Souveränität ist etwas Angeborenes. Zu dieser Einsicht kommt, wer Käte Reiters bemerkenswertes Leben anschaut und sich klarmacht, welche Lyrik es hervorgebracht hat.
Ihr Vater war Fabrikarbeiter, sie ist in Flingern aufgewachsen. „Ich bin ein Gassenkind“. Die Wohnung war eng, auf der Straße gab es wilde Spiele mit den Nachbarjungen, Schrammen, Kratzer, aufgeschlagene Knie, aber auch geteilte Butterbrote. Da lernte man kämpfen, sich durchsetzen, mit Kraft oder List, und füreinander einstehen. Die Straße hatte ihre Gesetze und Regeln. Wer sie verletzte, wurde mit Verachtung gestraft. So durfte einer, der am Boden lag, nicht mehr bekämpft werden, und beim Nachlaufspiel sagte das Wort „Herzchen“, daß man erschöpft war und aufgab – Unterwerfungsformeln, ähnlich der Demutsgebärde der Tiere.
Es ist eine ganz eigene Düsseldorfer Subkultur, in die man durch Käte Reiters Erzählen Einblick gewinnt, mit Selbstbewußtsein, kräftiger Sprache und wärmender Nachbarschaftshilfe. „Daß bloß niemand denkt, ich hätte eine schwere Kindheit gehabt! Sonst würde ich wohl nicht so gern davon erzählen.“ Sie hat nichts verdrängt und die innere Beziehung niemals verloren, fällt auch wieder ins Platt, wenn Sie einem der Nachbarn aus der Bruchstraße begegnet. Aber schon als Kind muß sie „anders“ gewesen sein, die Lehrerin meinte, sie sollte eigentlich etwas lernen. Daß der Vater früh starb, bewahrte sie vor der Fabrik, öffnete ihr den Weg in die höchste vorstellbare Welt, das Büro, belud sie aber auch mit der Verantwortung für die Mutter und zwei jüngere Geschwister.
„In der Schule hatten wir zum Schluß nur noch Wehrmachtsberichte gehört.“ Jetzt erlebte sie die schweren Luftangriffe und den Beschuß der Stadt, fuhr mit dem Rad in den Hafen, wo Lebensmitteltransporte für die Bevölkerung freigegeben waren, ging über Land hamstern, sprang auf Züge, um für sich und die wartenden Kameraden Kohlen abzuwerfen. Und immer lebte die Familie in einem Organismus von Freunden und Nachbarn, die zusammenhielten, mit denen man teilte und feierte. Käte Reiter hat sich diese verworrene und spannende Zeit in einem dicken dokumentarischen Romanmanuskript von der Seele geschrieben. Damals schrieb sie Prosa. Es ist nichts davon gedruckt.
Mutter und Geschwister waren heil geblieben, in Derendorf fing das Leben neu an, für Käte Reiter als ein Abenteuer voller Fremdartigkeit. Sie las, was sie nur irgend zu fassen bekam, gründete, selbst keiner Fremdsprache mächtig, mit Freunden eine Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit und organisierte mit Hilfe der Konsulate Ländervorträge – bevor öffentliche Institute die Initiative ergriffen. Durch Trümmerstraßen ging sie ins Schauspielhaus und in die Oper, manchmal Abend für Abend. Dieser Hunger, dieses Glück.
Käte Reiters Leben besteht aus Fügungen, aus Menschen, von denen sie gefunden wurde. Die Ärztin, für die sie putzte, damit der Bruder Arznei bekam, brachte sie auf die „höhere Literatur“. Und als Marie Luise Kaschnitz zum ersten mal wieder kam und las, nahm ein Düsseldorfer Industrieller das scheue Mädchen bei der Hand und sagte: „So, Sie begrüßen jetzt die Dichterin!“ Es wurde eine Lebenslehre und Freundschaft daraus. Wenn die Kaschnitz damals mit ihrem Mann Italien und Griechenland bereiste, fuhr Käte Reiter auf der Karte voraus, machte sich durch Bücher mit der Geschichte und Kultur eines jeden Ortes vertraut und begrüßte die Ankömmlinge mit einem Sonett.
Anfangs war alles schön gereimt und nachgeahmt. Das Vertrauen in die eigene Form und Stimme muß irgendwann zu Beginn der sechziger Jahre gekommen sein. Inzwischen hatte sie ihre ganz persönliche Bildung erworben, Reisen gemacht, Französisch gelernt und Klavier, Wittgenstein gelesen, Musil, Proust, Virginia Woolf zu ihren literarischen Göttern erhoben, den nouveau roman für sich entdeckt. Sie entwickelte ein sicheres Urteil und einen untrüglichen Sinn für das ihr Verwandte. Thomas Bernhard, Peter Handke, Jürgen Becker hat sie von den ersten Veröffentlichungen an gelesen.
Ein Vorbild für Lyrik war das nicht, wohl aber Vorrat für den geistigen Haushalt, in dem sich Käte Reiters Gedichte zubereiten, dem bewußten Zugriff entzogen. Sie fallen vorgeformt über sie her, durch welchen Anlaß ausgelöst und über welche kreative Schwelle bleibt ihr verborgen. Jeder Versuch, an diesem Eruptivmaterial zu „arbeiten“, führt zu seiner Verminderung und damit zur Unverständlichkeit, weil Käte Reiters bewußte Absichten niemals dahin gehen, etwas breiter und deutlicher zu sagen, sondern es auf den Kern zu reduzieren. Geht man bei ihr Änderungen nach, die sie auf Anraten literarischer Freunde vornahm, so ist meistens der erste „geschenkte“ Entwurf der sprach- und aussagestärkste.
Schreiben ist für sie eine lästige Gabe, kein Grund zum Hervortreten oder zur Pflege stolzer Gefühle. Viel mehr reizt es sie, den Kampf mit ihren Zahlen zu bestehen und das große Einzelhandelsunternehmen, in dem sie vor dreiunddreißig Jahren als Lehrling anfing, immer weiter zu rationalisieren. Der gemeinsame Nenner für beide Lebensbereiche ist ihre Geformtheit und Disziplin. Sie entscheidet und handelt aus einer Tiefenschicht, die zu den Gedichten einen anderen Ausgang hat, ihnen magischen Glanz und jene Mehrdeutigkeit verleiht, von der sich der Autor nachher selbst überrascht zeigt. Käte Reiter ist aber durchaus in der Lage, ihre Gedichte zu interpretieren, das bewies sie bei Lesungen mit anschließender Diskussion in Tel Aviv und Jerusalem, wohin das Deutsche Kulturzentrum sie eingeladen hatte.
Sie drängt sich niemals nach Veröffentlichung, der literarische Betrieb mit seinen ideellen Vorwänden und harten Erfolgskalkulationen stößt sie ab. Doch wurde sie auch hier gefunden: Arnfried Astel brachte sie früh in die Lyrischen Hefte, Kay Hoff ins Neue Rheinland und in einen Hundertdruck des von ihm mitgegründeten Guido Hildebrandt Verlags. So kam es, daß Käte Reiter zuerst mit einer bibliophilen Ausgabe hervortrat, die von Schriftstellern normalerweise als dekorativer Schmuck eines Lebenswerks empfunden wird. Aber ihre Lyrik ist ja Lebensessenz, durch gelassenes Warten abgelagert, der Rahmen war ihr angemessen.
Trotzdem ist es gut, daß jetzt endlich durch den Concept Verlag größere Mengen ihrer Gedichte in erschwinglicher Ausgabe zu haben sind. In dem Band „Federort“ werden die Sprachmuster und Motive Käte Reiters ablesbar. Dem Geduldigen erschließt sich aus dem formal geschlossenen, meist knapp gefaßten Text eine hermetische Welt Stück für Stück gelernter Tode. Ein ungebrochener Intuitionsstrom trägt originelle Bilder, zarte und kühne Verknüpfungen. Immer wieder erscheint das Schwere als Stein, das Leichte als Feder, die Hoffnung als Stern. Sie bleiben geheimnisvoll, diese so denkerischen wie poetischen Gedichte. Jürgen P. Wallmann, der Käte Reiter neben Marie Luise Kaschnitz und Hilde Domin stellt, nennt sie „poetische Meditationen, die der Leser selbst meditierend nachvollziehen muß“.
„Wohin mit dem Duft der Worte“ scheint schon im Titel größere Gesprächigkeit anzuzeigen, und tatsächlich mischen sich in dieser vom Sassafras-Verlag vorbereiteten „Fundgrube“ lakonische Denk-Verse mit überraschend märchenhaften längeren Gedichten. Die Wetterhexe wäscht und bügelt ihre Windhosen, das Hexenhäuschen ist ein Erinnerungsstück: Martha Mödl schenkte der jüngeren Reiter-Schwester in ihrer Düsseldorfer Zeit das lebkuchene Urbild zum Nikolaus. Manche dieser Gedichte treffen das Kindliche im Leser, manche geben täglichen Dingen eine Wendung ins Surreale: „ich habe einen kühlschrank, der heimlich spricht“ oder „ich kaufe mir ein paar neue schuhe“ (die am nächsten Morgen schon alt sind, weil man damit auf die Straße muß.) In beschwörenden Liebes- und Partnergedichten werden dem Pfau die Federn gerissen, reifen Steine in den Netzen der Träume. Der Tenor ist auch hier: An die böse Liebe des Lebens und an die liebe Liebe des Sterbens glauben.
Darauf, daß Käte Reiter Dichterin ist, würde niemand kommen, der sie außerhalb eines literarischen Kreises kennenlernt. Sie redet weder vom Tod noch von Steinen und Federn, ist nüchtern, sachlich, vergnügt und meidet auch das Generalthema aller Schriftsteller: „Wann werde ich wo gedruckt?“ Ein Doppelleben? Keineswegs. Sondern es ist dieses eine, klare und schöne, das sie aus ihren Anlagen entwickelt hat – weg von der bunten prallen Folklore ihres Ursprungs in eine sehr anspruchsvolle Eigenwelt. Ein Leben der Verantwortung, Einfühlung und Hilfsbereitschaft. Sie brauchte keine Zeile zu schreiben, um zu sein, was sie ist.
In: Düsseldorf schreibt. 44 Autorenporträts. Düsseldorf: Triltsch Verlag, 1974, S. 165-168.
Um das, was gesagt wird, verstehen zu können, richtig verstehen zu können, brauchte es eine Schilderung des jeweiligen Hier und Jetzt, ein riesiges Tabellarium über die sagende Person an sich und deren Position in und gegen Zeit und Raum. Jede Aussage ist nur noch von ihrem Ort her zu verstehen.
Aller Aussage voraus gälte es, ihren Ort zu bestimmen, also vorauszusagen. Eine Voraussage ist auch eine Aussage. Also den Ort der Voraussage voraussagen, um die Voraussage der Aussage verstehen zu können, um die Aussage verstehen zu können.
Hier soll nicht Poesie germanistisch interpretiert werden, hier wird der Versuch unternommen zu orten, woher diese Verse sprechen, von welchem Standpunkt aus diese Dichterin das Ihre sagt, so sagt, dass es wesentlich wird und wir hinhören.
Der Ort heißt „Federort“, ist ein Gegenort. Nur ein Windzug, ein Hauch trägt ihn, treibt ihn. Wohin? Ins Zufällige? Der Ort fällt der Stelle zu, „die uns verläßt“. Käte Reiter spricht: „tritt mit mir / auf diese eine stelle / die uns verläßt“.
Ein Ort ist im anderen, hebt sich auf im anderen, wird uns bewußt als Ort dann, wenn er uns fremd ist.
ich öffne die tür
die ich schließe
ich trete ein
ein ort ist ein windzug
der wohnt
ein wort macht sich deutlich
am nächsten
bestimmt bin ich fremd hier
Dieses Gedicht spricht das zutreffend aus. Und es ist mehr als eine Feststellung, es ist die Einsicht, daß es ihr bestimmt ist, an flüchtigen Orten Erkenntnis zu suchen. Der Windzug selbst ist der Ort, der wohnt. Ein Vorübergehender, und sie lädt ihn ein, auf ein Wort, ein Minutengast zu sein, und sie bittet ihn: „iß ein stück mit mir / vom neinbrot / vom jabrot.“
Käte Reiter ist 1927 in Düsseldorf geboren. Als der Vater gestorben war, nahm die dreizehnjährige Volksschülerin Putzstellen an, um ihrer Familie zu helfen. Auch bei einer Ärztin arbeitete sie, die ihr eines Tages einen Band Rilke-Gedichte auf den Kopf schlug, von wegen: „Du hast doch auch Köpfchen, Mädchen.“ Die Zwanzigjährige suchte und fand die Freundschaft zu Marie Luise Kaschnitz, die ihr Antwort gebende und Fragen stellende Freundin geblieben ist. Die über Vierzigjährige lebt noch immer in ihrer Geburtsstadt und arbeitet intensiv, schwer und mitverantwortlich in einem kaufmännischen Betrieb, der Millionenumsätze macht. So etwas sollte der Leser wissen.
Diese Frau, die so spät erst ihre Gedichte herzeigt, ist täglich „vor Ort“, arbeitet wie die meisten von uns, vielleicht etwas mehr als du und ich, und sie ist durch große Verantwortung gebunden. Auch an den Ort ihrer Tätigkeit gebunden. Der „Federort“ ist ihr Wunschort: „übernimm dich / flieg mit dem federort“ heißt es im Titelgedicht. Es ist die ständige Aufforderung, die diese Autorin an sich selbst richtet.
Manchmal philosophieren die Verse entlang den Worten, Worten, die eindringlich bis verzweifelt die Begriffe zu halten suchen, Begriffe von der Angst verdunkelt, der Furcht überschattet: vor lauter Tätigsein und Tun das Denken, das ursächliche Denken zu verlieren. In diesen Gedichten wird nicht beschrieben, keine Erzählung breitet sich aus, nimmt Wohnung; denn „das unbewohnbare wendet / raumlos um uns herum“. Diese Gedichte denken, daher diese stetige Bewegung, dieses unentwegte von – woher – nach – wohin. Selbst das Zuständige oder Zusichwerdende wird bewegt. Im selben Gedicht heißt es: „anstelle der träume / verfinstert sich etwas / in die hoffnung.“
Alle Wege dieser Dichtung laufen im Schatten, führen vom gemäßigt Hellen ins Dunkle, Dunklere bis: „wenn du für mich / in den abgrund meines todes gehst“, und wenn die Verzweiflung über das täglich erfahrene, ärmliche, nur erfolgprogrammierte, das Menschsein im Menschen auslaugende Da- und Sosein überhandnimmt, wird der Vers zur Aufforderung, wehren sich die Worte, die Worte als die letzte Instanz unseres Bewußtseins, und es heißt: „iß ein stück mit mir“ oder „trink mit mir“, „erzähl mir“.
Und darin ist mit enthalten die Anrede, das Verlangen nach dem Gegenüber. Anlaß ist, wie meist, Einsamkeit. Aber in diesem Falle die Einsamkeit dessen, der tätig die Welt besteht, der in ihr zurechtkommt, mit ihr fertig wird, klaglos und der darum ein grundsätzlicheres Gespräch sucht. Das Gespräch über den Sinn des Lebens und damit über den Sinn des Todes. Die Enge dieser Dichtung ist zugleich ihre Stärke.
Der mächtigen Kraft des Todes, die heute vielerorts geleugnet wird, die ganze Lebenserwartungsindustrien verdrängen, die durch Krankenhäuser anonymisiert wird, dieser Kraft gilt ihre Ansprache, Anrede, und so trägt sie ein uraltes Wissen weiter: „und ich hätte nicht alle die alter / die ich dem tode austrage und nicht / eine weisheit davon.“ Diese Weisheit, die nicht nur wert ist, bewahrt und weitergegeben zu werden, sondern die wichtig und nach wie vor von zentraler Bedeutung für das Selbstverständnis des Menschen ist.
Die Poetin Käte Reiter gewinnt aus diesem Wissen für sich die Freiheit und den Mut zu ihrem „Federort“. Und ich zitiere zum Schluß meiner Verstehensübung dieses nachdenkenswerte Gedicht von ihrer Freiheit, in dem sie das Bewußtsein, daß der Tod allgegenwärtig ist, als Lebensansporn begreift.
ich habe die Freiheit
in meinem tod zu wohnen
mein leben
ist mein gefängnis
in meinem gefängnis
habe ich alle lebenden tode
die mich suchen
Nachwort zu Käte Reiter: „Federort. Gedichte“. Düsseldorf 1973, S. S. 75- 77.
[…] „Ich bin ein Gassenkind“, sagt die Düsseldorferin. Ihr Vater war Fabrikarbeiter und starb früh, wodurch sie schon jung in ihrer Familie Verantwortung übernehmen mußte. Sie kümmerte sich, wie man das aus Filmen kennt – der Krieg brachte Not und Bomben – mit Kohlenklau vom fahrenden Zug, Hamsterzügen über Land, Kartoffeln stoppeln. Sie hat darüber in einem Romanmanuskript geschrieben, das nie veröffentlicht wurde. Zur Literatur kam sie nach dem Krieg, als sie bei einer Ärztin putzen ging, um für den Bruder Arznei auszulösen. Die Ärztin förderte das Interesse an der „höheren Literatur“ und als wenig später Marie Luise Kaschnitz das erste Mal wieder nach Deutschland kam um zu lesen, machte jemand das schlaue Mädchen Käte mit ihr bekannt. Sie sind Freunde geworden und auch zu Rose Ausländer hatte die Reiter eine freundschaftliche Beziehung (Jahre später entdeckte man in deren Nachlass frühe Gedichte von Käte Reiter, die sie selbst längst verloren glaubte). Dennoch hat die Literatur nie die Hauptrolle in ihrem Leben gespielt. „Sie brauchte keine Zeile schreiben, um zu sein, was sie ist.“, formulierte es 1974 Lore Schaumann in einem Aufsatz. Käte Reiter führte im Brotberuf ein größeres Einzelhandelsunternehmen und kümmerte sich kaum ums Publizieren. Arnfried Astel druckte 1962 etwas von ihr in den Lyrischen Heften und fast ein Jahrzehnt später erschien ihr erstes Buch, in denkbar kleiner Auflage, ein Künstlerbuch mit farbigen Siebdrucken von Gerhard Wind.
einer stellt sich auf eine stelle
und schreit
und die kleine stelle wird groß
dann geht er fort
dann stellen sich viele auf die große stelle
die klein war
und schreien
und man sieht die stelle nicht mehr
Käte Reiters Gedichte entstehen ohne große Vor- oder Nacharbeit. In ihnen sind diese Geschenke, die dann auftauchen, wenn wir anscheinend ganz tief in uns versunken sind, dabei aber tatsächlich weit weg, ganz am Ort des Gedichtes, die bei ihr zu Verszeilen werden wie „in meinem wasser / reist ein stein ins runde“. Die Klarheit des Moments übersetzt sich auch in eine Einfachheit des Textes: Stein, Haut, Stern, Auge, Tod und Leben. Und keine Angst vor klischeebehafteten Worten und Themen. Da sie ohnehin nicht für die Kritik schreibt und sowieso nicht für irgend jemanden. „an der schmerzstelle / den schlüssel seele suchen / und nicht verlieren können“, eine Therapie, die funktioniert. Dabei ist es nicht das therapeutische Moment, das Käte Reiter an die Lyrik bindet, sondern die ganz urtümliche Begegnung mit der Vieldeutigkeit und damit der Vielgesichtigkeit. Alles kann aussehen, es muß nicht. Die Welt ist möglich und nicht fest. Man kann nichts halten, „aus schwarzem eis gemeißelt / steht morgen / was wahr wird / ein paar stunden im licht / und schmilzt“.
Die Gedichte sind schlank, es gibt kein Beiwerk, kein Schmuck, kein Pomp, kein Ausufern. Einfache Konstrukte, die es dennoch in sich haben, eine Tiefe nämlich mit großen, geweiteten Räumen. Jürgen P. Wallmann stellte die Reiter neben die Kaschnitz und die Domin. Das ist sicher eine Überbewertung. Für den Moment aber, in dem sich Käte Reiter mit der Lyrik beschäftigt, stimmt die Intensität. Immer dann, wenn sie sich mal um ihre Sprache, eine sehr direkte, einfache und genaue Sprache, kümmerte, entstanden Gedichte, die zwar äußerlich bisweilen einer Tagebuchlyrik ähneln, inhaltlich aber um genau jenes Maß reflektierter und anwesender sind, welches sie zur guten Literatur macht.
nachts über die schulter gehängt
und das schaf träumt
morgens fragt der schlächter
wo ist dein tier
welches tier
In ihrer Kargheit war die Reiter ähnlich konsequent, wie es heutige Dichter bei der bewußten Staffage sind. Alles, was vom Eigentlichen ihres Gedichtes ablenken könnte, ließ sie fort. Wo andere beginnen nach Bild und Ergänzung, Umschreibung und Ausschmückung zu suchen, verpustet sie das als Rauch und Nebel. „ich gebe den heimatlosen worten / einen ort in mir“ – das sind mitunter Worte, die niemand heute mehr in seinen Texten (wohl aber in seinem Leben) haben will: Sehnsucht, Sterne, Liebe. Bei ihr klingen sie weder peinlich noch verwaschen, das ist selten. Vielleicht liegt es daran, daß Käte Reiter dabei von sich absieht. Sie lässt Gedichte zu. In ihr entsteht Lesbarkeit; Käte Reiter ist der Raum, in dem die Welt durch das Gedicht lesbar wird. Um Sinn und Unsinn dieses Satzes zu verdeutlichen: in der Tagebuchlyrik ist es ja immer genau umgekehrt – dort ist das Gedicht der Raum, in dem der Dichter lesbar werden soll, dort soll das Gedicht zu Diensten sein und dem Dichter über seine Probleme hinweg helfen. Bei Käte Reiter ist es anders herum: sie ist dem Gedicht zu Diensten und hilft ihm über ihr Selbst hinweg.
[…] dennoch ist sie ein Geheimtipp unter Lyrikfreunden geblieben. Ihre Gedichte sind von außergewöhnlicher Konzentration, knapp gehalten und doch reich an sinnlichen, eingängigen Bildern. Käte Reiter wird auch aus ihren Gedichten lesen, die sich im Nachlass der großen Lyrikerin Rose Ausländer fanden und die sie verloren glaubte.[…]
www.neuss.de/neuss/presse/archiv/2001/09/1520.html
Mehr als sieben Jahre leitete Elisabeth Büning-Laube den Salon KunstLive, bevor sie eine schwere Erkrankung an dessen Fortführung hinderte. Wieder genesen, stellte Büning-Laube im Frauenbuchladen in der Blücherstraße ihren neuen Lyrikband „Geflochtene Zeit“ vor, in dem sie in einer klaren poetischen Sprache die Jahreszeiten und ihr bisheriges Leben in verdichteter Form Revue passieren ließ.
Michael Serrer vom Literaturbüro und der Verleger Georg Aehling würdigten das Schaffen Elisabeth Büning-Laubes und führten in den neuen, mit einem Vorwort von Wilhelm Gössmann versehenen Lyrikband ein. Viele Hörerinnen und Hörer waren gekommen, frühere Salonbesucher und Kollegen, die erstmals im Salon KunstLive lasen, um den Gedichten ihrer Mentorin zu lauschen.
Die stellte sich, erneut lebenslustig und in ihrer unkonventionellen Art, als „Spatz“ vor, der vom verstoßenen Brot lebt und nun in einem anderen Federkleid erscheint. Aus den vier großen Kapiteln des Bandes, den Jahreszeiten gemäß eingeteilt, trug die Dichterin Elisabeth Büning-Laube im Wechsel mit der Schauspielerin Miriam Wiesemann ihre Naturbeobachtungen vor, die auch ungewöhnliche Metaphern nicht scheuen. „Es liegt alles an der Verkündigung“, da nimmt es kein Wunder, dass die Naturbeobachtungen auch gesellschaftliche Fragen streifen.
Ansprechend ist die Metapher von der „geflochtenen Zeit“ („Es wird weiter Zeit geflochten,/ ehe unsere Zeit/ aus den vergangenen Zeiten/ erwacht“). Hier wird Zeit innegehalten, neu verwoben, und im Durchgang durch das eigene Ich belebt. Schier unerschöpflich ist die Fülle an Bildern und an verdichteten Erfahrungen, die sich in dem neuen Buch ausbreiten.
Aus dem Spatz wird schließlich eine Nachtigall, Nacht und Traum grundieren das Buch, in dem Töne von Traurigkeit und Melancholie angeschlagen werden, etwa wenn die Dichterin vorträgt: „Nacht, ich will nicht viel von dir./ Ein kleines Sternenzwinkern/ leichte, laue Luft in meinem Haar“. Dem Band beigegeben sind vier Collagen von Petra Ellert sowie eine Collage mit dem Bild der Dichterin. < Elisabeth Büning-Laube, Geflochtene Zeit, Edition XIM Virgines Düsseldorf, 12.- Euro.>
Wulf Noll in: Westdeutsche Zeitung,1. Oktober 2004.
Kunst ist im Leben, ist wie ein Bindestrich. Der vorliegende Band Bindestriche enthält sechzig Gedichte und zwei Prosatexte der Düsseldorfer Autorin Elisabeth Büning-Laube. Aber das Buch ist nicht einfach eine Ansammlung verfasster Texte. Es sind lebendige Texte in einer bezaubernden Sprache, der etwas hinzugegeben wurde, das sich in ihnen entfaltet und Leben sucht.
Bei den Bindenstrichen handelt es sich um eine Schatzsuche, die unsere Wirklichkeit betrifft. Die Texte öffnen Räume, die voller Bilder stecken. Dies gelingt ihnen, weil sie kunstvoll anders sind als unser gemeinsames Denken in abstrakten Begriffen. Sie eröffnen den Weg zum Schatz tiefgehender Erfahrungen. Erfahrungen, die mitten im Alltag stehen und mit der Phantasie tanzen.
Es ist ein Buch, das seine Leser sucht, findet und sie in ihr Leben stellt. Insofern sind die Bindestriche eine bezaubernde Zumutung. Sie nehmen ihre Leser ernst und verbinden sie mit sich, und das heißt auch mit der Autorin. In ihnen finden sich Erfahrungen sensibel verdichtet, sie vermitteln Nähe und Wärme. Immer wieder das Ringen, das unser Leben durchzieht und mit Rätseln überschüttet, erfahrbar.
Diesem Ringen ist die wissende Sehnsucht um das Nahe und Ferne eigen. Das Nahe und Ferne berühren sich bevor sie sich scheinbar aufmachen, ihr Position wieder einzunehmen.
Elisabeth Büning-Laube trennt sich nicht von ihren Texten, sie ist in ihnen enthalten. Sie schickt ihre Texte auf die Reise und lässt sie ihre Leser finden. Ihre Worte führen uns in eine neue Wirklichkeit, die uns berührt, stärkt und zu Augenblicken verhelfen kann, die die Augen schärfen. Es sind Bilder, die zu leben beginnen.
In der Reihe KunstLive erscheint nach dem ersten Band der Autorin SpiegelSplitter nun diese Auswahl ihrer Gedichte und Prosatexte. Die Texte treten für dieses Buch in ein interessantes Gespräch mit Bildern der Künstlerin Gepa Klingmüller aus Köln.
Wer schon einmal den KunstLive-Salon von Elisabeth Büning-Laube besucht hat, weiß , wie es ist Kunst nicht nur zu hören, zu lesen, zu sehen, sondern sie zu erleben und zu erfahren. Die Bindestriche freuen sich auf ihre Leser und sind gespannt darauf, ob sie sich mit ihnen verbinden.
[…] Neben Gedichten schreibt die Autorin eine empfindsame und gleichwohl den Alltag und die Menschen kritisch fokussierende Kurzprosa. Ihre Schaffensbreite umfasst jedoch keinesfalls das geschriebene Wort allein. Die Gestaltungskraft Elisabeth Büning-Laubes sucht und findet seit vielen Jahren ebenso ihren künstlerischen Ausdruck in der Aquarellmalerei.
Mit den SpiegelSplittern ermöglicht die in (Un)- Ruhestand lebende und arbeitende Düsseldorfer Autorin und Malerin vielschichtige Einblicke in ihre Lyrik und damit immer auch die Seelenzustände und Sichtweise der in der Öffentlichkeit stets extravaganten „behütet“ und von ihrer Monky „bedackelt“ auftretenden Elisabeth Büning-Laube.
Die achtundfünfzig vorgestellten Momentaufnahmen, poetische Daguerreotypien einer ratlosen Flaneurin mit Sinn für den Augenblick, sensualistisch und doch treffend prägnant, bestechend einvernehmlich durch ihre vordergründige Eindeutigkeit und Spontaneität als auch durch die hintergründige Tiefe der Bilder und Assoziationen.
Die Themenvielfalt der Verfasserin scheint unfassbar. Und doch zeichnen sich thematisch fünf Schwerpunkte der Büning-Laubeschen – in ihren Miniaturensplittern gespiegelten – Welt ab. Es sind die Menschen und Begegnungen mit diesen, die Natur aber auch die politische Auseinandersetzung sowie die Reflexion der eigenen Kriegserlebnisse und die Kritik an kriegerischen Auseinandersetzungen der Gegenwart. Und schließlich, doch sicher nicht letztlich, eine private Sehnsucht, deren Ziel es zu erlesen und nicht zu beschreiben gilt.
Ein Vorwort zu einer Veröffentlichung dieser Autorin wäre unvollständig, ohne auf die Saloniére Elisabeth Büning-Laube hinzuweisen. Seit 1995 betreibt sie getreu den großen und kleinen Vorbildern der deutsche Salonkultur des 18. und 19. Jahrhundert s in ihrer Derendorfer Privatwohnung mit großem Erfolg den Literatur- und Kunstsalon KunstLive e.V.
Künstlerinnen und Künstler verschiedenster Ausrichtung und ein interessantes Publikum pflegen dort ein regelmäßiges im privat- öffentlichen Kontext ein produktives kulturelles Miteinander.
Aus Anlass des Zusammenfallens des fünfjährigen Jubiläums von KunstLive mit dem Erscheinen dieses Buches schließt sich an den lyrischen Teil ein Nachwort von Georg Aehling unter dem Titel Renaissance oder Erneuerung der Salonkultur? an, in dem der Düsseldorfer Salon in einen historische Zusammenhang eingebunden wird. […]
„Lyrik macht auch Politik transparent“, sagte Heine-Kenner und tätiger Kunstsalon-Freund Wilhelm Gössmann, spielte damit auf aktuelle Ereignisse an. Er eröffnete die Lesung von Elisabeth Büning-Laube aus ihrem im Frühjahr bei XIM Virgines erschienenen Gedichtband „SpiegelSplitter“.
Das Schnabelewopski war gedrängt voll von jungen und alten Freundinnen und Freunden, denn die Autorin fördert seit fünf Jahren junge Künstler in ihrem privaten Derendorfer Salon. Sie hat den Pfad geebnet, den jetzt andere betreten wollen. Sie werden es schwer haben: Elisabeth Büning-Laube setzte Maßstäbe an Qualität und Selbstlosigkeit.
Die Fülle und Stille im Raum hatte die couragierte 65-Jährige, die man uneingeschränkt eine Dame nennen darf, wohl verdient. Die Lacher waren herzlich beim Gedicht von der Blattlaus, die von sich sagt: „Ich bin die größte Laus der lausigen Welt.“ Atemlose Nachdenklichkeit folgte dem Gedicht: „Nichts ist mehr, wie es war“. Beifall galt der Autorin und Marc Gurek, der moderne Klassik auf der Gitarre spielte.
Gerda Kaltwasser in: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 19.09.2001.
Das Publikum, das sonst in den Salon „KulturLive“ strömt, in dem Elisabeth Büning-Laube Menschen und Künstler aller Richtungen zusammenführt, kam diesmal ins Literaturcafé Schnabelewopski, um der Lesung der zierlichen älteren Dame mit den flammend roten Haaren zu lauschen. Sie las Gedichte aus „SpiegelSplitter“, neueste Lyrik und die Erzählung „Das Gesicht“.
Wilhelm Gössmann, der in die Veranstaltung einführte, meinte, Lyrik sei einfach schön, aber lässt doch ein Transparent-Werden von Lebensformen und politischen Dimensionen zu. Wenn in einer Stadt, von der Büning-Laube schreibt, dass sie unbeschreiblich leer und tot sei, „eine Distel verschämt neues Leben verkündet“, erinnere das an die Droste. Die Dame im (Un-)Ruhestand, die rastlose Flaneurin, sei gewissermaßen selbst die „schöne Distel“ in dieser Stadt, fraglos ein Kompliment.
Der Satz Heines aus der „Lutetia“, dass die Vergeltungstheorie eigentlich ausgedient habe, macht sich auch Büning-Laube zu eigen, wenn sie in „Nichts ist mehr“ davon spricht, dass der Nachbar, der eben noch unser Freund war, jetzt als Schwarzer, Türke oder Jude ausgegrenzt wird. In ihren vorsichtigen, kurzen Texten thematisiert sie drohendes Unheil. „Am Rand der Welt / von Raketen bewacht / steht der letzte grüne Baum der Erde.“
Doch Büning-Laube spricht auch von Hoffnung, von Begegnungen mit Menschen, von Liebe, Natur und Zeitereignissen, die das Licht des Wortes verdunkeln, aber nicht löschen können. Ihre Lyrik und Prosa lässt sich auf Mitfühlen und Mitleiden ein. In „Das Gesicht“ berichtet sie von der Begegnung einer jüngeren Frau mit einer älteren. Von einem Bild am Fenster ausgelöst, bleibt die Beziehung lange Zeit nur visuell, beschränkt auf Gebärdensprache und auf Zeichen. Als die junge Frau endlich den Besuch bei der alten wagt, findet sie diese fiebernd auf dem Fußboden vor. Unterschwellig drückt Büning-Laube, die selbst als Waise aufwuchs, hier eine Mutter-Tochter-Beziehung aus, wenn auch verwandelt. […]
Wulf Noll in: Westdeutsche Zeitung. Düsseldorfer Kultur, 21.09.2001.
Literatur hat Konjunktur, trotz der oder vielleicht durch die sich atemberaubend ausbreitenden elektronischen Kommunikationsmittel. Beim Bücherbummel im Juni hatte die hiesige Lyrikerin, Malerin und Gastgeberin eines musischen Salons Elisabeth Büning-Laube noch einen Verleger für ein digitales Verlagsprojekt gesucht, das jungen Autoren helfen sollte. Da hat sie ihn denn auch gleich in dem Düsseldorfer Georg Aehling gefunden.
Gestern stellten die Düsseldorfer Autorin Elisabeth Hoheisel und der Berliner Lyriker Titus Müller die ersten Bücher der Reihe „KunstLive“ vor, herausgegeben von Elisabeth Büning-Laube, verlegt von Georg Aehling, Einheitspreis 25 Mark, mit Chansons bedacht von Martine Pruvost-Voss.
Die Büningsche Adresse Collenbachstraße 2, Treffpunkt einer treuen Salon-Gemeinde, hat übrigens eine einschlägige Geschichte, die Aehling im Nachwort zum Hoheisel-Buch schildert. Hier wohnte zwischen 1830 und 1839 Karl Leberecht Immermann, Dichter und Begründer der ersten Düsseldorfer Reformbühne, mit seiner Lebensgefährtin Elisa Gräfin von Ahlefeldt. Der Salon der Beiden entwickelte sich zu einer kleinen Republik der Freiheit des Geistes und der Künste im biedermeierlichen Düsseldorf.
Gute Voraussetzungen also für das Projekt des Jahres 2000. Und viel Lesevergnügen gleich zum Auftakt mit Hoheisels Prosatexten unter dem Titel „Hebels Strategie“ – Illustrationen von der Autorin – und mit den frechen Gedichten von Titus Müller, der seine Freundin Sybille Schäfer die Sammlung „Sturmtag“ illustrieren ließ.
Gerda Kaltwasser in: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 14. September 2000.
An dieser Seite schreibe ich noch.
An dieser Seite schreibe ich noch; ich möchte sie auf diese Weise schon einmal anlegen.
Die mehrfach ausgezeichnete Schriftstellerin Margot Scharpenberg ist seit fünf Jahrzehnten eine äußerst produktive Autorin, die neben Kurzgeschichten und zahlreichen Einzelveröffentlichungen insgesamt 26 Gedichtbände publiziert hat. Bekannt geworden ist die 1924 in Köln geborene und seit 1962 in New York lebende Lyrikerin vor allem durch ihre intermedialen Gedichte.
Margot Scharpenbergs Bildgespräche setzen Literatur und visuelle Kunst in eine dialogische Beziehung und weichen so die traditionellen Grenzen zwischen den Kunstgattungen zugunsten des autonomen, synästhetischen Moments der poetischen Sprache auf – anknüpfend an die Bildgedichte Apollinaires und Rilkes. Ihre ‚Übersetzungen’ ausgewählter Werke der bildenden Kunst in eine lyrische Sprachform akzentuieren nicht nur das referenzielle Verhältnis der unterschiedlichen ästhetischen Ausdrucksmedien. Sie verdichten auch unterschiedliche Wahrnehmungsbereiche und erzeugen Synästhesien.
Das thematische Spektrum ihrer Bildgedichte reicht von den archaischen Wandbildern der prähistorischen Indianervölker Nordamerikas – denen ihre persönliche Faszination gilt – über die Werke der Vertreter der klassischen europäischen Moderne wie Gris, Klee, Kirchner oder Bacon bis in die zeitgenössische Malerei und Grafik. Dabei bewahrt sie sich eine wertfrei beobachtende Haltung, immer aber den Blick fürs Detail, das Unscheinbare und Unspektakuläre. Ihre Gedichte schmiegen sich inhaltlich und häufig auch formal eng an ihren jeweiligen Kontext an. Face en face sind viele ihrer Gedichte mit Zeichnungen, Collagen, Fotografien oder Abbildungen von Gemälden versehen. In „Gegengaben und Widerworte“ – so der Titel ihres 1995 veröffentlichten Lyrikbandes – kommentieren, erwidern oder hinterfragen sie das jeweilige Sujet.
Inspiration fand Margot Scharpenberg besonders auf ihren Reisen durch die amerikanischen Kontinente. In dieser Zeit entdeckte sie auch ihre Begeisterung für die indianische Kunst. In den 1970er Jahren publizierte sie gemeinsam mit ihrem Mann, dem Mediziner und Felsbildforscher Klaus F. Wellmann unter dem Titel Spuren (1973) und Neue Spuren (1975) zwei Gedichtbände über indianische Felsmalerei. Zum jährlichen Ritus ihrer Autorinnenexistenz in den USA gehörten der zweimonatige Aufenthalt in ihrer Geburtsstadt Köln und die Lesereisen durch Deutschland.
Paula Modersohn-Becker: Alte Armenhäuslerin (1905)
Wie proper Armut war
sie wusste
was sich gehört
und auch das Alter kam
für den Betrachter
unauffällig
ohne jede Kränkung
kein Stigma haftet
an dieser Frau
mit ihrem Hut
und akkurat gebundener
Schleife unterm Kinn
wär sie in jeder Kirchenbank gelitten
dann lägen so wie jetzt
da sie allein
im Freien sitzt
die Hände schwer und krumm
auf ihren Knien
ob sie sich wohl
versprochenen Paradiesen
nahe fühlt
ihr Blick verneint
die Wunderwelt ist nur
ein ungesehnes
weißes Pferd
jenseits der Hecke
hinter ihrem Rücken
In: Margot Scharpenberg: Gegengaben und Widerworte. 65 Gedichte mit 16 Collagen von Annegret Heinl. Duisburg 1995, S. 38.
Notenpapier am Ende
Plötzlich brechen die Pfade ab
plötzlich geht ein Satz nicht weiter
plötzlich hält der gehorsame Hund
ich lös ihm vergeblich die Leine
plötzlich ist alles anders als sonst
Plötzlich schlüpf ich aus alten Schuhen
plötzlich laß ich Gewohntes ruhen
plötzlich geh ich wie blind geführt
an Gattern tast ich mich weiter
plötzlich ist alles unversehens
einleuchtend heiter
Plötzlich ist alles neu.
In: Margot Scharpenberg: Von Partituren, Lesezeichen und so weiter. 60 Gedichte mit 12 Collagen von Annegret Heinl. Duisburg 2003, S. 57.
Vom Vorteil zweifacher Zugehörigkeit
Keiner ist zu sehr
an mich gewöhnt
keiner muß mich dann
wenn ich für länger geh
mehr als sonst
im eignen Lebenslauf
vermissen
Wer mich kennt
der weiß ja ich gehöre
fest ins eine
und ein weiteres Land
bin ich nicht in diesem
hält mich gerad das andere
und ich übe dauernd
hier wie drüben
nach dem Grenzsprung
an der eignen Kür
zählt mich dennoch
zu den besten
fernen Freunden
auch als Fehlende
bin ich getreulich da
drum bedenkt
wir bleiben fest verbunden
ob ein Wiedersehn
bevorsteht oder
erst ein nächster
Abschied nah
In: Margot Scharpenberg: Von Partituren, Lesezeichen und so weiter. 60 Gedichte mit 12 Collagen von Annegret Heinl. Duisburg 2003, S. 111f.
Alte Bilder
Wir waren gewarnt
die Keller standen gerichtet
zum Unterschlupf
aber wir rannten
die Türme treppauf
die Glockenstühle
nicht zum Läuten
– zu spät –
und nicht zum Versteck
sehen wollten wir
weit in Himmel und Hölle
Betroffene bei der
öffentlichen Geburt
von Trümmern
wir Ausgesparten
wie Säulenheilige
sichtig und sicher
oben auf kleiner
Plattform
ohne Entkommen
die Treppen alle in Schutt
auf die Raben möchten wir bauen
welchen der Dienste
für die sie begabt sind
probieren sie diesmal an uns
sie stoßen schon nieder
ungnädige Boten
den Tod
könnten sie bringen
(sie hacken so gern
vor allem nach Augen)
auf den alten
Bildern aber
– getarnte Engel –
bringen sie manchmal
den Angefochtenen Brot
In: Margot Scharpenberg: Windbruch. Vierundsechzig Gedichte mit sechzehn Zeichnungen von Edith Oellers-Teuber. Duisburg 1985, S. 28f.