von ihren Lesungen im Gefängnis, deren Inhaftierte versuchen, das Draußen zu bestehen.

Sie führt den Leser ein in ihre Welt. Mit beschwingten Worten. Verständlich, denn die „Poesie“ bringt „die Momente“ schließlich „zum Leben“.

So beschreibt sie Empfindungen, erzählt von Orten und Menschen, die in ihrem Leben einen Sinn machen. Sie nennt die Begegnung mit Gottfried Benn. Der große Dichter. Und sie. In einem Schlosspark, damals, als er noch nichts von ihr weiß, als er herausfindet, dass sie einsam ist. Er gibt ihr Selbstvertrauen, stärkt ihren Mut zum Schreiben.

Die Einsamkeit. Sie schwindet bei Gelhoff-Claes überhaupt nur „auf dem Weg in die Natur“. Und so spricht sie passagenlang über Bäume und wie sich deren einzelne Blätter im Takt des Windes bewegen oder wie sie in einem anderen Licht aussehen.

Ebenso hält es die Autorin es mit anderen Pflanzen, zuweilen auch mit Gebäuden. Sie langweilt mit daten-faktischen Einzelheiten einer Kirchturmglocke. Mit überflüssigen, weil wenig fesselnden, geschichtlichen Einzelheiten über ein Schloss.

Die Autorin verliert sich in zunächst interessanten und mitreißenden Beschreibungen. Doch spätestens nach der Erzählung über ihre tief emotionale Bindung zu Zypressen möchte man von Pinien nichts mehr hören.

Ihr Werk gibt zum Erforschen ihrer Psyche Anlass. „Inseln der Erinnerungen“, oft als Autobiographie klassifiziert, erscheint an manchen Stellen mehr wie ein Reiseführer, wie ein Sachbuch über Flora und Fauna. Immer wieder bleibt die Autorin unkonkret. Nur ansatzweise erfährt man etwas über den Ursprung ihres Leids, ihrer Einsamkeit. Sie scheint unfähig, ihrem Ärger und der Wut Raum zu geben. Sie verlor Freunde, weil sie immer im Sinne ihres Vaters handelte. Doch: kein Wort davon, wie sich das anfühlt. Sie verliert ihre Tochter an die Schwiegermutter. Und wieder: keine greifbare Äußerung über den Schmerz.

Lediglich das Kapitel „Freundschaft in Paris“ offenbart, dass „sie schreit“. Doch zu leise, im Ganzen ist dieser Satz nur eine leichte fallende Feder, die man am Ende überhört. Sie bevorzugt mit ihrem Hund zu plaudern, oft weiß sie nicht mal Namen der Menschen, die um sie herum und mit ihr leben. Wohl aber die der Haustiere jedes Einzelnen. Vielleicht hat sie Angst vor Voyeurismus. Die Möglichkeit, der Leser könne als Beobachter ihrer Seele agieren, scheint sie zu behindern.

Und so bleibt es dabei, dass nicht nur Benn - wenn auch nur zu Anfang - nichts von ihr weiß. Auch der Leser ist weitestgehend von ihrem Leben ausgeschlossen.

Bemerkenswert sind ihre Worte, die in Erinnerung bleiben. Vielleicht ist das jedoch die einzige Insel, auf der der Leser strandet: „Ihr wisst nur von meinen leichten Tagen,/ doch die dunkeln habt ihr nicht gezählt.“

So erklärt sie sich in ihrem Gedicht „Der Delphin“ - und ahnt vielleicht nicht, wie Recht sie hat, liest man ihr Werk. Schöne Wort alleine genügen eben nicht immer

Nadine Gottschling in: literaturkritik.de, Nr. 6, Juni 2003.

Fünf weitere Pressestimmen zu diesem Buch finden sich auf den Seiten des Grupello Verlags: www.grupello.de/verlag/autoren

Zu: Der lyrische Sprachstil Gottfried Benns (1953/ 2003)

Wo kommen eigentlich Paradigmen her? Anmerkungen zu Astrid Gehlhoff-Claes' Dissertation „Der lyrische Sprachstil Gottfried Benns“

Wieso erscheint eine Dissertation 50 Jahre nach ihrer Annahme? Diese Frage lässt sich in zweierlei Hinsicht beantworten. Zum einen, weil sie bis heute gültige Ergebnisse liefert, die die Forschung - so die der Publikation zu Grunde gelegte Erwartung - auch noch im Nachhinein nachhaltig befruchten kann. Zum anderen, weil sie wissenschaftsgeschichtliche Relevanz besitzt.

Der Verlag ging wohl von Ersterem aus, zumal es im Klappentext heißt, die Dissertation sei „eine kleine literaturwissenschaftliche Sensation“, die „dabei zu noch heute gültigen Ergebnissen gelangt“. Schon in der der Dissertation vorgeschobenen persönlichen Stellungnahme der Autorin, die in der Art eines imaginierten Briefes an den bereits fast 50 Jahre verstorbenen Dichter Gottfried Benn gerichtet ist, kommen dem unvoreingenommenen und bislang noch geneigten Leser angesichts solcher Euphemismen erste Zweifel. Zu sehr wird Benn als Person und Autor von der Autorin für ihr eigenes Leben vereinnahmt: „Schmerz wird [von Benn] als Privileg, als Mitgift der dichterischen Berufung aufgefaßt. Das war meine Brücke, mein Band; in meinem dunklen Leben damals meine Traumnahrung. Ich schrieb schon selbst Gedichte, und meine lyrischen Motive waren oft Ihren gleich: die Natur - Blumen, Bäume, Vögel -, Schreiben und Einsamkeit.“

Auch die Zielsetzung und das eigene Vorgehen muten wissenschaftlich so gar nicht gegenwärtig an, da die Dissertation den heutigen Standards einfach nicht genügt - etwa wenn davon die Rede ist, dass „das Gesetz der stilistischen Phänomene einer Dichtersprache dadurch zu finden [sei], daß wir die Verknüpfung von Ausdruck und Wesen des Dichters zu erkennen suchen“, weshalb Gehlhoff-Claes vorschlägt, „die Kenntnis der Dichterpsyche gerade als Mittel für eine exakte Deutung der einzelnen Stilmerkmale“ einzusetzen, indem die Prosa, „vor allem de[r] selbstbiographische Roman Doppellebe“" zur maßgeblichen Bezugsgröße erhoben wird - ohne die genauen Maßgaben für dieses doch recht problematische Vorgehen offen zu legen. Nicht nur der biografistisch-psychologistische Zugang zum Œuvre Benns, auch die naive Ineinssetzung von Werk und Dichterleben müsste sich vor der Folie der heutigen Praxis einige Kritik gefallen lassen.

Die textimmanent betriebene Stilforschung, abgelöst von detaillierten Einzelinterpretationen oder systematischen poetologischen Fragestellungen gibt sich, auch wo sie wertend sein will, überwiegend mit der Deskription der Sprachverwendung Benns zufrieden, da es ein Textäußeres nicht zu geben scheint, und nimmt sich - vor allem im Rahmen der Untersuchung Benn‘scher Zentralworte - eher aus wie eine kommentierte Wortkonkordanz. Auch kommt die Autorin oftmals zu apodiktischen, für den Leser nicht ganz nachvollziehbaren Deutungen. So wird etwa der Fremd- und Fachwortgebrauch Benns als elitistische Absicht des Autors gedeutet, als ein Sich-Abschließen vor den Lektüren ungebildeter Leser. Der Effekt, den Benns Texte womöglich hatten und der intendierte und bewusste Wille, einen Elitismus zu pflegen, gehen jedoch von zwei verschiedenen Prämissen aus und lassen sich ohne plausible Beweisführung nicht ohne Weiteres gleichsetzen. Eine These also, die sich wahrscheinlich weder aus dem Text, noch durch autobiografisches Material wirklich beweisen ließe und von der Autorin auch nicht belegt wird.

Die Relevanz der Studie für die gegenwärtige Forschung muss vor diesem Hintergrund folglich leider bezweifelt werden. Als erste Dissertation zum lyrischen Werk Benns, die noch zu Lebzeiten des Autors fertiggestellt wurde, besitzt die Arbeit aber tatsächlich eine wissenschaftsgeschichtlich interessante Dimension. Die in der Tradition der stilgeschichtlichen Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg stehende Studie veranschaulicht die literaturwissenschaftliche Arbeitsweise eines textimmanenten Verstehens à la Spitzer, Staiger, Kayser oder Walzel und macht Forschungsinteresse sowie methodisches Vorgehen dieser Zeit anschaulich. Vor diesem Hintergrund ist sie sicherlich ein wichtiges Zeugnis für die Geschichte unseres Fachs. Mitunter ließen sich Traditionsspuren, gerade in der Benn-Forschung, auch für nachfolgende Arbeiten zumindest bis in die späten 80er Jahre nachweisen, die oftmals ein ähnliches methodisches Vorgehen an den Tag legten, dem Paradigma der textimmanenten Methode folgten und sich erst langsam für den Methodenwandel in der Literaturwissenschaft öffneten - ein Indiz dafür, wie lange die Erschließung des Benn‘schen Œuvres auf die ihr eigene Tradition rekurrierte.

Warum also eine Veröffentlichung nach 50 Jahren? Der Blick auf die letzte Seite des Buches lässt ferner eine dritte, paratextuelle Antwort auf die eingangs gestellte Frage zu: Die Dissertation als Stilisierungs- und Werbefläche für die eigene 2002 erschienene Autobiografie? Der hier abgedruckte Werbetext - eine Besprechung von Florian Illies in der FAZ - für den hier „ein spätes Selbstportrait der Autorin als junger, aufmüpfiger Dichterin“ vorliegt -, sowie der vom Verlag gesetzte Hinweis auf die eigene Homepage, von wo aus eine „Leseprobe“ und eine „versandkostenfreie Bestellung“ des Werks möglich ist, lässt den Leser eine solche Vermutung zumindest kurz in Erwägung ziehen

Carolina Kapraun in: literaturkritik.de, Nr. 7, Juli 2006

Drei weitere Pressestimmen zu diesem Buch finden sich auf den Seiten des Grupello Verlags: www.grupello.de/verlag/autoren/

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Nachruf: Das Leben der Literatur gewidmet

Lore Schaumann hatte Gesang studiert und Philosophie, in Wien und in Cambridge; aber dann widmete sie ihr Leben der Literatur. Zuerst arbeitete die vor 92 Jahren in Siegen geborene Lore Schaumann als Bibliothekarin, dann als freie Kritikerin – für das ZDF, auch für die „Rheinische Post“. Ihre Porträts von Autoren wie Dieter Forte, Rose Ausländer, Kay und Lore Lorentz, Käte Reiter oder Niklas Stiller stammen aus den 70er und 80 Jahren und sind bis heute lesenswert geblieben: prägnant, anschaulich, kenntnisreich, unbestechlich.

Nicht nur die Redakteure und die Leser schätzten sie sehr, auch die Autoren, denn sie war eine engagierte Begleiterin vieler Schriftstellertalente. Rolfrafael Schröer holte sie deshalb als Kollegin in das von ihm gegründete Literaturbüro NRW; in den folgenden sechs Jahren bis zu ihrem krankheitsbedingten Ausscheiden war sie vielen Ratsuchenden, die sich von ihr literarisch erkannt wussten, eine kaum zu überschätzende Hilfe.

Menschen, die sie in den vergangenen 15 Jahren begleiteten, berichteten immer wieder über die Freude, diese große Fördererin der rheinischen Literatur in ihrer Wohnung in der Zietenstraße zu besuchen, und gingen nie fort, ohne klüger geworden zu sein. Vor acht Jahren wurde Lore Schaumann für ihre Verdienste schließlich mit der Trude-Droste-Gabe geehrt.

Es sind diese und viele weitere Gründe, weshalb Lore Schaumann in der Düsseldorfer Kultur - und vor allem in der Literaturszene unvergessen bleiben wird.

Michael Serrer in: nachrichten.rp-online.de/regional, 7.09.2012.

Matinee zu Ehren von Lore Schaumann

Lore Schaumann, als Journalistin eine Muttergestalt der Düsseldorfer Literaturszene, ist am 3. April 90 Jahre alt geworden. Geistige Adoptivkinder, Zeitgenossen, Mitstreiter, Kollegen, Schüler, Germanisten, Dichter, ihr früherer Feuilletonchef und viele mehr, die in Jahrzehnten die runde Frau, die spitze Nase, den scharfen Verstand, das tiefe Mitgefühl, die Sachlichkeit, den poetischen Stil des Schreibens nicht nur respektieren, sondern auch lieben und bewundern gelernt haben, trafen sich nun im Heine-Institut zur Geburtstagsfeier – leider in Abwesenheit der gebrechlichen Geehrten. Ein Blumenstrauß wird ihr von der Lyrikerin Käte Reiter überbracht, ein Video wird ihr zeigen, wer alles da war und sie lobte.

Dass Journalismus nicht nur das Werk von Eintagsfliegen fürs Tagblatt ist, sondern bei Kulturgeschichte und deren Fortwirkung auf Dauer mitstrickt, ja fördernd wirkt – den Sinn für diese merkwürdige Kontinuität hat Düsseldorf auch Lore Schaumann zu danken. Die Rheinische Post dankt ebenso gern. Geduld und Sensibilität strahlen aus ihren Artikeln bis heute. Als es damals weder Fax noch E-Mail gab, überbrachte sie der Redaktion persönlich – wie alle Mitarbeiter damals – ihre mit Schreibmaschine getippten und mit handschriftlichen Korrekturen geschmückten Papiere. Man traf sich in den Büros.

Lore Schaumann durfte an die Seelen ihrer Freundinnen und Freunde tasten. „Düsseldorf schreibt“ Unter diesem Titel hat sie beim Triltsch Verlag 1974 zunächst 44 Porträts Düsseldorfer Autorinnen und Autoren veröffentlicht und 1981 weitere 22. Von den 66 Exponenten damals sind viele tot, aber beileibe nicht alle. Die meisten sind gar nicht in Düsseldorf geboren. Die Stadt übte magnetische Wirkung auf kulturelle Einwanderer aus. Schaumann hat dies früh begleitet und gefördert.

Die Gäste bei der Matinee im Heine-Institut sind gerührt. Zum Beispiel liest Kay Lorentz vom „Kom(m)ödchen“ das Porträt seiner Eltern vor. „Warum dieser in der Fremde so hoch geachtete Sohn der Stadt von ihr selbst so konsequent vernachlässigt wird“ – die Frage, die Lore Schaumann 1977 stellte, war nicht auf Heinrich Heine gemünzt, sondern bezog sich auf Dieter Forte. Wie sie irrte und wie sie Recht behielt, dass ist eine der spannenden Fragen zum 90. Geburtstag.

Werner Schwerter in: Rheinische Post, 13.04.2010.

Schreiben, handeln mit Hirn und klarem Witz: Freundin der Autoren: Lore Schaumann wird 80

„Was, 80 werden Sie? Das sieht man Ihnen aber nicht an.“ Solche Floskeln verbieten sich bei Lore Schaumann. Sie ist bekennende, aber keineswegs kokettierende Achtzigerin. Wie kann das anders sein bei einer Frau, die mit einer Krankheit geschlagen ist, bei der das tägliche kleine Elend den großen Weltschmerz mühelos verdrängt. Da ist es kein Trost, dass es eine Krankheit von Berühmten in aller Welt ist. Soviel und nicht mehr davon.

Zu feiern ist eine Frau, die schreibend die Fürsprecherin, nein die Fürschreiberin vieler Schriftsteller-Talente in Düsseldorf gewesen ist, zunächst als Literatur und Theaterkritikerin der Rheinischen Post, dann als Mitbegründerin und verlässliche Partnerin Rolfrafael Schröers im Düsseldorfer Literaturbüro, inzwischen Literaturbüro NRW. Versteht sich, dass es – wie der Schriftstellerverband und das Heine-Institut – Mitveranstalter einer Geburtstagsfeier am 2. April ab 11 Uhr im Heinrich-Heine-Institut ist.

Lore Schaumann hat übrigens am 3. April Geburtstag. Abergläubisch ist sie also nicht; sonst hätte sie die Gratulationscour einen Tag vorher nicht zugelassen. Da passt auch gleich eine Erinnerung aus dem RP-Haus ins Bild, ehe die eigentliche Würdigung ihres Wirkens folgt: Lore Schaumann bekam von der Feuilletonredaktion den Auftrag, über einen Vortrag Erich von Dänikens zu berichten.

Kritisches Wohlwollen

Der hat uns, das muss man jüngeren Lesern erklären, in den siebziger Jahren die Existenz von außerirdischen Wesen und deren Landungen aus dem Weltall, etwa auf dem südamerikanischen Kontinent, beweisen wollen. Für Lore Schaumann war das nicht etwa eine Lachnummer, sondern die Aufgabe, ernsthaft, aber mit Ironie gepaart, über Dänikens Ausführungen zu berichten. Körbeweise mussten wütende Leserbriefe auf die Redaktionstische gekippt werden.

Geboren 1920 in der Rubens-Stadt Siegen im südlichen Westfalen, war sie früh allem Schönen mit jener Ernsthaftigkeit zugeneigt, die ihr hin und wieder das Verständnis für spielerische Dekadenz, wie wir sie im Theater der siebziger Jahre und auch heute noch bejubeln, schwer machten.

Schwere Treppen nie gescheut

Aber genau dieser Ernst, diese ungeheuchelte Aufmerksamkeit, ein Wohlwollen, das nie unkritisch war, machte sie zum Wegweiser, zur verlässlichen Begleiterin junger und auch nicht mehr ganz junger Autorinnen oder Autoren; ihnen sind die Gespräche im Literaturbüro damals an der Bilker Straße, nach Erklettern einer furchterregend knarrenden Treppe, für immer unvergessen. Zweimal veröffentlichte sie unter dem Titel „Düsseldorf schreibt“ Autorenporträts in Buchform, einmal stellte sie 44, danach 22 vor; 22 nur aus Platznot, nicht wegen Mangels an Talenten.

Daran hat sich bis heute nichts geändert. So ist es nur einleuchtend, dass Alla Pfeffer, seit vorigem Herbst an der Spitze des Bezirksverbandes Düsseldorf/Neuss im Verband deutscher Schriftsteller (VS), zur Geburtstagsfeier für Lore Schaumann den Nachwuchs lesen lässt: Pamela Granderath, Peter Philipp, Regina Ray. Auch Otto Vohwinkel liest und Jens Prüss, einst selbst leitender Literaturbürokrat, liest einen Text von Lore Schaumann. Das Schönste aber: Lore Schaumann will kommen, und wir Geburtstagsgäste werden noch eine neue musische Seite von ihr entdecken können, die der ausgebildeten Liedsängerin mit einer Einspielung von Brahms-Liedern.

Gerda Kaltwasser: In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 30.03.2000.

Eine neutrale Instanz für Selbstverleger: Literaturbüro Düsseldorf

Sie wollen weder „literarische Übereltern des Landes“ noch Beamte sein und nennen sich ironisch distanziert „Literaturbürokraten". Seit nunmehr drei Jahren leiten die Kulturjournalistin Lore Schaumann und der Lyriker Rolfrafael Schröer eine Einrichtung, die zum vielgelobten Modell wurde: das erste Literaturbüro der Bundesrepublik, zunächst nur als Projekt für die Stadt Düsseldorf konzipiert, seit einem Jahr von einem Verein getragen und für ganz Nordrhein Westfalen zuständig. Ob das erfolgreiche Modell ohne Abstriche auf das Land zu erweitern ist, ist jedoch noch immer zweifelhaft „Was wir für Dusseldorf gemacht haben, kann man in der bisherigen Form nicht aufs ganze Land übertragen", glauben die beiden engagierten Literaturbürokraten.

Landesweit kaum zu realisieren sind etwa die engen Kontakte zu öffentlichen Institutionen, durch die mittlerweile einige hundert Autorenlesungen ermöglicht wurden. Allein in den beiden ersten Jahren seines Bestehens vermittelte das von Stadt und Land unterstützte Büro mehr als 400 Lesungen, in Schulen wie in Museen, in Behinderteneinrichtungen und Betrieben, in Kneipen und in der Psychiatrie, wo auch das gelang: über die Auseinandersetzung mit Literatur einige der sonst Sprachlosen zum Sprechen zu bringen.

„Eine therapeutische Situation" erleben die beiden Literaturvermittler nicht selten auch in ihrem Büro am Rand der Düsseldorfer Altstadt „Sehr oft kommen Besucher und sagen uns: Sie sind der erste, der mir zuhört Doch auch aggressivere Szenen entstehen, denn: „Wir haben die Eitelkeit der Leute unterschätzt", bekennen Lore Schaumann und Rolfrafael Schröer und beobachten bei nicht wenigen Schreibern „einen völligen Mangel an Selbstkritik Und je mäßiger die Sachen geschrieben sind, desto wütender halten die Leute daran fest".

Entsprechend häufig müssen Illusionen geraubt werden. Zum Beispiel dann, wenn Besucher im Verlauf des Gesprächs stolz ein Buch aus der Tasche hervorziehen, das sie in einem sogenannten Selbstkostenverlag veröffentlichten - gegen erhebliche Kostenbeteiligung. 10 000 Mark zahlte etwa ein Pensionär, um seine Gedichte schließlich in einem schmalen und schlecht gedruckten Bändchen verewigt zu sehen: „Ich möchte doch, daß etwas von mir bleibt. Daß sein Werk kaum Ewigkeitswert erlangen und außer bei Verwandten und Bekannten wenig Abnehmer finden wird, scheint ihn und viele andere von kostspieligen Investitionen nicht abzuhalten: Immerhin kommt etwa jeder vierte Ratsuchende mit einem selbstbezahlten Buch ins Literaturbüro. Dort versucht man dann, ihm auszureden, daß seine lyrischen Ergüsse Literatur sind - „wobei wir ja irren können". Und über Umwege ist manchmal doch noch eine Entdeckung zu machen. So erwies sich der Pensionär, der so gern Lyriker sein wollte, als spannender Erzähler.

Für die zeitaufwendige Entdeckung und Förderung von Talenten bleibt dem Literaturbüro jedoch immer weniger Raum. Auf Wunsch des Kultusministeriums soll es hier kein Vorlektorat mehr geben, die Lektoratsarbeit möglichst wegfallen. Doch gerade in diesem Bereich hegt die besondere Aufgabe des Büros für neue Autoren „Wir werden von ihnen als neutrale Instanz angesehen, weil wir weder als Volkshochschule noch als Literaturwerkstatt auftreten. Sie sitzen hier als Einzelperson und werden als solche ernstgenommen“. Und anders als bei vielen Verlagen werden die Texte auch nicht gleich mit Blick auf eventuelle Marktchancen gelesen „Wir wehren uns gegen jede Art von Trendsetterei“

Hunderte von Manuskripten haben Lore Schaumann und Rolfrafael Schröer in den letzten drei Jahren gelesen und später mit den Autoren besprochen. Weil sie die Manuskript Flut nicht mehr bewältigen konnten, haben sie ihre Sprechtage jetzt neu strukturiert. Der Autor liest aus seinem Text vor, gleich anschließend wird darüber diskutiert.

Die Sicherung von literarischen Nachlässen gehört ebenso wie die Herstellung von Kontakten zu Verlagen und Sendeanstalten oder die Vorstellung von Autoren im Literaturtelefon zu den Aufgaben des Literaturbüros. Es setzt sich zwar als Verein für die Interessen von Autoren ein, aber will doch kein Interessenverband für Schriftsteller oder eine Alternative zu bestehenden Verbänden sein. Ihre erfolgreiche Vermittlungsarbeit für die Düsseldorfer Autoren müssen die beiden Vereinsangestellten nun allerdings einschränken: „Wir müssen versuchen, überall im Land ein Bein zwischen die Tür zu kriegen und eine Situation zu schaffen, die sich der in Düsseldorf angleicht Eines ist schon jetzt sicher: „Wir wollen auch in Zukunft nicht nur Informationsstelle sein.“

Raimund Hoghe in: Die Zeit, 27.05.1983.

Die Freundin der Autoren (1975)

[…] Im Eckzimmer der Erdgeschoßwohnung sitzen wir uns gegenüber und haben vertauschte Rollen vereinbart. Von Januar 1973 bis Januar 1975 hat Lore Schaumann - in alphabetischer Reihenfolge - die in Düsseldorf ansässigen Autoren befragt -: von Ausländer bis Zeller. Zum erstenmal überhaupt hat sie in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt eine gewachsene literarische Szene dingfest gemacht; in mühseliger, zäh ausdauernder Kleinarbeit den Beweis erbracht, daß es in Düsseldorf ein fein- und vielschichtig verästeltes Literatur-Klima gibt. Wirkungsvoll vom Kulturausschuß der Stadt unterstützt; vorabgedruckt in den »Düsseldorfer Heften« (sie wurden dadurch zum eindrucksvollen Podium der Literaten in Düsseldorf), gesammelt dann als Buch, »Düsseldorf schreibt - 44 Autoren-Portraits«, erschienen - wiederum mit Unterstützung des Kulturausschusses der Stadt - im Michael Triltsch Verlag zur ersten großen Selbstdarstellung der Düsseldorfer Literatur-Szene beim „Literaturmarkt“ in der Kunsthalle am 14. Dezember 1974. Unterfangen allesamt, für die es keine Parallele gibt!

Diesmal nun soll uns Andy Warhols Muster Beispiel sein. Plötzlich bei einem Interview zauberte er seinerseits ein Mikrophon hervor und hielt es nun denjenigen Interviewern unter die Nase, die ihn fesselten, um jetzt sie zu befragen. Beispielsweise Truman Capote. So entstand die Warhol-Veröffentlichung „Sonntage mit Mister C.“.

Lore Schaumann, die zwei Jahre lang unermüdlich der Literatur in Düsseldorf eine jetzt im allgemeinen Bewußtsein fest verankerte Existenz überhaupt erst schuf - wer ist das?

Zuerst einmal: Katalysator! „Zu vermitteln ist mir die wichtigste Aufgabe.“ Schräg gegenüber in der Zimmerecke lächelt ein veritabler, südamerikanischer, weiblicher Schrumpfkopf mir ein entrücktes Lächeln entgegen. Lore Schaumann gruselt sich davor. „Eine Frau ist eine Frau“ hieß der zweite Film von Jean Luc Godard. Lore Schaumann will mit allem Nachdruck eine Frau sein, diese Chance verwirklichen.

Der Schrumpfkopf gehört Käte Reiter, ihrer Wohnungspartnerin: „Als alleinstehende Frau ist man nicht gesellschaftsfähig!“ In Lore Schaumanns Arbeitszimmer fasziniert alle Besucher u. a. die exotisch verbrämte Bücherwand. Auch das Team vom Westdeutschen Fernsehen: das aus einer Zeitschrift ausgeschnittene Foto von Marie-Luise Kaschnitz, als sie eine junge, schöne Frau mit schwer zu vergessenden Augen war. Das Bild von Albert Camus, der den „Mythos von Sysiphos“ als Ausweg aus der Hoffnungslosigkeit menschlicher Existenz interpretierte. Das Zimmer ist zum Bersten voll von der Atmosphäre geistiger Auseinandersetzung.

Was Lore Schaumann prinzipiell zuerst interessiert, was sie immer zuerst interessiert hat, ist: inmitten allem und hinter allem der Mensch; das Persönliche, das Private, die Umstände, die ihn so gemacht haben, wie man ihn nun erfährt. Dabei ist ihr Diskretion ehernes Gesetz! Niemals würde sie die Distanz des guten Geschmacks überschreiten. Das hat bei der Folge ihrer Autoren-Porträts immer wieder dazu geführt, daß der jeweilige Mensch, dem sie begegnete, seine eigentlich nur anonym-statistisch existierende Figur als Schreibender überlagert hat. Was für den Leser wiederum den Vorteil mit sich bringt, daß er in Lore Schaumanns Porträts einem wirklich prall mit Leben gefüllten, ganz unverwechselbaren Menschen begegnet. Nicht bloß einem ebenso gut mit dem Computer erfaßbaren Schemen. „Wenn man Menschen porträtiert, urteilt man nicht mehr kategorisch“, sagt sie.

Während mir weiter der Schrumpfkopf jenseitig mild zulächelt, fällt mir auf, daß Lore Schaumann allerdings nur so überfließt vor lauter druckreifen Feststellungen, die wirken wie Steno-Kürzel, langer, langsam und immer wieder neu gemachter Erfahrungen. Beispielsweise: „Ich bin ja verzweifelt ehrlich – das hängt mit meiner protestantischen Erziehung zusammen!“ Und wenn ich bei solchen Äußerungen die lange Reihe von Autoren-Porträts in meinem Hinterkopf Revue passieren lasse, sticht dabei besonders gravierend und durchgehend die Tatsache hervor, dass „Futterneid“ offenbar ein Zustand ist, der in Lore Schaumanns Bewußtsein oder Unterbewußtsein rundherum überhaupt nicht existiert. Jener Neid, der den Menschen etwas Unmenschliches aufsetzt, und der auf dem einen Gebiet als Wettbewerb oder als Konkurrenz ausgegeben wird, und der doch im Grunde nichts weiter im Sinn hat, als sie selbst zu erhöhen, indem man die möglichen Verdienste des anderen schmälert. Das jedenfalls kennt Lore Schaumann nicht. Sonst wüßte man beispielsweise längst allerorten, daß ihr nächstes Buch noch in diesem Jahr erscheinen wird. Im Sassafras-Verlag von Klaus Ulrich Düsselberg und mit dem Thema, das Lokalkolorit jenes weitab liegenden spanischen Dorfs festzumachen, in dem Käte Reiter ein Ferienhaus hat. Und genauso fest eingeplant ist ein Bericht darüber, was aus den Amerika-Auswanderern ihrer siegerländischen Heimat – damals zur Zeit der Depression am Ende der zwanziger Jahre – eigentlich geworden ist. Und weitere Buch-Pläne gibt es außerdem noch. Lore Schaumann ist nicht nur die (Er)Finderin der literarischen Szene Düsseldorf. Sie ist zugleich ihr integrierter Bestandteil.

Immer wieder haben irgendwelche Leute sie gefragt, ob sie ihre musikalische Ausbildung als Sängerin denn einfach so vergessen könne. Aber Lore Schaumann hat sie ja nicht entfernt vergessen. Alle Lieder, die sie kennt und die sie einmal gesungen hat, sind als unveräußerlicher Besitz ständig und immerzu in ihr anwesend. Solcher Besitz vermittelt ihr ein Bewußtsein: „Es ist, als ob man flöge.“ Wenn das nicht pure Poesie ist - Poesie als Form der Existenz - dann weiß ich nicht, was Poesie überhaupt sein könnte.

Zur Literatur kam Lore Schaumann wie im Buch. Als Kind nämlich stöberte sie in Großvaters altem, staubigen Schrank auf dem Dachboden und fand „Onkel Toms Hütte“. Sie „verschlang“ es atemberaubt. Und der Kreis dieser ersten Begegnung mit Literatur und mit diesem speziellen Problemkreis solchen Inhalts schloß sich 38 Jahre später wieder bei einem Besuch ihrer beiden mittlerweile amerikanische Staatsbürger gewordenen Geschwister in den USA. Das war 1966, und die Rassenunruhen hatten ihre Höhepunkte. Die Besucherin aus der fernen Bundesrepublik wurde ganz hautnah darin verstrickt. Noch während der Rückreise an Deck des Schiffes las sie pausenlos alles, was mit der US-amerikanischen Rassenfrage zu tun hatte. Auch in den Filmen, die sie für Eva Hoffmanns ZDF-Redaktion „Der internationale Kurzfilm“ fortlaufend untertitelt, hat sie es thematisch immer wieder mit sozialen Themen zu tun: mit Ghetto-Problemen oder mit denen der Minderheiten-Befreiung.

Zum Journalismus, zum Schreiben, zu den definitiv gemachten Anfängen der Schriftstellerin hat es immer wieder erst einmal Anstöße von außen gegeben. Sie glaubt inzwischen, daß sie solche Anstöße braucht, um aktiv werden zu können. Aber dann erweist sich ihr große, geistige Beweglichkeit - wichtiges Kennzeichen eines kreativen Charakters - jedes Mal als ihr großes Plus. Lore Schaumann greift die Anregung auf, setzt sich damit auseinander, wird gepackt und steht dann unter dem fast manischen Zwang zu formulieren, sich mitzuteilen, Öffentlichkeit für „ihr“ Thema anzustreben. Man sollte viele Anregungen an Lore Schaumann herantragen!

Hat ihr Buch mit den Porträts von 44 Düsseldorfer Autoren für sie selbst eine Konsequenz; innerlich? Es war ihr erstes Buch. Von namhaften Schriftstellern hört man immer wieder, nach Beendigung einer Arbeit wären sie entweder überglücklich oder - häufiger - total ausgelaugt. Lore Schaumann sagt, am Ende jeden Jahres, in unseren tristen Wintern, sei sie bisher jedesmal in die gleiche, anhaltende Deprimiertheit gesunken. Am Ende des Jahres 1974, in diesem Winter allerdings, sei sie zufrieden, sei sie nun glücklich, weil sie etwas in der Hand hat.

Dieser Sachverhalt kann die von Lore Schaumann gefundenen, vorgestellten und zu einem von nun an nicht mehr verlierbaren Bestandteil von Düsseldorfs geistigem Fluidum gemachten Autoren deshalb doppelt ruhig machen. Sie haben dazu beigetragen, einen Menschen glücklich zu machen. Wenigstens mittelbar und für einen Winter; für diesen.

Klaus Ulrich Reinke in: »OFFKÖ«. Berichte aus der Düsseldorfer Szene 1960-1980. Hrsg. vom Kulturamt und Presseamt der Landeshauptstadt Düsseldorf. Wuppertal: Wasserloos Edition , 1980, o. S.

Zwei Texte von Lore Schaumann

Besuch bei Rose Ausländer

Düsseldorf-Golzheim, eine kurze stille Straße dicht am Nordpark; vom Nelly-Sachs-Haus schaut man überall ins Grüne. In diesem Elternheim der jüdischen Gemeinde wohnt seit 1973, als sie nach einem Unfall ständige Pflege brauchte, die Lyrikerin Rose Ausländer. Ihr Zimmer im vierten Stock hat ein Hospitalbett mit Nachttisch, im Kleiderschrank und auf der Kommode häufen sich die Papiere – ein dauerndes Provisorium, Krankenzimmer, Empfangsraum, Schreibwerkstatt. An der Wand ein paar leuchtende Bild-Akzente von HAP Grieshaber.

Rose Ausländer kann sich nur mühsam bewegen, meist liegt sie, von schwerer Schlaflosigkeit so sehr gequält, daß sie manchmal nicht weiß, wie sie durchhalten soll. Wer würde denken, daß in dieser Situation Gedichte entstehen? Aber sie wachsen aus dem Innenort verborgener Kämpfe, übersteigen ihn ins Zeitlose, sprechen aus einem existentiellen Kern unmittelbar in die Existenz anderer Menschen hinein. Da gibt es keine Spur von Wehleidigkeit, beschworen wird nicht nur das Paradies Erinnerung, sondern die gegenwärtige Kraft, sich zu erneuern, in verständlichen, leicht zu deutenden Worten und Bildern.

Von dieser Wirkung will ich diesmal mit Rose Ausländer sprechen. Die Verleihung des Ida-Dehmel-Preises und des Andreas-Gryphius-Preises hat erst kürzlich wieder mit ihren Daten bekannt gemacht: Aufgewachsen im altösterreichischen vielsprachigen Czernowitz, hochgespannte Geistigkeit des bürgerlichen Elternhauses, Beschäftigung mit den Lehren Spinozas und Constantin Brunners, Weisheit der Chassidim. Nach überstandenem Getto, nach deutscher und russischer Besatzung Emigration in die USA. Seit 1965 in Düsseldorf.

„Meine Wirkung?“ sagt sie und lehnt sich in die Kissen zurück. „Meine Wirkung hat alle Erwartungen übertroffen. Ich komme aus dem Staunen nicht heraus. Das fing schon an mit meinem ersten Gedichtband Der Regenbogen. Ich wurde in Czernowitz sehr gefeiert. Aber auch aus Bukarest und aus dem Ausland meldeten sich bekannte und unbekannte Leser. Arnold Zweig schrieb mir aus Jerusalem, Hans Carossa aus Deutschland, Hermann Hesse aus der Schweiz. Ein halbes Jahr später brach der Krieg aus, und alles war zu Ende.“

Von der glücklichen Erfahrung dieses ersten Hervortretens spannt sich jetzt ein Bogen ins Düsseldorfer Krankenzimmer. Denn wieder schreiben viele, sehr viele Leser. Auf dem Tisch stehen rote Rosen eines unbekannten Verehrers: „Ich komme mir manchmal vor wie eine Märchenprinzessin, der man huldigt. Kein Tag vergeht ohne Post, herrliche Briefe manchmal. Zum Geburtstag war mein Zimmer ein Blumenmeer, und es kam eine Flut von Briefen und Telegrammen.“ Besonders rührte sie der Anruf einer Nonne, die ihr mitteilte, sie habe in ihrem Namen fünf Bäume in Israel pflanzen lassen. In New York hatte Rose Ausländer die Aufmerksamkeit der großen, von ihr verehrten amerikanischen Dichterin Marianne Moore gefunden, die ihr den Ehrenpreis des Wagner College verschaffte. In Deutschland haben sich Zustimmung und Interesse der Leserschaft von Band zu Band gesteigert: Wenig Echo auf den in Österreich erschienenen Blinden Sommer, öffentliche Anerkennung (Heine-Taler, Droste-Preis der Stadt Meersburg) für 36 Gerechte. Die Kollegen Piontek, Keller und Jokostra meldeten sich. Marie Luise Kaschnitz sagte bei einem Besuch: „Rose Ausländer, Sie schreiben ja viel bessere Gedichte als ich.“ Zu ihr fand sie sofort zwanglos vertrauten, brieflich und telefonisch fortgesetzten Kontakt; sie schrieb Rose Ausländer das Nachwort für den vielbeachteten Band Andere Zeichen.

Aber die stärkste Wirkung geht von den Gesammelten Gedichten aus. Gedichte werden ihr gewidmet, erschütternde Briefe stellen Fragen an sie, zur Verleihung des Gryphius-Preises kam ein junger Mann aus Heidelberg angereist, der einen Aufsatz über ihren Zeitbegriff geschrieben hat. Wie erklärt sie sich dieses Echo? „Ich habe, was man Wirklichkeit nennt, auf meine Weise geträumt, das Geträumte in Worte verwandelt und meine geträumte Wortwirklichkeit in die Wirklichkeit der Welt hinausgeschickt. Und die Welt ist zu mir zurückgekommen.“

Gut, aber der Mann, der aus dem Gefängnis schreibt, der Selbstmörder, dem ihre Lyrik geholfen hat – spüren sie nicht vor allem die verwandte und überwundene Notsituation? „Die Leute wissen doch gar nicht, dass ich krank bin. Sie fragen, was Poesie ist, warum ich schreibe, was mein zentrales Interesse ist.“ Die Antworten darauf hat sie schon oft formuliert: Sie schreibt, zunächst für sich, unter innerem Zwang, publiziert aber für ihre Mitmenschen. „Ich gehöre nicht mir selber.“ Lange Jahre beschäftigten sie die Erfahrungen der Verfolgung, des Exils und der Heimatlosigkeit. Ihr jüdisches Volk wird immer wieder zum Thema. Gegenstand ihrer Dichtung sind aber auch „Probleme über Leben und Tod, die Zeit im Sinn der Vergänglichkeit, der Dauer und unserer Zeit, Sprache, das Mysterium des Kosmos. Doch mein wesentlichstes Interesse gilt Frieden und Gerechtigkeit unter den Menschen.“

In diesem Sinne beantwortet sie jeden Brief, den unscheinbarsten und den des Professors aus Cincinnati, der über sie eine Arbeit veröffentlichen will. Sie hat wirkliche Freunde gewonnen. Und sie wundert sich über die eigenen unerklärlichen Reserven: „Alles ist ein Geheimnis.“ Zu ihrer Arbeitsweise befragt, sagt sie: „Ich schreibe fast nur nachts. Die erste Fassung steht in Gabelsberger Stenogrammschrift auf Zettelchen. Sie kristallisiert sich um einen Gedanken, einen Einfall. Manchmal steht der erste oder der letzte Satz fest. Nach Tagen, wenn ich Distanz gewonnen habe, nehme ich die Zettelchen wieder vor. Dann kann es sein, das Gedicht ist fertig, so wie es ist. Oder ich vertausche die erste und die letzte Strophe, schreibe um, verbessere. Ob es bleibt oder ob ich es wegwerfe, entscheide ich später.“

Von dem, was geblieben ist, haben sich bildende Künstler wie Otto Piene und Rupprecht Geiger anregen lassen. Der Freund HAP Grieshaber schuf zu dem Gedicht Die Arche einen Farbholzschnitt, der mit der dreisprachigen Fassung als Jahresgruß der Buchmesse in die Welt ging.

Rose Ausländer mischt in ihren Bänden Altes und Neues. Sie datiert ihre Gedichte nicht, sogenannte Entwicklungen aufzuzeigen ist daher schwierig. Sie weiß aber, daß in einem Jahr (war es 1973?) gar nichts entstanden ist, während ein anderes etwa 200 Gedichte brachte. Für den Auftrieb durch Preise ist sie ein lebendiges Beispiel. Die Äußerungen ihrer Leser haben ihr neue Kräfte gegeben: „Es ist wert, zu leben und zu schreiben.“ Das Tablett mit dem Abendessen wird gebracht, wir müssen unser Gespräch beenden. Und da kommt auch der Bruder aus New York herein. Sie hat ihn jetzt nach Düsseldorf holen können.

In: Der Wegweiser, Düsseldorf, 8/197.

Frauen, die lesen – Frauen, die schreiben

Nachmittag in einer Frauen-Bücherstube. Die junge ehrenamtliche Mitarbeiterin hört eine Schlagersendung im Radio, telefoniert mit ihren Freunden, fängt ein lautes, von Kichern unterbrochenes Gespräch an, als eine zweite Helferin dazustößt. Ich höre „Selbsterfahrungsgruppe“ und „die ist neurotisch, oder eigentlich schon psychotisch, könnte man sagen.“
Eine junge Frau mit Kinderwagen und mäßig unruhigem kleinem Jungen blätterte sich still durch den kleinen, aber sorgfältig zusammengetragenen Buchbestand, fragt schließlich nach einem Band von Ricarda Huch. Dem Mädchen am Verkaufstisch ist dieser Name unbekannt. Später sagt sie „Wer ist das, was hat die geschrieben?“ Einer kleinbürgerlich wirkenden Frau in mittleren Jahren, die „etwas Leichtes“ zum Verschenken sucht, empfiehlt sie Virginia Woolf und Simone de Beauvoir. „Nein, doch lieber nicht“, beendet das Gespräch, läßt die Frau unschlüssig hinausgehen. Die kommt bestimmt nicht wieder.

Literaturkenntnisse, angewandte Psychologie? Nur das derzeit Modische, also alles, was sich auf die großen „Selbst“-Wörter reimt. Aus dem Hintergrundgespräch rieselt es heraus: Selbstbild, Selbstbewußtsein, Selbstbehauptung, Selbstverwirklichung, Selbstbestimmung. (Ein Mann sagt neulich „Nur das Wort selbstlos hört man gar nicht mehr.“ Sagte er das, weil er ein Mann ist?)

Auf den Regalen steht alles, was „bewegte“ Frauen zwischen zwanzig und dreißig interessiert: Erziehung, Psychologie, Soziologie, Biographie und Historisches, die Feminismus-Klassikerinnen Friedan, Greer und Janssen-Jurreit mehrfach gestaffelt. Dazu feministische Zeitschriften mit verschiedenen Schwerpunkten. Bücher über Gewalt gegen Frauen, Alkoholismus, Wohngruppen, Heilkräuter, Naturkosmetik, Getreidegerichte, Frauen der Dritten Welt zeigen, wie die Bewegungen ineinander verschränkt sind. Bei den Sachbüchern kann man offenbar auf männliche Beiträge nicht verzichten. In der Belletristik dagegen sind Männer von der linkshändigen Frau bis zu Anna Karenina nur mit Frauen-Titeln zugelassen. Nicht auf Literatur liegt die Betonung, sondern auf Anleitung zum Leben, auf Information als Diskussionsgrundlage.

Aber liest zum Beispiel jemand Mary Wollstonecraft? Ihre „Verteidigung der Rechte der Frau“ ist 1792 erschienen und nimmt alles Heutige voraus. Sollte es mit der ungebrochenen literarischen Tradition Englands zusammenhängen, daß Frauen dort so viel selbstverständlicher, phantasievoller und besser schreiben als bei uns? England hat immer Exzentrikerinnen und Abenteuerinnen hervorgebracht und geduldet; auch für Frauen erweiterte das Empire die Welt. Schriftstellerinnen wie Doris Lessing und Nadine Gordimer wären ohne diesen Hintergrund nicht denkbar.

Was Angela Praesent über Lese-Erfahrungen mit Manuskripten für ihre Reihe „neue frau“ berichtet, deutet dagegen bei den deutschen Einsenderinnen auf unentwegtes Um-sich-selbst-Kreisen hin. Zum besseren Schreiben gehört aber neben viel Können die Fähigkeit, über sich hinaus und von sich abzusehen. (Nicht umsonst ist der Lebensbericht „Brombeerblüten im Winter“ von Margaret Mead das bisher beste Buch in Praesents Reihe.) Würde unsere deutsche Tradition – die es ja gibt – zur Kenntnis genommen, so wäre da manches zu lernen etwa von Lou Andreas-Salomé, wenn sie die weibliche Tendenz beklagt, sich immer nur zur Selbstentfaltung zu bringen, „anstatt dies eigene Sein in sachlicher Hingebung an ein Einzelziel zu setzen.“
Dem Frauenbuchladen schräg gegenüber liegt eine vorzüglich geführte Familienbuchhandlung, in der die sehr kenntnisreiche Frau wesentlich mitwirkt. Auf die Frage, wieweit sie Frauenliteratur verkaufe, antwortete sie, das sei für ihren Kundenkreis kein Kriterium. Sie verkaufe Literatur.
Übrigens stimme ihre eigene Erfahrung selten mit den Bestseller-Listen überein, die halte sie für manipuliert. Sie kennt ihr Fach, ist vielseitig gebildet und hat ein selbständiges Urteil.

Warum gehen die Frauen mit ihren Wünschen nicht zur Fachfrau, die ja auch Bibliothekarin sein kann? Daß die öffentlichen Büchereien bei uns immer noch eine viel zu bescheidene Rolle spielen, ist historisch bedingt und ein Kapitel für sich. Wie soll man die Freude am Suchen und Finden von Lesestoff kennenlernen, wenn man es nicht übt? Im Frauenbuchladen steht alles handlich beieinander. Zu jedem Thema die These, und der gemeinsame „echt starke“ Jargon gibt Tuchfühlung. Das Bedürfnis nach Gruppierung und ihren Losungsworten tritt in jeder Generation neu auf, nur die Vorzeichen ändern sich. Für mich hat der Feminismus mit seinen grotesken Abgrenzungserscheinungen etwas von einer nach außen wehrhaften Wagenburg, in der man sich gegenseitig hilft. Junge Frauen suchen Orientierung, rufen allenthalben nach mehr Gerechtigkeit. Und wie immer gibt es mehrere Bewußtseinsstufen nebeneinander: Manche legen das Ohr an die Erde, während andere ihren Jet-Flugschein machen.

Frauen, die lesen, Frauen, die schreiben – stimmt es nicht tatsächlich, daß die Frauenbewegung neue literarische Kräfte ans Licht gebracht hat? Ganz gewiß sind die schreibenden Frauen sicherer und mutiger geworden. Im Augenblick kommt ihnen aber der Markt mit ungewöhnlicher Bereitschaft entgegen. Es wird sich zeigen müssen, ob der Trend dauert. Übrigbleiben werden die Könnerinnen mit oder ohne Charisma, Frauen, die üblicherweise studiert haben, einen Wortberuf als Lektorin, Redakteurin, Dozentin oder Übersetzerin ausüben und den Literaturbetrieb kennen – Leute also, die sich ohnehin durchgesetzt hätten.

Gegenwärtig bietet ein Überblick über „weibliche“ Literatur im deutschen Sprachraum das Bild einer erstaunlichen Vielfalt und Begabungsfülle – wenn man schon geschlechtsspezifisch einteilen will. Daß dies geschieht, daß der Aufbruch registriert wird, ist auch eine Folge der Frauenbewegung. „Frauen schreiben ein neues Kapitel deutschsprachiger Literatur“, mit dieser als Buchtitel formulierten Behauptung steht Jürgen Serke nicht allein, und sie wird durch seine 30 Porträts schreibender Frauen von heute bekräftigt. Die Freude über die „erste umfassende Geschichte der Frauenliteratur in deutscher Sprache“ ist allerdings buchstäblich geteilt. Denn 15 straff und konzis formulierten Kurzporträts stehen hier 15 lange gegenüber, von denen einige nur allzu deutlich ihren ursprünglichen Erscheinungsort verraten: Beim Friseur war man 1977 plötzlich in einer Illustrierten auf Details von Barbara Frischmuths trauriger Ehe gestoßen. Ein andermal sprach sich Karin Struck über Liebe und Leben aus – Tratsch mit Anspruch, sonst auf darstellende Berufe beschränkt. Jetzt findet man ihn zwischen zwei Buchdeckeln wieder. „Gabriele Wohmann und ich haben in ihrer Darmstädter Wohnung drei Tage lang verbal gekämpft“, heißt ein sehr charakteristischer Satz. Jürgen Serke verfolgt sein literarisches Wild mit dem Jagdinstinkt des Reporters, und er will Blut sehen. Jagen, zur Strecke bringen, Halali – nicht umsonst fällt einem das uralte symbolische Männlichkeitsvokabular ein. Wissen wir nun mehr über Sarah Kirsch, weil drei Männernamen beziehungsvoll ausgesprochen werden? Gewinnt Brigitte Schwaiger durch das Breittreten ihrer Affären und Nervenzusammenbrüche an literarischem Interesse? Kümmert es uns, von wem Karin Struck ihre drei Kinder hat? Jedem die Darstellung, die er provoziert. Wer sich ins Schaugeschäft begibt, kommt darin um.
Es haben sich nicht alle hineinbegeben. Wo Serke verehrt, wo ihm eine Persönlichkeit den Widerstand natürlicher Würde entgegensetzt, ändern sich Stil und Methode. Anna Seghers, Christa Wolf, Ilse Aichinger behandelt er literarisch sorgfältig. Der Zorn, den dieses Buch erregt, wird weniger durch seine tratschhaften Partien und die parteiische Arithmetik der Enthüllungen ausgelöst als durch die Beweise, daß Serke es besser kann, daß er ein guter Leser ist, dem, wenn er will, Einfühlung und kritisches Urteil zu Gebote stehen. „Frauen schreiben“ erweist sich als Fall eines schreibenden Mannes, den das auftraggebende Medium zerstört.

Serke merkt gar nicht, daß er seine eigenen, im essayistischen Vorwort proklamierten Einsichten verrät. Da bietet er eine aus Wahrheiten und Halbwahrheiten anmutsvoll gemischte, gut zu lesende Bestandsaufnahme, in der Männer der gegenwärtigen Literatur als „Resignationsriege“ bezeichnet werden, weil sie an der Realität oder an deren Verlust scheitern, während die doppelt belasteten Frauen sie bestehen und gestalten. Ihre Selbständigkeit bedeutet nicht Alleinsein-wollen. „Die Mehrzahl der Autorinnen deutscher Sprache haben sich nicht eingrenzen lassen durch die neuen Grenzen des Feminismus,“ hebt Serke hervor. Für die Aspekte ihres neuen Selbstbewußtseins bringt er viele gut gewählte Zitate bei. Ihre Bejahung der eigenen Sinnlichkeit, ihre Suche nach Liebe jenseits männlicher Unterdrückung, ihre aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Prozeß, ihr Anzweifeln des Machtbegriffs werden deutlich gemacht. Kluge weibliche Worte, etwa von Christa Wolf: „Auch eine eingeschränkte Existenz läßt sich dehnen bis zu ihren Rändern, die vorher sichtbar sind. Nur das, wofür wir keine Sinne haben, ist uns verloren.“ Befremdlich wirkt nach solchen Bekundungen Serkes Neigung, innere Abhängigkeiten seiner Autorin zu enthüllen. Wo es irgend geht, ist bei ihm die Wirklichkeitserfahrung der Schriftstellerin auf die Beziehung zum Mann reduziert. Das gilt eingeschränkt sogar für Ilse Aichinger, die von Serke ausführlich und einfühlend interpretiert wird. Sieht man sie nicht auf Knien ihres Herzens vor dem Monument des toten Günter Eich?

In der „weiblichen“ Literaturgeschichte gibt es störende Lücken, es fehlt vor allem Marie Luise Kaschnitz, eine große Schriftstellerin, glücklich verheiratet, geformte Persönlichkeit – gab sie deshalb zu wenig her? An der gleichfalls fehlenden Hilde Spiel wäre zu zeigen gewesen, was auch beim Nachlesen von Rose Ausländer und Hilde Domin schmerzlich klar wird: Der Verlust an Geist durch den Verlust des Judentums, der Mangel an Welt bei den Jüngeren, nicht in ihr Herumgestoßenen. Flucht, Emigration, Vertreibung, das Erleben fremder Länder haben die künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten gesteigert, ja, manchmal erst geweckt.

Das gilt auch für Erica Pedretti, die, aus einer deutschen Familie in Mähren stammend, nach dem Krieg in der Schweiz und in New York lebte, dann einen Schweizer heiratete und jetzt im französischsprachigen Schweizer Jura wohnt. Das Leben ganz, ohne die chaotische Selbstbezogenheit mancher Jungen, Erica Pedretti lebt es. Fünf Kinder, ein malender Ehemann, Schreiben neben Putzen und Kochen, vielfache Belastung und Fülle, eine ganz eigenwillige Entwicklung – und keine Spur von Feminismus. Wenn ich nach diesem Buch irgendjemand kennenlernen möchte, so ist es diese Frau.

Ihr schönes Porträt sei Serke gutgeschrieben, ebenso wie das kurzgefaßte der offenbar nicht klatsch- und illustriertenwürdigen Hilde Domin. Auf zwei Druckseiten sagt er alles Wesentliche über sie, streift ihren Lebensgang, soweit er für ihr Werk wichtig ist, beschränkt sich dann auf dieses, greift ein wichtiges Domin-Gedicht heraus („Abel, steh auf“), druckt es ab und geht sogar auf den unterbewerteten Roman „Das zweite Paradies“ ein. Auf solchem Niveau hätte sich eine ernstzunehmende Darstellung von Frauenliteratur zu bewegen – konzentrierter, sachlicher, und ohne den Wahn, als könne man durchs private Schlüsselloch das Entstehen von Literatur studieren.

Daß ein künstlerisches Werk sich selbständig macht, dass es sein Eigenleben führt, neben der vielleicht kläglichen, vielleicht ausgebrannten Existenz der Schreibenden – sollte das bei Frauen anders sein?

In: Frau und Kultur. Erleben und Gestalten. 83. Jg., Heft 2, 1980, S. 18-19.

Vita

Publikationen

Pressestimmen

Zu: „den samen der steine sammeln“ (2007)

Das Selbst als Raum, in dem die Welt lesbar wird - in entdeckenswerten Gedichten von Käte Reiter

[...] „Ich bin ein Gassenkind“, sagt die Düsseldorferin. Ihr Vater war Fabrikarbeiter und starb früh, wodurch sie schon jung in ihrer Familie Verantwortung übernehmen mußte. Sie kümmerte sich, wie man das aus Filmen kennt - der Krieg brachte Not und Bomben - mit Kohlenklau vom fahrenden Zug, Hamsterzügen über Land, Kartoffeln stoppeln. Sie hat darüber in einem Romanmanuskript geschrieben, das nie veröffentlicht wurde. Zur Literatur kam sie nach dem Krieg, als sie bei einer Ärztin putzen ging, um für den Bruder Arznei auszulösen. Die Ärztin förderte das Interesse an der „höheren Literatur“ und als wenig später Marie Luise Kaschnitz das erste Mal wieder nach Deutschland kam um zu lesen, machte jemand das schlaue Mädchen Käte mit ihr bekannt. Sie sind Freunde geworden und auch zu Rose Ausländer hatte die Reiter eine freundschaftliche Beziehung (Jahre später entdeckte man in deren Nachlass frühe Gedichte von Käte Reiter, die sie selbst längst verloren glaubte). Dennoch hat die Literatur nie die Hauptrolle in ihrem Leben gespielt. „Sie brauchte keine Zeile schreiben, um zu sein, was sie ist.“, formulierte es 1974 Lore Schaumann in einem Aufsatz. Käte Reiter führte im Brotberuf ein größeres Einzelhandelsunternehmen und kümmerte sich kaum ums Publizieren. Arnfried Astel druckte 1962 etwas von ihr in den Lyrischen Heften und fast ein Jahrzehnt später erschien ihr erstes Buch, in denkbar kleiner Auflage, ein Künstlerbuch mit farbigen Siebdrucken von Gerhard Wind.

einer stellt sich auf eine stelle
und schreit
und die kleine stelle wird groß
dann geht er fort
dann stellen sich viele auf die große stelle
die klein war
und schreien
und man sieht die stelle nicht mehr

Käte Reiters Gedichte entstehen ohne große Vor- oder Nacharbeit. In ihnen sind diese Geschenke, die dann auftauchen, wenn wir anscheinend ganz tief in uns versunken sind, dabei aber tatsächlich weit weg, ganz am Ort des Gedichtes, die bei ihr zu Verszeilen werden wie „in meinem wasser / reist ein stein ins runde“. Die Klarheit des Moments übersetzt sich auch in eine Einfachheit des Textes: Stein, Haut, Stern, Auge, Tod und Leben. Und keine Angst vor klischeebehafteten Worten und Themen. Da sie ohnehin nicht für die Kritik schreibt und sowieso nicht für irgend jemanden. „an der schmerzstelle / den schlüssel seele suchen / und nicht verlieren können“, eine Therapie, die funktioniert. Dabei ist es nicht das therapeutische Moment, das Käte Reiter an die Lyrik bindet, sondern die ganz urtümliche Begegnung mit der Vieldeutigkeit und damit der Vielgesichtigkeit. Alles kann aussehen, es muß nicht. Die Welt ist möglich und nicht fest. Man kann nichts halten, „aus schwarzem eis gemeißelt / steht morgen / was wahr wird / ein paar stunden im licht / und schmilzt“.
Die Gedichte sind schlank, es gibt kein Beiwerk, kein Schmuck, kein Pomp, kein Ausufern. Einfache Konstrukte, die es dennoch in sich haben, eine Tiefe nämlich mit großen, geweiteten Räumen. Jürgen P. Wallmann stellte die Reiter neben die Kaschnitz und die Domin. Das ist sicher eine Überbewertung.  Für den Moment aber, in dem sich Käte Reiter mit der Lyrik beschäftigt, stimmt die Intensität. Immer dann, wenn sie sich mal um ihre Sprache, eine sehr direkte, einfache und genaue Sprache, kümmerte, entstanden Gedichte, die zwar äußerlich bisweilen einer Tagebuchlyrik ähneln, inhaltlich aber um genau jenes Maß reflektierter und anwesender sind, welches sie zur guten Literatur macht.

nachts über die schulter gehängt
und das schaf träumt
morgens fragt der schlächter
wo ist dein tier
welches tier

In ihrer Kargheit war die Reiter ähnlich konsequent, wie es heutige Dichter bei der bewußten Staffage sind. Alles, was vom Eigentlichen ihres Gedichtes ablenken könnte, ließ sie fort. Wo andere beginnen nach Bild und Ergänzung, Umschreibung und Ausschmückung zu suchen, verpustet sie das als Rauch und Nebel. „ich gebe den heimatlosen worten / einen ort in mir“ – das sind mitunter Worte, die niemand heute mehr in seinen Texten (wohl aber in seinem Leben) haben will: Sehnsucht, Sterne, Liebe. Bei ihr klingen sie weder peinlich noch verwaschen, das ist selten. Vielleicht liegt es daran, daß Käte Reiter dabei von sich absieht. Sie lässt Gedichte zu. In ihr entsteht Lesbarkeit; Käte Reiter ist der Raum, in dem die Welt durch das Gedicht lesbar wird. Um Sinn und Unsinn dieses Satzes zu verdeutlichen: in der Tagebuchlyrik ist es ja immer genau umgekehrt - dort ist das Gedicht der Raum, in dem der Dichter lesbar werden soll, dort soll das Gedicht zu Diensten sein und dem Dichter über seine Probleme hinweg helfen. Bei Käte Reiter ist es anders herum: sie ist dem Gedicht zu Diensten und hilft ihm über ihr Selbst hinweg.

Zu einer Lesung der Autorin in Neuss (2001)

[...] dennoch ist sie ein Geheimtipp unter Lyrikfreunden geblieben. Ihre Gedichte sind von außergewöhnlicher Konzentration, knapp gehalten und doch reich an sinnlichen, eingängigen Bildern. Käte Reiter wird auch aus ihren Gedichten lesen, die sich im Nachlass der großen Lyrikerin Rose Ausländer fanden und die sie verloren glaubte.[...]

www.neuss.de/neuss/presse/archiv/2001/09/1520.html

Würdigungen der Autorin

Lore Schaumann: „Stein, Stern und Feder“

Souveränität ist etwas Angeborenes. Zu dieser Einsicht kommt, wer Käte Reiters bemerkenswertes Leben anschaut und sich klarmacht, welche Lyrik es hervorgebracht hat.

Ihr Vater war Fabrikarbeiter, sie ist in Flingern aufgewachsen. „Ich bin ein Gassenkind“. Die Wohnung war eng, auf der Straße gab es wilde Spiele mit den Nachbarjungen, Schrammen, Kratzer, aufgeschlagene Knie, aber auch geteilte Butterbrote. Da lernte man kämpfen, sich durchsetzen, mit Kraft oder List, und füreinander einstehen. Die Straße hatte ihre Gesetze und Regeln. Wer sie verletzte, wurde mit Verachtung gestraft. So durfte einer, der am Boden lag, nicht mehr bekämpft werden, und beim Nachlaufspiel sagte das Wort „Herzchen“, daß man erschöpft war und aufgab - Unterwerfungsformeln, ähnlich der Demutsgebärde der Tiere.

Es ist eine ganz eigene Düsseldorfer Subkultur, in die man durch Käte Reiters Erzählen Einblick gewinnt, mit Selbstbewußtsein, kräftiger Sprache und wärmender Nachbarschaftshilfe. „Daß bloß niemand denkt, ich hätte eine schwere Kindheit gehabt! Sonst würde ich wohl nicht so gern davon erzählen.“ Sie hat nichts verdrängt und die innere Beziehung niemals verloren, fällt auch wieder ins Platt, wenn Sie einem der Nachbarn aus der Bruchstraße begegnet. Aber schon als Kind muß sie „anders“ gewesen sein, die Lehrerin meinte, sie sollte eigentlich etwas lernen. Daß der Vater früh starb, bewahrte sie vor der Fabrik, öffnete ihr den Weg in die höchste vorstellbare Welt, das Büro, belud sie aber auch mit der Verantwortung für die Mutter und zwei jüngere Geschwister.

„In der Schule hatten wir zum Schluß nur noch Wehrmachtsberichte gehört.“ Jetzt erlebte sie die schweren Luftangriffe und den Beschuß der Stadt, fuhr mit dem Rad in den Hafen, wo Lebensmitteltransporte für die Bevölkerung freigegeben waren, ging über Land hamstern, sprang auf Züge, um für sich und die wartenden Kameraden Kohlen abzuwerfen. Und immer lebte die Familie in einem Organismus von Freunden und Nachbarn, die zusammenhielten, mit denen man teilte und feierte. Käte Reiter hat sich diese verworrene und spannende Zeit in einem dicken dokumentarischen Romanmanuskript von der Seele geschrieben. Damals schrieb sie Prosa. Es ist nichts davon gedruckt.

Mutter und Geschwister waren heil geblieben, in Derendorf fing das Leben neu an, für Käte Reiter als ein Abenteuer voller Fremdartigkeit. Sie las, was sie nur irgend zu fassen bekam, gründete, selbst keiner Fremdsprache mächtig, mit Freunden eine Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit und organisierte mit Hilfe der Konsulate Ländervorträge - bevor öffentliche Institute die Initiative ergriffen. Durch Trümmerstraßen ging sie ins Schauspielhaus und in die Oper, manchmal Abend für Abend. Dieser Hunger, dieses Glück.

Käte Reiters Leben besteht aus Fügungen, aus Menschen, von denen sie gefunden wurde. Die Ärztin, für die sie putzte, damit der Bruder Arznei bekam, brachte sie auf die „höhere Literatur“. Und als Marie Luise Kaschnitz zum ersten mal wieder kam und las, nahm ein Düsseldorfer Industrieller das scheue Mädchen bei der Hand und sagte: „So, Sie begrüßen jetzt die Dichterin!“ Es wurde eine Lebenslehre und Freundschaft daraus. Wenn die Kaschnitz damals mit ihrem Mann Italien und Griechenland bereiste, fuhr Käte Reiter auf der Karte voraus, machte sich durch Bücher mit der Geschichte und Kultur eines jeden Ortes vertraut und begrüßte die Ankömmlinge mit einem Sonett.

Anfangs war alles schön gereimt und nachgeahmt. Das Vertrauen in die eigene Form und Stimme muß irgendwann zu Beginn der sechziger Jahre gekommen sein. Inzwischen hatte sie ihre ganz persönliche Bildung erworben, Reisen gemacht, Französisch gelernt und Klavier, Wittgenstein gelesen, Musil, Proust, Virginia Woolf zu ihren literarischen Göttern erhoben, den nouveau roman für sich entdeckt. Sie entwickelte ein sicheres Urteil und einen untrüglichen Sinn für das ihr Verwandte. Thomas Bernhard, Peter Handke, Jürgen Becker hat sie von den ersten Veröffentlichungen an gelesen.

Ein Vorbild für Lyrik war das nicht, wohl aber Vorrat für den geistigen Haushalt, in dem sich Käte Reiters Gedichte zubereiten, dem bewußten Zugriff entzogen. Sie fallen vorgeformt über sie her, durch welchen Anlaß ausgelöst und über welche kreative Schwelle bleibt ihr verborgen. Jeder Versuch, an diesem Eruptivmaterial zu „arbeiten“, führt zu seiner Verminderung und damit zur Unverständlichkeit, weil Käte Reiters bewußte Absichten niemals dahin gehen, etwas breiter und deutlicher zu sagen, sondern es auf den Kern zu reduzieren. Geht man bei ihr Änderungen nach, die sie auf Anraten literarischer Freunde vornahm, so ist meistens der erste „geschenkte“ Entwurf der sprach- und aussagestärkste.

Schreiben ist für sie eine lästige Gabe, kein Grund zum Hervortreten oder zur Pflege stolzer Gefühle. Viel mehr reizt es sie, den Kampf mit ihren Zahlen zu bestehen und das große Einzelhandelsunternehmen, in dem sie vor dreiunddreißig Jahren als Lehrling anfing, immer weiter zu rationalisieren. Der gemeinsame Nenner für beide Lebensbereiche ist ihre Geformtheit und Disziplin. Sie entscheidet und handelt aus einer Tiefenschicht, die zu den Gedichten einen anderen Ausgang hat, ihnen magischen Glanz und jene Mehrdeutigkeit verleiht, von der sich der Autor nachher selbst überrascht zeigt. Käte Reiter ist aber durchaus in der Lage, ihre Gedichte zu interpretieren, das bewies sie bei Lesungen mit anschließender Diskussion in Tel Aviv und Jerusalem, wohin das Deutsche Kulturzentrum sie eingeladen hatte.

Sie drängt sich niemals nach Veröffentlichung, der literarische Betrieb mit seinen ideellen Vorwänden und harten Erfolgskalkulationen stößt sie ab. Doch wurde sie auch hier gefunden: Arnfried Astel brachte sie früh in die Lyrischen Hefte, Kay Hoff ins Neue Rheinland und in einen Hundertdruck des von ihm mitgegründeten Guido Hildebrandt Verlags. So kam es, daß Käte Reiter zuerst mit einer bibliophilen Ausgabe hervortrat, die von Schriftstellern normalerweise als dekorativer Schmuck eines Lebenswerks empfunden wird. Aber ihre Lyrik ist ja Lebensessenz, durch gelassenes Warten abgelagert, der Rahmen war ihr angemessen.

Trotzdem ist es gut, daß jetzt endlich durch den Concept Verlag größere Mengen ihrer Gedichte in erschwinglicher Ausgabe zu haben sind. In dem Band „Federort“ werden die Sprachmuster und Motive Käte Reiters ablesbar. Dem Geduldigen erschließt sich aus dem formal geschlossenen, meist knapp gefaßten Text eine hermetische Welt Stück für Stück gelernter Tode. Ein ungebrochener Intuitionsstrom trägt originelle Bilder, zarte und kühne Verknüpfungen. Immer wieder erscheint das Schwere als Stein, das Leichte als Feder, die Hoffnung als Stern. Sie bleiben geheimnisvoll, diese so denkerischen wie poetischen Gedichte. Jürgen P. Wallmann, der Käte Reiter neben Marie Luise Kaschnitz und Hilde Domin stellt, nennt sie „poetische Meditationen, die der Leser selbst meditierend nachvollziehen muß“.

„Wohin mit dem Duft der Worte“ scheint schon im Titel größere Gesprächigkeit anzuzeigen, und tatsächlich mischen sich in dieser vom Sassafras-Verlag vorbereiteten „Fundgrube“ lakonische Denk-Verse mit überraschend märchenhaften längeren Gedichten. Die Wetterhexe wäscht und bügelt ihre Windhosen, das Hexenhäuschen ist ein Erinnerungsstück: Martha Mödl schenkte der jüngeren Reiter-Schwester in ihrer Düsseldorfer Zeit das lebkuchene Urbild zum Nikolaus. Manche dieser Gedichte treffen das Kindliche im Leser, manche geben täglichen Dingen eine Wendung ins Surreale: „ich habe einen kühlschrank, der heimlich spricht“ oder „ich kaufe mir ein paar neue schuhe“ (die am nächsten Morgen schon alt sind, weil man damit auf die Straße muß.) In beschwörenden Liebes- und Partnergedichten werden dem Pfau die Federn gerissen, reifen Steine in den Netzen der Träume. Der Tenor ist auch hier: An die böse Liebe des Lebens und an die liebe Liebe des Sterbens glauben.

Darauf, daß Käte Reiter Dichterin ist, würde niemand kommen, der sie außerhalb eines literarischen Kreises kennenlernt. Sie redet weder vom Tod noch von Steinen und Federn, ist nüchtern, sachlich, vergnügt und meidet auch das Generalthema aller Schriftsteller: „Wann werde ich wo gedruckt?“ Ein Doppelleben? Keineswegs. Sondern es ist dieses eine, klare und schöne, das sie aus ihren Anlagen entwickelt hat - weg von der bunten prallen Folklore ihres Ursprungs in eine sehr anspruchsvolle Eigenwelt. Ein Leben der Verantwortung, Einfühlung und Hilfsbereitschaft. Sie brauchte keine Zeile zu schreiben, um zu sein, was sie ist.

In: Düsseldorf schreibt. 44 Autorenporträts. Düsseldorf: Triltsch Verlag, 1974, S. 165-168.

Nachwort von Rolfrafael Schröer zu: „Federort. Gedichte“ (1973):

Um das, was gesagt wird, verstehen zu können, richtig verstehen zu können, brauchte es eine Schilderung des jeweiligen Hier und Jetzt, ein riesiges Tabellarium über die sagende Person an sich und deren Position in und gegen Zeit und Raum. Jede Aussage ist nur noch von ihrem Ort her zu verstehen.

Aller Aussage voraus gälte es, ihren Ort zu bestimmen, also vorauszusagen. Eine Voraussage ist auch eine Aussage. Also den Ort der Voraussage voraussagen, um die Voraussage der Aussage verstehen zu können, um die Aussage verstehen zu können.

Hier soll nicht Poesie germanistisch interpretiert werden, hier wird der Versuch unternommen zu orten, woher diese Verse sprechen, von welchem Standpunkt aus diese Dichterin das Ihre sagt, so sagt, dass es wesentlich wird und wir hinhören.

Der Ort heißt „Federort“, ist ein Gegenort. Nur ein Windzug, ein Hauch trägt ihn, treibt ihn. Wohin? Ins Zufällige? Der Ort fällt der Stelle zu, „die uns verläßt“. Käte Reiter spricht: „tritt mit mir / auf diese eine stelle / die uns verläßt“.

Ein Ort ist im anderen, hebt sich auf im anderen, wird uns bewußt als Ort dann, wenn er uns fremd ist.

ich öffne die tür
die ich schließe
ich trete ein
ein ort ist ein windzug
der wohnt
ein wort macht sich deutlich
am nächsten
bestimmt bin ich fremd hier

Dieses Gedicht spricht das zutreffend aus. Und es ist mehr als eine Feststellung, es ist die Einsicht, daß es ihr bestimmt ist, an flüchtigen Orten Erkenntnis zu suchen. Der Windzug selbst ist der Ort, der wohnt. Ein Vorübergehender, und sie lädt ihn ein, auf ein Wort, ein Minutengast zu sein, und sie bittet ihn: „iß ein stück mit mir / vom neinbrot / vom jabrot.“

Käte Reiter ist 1927 in Düsseldorf geboren. Als der Vater gestorben war, nahm die dreizehnjährige Volksschülerin Putzstellen an, um ihrer Familie zu helfen. Auch bei einer Ärztin arbeitete sie, die ihr eines Tages einen Band Rilke-Gedichte auf den Kopf schlug, von wegen: „Du hast doch auch Köpfchen, Mädchen.“ Die Zwanzigjährige suchte und fand die Freundschaft zu Marie Luise Kaschnitz, die ihr Antwort gebende und Fragen stellende Freundin geblieben ist. Die über Vierzigjährige lebt noch immer in ihrer Geburtsstadt und arbeitet intensiv, schwer und mitverantwortlich in einem kaufmännischen Betrieb, der Millionenumsätze macht. So etwas sollte der Leser wissen.

Diese Frau, die so spät erst ihre Gedichte herzeigt, ist täglich „vor Ort“, arbeitet wie die meisten von uns, vielleicht etwas mehr als du und ich, und sie ist durch große Verantwortung gebunden. Auch an den Ort ihrer Tätigkeit gebunden. Der „Federort“ ist ihr Wunschort: „übernimm dich / flieg mit dem federort“ heißt es im Titelgedicht. Es ist die ständige Aufforderung, die diese Autorin an sich selbst richtet.

Manchmal philosophieren die Verse entlang den Worten, Worten, die eindringlich bis verzweifelt die Begriffe zu halten suchen, Begriffe von der Angst verdunkelt, der Furcht überschattet: vor lauter Tätigsein und Tun das Denken, das ursächliche Denken zu verlieren. In diesen Gedichten wird nicht beschrieben, keine Erzählung breitet sich aus, nimmt Wohnung; denn „das unbewohnbare wendet / raumlos um uns herum“. Diese Gedichte denken, daher diese stetige Bewegung, dieses unentwegte von – woher – nach – wohin. Selbst das Zuständige oder Zusichwerdende wird bewegt. Im selben Gedicht heißt es: „anstelle der träume / verfinstert sich etwas / in die hoffnung.“

Alle Wege dieser Dichtung laufen im Schatten, führen vom gemäßigt Hellen ins Dunkle, Dunklere bis: „wenn du für mich / in den abgrund meines todes gehst“, und wenn die Verzweiflung über das täglich erfahrene, ärmliche, nur erfolgprogrammierte, das Menschsein im Menschen auslaugende Da- und Sosein überhandnimmt, wird der Vers zur Aufforderung, wehren sich die Worte, die Worte als die letzte Instanz unseres Bewußtseins, und es heißt: „iß ein stück mit mir“ oder „trink mit mir“, „erzähl mir“.

Und darin ist mit enthalten die Anrede, das Verlangen nach dem Gegenüber. Anlaß ist, wie meist, Einsamkeit. Aber in diesem Falle die Einsamkeit dessen, der tätig die Welt besteht, der in ihr zurechtkommt, mit ihr fertig wird, klaglos und der darum ein grundsätzlicheres Gespräch sucht. Das Gespräch über den Sinn des Lebens und damit über den Sinn des Todes. Die Enge dieser Dichtung ist zugleich ihre Stärke.

Der mächtigen Kraft des Todes, die heute vielerorts geleugnet wird, die ganze Lebenserwartungsindustrien verdrängen, die durch Krankenhäuser anonymisiert wird, dieser Kraft gilt ihre Ansprache, Anrede, und so trägt sie ein uraltes Wissen weiter: „und ich hätte nicht alle die alter / die ich dem tode austrage und nicht / eine weisheit davon.“ Diese Weisheit, die nicht nur wert ist, bewahrt und weitergegeben zu werden, sondern die wichtig und nach wie vor von zentraler Bedeutung für das Selbstverständnis des Menschen ist.

Die Poetin Käte Reiter gewinnt aus diesem Wissen für sich die Freiheit und den Mut zu ihrem „Federort“. Und ich zitiere zum Schluß meiner Verstehensübung dieses nachdenkenswerte Gedicht von ihrer Freiheit, in dem sie das Bewußtsein, daß der Tod allgegenwärtig ist, als Lebensansporn begreift.

ich habe die Freiheit
in meinem tod zu wohnen
mein leben
ist mein gefängnis
in meinem gefängnis
habe ich alle lebenden tode
die mich suchen

Nachwort zu Käte Reiter: „Federort. Gedichte“. Düsseldorf 1973, S. S. 75- 77.

Biografie

© Ariane Neuhaus-Koch

Erinnerungen

Meine Jugend in Franken

Meine Jugend in Franken?! – Da taucht zuerst ein Haus auf, ein kleines Haus, das wir bewohnten. Hinter dem Haus war ein Garten, mit einer großen, einem Rundbau ähnlichen Laube. Später baute mein Vater sich ein neues Haus; aber die Gärten des alten und des neuen Hauses stießen zusammen und in das alte Haus zogen Verwandte. So blieb die Verbindung bestehen. Das neue Haus war groß, viel größer als das alte. Es hatte Säulen, Freitreppen, die Wände und Decken der Zimmer waren bemalt und überall war Raum, Licht, Sonne. Und der Garten des neuen Hauses war größer und herrlicher als der des alten. Es gab Rosen in Fülle. Buschrosen und hochstämmige. Mein Vater liebte sie. Mit zärtlicher Behutsamkeit schnitt er die schönsten ab, um sie seinen Gästen zu schenken. Blutbuchen standen im Garten, Wiesen gabs, Springbrunnen, einen Sportplatz und neben dem Sportplatz eine Allee junger, zarter, gebogener Weichselbäume, die im Frühling Wolken weißer Blüten trugen.

Das Bild wäre unvollkommen, wollte ich nicht eines Hauses noch gedenken, des Stammhauses der Leuchs, der Vorfahren meines Vaters, am Obstmarkt. Es reichte vom Obstmarkt bis zum Dötschmannsplatz und das Vordergebäude war mit dem Hintergebäude durch eine der in Nürnberg üblichen Galerien verbunden. In der Mitte war ein Hof. Im Hof stand ein vergessener Steinbrunnen. Dieses Haus war nicht so licht, nicht so schön wie das Haus draußen in St. Johannis; aber es hatte einen anderen Reiz für mich: es war mit allem Raunen der Vergangenheit durchzogen. Hier hatte mein Urgroßvater gelebt, Johann Michael Leuchs. Seine Vorfahren hatten den Leuchsenhof besessen; als Abkömmling eines Bauerngeschlechtes arbeitete er sich aus eigener Kraft empor. Er hörte in Wien Vorlesungen, in Köln, Amsterdam, Brüssel, Paris und Straßburg und kehrte dann nach Nürnberg zurück. Ueber 20 000 Bände umfaßte seine große Bücherei in dem Haus am Obstmarkt. Und alle Wissenschaften waren darin vertreten. Er schrieb das System des Handels und beschäftigte sich auch mit literarischen Arbeiten. Heute gilt er als der klassische Vertreter der Handelswissenschaften. Die Universität Köln liest ein Kolleg über ihn. Seinen Sohn ließ er durch Hofmeister unterrichten. Als er 1836 starb, führte mein Großvater seine verschiedenen Unternehmungen fort. Er begründete den Verkündiger, eine Zeitschrift, die Fichte zu ihren Mitarbeitern zählte. Nach einem halben Jahr mußte er ihr Erscheinen einstellen, auf Befehl Napoleons, da sie „einen bösen Geist zeige“ und die Freiheit in die Völker trüge. Dieser Großvater hat mehr als hundert Werke technischer, kaufmännischer, ökonomischer und staatswissenschaftlicher Art verfaßt. Er war Mitglied mehrerer gelehrter Gesellschaften. Zweimal wurden seine Arbeiten preisgekrönt. Für eine dieser Preisschriften über die Schönheit des menschlichen Körpers erhielt er die goldene Medaille von Harlem. Seinen stärksten Erfolg aber hatte er mit der Einführung des Adreßbuches von Europa. Er begründete den Generalanzeiger von Nürnberg, die spätere Nürnberger Stadtzeitung. Als er starb, führten mein Vater und seine beiden Brüder seine Arbeiten fort.

Unsere Ferien verlebten wir Kinder meist in Eschenbach bei Hersbruck. Lieblich anmutig an der Pegnitz gelegen, eingebettet in Wiesen und Wälder, war es so recht geeignet das Paradies unserer Kinderjahre zu bilden. Das Stammschloß der Freiherrn Ebner von Eschenbach steht in dem Dörfchen und hier habe ich zum ersten Mal einen Ahnensaal, Pergamentbriefe unter Glas und den Wehrgang eines Schlosses kennen gelernt. Später lernte ich dann das Stammschloß eines unserer ältesten fränkischen Adelsgeschlechter kennen, das der Freiherrn Stromer von Reichenbach in Grünsberg bei Altdorf, mit deren Nachkommen mich noch heute eine lebendige Freundschaft verbindet.

Denke ich an die zahlreiche Verwandtschaft in Nürnberg zurück, so sehe ich sie alle voll Rubensscher Weltfreudigkeit und Genußkraft, voll Eigenart und Selbstwilligkeit. Und solche, im besten Sinn der Erde zugewandte Gestalten waren es, die mir zur Seite traten, als ich den Pirkheimer schuf.

Meine Großmutter mütterlicherseits stammte aus München. Der König Max Josef wollte sie zur Sängerin ausbilden lassen: aber ehe ihre Ausbildung noch vollendet war, verheiratete sie sich. Neunzehnjährig. Sie sprach Latein, war voll Humor und konnte noch im Alter von 70 Jahren von aufbrausender Leidenschaft sein. Sie war eine gläubige Christin. Ich wähle absichtlich nicht das Wort Katholikin, denn ihre Söhne und Töchter heirateten in dem protestantischen Nürnberg Protestanten, und sie ist uns Enkelkindern immer eine tief fromme, nie aber eine konfessionelle Großmutter gewesen. Ihre Tochter, meine Mutter, erbte ihre vielfältigen Talente: ihre Lebensbejahung, ihre Geistigkeit, ihre Freude am Scherz; aber auch ihr Pflichtgefühl und vor allem ihre Fähigkeit, Aufschwung und Aufopferung in das Leben hineinzutragen.

Wir besuchten das Portsche Institut in Nürnberg. Wenn ich an unsern Schulweg denke, spüre ich immer noch den herben Hopfengeruch, der uns aus einer Gasse anwehte. Wenn man wollte, konnte man auch am Bratwurstglöcklein vorüber zur Schule gehn und unzertrennlich mit dem Bratwurstglöckchen ist mir das Bild eines großen Schweines verbunden, das abgebrüht da draußen vor dem Bratwurstglöcklein in einem Trog lag und in knusprige Würstchen verwandelt werden sollte.

Freundinnen hatte ich und hatte ich nicht. Drei von ihnen sind jung gestorben. Am liebsten spielte ich mit meinen Vettern. Später erst trat eine bedingungslose Hingegebenheit an Freundinnen ein. Bedingungslos in meinem Festhalten an ihnen. Ich konnte monatelang nichts von ihnen hören um ihnen doch die alte zu bleiben.

Ein kunstfreudiger Gönner unserer Stadt, Herr Oberamtsrichter Schrodt, versammelte junge Talente um sich. Dort begann meine Freundschaft mit Charlotte Westermann, der feinsinnigen Dichterin der Knabenbriefe, die eine außergewöhnliche Begabung auch auf das politische Feld rief.

Unsere Lehrer hab ich noch alle im Gedächtnis. Das stärkste Band aber umschloß mich mit einem Lehrer nach der Wahl unsres Seelsorgers Krausold: mit Dr. Schunck, der mit mir, in Eigenstunden, die Dramen der eben auftauchenden Dramatiker las. Auch griechische und römische Kulturgeschichte wurde durchgenommen, Homer gelesen, Aeschylos, Sophokles. Er brachte mir den Geist des Humanismus nahe und sein höchstes Ziel, die freie, volle Entfaltung der Persönlichkeit.

Später, in München, schloß ich eine weitere Freundschaft, der ich zu tiefem Dank verpflichtet bin, die teilnehmend und fördernd in mein Schaffen griff: die Freundschaft mit Franz Muncker, dem ordentlichen Professor der Literatur der Universität München. Mit ihm und seiner, nicht nur künstlerisch hochbedeutenden Frau, deren Heim noch jetzt einen Sammelpunkt des geistigen München bildet, machte ich Reisen ins Ausland. Doch das greift schon über Franken hinaus.

Meine besondere Liebe in Nürnberg gehörte dem Albrecht Dürerhaus und der Burg. Ich entsinne mich noch der Kaisertage in Nürnberg. Es gab ein großes Festessen im Rathaussaal. Da auch mein Vater, als Rat der Stadt, daran teilnahm, war es uns Kindern möglich, geführt von einer mitfühlenden Seele, in ein oberes Gemach des Rathauses zu gelangen, wo man von oben herab auf die Pracht sehen konnte. Mir ist noch das Lichtergeflirr der Kerzen und der Glanz der silbernen Teller erinnerlich, von denen zu Ehren des Kaisers gegessen wurde. Noch deutlicher aber entsinne ich mich des Hermelinumhanges der Kaiserin.

Er lag in diesem Gemach auf einem Stuhl. Ich fühlte ihn an und noch heute kann ich in mir das Gefühl des Staunens und der Ungläubigkeit zurückrufen, das mich überkam, darüber, daß es in meiner Macht lag, ihn anzurühren.

Am Sylvesterabend gingen wir Kinder immer mit der Mutter in die kleine Kapelle auf dem Johannisfriedhof. Schon der Gang an den Bronzeplatten der großen Toten vorüber, stimmte feierlich. Der Johannisfriedhof ist für mich der schönste Friedhof geblieben. Vor zwei Jahren sah ich ihn wieder. Die Rosen blühten. Die Vögel sangen… auf und neben dem Grab Albrecht Dürers saßen Wandervögel, Buben und Mädels, und der Himmel blaute. Da war kein Vergessen. Da war lebende Verbundenheit.

Italien, Sizilien, Schweden, Dänemark, Norwegen, Frankreich und den Westen und Osten Deutschlands hab ich durchzogen. Aber schöner als alles dünkt mich der silberne Bauch Frankens, der deutsches Wesen am innigsten spiegelt.

Quelle: Undatiertes vierseitiges Typoskript aus dem Nachlass von Hanna Rademacher im Frauen-Kultur-Archiv der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Historische Miniaturen

Anna Margarethe Fuggerin

„Muß i denn, muß i denn zu-um Städtele naus, Städele naus – u-und du, mei Schatz, bleibst hier“ – trällerte die junge Anna Margarethe Fuggerin vor sich hin, als sie rasch aber behutsam ein Kleid nach dem andern aus ihrem reichgeschnitzten Kleiderschrank zog um es dann nachdenklich, mit krauser Stirne kritisch zu betrachten.

„Das Leibfarbene tut es nicht,“ sagte sie laut vor sich hin, „und schon gar nicht das Schwarztafftene. Das ist zu düster und zu dicht .. Es muß eins sein, das Leben und Lustigkeit ausstrahlt, das keine Langeweile aufkommen lässt, -- ist doch der junge Kaiser Karl ein gar grämlicher Geselle, der den Mund nur auftut zum Essen und Trinken. Am besten ists, ich zieh das Rotsammtene an mit dem silbernen Latz in der Mitte und Perlen und Edelsteine so viel als die Kisten und Kasten hergeben“.

Und schon kramte sie in ihren goldbeschlagenen Schmuckkästen und nahm alles heraus, was ihr ihr Eheliebster von seinen vielen Reisen mitgebracht hatte. Da war vor allen Dingen eine Perle, „10000 Goldgulden wert“, die sollte an einer feinziselierten goldenen Kette auf dem silbernen Latz zu liegen kommen, und zwei Perlen, ihr ähnlich, aber kleiner und von einfacherem Wert, mußten an die Ohren, und auf ihrem braunen Haar sollte ein Reif aus Rubinen und Diamanten blitzen, … an den Fingern aber sollte alles funkeln, was sie an güldenen Ringen verziert mit Chrysopras, Saphiren, Türkisen, Opalen und Ametysten besaß. Die Majestät war Pracht gewohnt –

Die Anna Margarethe Fuggerin breitete stolz und zufrieden das rotsammtene Kleid auf dem großen polierten Tisch aus und legte die Schmuckstücke daneben. Sie war so in ihr Tun versunken, daß sie nicht bemerkte, daß die Türe aufging und ihr Mann hereintrat.

„Alles beisammen?“ frug er lächelnd als er die Pracht sah und sich über Anna Margarethe beugte um einen Kuß auf ihr Haar zu drücken.

„Ach, Jakob!“ Die Fuggerin sprang auf und legte die Arme um seinen Hals. „Meinst du, ich gefall ihm, dem Kaiser, in all dem Zeug und dem Plunder?!“

„Dem Kaiser?!“ lachte der Kaufherr. „Das ist ein kränklicher, mißtrauischer Knabe, der noch nicht weiß was das Schicksal mit ihm vorhat und wie er allem begegnen soll. – Mir – sollst du gefallen und mein Haus hast du zur Geltung zu bringen, obwohl auch die Kaiserliche Majestät weiß, wie es dasteht!“

„Natürlich weiß sie es,“ sagte die Anna Margarethe Fuggerin stolz und zufrieden. „Die römische Krone hätt er nicht erlangen könne ohne dich und dein Geld.“

„Geb es Gott, daß sie ihm zum Glück ausschlägt, ihm und uns,“ sagte Jakob Fugger einen Augenblick ernst und nachdenklich. Seine Stimme zog sich zusammen, glättete sich aber gleich wieder, als er sah, daß sein Weib besorgt zu ihm aufschaute.

„Mach dir keine Gedanken,“ sagte er rasch. „Wir haben getan, was wir für Recht hielten und was wir dem edlen Kaiser Maximilian, dem Großvater des jungen Kaisers, schuldig waren. Nun ists an ihm, an dem Enkel, hineinzuwachsen in die Macht und in die Verantwortung.“

„Warum kommt er zu Dir?“ frug die Anna Margarethe Fuggerin.

„Warum?! Meinst du nicht, daß er mir den Besuch schuldig ist, nach allem, was ich für das Zustandekommen seiner Wahl getan habe?! Auch glaub ich beinahe, es ist wieder etwas im Werk – und es sollte mich nicht wundern, wenn sein Besuch auf eine zweite Anleihe hinausliefe.“

Am Mittag des nächsten Tages saßen in dem großen marmornen Prunksaal des weitläufigen Hauses der Fugger, der junge Kaiser Karl, Jakob Fugger, seine Frau und der ständige Begleiter des jungen Kaisers, sein Erzieher und Kammerherr, Herr von Chièvres an dem mit Kristall, Silber und Blumen in verschwenderischer Pracht gedeckten Tisch.

Es gab gebratene Tauben, Hähne, Hühner, Gänse, und Weine aus Portugal und Spanien, ja selbst von den griechischen Inseln.

Der Kaiser, mittelgroß, blond, blaß, mit melancholisch verschleierten Augen und hängender Unterlippe, von Natur schüchtern und durch eine grobe Mißbildung seines Unterkiefers zum undeutlichen Sprechen gezwungen, hatte nach ein paar kurzen Sätzen, die ihm von seinem Erzieher eingeprägt waren, und die er nicht ohne eine gewisse Würde hervorgegurgelt hatte, eifrig den Speisen und den Weinen zugesprochen und seinem Kammerherrn und Erzieher die Mühe, für die in französischer Sprache geführte Unterhaltung, überlassen.

Dieser, ein eleganter, gepflegter Mann in den vierziger Jahren, der den ganzen Vormittag lang den Zwang hatte erdulden müssen, Bittsteller zu sein für eine neue Anleihe des Kaisers, entschloß sich nun kurzerhand, sich für die vermeintliche Erniedrigung seiner Person zu entschädigen, und nun seinerseits diesen Pfeffersack, wie er den reichen Fugger in seinen Gedanken nannte, empfindlich zu demütigen. Denn ungeachtet dessen, daß Jakob Fugger vor kurzem in den Grafenstand erhoben worden war, vermeinte Herr von Chièvres’ Hochmut noch immer in ihm den kleinen Händler und Raffer zu sehen, und es kam ihm jetzt, da er das Gold sicher in der kaiserlichen Kutsche wußte, unter der handfesten Bewachung von vier kräftigen Hellebardieren, nur darauf an, dem Jakob Fugger zu zeigen, daß man auch ohne Geld noch um ein Erhebliches über den hinausragte, der selbstsicher und zufrieden auf den aufgetürmten Ballen seiner Reichtümer tronte.

So sagte er denn zu dem neben ihm sitzenden Kaufherrn und die Zunge war ihm gelöst von dem Wein, dem er reichlicher zugespochen hatte, als seine vorsichtige und kalte Natur es sonst zuließ: „Eure Weine in Ehren – und Euer Geld. – Beides ist gut. Aber es wird erst vorzüglich, wenn es in unsren Händen ist und zu weittragenden Plänen Verwendung findet. Denn immer noch wird die Welt regiert vom Geist, der jeglichem Ding Wert verleiht, auch Eurem Geld, das in uns erst seine einwandfreien Meister findet.“

Aber ehe noch Jakob Fugger, der ruhig und bedächtig in seinem, von kostbarem Pelzwerk geschmücktem Gewand neben dem Kaiser saß und die Pflichten des Hauswirtes bereitwillig und höflich erfüllte, die anmaßenden und hochmütigen Wortes seines Gastes in seinem besonnenen Herzen gerecht überprüfen konnte, hatte sein Weib, die junge Anna Margarethe Fuggerin das Wort ergriffen, und jetzt sprach sie deutsch, denn was jetzt zu sagen war, konnte in keinen wälschen Lauten über ihre Zunge gehen.

„Gott hat die Stände erschaffen, aber den Hochmut hat er nicht gebraut. Ob Ihr mit Hilfe unserer Gulden regiert oder wir durch unsere Gulden mit Eurer Hilfe, das ist ihm alles Eins; das Eine ist ihm so viel wert wie das andere, wenn nur das Haupt, das für uns und für Euch die Verantwortung trägt, nicht wurmstichig ist und uns führt nach Seinem, des größeren Herren Gott, Wohlgefallen.“

Und bei diesen ihren Worten ließ sie als echte Tochter ihrer allezeit ewig jungen Mutter Eva ihre Grübchen spielen und warf ein wahres Feuerwerk von unschuldigen und zugleich wissenden Blicken auf den Kammerherrn, daß es diesem war, als habe ihn zu unrechter Zeit ein Funkeln der unerbittlich klaren Sonne getroffen und ihn in seiner ganzen, wenig anziehenden Nacktheit gezeigt.

Der Kaiser aber wandte die matten Augen, die unter den schweren Lidern fast verschwanden, auf den jetzt etwas zusammengesunken dasitzenden Kammerherrn. Er hatte nicht verstanden um was es sich handelte, denn er sprach ja kein Wort Deutsch und er war langsam und schwer im Auffassen, aber er sah zum ersten Male seinen Erzieher und Lehrer, der ihn beherrschte, und in strenger Form sein ließe, überrumpelt, verlegen, zum Schweigen gebracht, und die sonst so geschwinde Zunge spielte ihm unschlüssig im Maul.

Da wandte der Kaiser den Kopf nach der anderen Seite, um die anzusehen, die dieses Wunder vollbracht hatte, und was er da sah, zum ersten Male mit Bewußtsein sah an diesem Tag, denn vorher hatte er sich nicht die Mühe genommen, genau nach ihr hinzusehen, das war kein stolzes hochfahrendes Weib, und schon gar keine kalte, herrschsüchtige Hofdame, – was da neben ihm saß, was sich am Tisch neben ihm behauptete, klein, rundlich, mit roten Wangen, ohne Puder und Schminke, und mit einem herzhaften Brennen in den Augen, die sich voll Wißbegier und Bereitschaft gleichsam in alle Erscheinungen des Lebens hineinbissen, das war die Natürlichkeit selbst, die Gesundheit, die Geradheit, der unverfälschte Instinkt in eigener Person.

Und zum ersten Mal an diesem Tag lächelte der Kaiser, und er lächelte noch, als er später, mit den wohlverwahrten und wohl bewachten Gulden des reichen Herrn Fugger davonfuhr, in eine ungewisse Zukunft hinein, in eine, bereits von den nahenden Stürmen der Reformation aufgewühlte, drohende und unheilschwangere Gegenwart.

Quelle: Undatiertes viereinhalbseitiges Typoskript aus dem Nachlass von Hanna Rademacher im Frauen-Kultur-Archiv der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Mechthild von Magdeburg

„Gib mir, Herr, daß ich Deine Stimme höre, daß ich erkenne, wie Du es meinst. Denn meine Gedanken irren oft ab von Deinen Worten, das Tägliche durchkreuzt sie, wir aber sollen Erfüller Deiner Gebote sein. Gib, daß ich nicht in Anfechtung falle. Gib, daß ich nicht müde werde, Dir zu gehorchen. Laß mich Dein Geschöpf bleiben. Und, wenn es not tut, erfülle mich mit Deiner Glut. Gib meinen Worten Kraft. Umgürte mich mit der Gewalt Deines Zornes. Wahr laß mich bleiben um Deiner großen Wahrheit willen – Gerecht, um Deiner hehren Gerechtigkeit willen, aufrecht, um Deiner unumstößlichen Gewißheit willen… und immer und überall Dein eigen.“

Tief neigte die Nonne ihr Haupt. Ihr Kopf lag auf ihren gefalteten Händen, lange, so lange, bis eine wohltuende Wärme sie durchdrang, bis ihr Herz bebte vor Glück. – Gott hatte ihr Gebet erhört. Er hatte es in Gnaden angenommen. Gesegnet würde er sein, der Tag, und sie mit ihm.

Sie stand auf. Niemand außer ihr war im Dom. Senkrecht, leuchtend stiegen die schlanken Pfeiler in die Höhe und schlossen sich droben, wie sich der Himmel wölbt über der Erde, schützend, befreiend.

Sie trat auf die Straße. Eine Hand berührte sie. Sie sah in die weinenden, entzündeten Augen der alten Schwester Agnata.„Er kann nicht leben und er kann nicht sterben,“  flüsterte die alte Schwester. „Viermal schon wurde ihm die heilige Wegzehrung gegeben, aber es ist, als hielte ihn etwas ab, zu Gott einzugehen.“

„Ich komme,“ sagte die Nonne Mechthild. Kurz darauf stand sie in dem ärmlichen Stübchen des Kranken. Es war einer der einfachen Tagelöhner, wie sie zu Dutzenden am Rande der stadt wohnten, ein Mann, der täglich im Kloster gearbeitet hatte, der allen Nonnen vertraut war. Und nun lag er da und sollte sterben.

Seine Augen waren weit offen, aber es war keine Furcht in ihnen, nur eine abgrundtiefe Traurigkeit. Und plötzlich glaubte die Nonne zu verstehen, warum seine Seele sich so schwer von der Erde lösen konnte.

„Er hat Dir gedient, Gott,“ sagte sie heiß und laut und von Dankbarkeit erfüllt. Er hat Dir gedient, Gott, mehr als jeder andre Deiner Knechte. Warum läßt Du ihn nicht in Frieden sterben?! – Zürnst Du ihm, weil er deine Erde geliebt hat? Er hat sie geliebt mit der Einfalt und Inbrunst Deiner ersten Menschen, denen Du diese erde zum Geschenk gemacht hast. Er hat sie geliebt und er ging durch sie wie ein Kind, selig, und einer ungewissen Erwartung froh. Ein großes Staunen war in ihm und eine immer sich erfüllenmüssende Dankbarkeit. Mußt Du ihn nicht belohnen dafür, daß seine Augen hier unten schon das sahen, was Du das Ewige nennst? Warum also verwehrst Du ihm den Aufstieg in Dein Reich? Hat er nicht, mehr als jeder andere, deine Erde erkannt, als das, was Du wolltest, daß die Menschen in ihr sehen sollten? War ihm nicht jede Arbeit ein Dienst in deinem Namen? Geschah nicht alles, was er tat, um Dich zu ehren? – Nichts war ihm zu gering: das Holz, womit er die Dächer unserer Häuser ausbesserte, es war ihm nicht nur Holz, es wurde unter seinen Händen Schutz, Hilfe, Wärme, Geborgenheit… Grub er die Erde um in unseren Gärten, so lag sie da, wie von einer guten Hand aufgeschüttelt, locke rund leicht, und die Blumen blühten köstlicher und reicher. Göttlich war ihm Deine Erde… Göttlich der Dienst an ihr… Göttlich die Arbeit.

Heilig hielt er alles, was Deinen Odem trug. – Wenn Einer Deine Gebote erfüllt hat, dann war er es, Herr – Warum also verweigerst Du ihm jetzt den Aufstieg in Dein Reich? – Warum gönnst Du ihm die Heimkehr in Deinen Schoß nicht? – Nimm die Traurigkeit aus seinen Augen – Laß ihn wissen, daß es gut und recht ist, das Himmelreich auf Erden zu formen, sag ihm aber, daß droben bei Dir die Bäume machtvoller rauschen, die Brunnen gewaltiger springen! Sag ihm, daß diese Deine Erde nur ein schwacher Abglanz der Herrlichkeiten Deiner Himmel ist – Sag ihm, daß droben bei Dir ein unendlicher Friede auf die wartet, die hier unten ihre Arbeit getan haben – ein Friede und eine alles überstrahlende selige Heiterkeit!“

Das Gesicht des Sterbenden hatte sich erhellt. Er hatte die Worte der Nonne gehört und jetzt sah er es ganz deutlich: eine Leiter senkte sich herab vom Himmel auf die Erde, und er stieg empor in eine rosenrote Halle, mühselig zuerst, dann immer leichter, befreiter, hinein in die kristallklare Ewigkeit.

Quelle: Undatiertes zweieinhalbseitiges Typoskript aus dem Nachlass von Hanna Rademacher im Frauen-Kultur-Archiv der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Biografie

Am 22. November 1879 in Düsseldorf geboren, verbrachte Leonore (Nora) ihre Jugend im elterlichen Haus auf der Grafenberger Allee 64. Durch die Mutter gefördert, die aus England stammte und mit Walter Scott verwandt war, entwickelte sie literarische Neigungen. Vom Vater, dem Landschaftsmaler Heinrich Deiters, erhielt sie früh Malunterricht, um die Tradition der Familie später auch als Beruf fortzusetzen.

In dem von Heinrich Deiters verfassten Festspiel zum 50. Jubiläum des Malkastens spielte sie 1898 die Düsselnixe. Nora hatte eine enge Bindung zu ihrem Bruder Hans, dem späteren Kunstmaler. Sie absolvierte die Marienschule. Einige frühe Prosastücke und Gedichte wurden in den folgenden Jahren in Düsseldorfer Zeitungen abgedruckt.

Bedingt durch die Heirat mit dem Kölner Rechtsanwalt Dr. J. Niessen zog sie 1903 nach Köln und widmete sich nach der erfolgreichen Veröffentlichung der Erzählung „Jan Schüddeboom“ in der „Kölnischen Zeitung“ ganz der Schriftstellerei. Gedichte veröffentlichte sie weiter in Düsseldorfer Zeitungen.

Auf den 8. Kölner Blumenspielen, von der Literarischen Gesellschaft durchgeführt, wurde sie 1906 zur Blumenkönigin gekürt in Anerkennung ihrer lyrischen Leistungen. Bei der Enthüllung des Kinkel-Denkmals in Bonn huldigte Leonore Niessen-Deiters der Bonner Autorin Johanna Kinkel.

Im Cotta-Verlag erschien 1907 ein erster Erzählband „Leute mit und ohne Frack“, mit Scherenschnitten von Hans Deiters. Die „Neue Hamburger Zeitung“ prägte dafür den Begriff „poetische Silhouetten“: „Ihre Wirkung beruht wie die Silhouette auf strenger Beobachtung einerseits und virtuoser Beherrschung eines knappen einzigartigen Ausdrucksmittels andererseits“ (1. März 1908). In der „Kölnischen Zeitung“ erschien eine Reihe weiterer humorvoller, satirischer bis ernster Kurzgeschichten, die bei Cotta ein Jahr später im Band „Mitmenschen“ gesammelt wurden.

Die Autorin trug ihre Texte vor der Literarischen Gesellschaft in Köln zu Beginn des Jahres 1910 vor, des Weiteren im Kölner Frauenklub und im Düsseldorfer Malkasten. Ende 1910 erschien ein weiterer Erzählband „Im Liebesfalle“. Dazu führte Karl Freiherr von Perfall in der „Kölnischen Zeitung“ aus: „Neben ihrem graziösen, das Leben mit gutmütiger Ironie betrachtenden Humor zeigt sie auch diesmal, dass sie recht wohl, wie jeder echte Humorist, in den Ernst des Lebens hineinblicken und mit beweglicher Stimme uns zum Mitleid wirksam auffordern kann“ (23. Dezember 1910).

Unter „Belletristische Kleinkunst“ fasste die „Kölnische Zeitung“ den 1912 in der Deutschen Verlags-Anstalt erschienenen Band „Die unordentlich verheiratete Familie“, der 1913 bereits die 3. Auflage erreicht hatte. Ihr erster Roman erschien 1912, „Der Faun“, ein Liebesroman im Düsseldorfer Malermilieu, der ein Malkastenfest von 1888 zum Ausgangspunkt hat. „Treffliche Milieu-Schilderung und gut gesehene Gesellschaftsbilder aus dem Leben der rheinischen Kunststadt“ sah die „Wiesbadener Zeitung“ darin gestaltet (4. Mai 1913).

Eine stark deutsch-nationale Gesinnung fand ihren ersten Ausdruck im Band "Die deutsche Frau im Auslande und in den Schutzgebieten"(1913).

Auf einer Südamerikareise, die sie 1914 im Auftrag der „Kölnischen Zeitung“ unternahm, lernte sie den Juristen, Historiker und Diplomaten Ernesto de Quesada kennen. Im ersten Kriegsjahr verfasste sie die deutsch-patriotischen Artikel „Zum großen Krieg“, für die sie ca. 12 Veröffentlichungsorgane fand. Als „Kriegsbriefe einer Frau“ erschienen sie 1915 in Buchform. In verschiedenen Städten hielt sie Vorträge über „Deutsche Frauen als Kulturträgerinnen im Ausland“. Sie war Mitbegründerin des Auslandsbundes Deutscher Frauen. Auch in der politischen Flugschrift „Krieg, Auslandsdeutschtum und Presse“ schlug sie nationalkonservative Töne an.

Nach der Scheidung von ihrem ersten Mann zog sie 1919 nach Buenos Aires zu Ernesto de Quesada. Sie veröffentlichte in den folgenden Jahren sowohl in deutschen Zeitungen und Zeitschriften, an erster Stelle in der „Kölnischen Zeitung“ und in der Illustrierten Wochenschrift „Reclams Universum“, als auch in deutsch-argentinischen, zum Beispiel in der „Deutschen La Plata Zeitung“. Leonore N.-Deiters de Quesada, wie sie jetzt ihre Artikel zeichnete, wendete sich mehr und mehr dem Kulturjournalismus zu. Eine große Besprechung von Oswald Spenglers „Untergang des Abendlands“ erschien 1922, eine Studie über die Nibelungen 1923, ebenso eine über Wagner und Mathilde Wesendonk (die beiden letztgenannten auf Spanisch). Sowohl mit dem Philosophen Oswald Spengler als auch mit dem Schriftsteller Rudolf Herzog waren sie und Quesada befreundet.

Von Spiez in der Schweiz aus, wo sie inzwischen in der Villa Olvido beheimatet war, knüpfte sie 1930 wieder Kontakte zur „Kölnischen Zeitung“ und zur „Neuen Deutschen Frauenzeitschrift“ und veröffentlichte Auszüge aus ihrem „Seetagebuch“. (Das Manuskript dazu befindet sich im Teilnachlass im Frauen-Kultur-Archiv).

Im Februar 1934 starb Ernesto de Quesada, nachdem er seine Bibliothek von 82000 Bänden dem Ibero-Amerikanischen Institut in Berlin geschenkt hatte. Aus dieser Zeit haben sich Gedichte von ihr erhalten. Am 29. Juni 1939 starb die Autorin mit 60 Jahren nach langer Krankheit in Spiez.

© Ariane Neuhaus-Koch, Frauen-Kultur-Archiv

Texte der Autorin

Eine Denkmalsenthüllung in Düsseldorf (1914)

„Die Stadt Düsseldorf ist sehr schön, und wenn man in der Ferne an sie denkt und zufällig dort geboren ist, wird einem wunderlich zu Mute. Ich bin dort geboren, und es ist mir, als müsste ich gleich nach Hause gehn. Und wenn ich sage, nach Hause gehn, so meine ich die Bolkerstrasse und das Haus, worin ich geboren bin.“

Als ich das zum ersten Mal las, war ich ein Kind und hockte mit glühenden Backen über dem Buch Le Grand. Damals bin ich zum ersten Mal aufrichtig stolz auf meine Vaterstadt gewesen; und ich wunderte mich, wie man etwas so Buntes und Schönes und bis zum Herzklopfen Berauschendes aus den nämlichen Strassen und Gassen machen könnte, durch die man mit seinem Schulranzen trabte oder durch die man mit seiner Mutter zur Kirche ging.

„Die Stadt Düsseldorf ist sehr schön – “

Das habe ich nun heute morgen wieder gelesen. Es stand mit säuberlich gemalten Buchstaben auf einem Schild, und das Schild hing im Wirtshaus „Zum goldenen Kessel“ auf der Bolkerstrasse in Düsseldorf, grade gegenüber dem Geburtshaus des vielgeliebten, vielgeschmähten und viel nachgeahmten Rheinländers und Juden Harry Heine.

Vor der Tür hatten Lorbeerbäume gestanden. Eine lange Fahne hatte herausgehangen, darunter stand zwischen Lastfuhrwerk und Handwagen etwas vereinsamt und nicht ganz in den Stil der alten Bolkerstrasse passend ein einzelnes Automobil, und drum herum balgten und schubsten sich neugierig ein Haufen rotznasiger kleiner Kluten: „No süch! Wat es denn do loss?“ –

Und dann ist es drinnen beängstigend voll Menschen. Im Flur, im Weissbierausschank – in der Kneipe. Herren und Damen, Menschen aus den verschiedensten Lebenskreisen. Für den Stadtkundigen manch bekanntes Gesicht darunter. Das drängt und schiebt vorwärts, an einer Ecke vorbei, wo vor einem schwarzverhüllten Etwas ein Busch frischer Blumen duftet. Ein wunderliches Gemisch ist das: der süsse Duft der Blumen, beissender Tabakrauch – ernsthafte Erwartung, Witzworte, die leicht hin und wieder schwirren – das Gefühl des Zuhauseseins und zugleich das des ironischen Protests.

Jetzt kann wahrhaftig keine Seele, weder sitzend noch stehend, mehr Platz finden. Die „Köbese“ drängen sich schwitzend und beschwerlich kaum noch durch mit ihren Flaschen und Gläsern. Man könnte denken, es wäre Rosenmontag, aber ein Rosenmontag mit einem ernsthaften, fast wehmütigen Nebenklang.

Und dann schweigt langsam alles still. Von Meisterhand gespielt perlen die Weisen Robert Schumann’s süss und rein über diese bunte Menge in der Altdüsseldorfer Weissbierkneipe. In der folgenden Stille aber steht plötzlich ein Rheinländer, Herbert Eulenberg, neben dem schwarzverhüllten Etwas in der Ecke und spricht den Festtext zu dieser Feier, zu der sich, wie er es ausdrückt, „das mündige Düsseldorf“ zusammengefunden habe: zur Feier der Enthüllung des ersten Heinedenkmals in seiner Geburtsstadt Düsseldorf.

Denn das ist der Sinn des Lorbeers, der Blumen, der langen Fahne, des einsamen Automobils und der dicht gedrängten Menschenmenge. Unter den brausenden Hochrufen der versammelten Menge verwandelt sich das schwarzverhüllte Etwas flugs in weissschimmernden Marmor, in eine Büste des jugendlichen Heine. Dann aber bekommt augenblicklich Harry Heine selbst das Wort mit den allerschönsten Liedern aus der „Dichterliebe“ (von E. Hanfstängl und Kapellmeister Schwarz meisterlich interpretiert), und im Nu schafft sich der alte Hexenmeister diese bunte, zusammengewürfelte Menge in eine andächtige Gemeinde um.

„Keine Messe wird man singen, keinen Kadosch wird man sagen –“?

Freilich ist dies eine Feier eigner Art. Eine putzige Art einer Denkmalsenthüllung.

Kein Frack. kein Stern. Keinerlei Spitzen der Behörden. Nicht einmal Spitzen der Gesellschaft. Sogar nicht einmal ein Komitee im Bratenrock mit ’nem Schleifchen im Knopfloch. Rein gar nichts von alledem. Wie gesagt: Ein Altdüsseldorfer Wirtshaus auf der Bolkerstrasse, mit dem manchmal sogar fast zu lauten Geräusch und Gemurmel des Wirtsbetriebes und des Strassenlärms im Hintergrund – einem Geräusch, als wollten die ewigen Meinungsverschiedenheiten über diesen unruhvollen Geist immer noch nicht zur Ruhe kommen. Und darüber wegklingend das „Am Rhein, am heiligen Strome“ und eine weisse Büste im Hintergrund. Und als die Künstler drinnen schweigen, setzt sich der Gesang draussen im Volksliedton fort und in den noch nicht beendeten Applaus mischt sich schon die erste Strophe der ewigjungen Loreley –

Nebenbei gesagt: die Büste ist gut. Einfach, grosslinig. Der Bildhauer Jungbluth-Sahl hat sie gemacht und sie verdiente wohl, im Grünen der Sonne zu stehen statt in der Ecke einer Altstadtkneipe.

Aber nun hat sie der „Goldene Kessel“, und es gebührt ihm der Dank dafür. Er sollte mit in die Heineliteratur aufgenommen werden dafür, dass er im Jahre des Heils 1914 dem Harry Heine aus der Bolkerstrasse das erste Denkmal auf Düsseldorfer Boden setzte – wenn es auch, wie Eulenberg sagte, eine Art „Käfigdenkmal“ ist.

Aber was das Denkmal anbetrifft - - -  Lieber Gott ja. Wenn sich für einen nach hundert Jahren so viel unterschiedliche Menschen am Werktag in einem schlichten Altstadtwirtshaus zusammenfinden, wo man weder „bemerkt“ noch dekoriert noch sonst irgend etwas werden kann, wo keiner die geringste Aussicht hat, selber irgendwie in die Erscheinung zu treten, schon aus dem einfachen Grunde, weil es dazu viel zu eng und zu winklig ist – wenn einen nach hundert Jahren die Künstler ehren und die Bürger lieben und das Volk singt – lieber Gott ja, da möchte man schon lieber eine Büste in der Ecke vom Goldenen Kessel an der Bolkerstrasse haben, als ein prächtiges Denkmal, zu dem sich alsmal ein durchreisender Fremder verirrt, die Brille auf die Nase setzt und den Sockel studiert, um zu lesen, wie der Kerl doch wohl geheissen hat - - - -

(Die Denkmalenthüllung fand am 9. April 1914 statt.)

Quelle: Undatiertes maschinenschriftliches Manuskript aus dem Teilnachlass von Leonore Niessen-Deiters im Frauen-Kultur-Archiv der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf]

Rezensionen zu den Erzählbänden

Rezensionen zu „Mitmenschen“, Stuttgart, Berlin 1908

Wie im „Leute mit und ohne Frack“ deutet auch der Titel von Leonore Niessen-Deiters jetzt erschienenem Novellen- und Skizzenbande „Mitmenschen“ auf ein Element der Gesellschaftssatire. Und hier wie dort deutet er ferner an, daß die Schärfe des Spottes von liebevollem Verstehen des Mitmenschen gemildert ist. Die herzliche Beziehung der Dichterin zu ihren Gegenständen, die deutlich genug auch aus der knappsten Linienführung, der schärfsten Pointierung spricht, stellt Leonore Niessen-Deiters in die Reihe der wahren Humoristen. Freilich ist ihre besondere Note die knappe Artistik, wie in der Skizze „Die Welt von der anderen Seite“. Besonders liebevoll und auch detaillierter ausgemalt sind ihre Frauengestalten, von der gutmütigen, unglaublich gutmütigen „Mutter Schanettchen, die Konsequente“ – den Lesern der Neuen Hamburger Zeitung aus dem Feuilleton bekannt – bis zu den schrulligen alten Schachteln, den Piepjunges, die sich 13 Jahre mit ihrem Pflegesohn quälen, bis er auf die Universität zieht, ihr jungfräuliches Heim von seiner männlichen Gegenwart erlösend, um den Entsetzten nach kurzer Zeit – einen neuen Pflegesohn ins Nest zu legen. Wie die Piepjunges dies schreckliche Begebnis auf die von ihnen verabsäumte „Aufklärung“ des jungen Mannes schieben, ist mit köstlichstem Humor geschildert. Mit derselben Beherrschung der Form, die in Kunstdingen den Ausschlag gibt, schlägt Leonore Niessen-Deiters auch tragische Akzente an: „Giovanna Testa“, „Eine glänzende Partie“. Den Schattenrissen vergleichbar, mit denen der Bruder der Verfasserin, der Düsseldorfer Maler Hans Deiters, auch dieses Buch wieder geschmückt und besonders wertvoll gemacht hat, ihnen vergleichbar an anmutig beweglicher, subtil hingehauchter Wirkung ist „Eine Begegnung“ im Walde zwischen einem eben entsprungenen Zuchthäusler und einer jungen Spaziergängerin. Der hohe künstlerische Wert des Buches, die warmen Herzenstöne, das aus dem wohlvertrauten täglichen Leben gewählte Stoffgebiet machen es zu einem Volks- und Familienbuche in des Wortes edelstem Sinne. Möge uns die Dichterin deren noch viele schenken. (Oswald Pander)

In: Neue Hamburger Zeitung, 5. 12. 1908.

Ernst und ein feiner besinnlicher Humor mischen sich auch in dem Geschichtenband „Mitmenschen“ von Leonore Niessen-Deiters (mit köstlichem Silhouetten-Buchschmuck von Hans Deiters, erschienen bei J.G. Cotta Nchf., Stuttgart und Berlin. 1908. Geh. 3 M.).

Die Verfasserin ist einer scharfe Beobachterin des Lebens, eine seelenkundige Betrachterin besonders der sonderlichen und kuriosen Käuze, die in dieser Welt herumlaufen und die sie besonders ins Herz geschlossen hat. Zugleich verfügt sie über einen feinen Spott, eine liebenswürdig-überlegenen Ironie, die all ihre abgerundeten und sicher pointierten Schilderungen menschlicher Eigenschaften und gesellschaftlicher Zustände unendlich reizvoll und anziehend machen. Prächtig weiß sie die bösartige Klatsch- und Verleumdungssucht ihrer geschätzten Mitmenschen etwa in der „Geschichte von drei Seiten“ zu verspotten; sie zeichnet in „Mutter Schanettchen, der Konsequenten“ das schalkhaft lebendige Charakterbild einer unverbesserlich gutmütigen Frau, deren Verstand einen ständigen Kampf mit ihrem Herzen führt und ständig darin unterliegt; sie läßt einen grimmeren Humor spielen, wenn sie in „Onkel Theodor“ die Erbschaftsberechnungen einer Familie an der unverwüstlichen Lebenskraft eines verkommenen alten Junggesellen zu schanden werden läßt, dem das grausame Geschick es vergönnt, alle seine Erbe zu überdauern. Auch tragische Töne stehen ihr zu Gebot, wie die Liebesnovelle „Giovanna Testa“ und die „Glänzende Partie“, eine scharfe Kritik der üblichen Berechnungs- und Geldheiraten, zeigen, aber diese Arbeiten haben doch nicht die selbständige und eigenartige Haltung, wie die übrigen, in denen Humor und Ironie in allen Spielarten vom Uebermut bis zum Lächeln unter Tränen triumphieren. Da eignen Frau Nießen-Deiters Frische und eine aus Lebenskenntnis erquellende Liebenswürdigkeit des Verstehend, Originalität der Einfälle und Knappheit der Ausdrucksmittel. Und selbst, wo sie ein so altes Thema aufgreift, wie die Verspottung gesellschaftlicher Torheiten in der Schlußgeschichte „Närrische Hühner“ (die unsern Lesern übrigens aus der Sonntagsbeilage bekannt ist), weiß sie ein neue, apart und amüsante Seite aufzudecken.

In: Allgemeine Zeitung, Königsberg, 19.02.1909.

Rezensionen zu „Im Liebesfalle“, Stuttgart, Berlin 1910

Mit ihrem Drillingswerk bietet uns die Verfasserin eine Fortsetzung fein pointierter Schöpfungen aus dem Innenleben, die wir schon in ihren beiden Vorläufern zu schätzen gewußt haben. Wie es schon gewohnheitsmäßig geworden, fehlen die künstlerisch hervorragenden Silhouetten des Bruders der Schriftstellerin auch in diesem Werke nicht und bieten uns eine edel einzuschätzende Belebung der beschriebenen Seelenakte. Unter den sechs Titeln der Schilderungen bieten vier einen tiefgehenden Einblick in das Denken und Fühlen des bäuerlichen Milieus und führen uns, das Erotische fein verhüllend, an von der großen Menge als „unsittlich“ gekennzeichneten Lebensfragen des Naturmenschen vorbei, uns zugleich die eifrige Hingabe der Verfasserin für das Studium dieser Klassen vor Augen führend. Eine Kleinmalerei, die kaum durch Zolasche Werke übertroffen werden konnte, bietet sich uns in reichstem Maße dar und verleiht den an und für sich kurzen Fabeln der einzelnen Abrisse ein volle Aufmerksamkeit der Leser weckendes Interesse. In der „Stina Rapps“ finden wir einen leichten Ueberschuß von Gedankenmalerei, die in den übrigen kurz gefaßten Schilderungen nicht zu so krasser Geltung kommt, als hier; doch löst der tragische Schluß dieses Dramas eine nervenspannende Empfindung des Lesers gleichzeitig derart aus, daß die vorhergegangenen Längen verblassen. Die „Heim“ betitelte Schilderung spielt in die Wohltätigkeitsmanie der höheren Gesellschaftssphäre hinüber und gibt uns Bekanntes in neuer Form zu belächeln. „Ein Brief“ ist unseres Erachtens ein Seelenakkord, der vielfach im Herzen so manchen Lesers und so mancher Leserin nachhallen dürfte und gerade seiner Kürze wegen am nachhaltigsten Wirkung ausübt. Wir wollen nochmals zum Schluß des wirklich hervorragenden Buchschmuckes von Hans Deiters, Düsseldorf, Erwähnung tun, dessen Begleitung zum Erwerber dieses Buches ein Schatz an und für sich bedeutet, und dasselbe zur Zierde eines jeden Weihnachtstisches dienen dürfte.

In: Lübeckische Anzeigen, 5.11.1910.

[…] Die beiden von der Kritik günstig aufgenommenen Werke „Leute mit und ohne Frack“ und „Mitmenschen“ haben den Namen der rheinischen Erzählerin bekannt gemacht. Auch dies neue Buch Erzählungen und Skizzen ist eine reife Gabe, ein Werk voll Humors tiefsten Ernstes und mit einem Einschlag treffender Satire. Die Dichterin zeigt uns verschiedenen Arten der Liebe oder dessen, was man so nennt. Der Schauplatz ist das Dorf oder die Kleinstadt, beide ebenso gut gesehen und charakterisiert wie die Menschen. Die größere Novelle „Stina Rapp“ ist das feinste Stück des Bandes. Mit großer dichterischer Kraft ist da ein eigenartiges Frauenschicksal bis zum erschütternden Ende dargestellt. „Liebe“ und „Die Unschuld vom Lande“ sind vortreffliche Ausschnitte aus dem Lebe einfacher  Menschen mit ganz unkompliziertem Empfinden, und eine kräftige Satire auf die Mitwirkung von Damen der Gesellschaft die Skizze „Das Heim“. Alle diese Stücke und noch zwei andere schmückte der Bruder der Verfasserin mit Bildern voll Reiz, die nach Silhouetten hergestellt wurden, die der Künstler mit der Schere schnitt. Das Buch ist zu empfehlen.  L. Schr.

In: Leipziger Neueste Nachrichten, 12.12.1910.

Rezensionen zu „Die unordentlich verheiratete Familie“, Stuttgart, Berlin 1912

Was ist das: eine unordentlich verheiratete Familie? Der auf dem Umschlag stehende Storch, der lustig klappernd einen Stammbaum zu studieren scheint, läßt im Verein mit diesem Titel kleine pikante Geschichten erwarten, wie sie auch der ernster gerichtete Leser zur Abwechslung einmal nicht verschmäht. Aber das neue Buch der Niessen-Deiters bringt doch mehr. Diese Reihe anscheinend bunt zusammengewürfelter Erzählungen und Skizzen, die indessen nach einem ganz bestimmten Plane geordnet sind, macht uns mit allen Mitgliedern einer weitverzweigten Familie bekannt, den braven, bürgerlich soliden, zum Teil sogar zu „höheren Schichten“ der Gesellschaft aufgestiegenen und den verwilderten, in der Welt herumzigeunernden, die unverschämt genug sind, den riesigen Abstand von jenen gar nicht einmal zu erkennen. Auf ein Familienmeeting bringt das Haupt der Familie, die unglaublich vornehme Tante von Meier – der Onkel fabriziert Emaillewaren, züchtet Vollblut und ist für seine Verdienste um die Landwirtschaft geadelt –, alle Angehörige des Geschlechts, die ihr etwas zu versprechen scheinen, zusammen, um den Familiensinn zu stärken und die „ordentlich“, d.h. standesgemäß Verheirateten und aus solchen Ehen hervorgegangenen zu einer engeren Verbindung zu vereinigen, mit der sie prunken kann. Und sie muß es erleben, daß die Zahl dieser „Ordentlichen“ bei näherem Zusehen schauderhaft zusammenschrumpft! Die einzige „Adlige“ des Kreises entpuppt sich als ein verarmtes Fräulein, das in Stellung ist und Zwirnhandschuhe trägt, der „dekorative“ Vetter Udo, ein schneidiger Kavallerieleutnant, hat seinen Attila mit dem Zivil des Weinagenten vertauschen müssen, der vermeintliche Großkaufmann vom Rhein ist ein Kleinkrämer untersten Ranges und die Gattin des weltmännischen Egon Lobschütz führt sich gar als Exzentrik-Tänzerin Fanny-Fanny vom Wintergarten ein. So wird der schöne Bund gesprengt, noch ehe er geschlossen, und die Tante von Meier verläßt mit den Einzigen, die ihrer würdig, einem hanseatischen Landrichter und einem Fräulein Klotilde, der „Tante mit den vornehmen Bekanntschaften“, zürnend den Familientag. Sehr ergötzlich und mit liebenswürdiger Bosheit schildert die Verfasserin in den folgenden Kapiteln: „Fanny-Fanny“, „Das unverschämte Fräulein“, „Tante Klotildens Brunnenbekanntschaft“, „Udo der Edelsozialist“ und „Onkel Felix“, die Vorgeschichte und die weiteren Schicksale der Helden dieser Familien-Komödie, wobei es weiter nicht verwunderlich ist, wenn die Unordentlichen, das arme „Fräulein“, die Tingeltangeltänzerin usw. sich als aufopfernde, seelisch starke Naturen erweisen, während die Ordentlichen sich allesamt sehr blamabel aufführen. Von besonderem Reiz ist in dem frisch geschriebenen Buche die originelle Gestalt des gelehrten Onkel Felix, der allen Leuten die Wahrheit sagt und dem es Vetter Udo, der Edelsozialist, zu danken hat, wenn er nach einer verzettelten Jugend noch ein Mann wird. Die einzelnen Geschichten, deren Grundstimmung Humor ist, obgleich sie keineswegs im landläufigen Sinne humoristisch sind, sind mit fein-satyrischen Zeichnungen von Hans Deiters geschmückt.

In: Hannoverscher Curier, 17.09.1912.

Immer mit dem gleichen Vergnügen begegnet man dieser so humorreichen, lebenskundigen und liebenswürdigen Schriftstellerin. Ich habe die Freude gehabt, schon manchen ihrer Romane von ganzer Seele über das Schellendaus loben zu können; dem vorliegenden neuen Werke erweise ich mit Vergnügen denselben Liebesdienst. Frau Niessen-Deiters löst diesmal die Romanform auf lustige Art in ein Geschichtenbündel auf, und eine kostbare Galerie närrischer, böser und guter Käuze stellt sich vor, denen die Verfasserin, als Verkörperung der ausgleichenden poetischen Gerechtigkeit, Strafe und Belohnung nach Verdienst zuteilt. Es ist nicht genug gesagt, wenn man in jede dieser Figuren verliebt zu sein behauptet; man lebt mit ihnen; glaubt sie seit Jahrzehnten zu kennen und lächelt bewegt über ihr Geschick und Mißgeschick. Auch die schwächeren Kapitel, z.B. das über Udo, den Edelsozialisten, der sich nachher dank einer großen Erbschaft so wunderbar zum Edelmenschen entwickelt, machen der Verfasserin noch hohe Ehre. Die feine Herzenskündigerin hat und wieder ein Buch voll Musik und Glockenklang, dabei doch auch voll hellem, echtem, kernigem Gelächter und überlegener Weltweisheit geschenkt. (r.n.)

In: Deutsche Tages-Zeitung, 28.09.1912

Autobiografisch-regionale Texte

Eine Kindheit im alten Düsseldorf

Von dem heutigen Düsseldorf, das als eine der schönsten Städte der Rheinlande gilt, weiß ich nichts zu sagen. Es ist mir fremd. Fremd geworden wie ein Gesicht, dessen liebe Züge man aus der Jugendzeit her genau im Gedächtnis trägt, das man zeichnen könnte, wenn man das Talent dazu besäße, in das man sich aber nicht mehr hineinfinden kann, wenn man es nach Jahren wiedersieht, weil aus dem schlichten Kindergesicht mit den einfachen Linien ein kom­pliziertes geworden ist – das Gesicht einer vornehmen, eleganten Frau.

Ach, mein Düsseldorf, nein, du bist es nicht mehr! Wenn ich jetzt auf meiner Fahrt nach der Eifel in Düsseldorf Halt mache, um das Grab meines Vaters zu besuchen, der draußen weit an der Golzheimer Heide seine letzte Ruhe gefunden hat, dann fahre ich durch lauter Straßen, die ich nicht kenne. Das sind lange, breite, wohlgepflegte Straßen, und die elektrischen Bahnen rollen, und die Autos tuten, und die Droschken beeilen sich; das ganze laute, hastige Treiben einer Großstadt umfängt mich. Und ich stehe verwirrt, und es wird mir so wehmütig: wo ist mein stilles, gemütliches, altes Düsseldorf geblieben? Es lebt nur noch in meiner Erinnerung.

Und so bitte ich denn die, die mit mir durch Düsseldorf wandern wollen, sich in die Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückzuversetzen, in denen noch die alte Akademie, das frühere kurfürstliche Schloß stand – unweit davon, wo jetzt die großartige Brücke herüberführt nach Krefeld – und mit schwärzlichen Augen hinab auf den Rhein blickte. Schön war sie nicht, die alte Akademie, und ich bin gewiß, die neue am Hafen ist auch ungleich zweckentsprechender, aber wenn man von der „Anderen Seite“ herüber nach dem düsteren Gemäuer blickte, dann machte sich das sehr malerisch, und es kroch einem zugleich an angenehmer Schauer über den Rücken. Da oben in jenem Saal, da – da ließ sich zuweilen die schöne Jakobe von Baden sehen, die unschuldig Gemordete. Sie eilte im weißen Nachtgewand mit fliegenden Haaren an den Fenstern vorbei und suchte ihren Häschern zu entkommen. Der Wind vom Rheine blies, er winselte und pfiff um die vorspringenden Simse – das war der Jakobe Klageruf, der immer noch nicht schwieg! –

Die Akademie brannte ab, als ich noch ein kleines Mädchen war. W a n n  weiß ich nicht genau; ich weiß nur, dass ich die Masern hatte und starkes Fieber, und meine gute Mutter deshalb die Nacht an meinem Bettchen saß. Es mochte Mitternacht sein. Da ging ein Lärmen und Tuten, ein Schreien und Laufen auf unserm sonst so stillen Schwanenmarkt los, daß ich aus wirrem Schlummer aufschreckte. Halb war’s Wirklichkeit, halb Fiebertraum – läuteten nicht alle Glocken? Die eine dröhnend dumpf, die andere wimmernd hell: „Bimbam, bim bam bum!“ – Rettet, helft! Das alte Schloß brennt! Alle Bilder brennen! Alle Häuser rundum bren­nen! Ganz Düsseldorf steht in Flammen!

Meine Mutter hatte die Läden zurückgestoßen und das Fenster geöffnet – unser Zimmer lag zu ebener Erde – sie beugte sich weit heraus.

„Mutter, Mutter, brennen wir auch ab?!“ Oh weh, wie sollte ich wohl so geschwind weglaufen können, ich war doch krank! Meine Stirn glühte, und doch klapperten mir die Zähne, der Angstschweiß brach mir aus, wirre Gedanken jagten durch meinen schmerzenden Kopf. „Mutter, Mutter!“ – Da legte meine Mutter ihre kühle Hand auf meine Stirn: „Schlaf, mein Kind, schlaf! Was sprichst du denn von brennen?! Draußen sind Angetrunkene, die ma­chen Lärm auf dem Schwanenmarkt!“

Aber am Morgen war’s doch wahr, am Rhein ragten ausgebrannte Mauern traurig in den noch von Qualm umdüsterten Himmel – das alte Schloß war nicht mehr.

Noch eine Weile standen seine Trümmer. Wir sahen sie, wenn wir zum Zolltor hinausspa­zierten, am Rhein entlang auf holperigem Pflaster, um zu den Äpfeln zu gelangen, die zur Herbstzeit gerade da aus den Kähnen geladen wurden und in Körben, wohlgeordnet in Reih und Glied, verlockend leuchteten. Ich habe nie mehr in meinem Leben solch schöne Äpfel ge­sehen, auch nicht in Bozen und Meran, dem gepriesenen Obstland. Es gab Reinetten, riesen­große-glattgrüne, und solche mit feinen Pünktchen; die Rabauen waren zwar grau nur und un­scheinbar von außen, aber innen, ach, so aromatisch und mürb. Und da waren die lieben Borsdorferchen, die es jetzt gar nicht mehr gibt; klein, gelb mit roten Bäckchen, auf denen winzige Warzen saßen. Christkind! Christkind! Hei, das waren ja die Weihnachtsäpfel! Auf der einen Seite vergoldet, hängen sie am Christbaum, und wenn man das Schaumgold abreibt und hineinbeißt, dann weiß man ganz genau, wie Weihnachten riecht und schmeckt, dann ist man ganz voll von dem Zauber dieses wundersamsten aller Feste, an dem das Christkind in der Krippe liegt, und ich mit unserer katholischen Dienstmagd bei stockfinsterer Nacht vor Morgengrauen in die Jesuitenkirche tappte, um es mit heiligem Entzücken zu schauen. –

Das Kind hatte viele Feste im Düsseldorf der Vergangenheit. Noch lebt das Martinsfest, aber ich glaube kaum, daß es die Kinderherzen jetzt noch so begeistert wie dazumal. Die ele­gante Stadt hüllt sich nicht mehr in den Schmalzduft der Puffertkuchen, den ich noch immer rieche, wenn ich an Bolker- und Flingerstraße denke, an all die Gassen der Altstadt, in denen sich das Treiben des Martinsabends am konzentriertesten abspielte.

Da zogen wir um den Jan Willem auf dem Markt, und der alte Herr, auf dessen Allongeperücke immer so unendlich viele Spatzen saßen, sah ganz wunderlich-vergnügt drein beim Martinslämpchenschein. Sein mächtiger Gaul mit dem langen Schwanz hob die Hufe, als wollte er gleich mitstampfen: Lustig, lustig, trallerallalla!

Das helle Schirpen der Kinderstimmen war damals die einzige Musik, schrill und dünn klang es durch die Novembernacht, aber so fröhlich, so selig wie erster Lerchenwirbel im Frühlingsfeld; man kannte es damals noch nicht, von Musikchören begleitet zu werden. Den ausgehöhlten Kürbis, in dem ein dünnes Kerzchen brannte, hoch auf dem Stecken oder wie ein Körbchen, an dünnen Schnüren schaukelnd, in der Hand, so zog man aus. „Hier wohnt ein reicher Mann – Der uns wohl was geben kann!“ Es gab damals nicht so viel reiche Leute in Düsseldorf wie jetzt – mit dem Werden zur Industriestadt ist der Reichtum gewachsen - aber reich genug waren viele, um die vor der Tür singenden Kindertrüppchen zu beschenken: Puf­fertkuchen, Spekulatius, Printen, Äpfel, Nüsse und Kastanien, allerlei Leckers, das wir jetzt wohl kaum mehr als Leckerbissen erachten würden.

So oft ist vom Martinsabend berichtet worden in Geschichten und Bildern, das Gewimmel der im Dunkel leuchtenden Martinslichter hatte etwas Phantastisches, etwas Malerisches, Knaus und Vautier, damals die Größen der Düsseldorfer Genremalerei, hatten gewiß ihre Freude daran. Nun ist der Kürbis, wie so manches andere, zu seinen Vätern versammelt. Sterne, Monde, Sonnen, Lampions in allen möglichen Formen und Ausgestaltungen, leuch­tend in Farben; die Papierlaterne aus dem Lande Japan hat den schlichten gelben und grünen Kürbis verdrängt, der in manchem Gärtchen, an mancher Böschung sorgsam gezogen wurde, von Kinderaugen ängstlich gehütet, von kleinen Händen fleißig begossen, damit er so groß, so dick wurde, dass man ihn dann kaum tragen konnte auf der Stange.

Im Rücken des Jan Willem auf dem Markt stand damals das Theater. Kein schöner Bau; ihm kann selbst meine Erinnerung keine verklärtere Gestalt anzaubern. Es war die reine Räu­berhöhle, so eng, so finster, so unheimlich die engen Gänge, höchst feuergefährlich und mise­rabel ventiliert. Und doch, es war dasselbe Theater, in dem Immermann mit feinfühlender Hand Schätze der Dichtkunst enthüllte, und aus der Düsselstadt eine Stätte zu schaffen suchte, von der aus nicht nur Gemälde bis in alle Fernen gingen, sondern die auch geistig befruchtend auf die ganze literarische Welt Deutschlands wirkte.

In dieser schmutzigen, verkommenen Bude wirkte zu meiner Zeit freilich kein Immermann mehr, aber, o was gäbe ich darum, könnte ich noch einmal klopfenden Herzens zu jenem alten Musentempel pilgern, mit dem ganzen naiven Entzücken des Kindes, das Käthchen von Heil­bronn in mich aufnehmen oder mit durstigem Ohr die göttlichen Klänge des Fidelio trinken! Man machte keine schlechte Musik in der alten Bude; das, was innen geboten wurde, stand mit dem Äußeren des Theaters in keinem Vergleich. Was an der Aufmachung fehlte, das er­setzten die Leistungen – oder war ich damals wirklich so kritiklos, daß ich mich jetzt im mo­dernen Theater mit der raffinierten Ausstattung so sehr zurücksehne nach der rumpligen Bude am Düsseldorfer Markt?!

Das alte Theater stand noch eine Weile, als das schöne neue an der Alleestraße schon gebaut war; es wurde noch Sonntags drinnen gespielt zu ermäßigten Preisen. Dann verschwand es vom Erdboden. Ich weiß nicht, ob noch viele sich seiner dankbar erinnern, ich tue es jeden­falls; denn es hat mir selige Abende geschenkt, Abende, an denen meine Wangen glühten, meine Augen leuchteten, und ein vielleicht noch unbewusstes und doch schon drängendes Sehnen mein junges Herz erhob zu jenen Höhen, auf denen die Kunst wandelt. –

Von Martinslampen, Äpfeln und Theater ist’s nicht allzu weit zur Kasernenstraße, noch kann ich den Weg ganz gut finden. Da wohnte gleich am Anfang oder am Ende – je nachdem von welcher Seite man kommt – der Konditor Neuhaus. Der backte so prachtvolle Cremeschnitten – Gott, was waren die groß für einen Groschen! Und dann seine Weckmänner zum Nikolaus! Darin war er Meister. Ich weiß nicht, ob die jetzigen Weckmänner auch ein so le­ckeres Zitronatmaul haben und solch süße Schokoladenknöpfe bäuchlings herunter. Bei uns in der Luisenschule war’s Sitte, den Klassenlehrer oder die Klassenlehrerin zu Nikola mit einem Weckmann zu beglücken, und das Gaudium der Klasse war groß, und wir fanden uns unge­heuer witzig, als wir für unsere ältliche Mademoiselle dem Weckmann einen Zettel ins Maul einbacken ließen: “Wer warten kann – kriegt auch ’nen Mann!“

Ein Stückchen von Konditor Neuhaus die Kasernenstraße hinauf fingen die grauen Mauern der alten Kaserne an. Sie waren schon damals recht bröcklig, abgeplatzt, mit Kreide be­schmiert, von unnützen Händen mit allerlei Fratzen verunziert. Und doch war es mir, als ich hörte: die alte Kaserne wird abgerissen, als sei es jammerschade um dieses Wahrzeichen von Düsseldorf. Ich freue mich, daß ich es in der „Wacht am Rhein“ festgehalten habe.-

Wieviele hundert Male bin ich an dir vorbeigegangen, du alte Kaserne! Auf meinem tägli­chen Schulweg. Aus den Fenstern lümmelten sich die Drillichjacken und pfiffen hübschen Mädchen nach. Auf dem großen Exerzierplatz, der offen an der Straße lag, nur durch eine Ei­senstange abgegrenzt, ritten die Offiziere ihre jungen Pferde ein, und das schnarrende Kom­mando des wutschnaubenden Unteroffiziers reizte ebenso zum Zugucken wie das verzweifelte Beinwerfen der gedrillten Rekruten.

Ich bin selber oft in der alten Kaserne gewesen; zu Friedenszeiten freilich nur ein paar mal, als meine Schulgenossin, die Feldwebeltochter, mich heimlich mitschleppte, aber desto öfter in jenem großen Jahr, im Jahre Siebzig. Da lag die Kaserne voll von Verwundeten, meine Mutter pflegte darin, und die kleine Klara ging oft durch die Säle, half an schulfreien Nach­mittagen den Nonnen den Kaffee, die Butterbrote austeilen und legte auch manchesmal dem todwunden Turko eine Traube zur Erquickung auf die Bettdecke.

O das waren glorreiche Zeiten für Düsseldorf! Ich glaube, jede Stadt wird sich jener Tage besonders rühmen – viel Begeisterung, viel Opferfreudigkeit – aber mir ist es, als wäre da­mals durch die Straßen und Sträßchen, durch Düsseldorfs Gassen und Gässchen ein Geist ge­wandelt, der Reiche und Arme, Hohe und Niedrige so zusammenführte, als sei da kein Ab­stand mehr. Ich sehe noch den alten Schuster Einbrod, wie er meinem großen Bruder, der mit in den Krieg mußte, die Feldstiefeln anmaß, und wie er, der sonst so Demütige, allzeit ans Knien Gewöhnte, sich plötzlich von den Knien erhob, seine gedrungene Proletariergestalt zu dem schlanken Jüngling aufreckte, ihm die Hand auf den Scheitel legte und ihn mit so feier­lich-inniger Stimme segnete, als sei der Ausziehende sein eigener Sohn. Meine Mutter stand still dabei, dann gab sie dem Meister Einbrod die Hand und sagte: „Ich danke Ihnen!“ und mir, die sonst so gern über den kleinen krummen Schuster lachte, fiel es heute gar nicht ein, auch nur ein bisschen zu lächeln.

Über die Schiffbrücke, die vom Zolltore hinüberführte auf die „Andere Seite“ und immer dann gerade ausgefahren wurde, wenn man hinüber wollte, marschierten am tauigen Früh­morgen die jungen Söhne der Stadt nach dem kleinen Bahnhöfchen Oberkassel. Da wurden sie verladen. Es gaben ihnen viele das Geleit: Herren und Damen, Männer und Frauen; e i n e  Familie war es, die da von ihren Kindern Abschied nahm.

Wir hatten einen Rosenstrauch im Garten, eine ganz gewöhnliche weiße, halbwilde Rose, aber der Strauch blühte immer so reich, daß er wie beschüttet stand mit lauter schlohweißen Blumen. Von diesen Rosen hatte meine Mutter dem ausziehenden Sohn eine an den Helm ge­steckt. – „Der kommt nicht wieder“, flüsterte man bang, „eine Totenrose!“ – Es schellten viele bei uns an, nicht bloß die Nachbarn, nein, auch Leute, die man gar nicht kannte, frugen treulich nach dem Herrn Ferdinand. Wenn die kleine Klara auf der Steinstufe der Haustür saß und ihre mühseligen Viermal’rum am Strumpfe strickte oder Charpie zupfte, dann wurde oft gefragt: „Habt ihr Nachricht von deinem großen Bruder, wie geht es ihm?“

„Janz jut“, sagte ich dann jedesmal. Weiter wusste ich nichts. Ich war zu jung, um den Ernst jener Tage zu begreifen. Es machte mir Spaß, dass ich mir jetzt soviel allein überlassen war, es machte mir noch mehr Spaß, in der Kaserne herumzuhuschen; es grauste mich nicht vor all den Verwundeten, die da Bett an Bett, Freund und Feind dicht nebeneinander lagen, und es grauste mich auch nicht vor den Papptafeln, die auf meinem Weg zur Schule vor manchem Haus im Winde Schaukeln sah: „Hier sind die schwarzen Pocken.“ Meine Mutter ließ sich impfen, ich wurde geimpft, alle Welt ließ sich impfen. Von der Größe jener Zeit, von ihrer Angst und Not aber war keine Spur in meinem Kinderherzen. Nur zwei Momente sind mir erinnerlich, deren Eindruck ich heute noch fühle.

Die Schlacht von Spichern war geschlagen, unsere Neununddreißiger waren mit dabei – mein Bruder! Eine Karte kam von ihm, mit Bleistift gekritzelt: „Liebe Mutter, ich bin gesund, aber viele von uns sind gefallen, Unteroffizier Wiegmann auch.“ Und am selben Tag kam die Mutter jenes jungen Wiegmann, eine in Düsseldorf berühmte Malerin, zu meiner Mutter in die Kaserne. Sie stürmte herein, von Angst gepeitscht, ihre schwarzen Haare flogen um das todblasse Gesicht. Ich stand neben meiner Mutter, fasste unwillkürlich nach deren Kleid, mir wurde ganz angst. Wie verwildert die Augen der Frau blickten!

„Sie haben Nachricht von Ihrem Sohn, hörte ich – von meinem Sohn habe ich keine! Ich habe keine! Wissen Sie, sagen Sie – oh, wissen Sie, lebt mein Sohn?!“ – Ich fühlte meine Mutter erzittern, ich zitterte auch. Es faßte mich das Leid jener Zeit an, zum erstenmal. - -

Und dann kam der zweite September. Vater und ich saßen ahnungslos beim Abendessen, die Mutter war noch in der Kaserne, da erhob sich draußen auf dem Schwanenmarkt ein Rufen, ein Durcheinanderschreien. Das war kein gewöhnlicher Lärm. Neugierig wollte ich auf­springen, da riß auch schon unsere Nachbarin, die Regierungsrätin, die zwei Söhne im Feld hatte, die Tür auf; ihr Gesicht strahlte, und ganz deutlich drang es jetzt von außen zu uns her­ein: „Sieg – großer Sieg - Napoleon gefangen - Krieg aus!“ Bum – da fiel auch schon ein Ka­nonenschuß – noch einer, noch einer! Und jetzt fingen alle Glocken an zu läuten, die evange­lischen und die katholischen. Und aus ihren Häusern stürzten die Leute, sie lachten, sie wein­ten, sie fielen einander in die Arme auf offener Straße: o Jubel, o Jubel, nun war der Krieg gewiß bald aus!

Mein Vater eilte zur Mutter in die Kaserne, ich blieb allein am dunkelnden Abend. Und ich setzte mich auf meinen Stammsitz, die Haustürschwelle, da wollte ich die Eltern erwarten. Der Lärm auf dem Schwanenmarkt war jetzt verstummt, alles war in die innere Stadt gelau­fen; es war still unter den Lindenbäumen, noch sommerlich-warm, und in den wilden Grasflä­chen unseres Platzes zirpten die Grillen. Und dunkel war’s, nur an je einer Ecke des Vierecks brannte eine Laterne. Ich war fast eingeschlafen, schon senkte sich mein müder Kopf auf die Knie – da – plötzlich ein Zischen, ein Knattern! Am schwärzlichen Nachthimmel fuhr ein Stern in die Höh’, seinen langen bläulichen Schweif schleppte er über die Dächer. Und nun noch so einer, noch einer! Raketen – Freudenlichter, von den Bürgern entzündet, Sterne des Jubels, so groß und leuchtend, daß sie die kleinen Sternchen des Himmels beschämten. Und jetzt aus der Hohen Straße, aus der Bilker Straße heraus, vom Karlplatz her, ein Sausen, ein Brausen, ein Meer von Stimmen, Hunderte, Tausende, aber sich einend zu gewaltigem Sin­gen: „Nun danket alle Gott!“

Ich saß still, wie geduckt, und faltete meine Hände. Es rührte an die kleine Seele des Kin­des die große Stunde – da empfand ich mit Schaudern auch das Glück jener Zeit. -

Als der Krieg zu Ende war, freilich nicht gleich nach Sedan, sondern erst lange nachher, wurde manches anders in Düsseldorf. Es wurde vieles gebessert auf Plätzen und Straßen, un­ser Schwanenmarkt zum Beispiel bekam einen Springbrunnen in seine Mitte, und das war mir damals das Interessanteste. Aber noch immer stellte man abends die Eimer mit Kehricht und Küchenabfall, die dann nächtlicherweile abgeholt wurden, draußen vor die Haustür. Noch immer fluteten die Rinnsteine breit, noch immer konnten wir ungestört Seilchen auf der Straße springen, Stelzenlaufen und Doppschlagen, und noch stieg allfrühjährlich, wenn die Eisschollen auf dem Rhein schmolzen, das Grundwasser in unseren Keller.

Dieses Wasser im Keller ist eigentlich meine fröhlichste Erinnerung an Düsseldorf. Wenn ich nachts aus meinem tiefen Kinderschlaf aufwachte, geweckt durch dröhnende Kanonen­schüsse vom Rhein her, dann freute ich mich: aha, jetzt waren die Eisschollen, die wir gestern noch fest wie vor Anker liegen sahen, ins Treiben gekommen. Ha, wie der Westwind blies! Er drehte alle rostigen Riegel, daß sie jammernd quietschten, er klapperte mit allen Läden und drückte gegen die Mauern, daß man sein Ungestüm bis mitten hinein in die Stube fühlte. Aber er war dabei mild, warm-lösend, er brachte den Frühling mit auf seinen Schwingen. Fort mit dem Eis, immer - runter den Rhein – krach, gegen die Schiffbrücke an – schwupp, jenseits ans flache Ufer, dass die Wiesen bald ganz unter Wasser standen. Die „Andere Seite“ sah aus wie ein See; die Schiffbrücke war ausgefahren, sie hätte dem treibenden Eis nicht standgehalten, die Oberkasseler drüben waren ganz von der Stadt abgeschnitten.

In einer solchen von splitternden Eisschollen durchkrachten, von Kanonenschüssen durch­dröhnten, sehr dunklen Nacht war es, dass ein Brückenwärter, der sich nicht rechtzeitig in Si­cherheit gebracht hatte, mit einem losgestoßenen Ponton den Rhein hinabgetrieben wurde. Er rief, er schrie; niemand konnte ihm zu Hilfe kommen, ein Nachen wäre zerquetscht worden. Vom reißenden Wasser getrieben, in wirbelnder Fahrt, entschwand er gen Holland. Ich glaube nicht, daß ihm weiter große Unheil geschehen ist, aber jedenfalls habe ich immer an ihn ge­dacht, als ich später in der Schule das schöne Gedicht auswendig lernte: „Wir hatten musizie­ret in der Frühlingsnacht, - Wir gingen über die Elbe, als das Eis schon kracht.“ –

Meist aber waren die Eindrücke der Düsseldorfer Wassersnot mir höchst erheiternde. Die Leute, die unten am Zolltor wohnten, hatten ihr Parterre preisgegeben und hockten in ihrem oberen Stockwerk. Da saßen sie nun wie gefangene Vögel im Bauer der obersten Stange, und das Futter musste ihnen von außen durch die Fenster zugereicht werden. An langen Stöcken schwankten die Eimer mit Wasser, schaukelten die Körbe mit Kartoffeln und Brot. Ein Na­chen kreuzte beständig in dem bedrohten Stadtteil. Bergerstraße, Flingerstraße, Bolkerstraße, Hunsrück-, Ratinger- und Mühlenstraße und wie sie alle heißen, alle unter Wasser. Um den Jan Willem auf dem Markt spülten hochgehende Wogen, und selbst bis zur Alleestraße hin schwuppte die schwarze Tunke. Die Laternen, die man nicht mehr hatte ausdrehen können, brannten flinzelnd in den Tag hinein; auf schwankenden Laufbrettern stahl man sich von ei­nem Haus zum anderen, die Straßenjungen patschten barfuß mit aufgekrempelten Hosen, die feinen Herren schlugen die Beinkleider um, und die Damen hoben die Röcke so hoch, dass man ganz genau wußte, wer dünne und wer dicke Waden hatte. Das Allerkomischste war mir aber, daß mein Vater, mein ernster Vater, in einen Nachen steigen und sich herunterfahren lassen mußte zur Regierung oben an der Mühlenstraße.

Bei uns am Schwanenmarkt kam die Magd wie eine Nixe aus dem Keller herauf; ihre nas­sen Kleidersäume tropften. Oh je, da konnte man nun nicht mehr herunter, selbst die Kartof­feln, die doch am höchsten lagen, waren schon bespült, das Sauerkraut schwamm bereits in seiner Ecke und hinten im Kohlenkeller stand eine schwärzliche Brühe. Die Kellertreppe herauf retteten sich die Ratten, die vom nahen Lopohl her leider immer die Nachbarschaft besuchten; entsetzt aufschreiend schlug ich einmal eine auf der Treppe tot. Aber es hielt uns weder das Ungeziefer, noch die Gefahr, gründlich naß zu werden, davon ab, in einer Wasch­bütte, mit zwei Holzscheiten rudernd, unten im Keller Wasser zu fahren. Es war uns zwar streng verboten; höchstens wurde uns gestattet, Nussschalen mit brennenden Wachslichtstückchen schwimmen zu lassen und an die tiefen kleinen Gondeln, die von der Treppe abstießen und bald wie märchenhafte Leuchten im fernen Dunkel des Gewölbes glimmten, unsere helle Freude zu haben.

Nun wird es wohl kein Wasser in den Düsseldorfer Kellern mehr geben, und wie diese Freude meiner Kindertage sind auch die Wiesen verschwunden, die sogenannten Hammer Wiesen, auf denen das fette Vieh der Neußer Viehhändler graste, auf denen wir den jungen Sauerampfer suchten, Butterblumen und Wiesenschaum, und unter den Weidenbüschen am Rheinufer die ersten duftenden Veilchen fanden. Ich bin im Frühjahr fast an jedem schulfreien Nachmittag mit meinen Freundinnen dorthin ausgezogen, jede von uns mit einem Körbchen und mit einem Stecken bewaffnet, um dem neugiereigen Vieh, das oft zudringlich wurde, eins aufs Maul zu geben.

Ich begreife es jetzt eigentlich nicht, daß man mich damals so sorglos gehen ließ. Man könnte das jetzt gar nicht mehr. Nicht nur, daß von den Wiesen herzlich wenig übriggeblieben ist – ein kümmerlicher Rest einer uns einstmals unbegrenzt erscheinenden üppig-grünen Weite – es ist auch viel zu unsicher geworden um die große Stadt herum. Fabriken über Fabriken. Schornsteine überpusten den Umkreis mit schwarzem Staub, Arbeiter aus aller Herren Länder kennen uns nicht, und wir kennen sie nicht.

Was wohl von den Spaziergängen noch übrig geblieben sein mag, die ich damals mit mei­nem großen Bruder machte? In den fetten Wiesen auf der „Anderen Seite“ haben wir herrli­che Sträuße gepflückt, dann im Wirtshaus Makai gegessen und Schwarzbrot dazu; wir sind dann weiter gewandert über einsame Wiesen, die nur ein Kuhmuhen belebte, der Knall einer Hirtenpeitsche oder das Schnalzen eines Fisches in dem uns begleitenden Strom, bis Heerdt und Neuß, und sind dann mit einer Ponte übergefahren nach dem Kappes – und Spargeldorf Hamm.

Man kam rascher hinaus ins Freie; wo jetzt lange Häuserzeilen sich recken, standen damals lauter Kohlköpfe. Das evangelische Krankenhaus lag in weiten Feldern von Kartoffeln und wogendem Korn. Landschaftlich schön waren die Felder ums alte Düsseldorf gewiß nicht, aber sie waren voll des köstlichen Duftes der tragenden Erde, der Fruchtbarkeit.

Viele, viele glückliche Wege sind wir gegangen, mein großer Bruder und ich; er führte mich an der Hand wie sein Kind. Im Ellerer Busch, am sumpfigen Wasserlauf pflückte er mir Vergissmeinnicht, im Aaper Wald suchten wir Brombeeren und im März schon den Wald­meister. In Grafenberg, wo noch keine einzige Villa stand, nur ein paar ländliche Wirtshäuser, saßen wir in der Schaukel; bis Gerresheim, Erkrath, Hochdahl sogar führten uns unsere Aus­flüge. Ich sah da jetzt im Vorüberfahren mit der Eisenbahn einen Wald von Schloten sich re­cken. Gott sei Dank, die gab’s zu meiner Kinderzeit eigentlich erst im Bergischen Land. Ger­resheim, Erkrath stille Dörfer; bachdurchsickerte Wiesen, lauschige Buchenwälder, aus denen das Reh äugte. Meine Mutter fuhr alle Jahre einmal – es war im Frühjahr, wenn ich nicht irre – mit einer Bekannten nach Elberfeld zum großen Inventurausverkauf. So wurden die Kleid­chen für mich, die Weihnachtsgeschenke für die Dienstboten, mancherlei, was man im Jahr gebrauchte, in Elberfeld gekauft; und Knöpfe, Litzen, Band, alles gleich en gros. Als ich ein­mal mitgenommen wurde und von oben herab in das enge düstere Tal von Elberfeld hinunter­blickte, an dessen Hängen die Häuser mit den schwarzen Schieferdächern übereinander klet­terten, und lange Reihen von ganz gleichen Arbeiterwohnungen mich angähnten, da wurde mir ganz beklommen. Der Himmel war grau, ein feiner Regen nässte – und in unserem Düs­seldorf hatte die Sonne doch so hell geschienen! Mich dünkte, es sei ein Hexenkessel, in den ich hineingeworfen werden sollte: enge Gassen, düstere Höfe, rauchende Schlote. Und schwarze Gestalten im Flammenschein. Und ein Dunst, ein Qualm, ein stickiger Brodem und ein Fluß, so schwarz wie Tinte, von dem ich es nie, niemals glauben würde, dass er ein Ne­benfluß unseres hellgrünen Rheines sein sollte. Die Leute eilten mit Regenschirmen und Gummischuhen; betrübt senkte ich den Kopf und kniff die Augen zu: wäre ich doch lieber daheim geblieben, hätte ich doch ruhig abgewartet, bis der Korinthenstuten, den meine Mutter immer von Elberfeld mitbrachte, und der sehr lecker war, zu mir kam!

Mich verlangte nach Hause, nach der freundlichen, hellen, liebenswürdigen Stadt an der Düssel, deren ich auch jetzt, nach so vielen Jahren, noch gedenke mit einem  Lächeln der Rührung, mit einem Nicken der Freude darüber, daß sie meiner Kindheit einst Heimat war.

In: „Rheinische Erzähler“. Agenda des Hauses Leonhard Tietz. Düsseldorf 1914, S. 27-34)

Die drei Brauten

Ich soll etwas von mir selber erzählen, gleichsam in den Spiegel schauen, und, wie ich mich darin sehe, ehrlich beichten – es fällt mir schwer. Denn so ein einfaches Frauenleben, das am liebsten zwischen den Wänden des eigenen engumhegten Heimes dahinfließt, was kann das wohl an reichen Bildern zeigen?! Es wirft nicht Glanz noch Schimmer ins Spiegelglas; es gleicht der Flut in einer friedvollen Bucht, an der der müde Mann gerne sitzt und ruht und lachende Kinder spielen.

Und das was meine Augen nachdenklich gemacht hat und meinen Mund, trotzdem er ganz herzlich lacht, ernst, das was ich innerlich erlebt, das steht ja alles in meinen Büchern; denn welcher Autor spänne nicht eigenen Faden auf seinem Webstuhl und knüpfte diesen an fremde Fäden an und schlänge ineinander und durcheinander, bis daß er selbst nicht mehr weiß, wo Eigenes aufhört und Fremdes anfängt.

Also von mir möchte ich nicht reden, wohl aber von dem, was meinem Herzen teuer ist: von meiner Heimat. Vielmehr: von meinen Heimaten. Mir geht’s, wie es Onkel Bräsig ging – ich habe „drei Brauten“. Und wie ein Mann um die Liebste wirbt, so werbe ich um die drei; aber welche von ihnen meine Madame Nüßlern ist, die Heißgeliebteste und Ewiggeliebte, das verrate ich nicht. –

Ich sehe in den Spiegel – – – da fließt klar und leise die liebe Mosel! Wie ein blaues Band schlingt sie sich grünen Bergen eng um die Füße, im schwärzlichen Schiefergestein wachsen Reben, Stock bei Stock, dicht gesetzt, wie im Plattland die Kartoffeln. Weiße Städtchen hüben und drüben, in denen der Frühling früher und goldner einzieht als anderswo, in denen großdoldiger lila Flieder in Bündeln über bunte Gnadenbilder hängt und tiefbrauner Goldlack und rote Federnelken – alles Farbe, alles Duft.

Und hinter den lachenden Rebenhügeln tauchen die runden Eifelkuppen auf, steil führen die Pfade hinan. Die Ebereschen, die den Chausseerand säumen, lassen weiße Mooszipfel im rauen Regenwind flattern, ernste Maare ruhen schweigend im vulkanischen Bett, endlose Wälder schlagen die dunklen Wogen um einsame Dörfer, verlorenen Heiden träumen im blendenden Sonnenglanz. Jungfräuliches Land noch, das im Dornröschenschlaf des erlösenden Kusses harrt – weltenfern, weltenweit das rührige Leben. Nur Kirchenglocken dröhnen durch die Stille, und der herbe Eifelwind trägt diesen einzigen Klang hierhin und dorthin, allüberall hin.

Die Glocke mit der mächtigsten Stimme hängt zu Trier; da ruft sie vom Dom, eine beredte Zeugin der uralt-eingesessenen, siegreichen Kirche. Und doch ist‘s nur ein Katzensprung von da zur Porta nigra; Christentum und Heidentum treten sich in Trier fast auf die Füße. Ich habe mir just den schönsten Winkel der ganzen schönen Rheinlande zum Geborenwerden ausgesucht. In Trier, unweit der „Poort“, wie das Römertor im Volksmund heißt, stand meine Wiege; sie schaukelte im Takt mit den frommen Kirchenglocken, ich schlummerte süß bei deren Schall, und doch war ich ein Ketzerkind.

Meine Amme, die schwarze Anna, war eine echte Tochter der Eifel. Als sie in meiner Mutter Wochenstube, hinauf in den ersten Stock, geführt wurde, traute sie sich dort nicht von der Türe fort; es war nicht ländliche Schüchternheit, wie man anzunehmen geneigt war. Die schwarze Anna hatte noch niemals ein Haus mit mehreren Etagen betreten; nun, da die Dielen unter ihren Nägelschuhen knarrten, fürchtete sie, durchzubrechen, und zitterte für ihr Leben. Auch von der Reinlichkeit hatte sie merkwürdige Begriffe; es dauerte eine ganze Weile bis man ihr abgewöhnte, auf einen Zipfel der Windel zu spucken und hiermit ihrem Pflegling das Gesichtchen zu waschen.

Mit der trefflichen Milch dieser schwarzen Anna habe ich schon die Liebe zu meiner ersten Braut eingesogen. Tief, tief bis ins Innerste erfüllt die mich, zäh ist sie mir im Herzen eingewurzelt, wie eine starke Tanne im Eifelforst, fest ist sie, wie der festeste Stein der heimatlichen Felsen. Und wenn ich so ganz still für mich sitze, dann glaube ich oft die Glocken des uralten, heiligen Römertrier zu hören, wie sie voll und sonor über die uralte und doch jugendschöne Mosel schwingen und in den Eifelbergen verhallen. Ich höre sie, wo ich auch bin; ihr Klang kommt mir nicht aus den Ohren. Immer wieder rufen sie mich, Jahr um Jahr; ich glaube, sie läuten mir auch bis zum Ende. –

Da ich anfing die Schule zu besuchen, wurde mein Vater als Oberregierungsrat nach Düsseldorf versetzt. Das war eine Veränderung! Von der sanft gleitenden Mosel zum breitflutenden Rhein, aus der Stille des kleinen Trier, wo das Gras zwischen den Pflaster­steinen wächst, in das heitere Leben der eleganten Gartenstadt!

Und doch war es noch nicht das schnellwachsende, großstädtische Düsseldorf der letzten anderthalb Jahrzehnte; man kannte noch jeden, der in der Straße wohnte. Man lief Stelzen und sprang Seilchen vor der Haustür, man kletterte über Gartenmauern und prüfte des Nachbars Birnen; man machte im Abenddunkel „Schellemännkes“ und lauschte klopfenden Herzens, glühend vor Aufragung hinter dem nächsten Hausvorsprung auf das Schelten der Magd, die , wütend über das Reißen an der Klingel, öffnete , und, fand sich niemand draußen, noch wütender zukrachte.

Noch flutete der Rinnstein neben dem Trottoir, der hochgeschossenen Backfisch hat verschiedentlich nähere Bekanntschaft mit ihm gemacht, wenn er, entrückten Blickes in die Luft starrend, sich ein märchenhaftes Glück der Zukunft zurechtphantasierte.

Und all die Feste! St. Martins-Abend – „Lustig, lustig, trallerala, heut ist Martins Abend da!“ – die ganze Stadt roch nach Puffertkuchen und wimmelte von Kürbissen und bunten Laternen. Keine Eltern so arm, dass sie ihrem Kind nicht ein buntes Papierballönchen gekauft hätten, in dem das Kerzchen flackerte. Und die Weckmänner auf St. Nikola, Korinthenaugen hatten sie und eine Tonpfeife im breiten Maul! Die Bratäpfel und Kasta­nien, die in der Herdröhre zischten und knackten, wenn der erste Schnee fiel! Das Suchen nach Sauerampfer und Veilchen auf den Hammer Wiesen! Das Rheinbaden in der primitiven Bretterbude an heißen Sommertagen! Und nicht zu vergessen: das Grundwasser, wenn der Rhein hoch ging!

Was den Ältern höchsten Ärger schaffte, war uns Kindern höchste Wonne. Eine dunkle Flut schwamm im Keller, wir mitten auf dem Weltmeer in einer Bütte, Holzscheite die Ruder; Robinson war nichts gegen uns. Und wenn gar der Rhein unterm Zolltor durchlief, die Straßen der Altstadt überflutete, dem alten Jan Willem auf dem Markt die Füße wusch, die Bewohner der anliegenden Häuser in die oberen Etagen jagte, wenn kreuzende Kähne die Flüchtlinge durch Eimer an der Stange mit Speise und Trank versorgten, dann kannte unser Jubel keine Grenzen.

Und noch lacht mir das Herz, wenn ich der Freuden gedenke, die, zwölf Jahre hindurch, die zweite Braut mir bot. Es ist mein Wunsch, dies heitere Bild Düsseldorfer Lebens in ei­nem nächsten Roman festzuhalten.

Mein lieber Vater starb; ich war eben erwachsen, das Bisherige trat zurück. Meine Eltern stammen beide aus der Provinz Posen, daher, wo man sich, wie man in dem von der Natur so bevorzugten Rheinland denkt, Hasen und Füchse Gutenacht sagen. Da kam ich nun hin.

Eisenbahn gab es nicht bis zum Gut der Verwandten, der Wagen wartete auf der kleinen Station; endlos gings durch Sand und Korn und Rübenfelder, und weiter durch Rübenfel­der, Korn und Sand. Rebhühner schwirrten auf, wenige Dörfer zeigten sich, die Räder holperten in ausgefahrenen Landweggeleisen, und der Himmel stülpte sich über das flache Land, wie eine Glasglocke über den Teller.

Hier soll ich bleiben?! Fast wars ein Angstruf. Und doch, wie schön ist auch dieses flache Land! Inseln gleich liegen die Gutshöfe im Meer der Felder, abgeschlossenen Reiche für sich, jeder Gutsherr ein König.

Weit schweift der Blick über die nährende Erde: hier wächst unser Brot. Goldenen Ähren wiegt der Sommerwind, der Kiefernwald blaut in der Verne; am Horizont der Ebene sieht man die Sonne aufsteigen und versinken, rosige Wolken schwimmen im verklärten Glanz.

Meine dritte Braut ist keine Schönheit auf den ersten Blick, man muß sie näher kennen lernen. Und das habe ich getan. Polnisch und deutsch hat sie zu mir gesprochen. Die, freilich nur unoffiziell geschwungene Peitsche mit den verknoteten Lederriemchen, die so empfindlich die gebückten Rücken der Polaki trifft, habe ich ebenso gut kennen gelernt, wie das gütig-patriarchalische Regiment, das noch auf dem , weit über hundert Jahre der Familie gehörenden, deutschen Stammgut geführt wird.

Die Kosiniery in Schlapphut und rotem Hemd traf ich im Feld und auch die deut­schen Schnitter; fröhliche und verdrossenen, aufrührerische und zufriedene, stupide und intelli­gente Arbeiter sind an mir vorübergezogen. Die Zeit ist mir nie lang geworden. Man bangt vor dem Gewitter und ersehnt tränkenden Regen für das verdorrte Land, man grämt sich wegen der Disteln im Acker und jauchzt jedem glücklich eingebrachten Fuder zu. Die Erntekrone wird dem Herrn vors Haus gebracht, „Nun danket alle Gott!“ erklingt es von unmelodischen Stimmen; gleich darauf quiekt die Fiedel und parpt die Harmonika, der Knecht schwingt die Magd auf der Tenne im Erntetanz, derweil die Alten trinken.

Ich aber schlich mich von dannen, hinter die Scheuer und weiter über die Äcker bis in den blauen Kiefernwald. Da blieb ich stehen im Heidekraut. Harziger Duft umschwebte mich wie eine Wolke, und in der Wolke kam ein Gruß jener anderen Kiefern, jener rot­stämmigen, knorrigen Gesellen, die auf Eifelheiden wachsen. Natur ist immer verwandt, und Bauer ist Bauer, und Mensch ist Mensch. –

In West und Ost und am Niederrhein wohnen so meine drei Brauten. Einer jeden von ihnen gehört mein Herz, einer jeden danke ich viel Glück, allen zusammen aber mein Höchstes – meine Kunst.

Drei Brauten – und wenn ich’s recht bedenke, bin ich Bräsigen doch noch über, ich habe eigentlich vier. Die vierte Braut ist Berlin. Aber nein, was sage ich denn?! Keine Braut! Mit Berlin bin ich – verheiratet!

In: Das literarische Echo, 3.Jg. 1900/01, Sp. 313-316